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II.

Es war um die Stunde, da unten in der Talstation der Durchgangsschnellzug einzutreffen pflegte.

Die Unruhe, die regelmäßig um die Zeit vor dem Kurhotel »Adlerhorst« herrschte, verriet die nahende Ankunft der neuen Gäste; der Direktor stand im Gespräch mit der würdevollen Erscheinung des Portiers, der auf seiner breiten Brust, auf die ein langer, blonder Vollbart fiel, eine Anzahl von Ehrenzeichen trug, die er sich aber lediglich in seiner Eigenschaft als Portier beim Empfang verschiedener exotischer Fürstlichkeiten verdient hatte. Aber für den »Adlerhorst« war er eine repräsentative Persönlichkeit, die den reichen Kurgästen, die aus allen Gegenden in das romantische Seitental der Taurierberge kamen, imponieren mußte.

Im Vestibül standen die Zimmerkellner und Stubenmädchen aus den verschiedenen Stockwerken, die kleinen Liftboys drängten sich vor, einige unbeschäftigte Servierkellner aus den Restaurationsräumen fanden sich ebenfalls ein, denn dieser kommende Zug pflegte regelmäßig die Mehrzahl jener Gäste zu bringen, die im Hauptgebäude abstiegen und sich mit der Dependence begnügten; diese Gäste waren es doch auch, die die größten Rechnungen machten, und die ansehnlichsten Trinkgelder zurückließen.

Vor dem Prunkbau des Hotels, das den üblichen Stil der großen Fremdenkarawansereien in der Schweiz aufwies, hatten sich auch verschiedene der Fremden eingefunden, die plaudernd in Gruppen beisammenstanden und die Bergstraße hinunterschauten, von wo das Fremdenauto des Hotels kommen mußte.

Trotzdem es bereits Ende Juni war und der Sommer mit seinen herrlichen, warmen Tagen und wolkenlosem, tiefblauem Himmel eingesetzt hatte, gab es im »Adlerhorst« noch viele leere Zimmer, denn es kam in manchen anderen Jahren häufig vor, daß um diese Zeit noch kalte Tage und strömender Regen vorherrschten. Nur dieses Jahr hatte so frühen Sommer gebracht.

Der mächtige Bau mit dem Hellen Mauerwerk kontrastierte wirkungsvoll zu dem Schwarzgrün der dahinter liegenden Tannen und Fichtenwaldungen, über die das gewaltige Steinmassiv aus grünen, leuchtenden Wiesenmatten emporragte. Am höchsten strebte in das Himmelsblau die eigenartige Form der Sonnenkarspitze, in deren Schluchten die Gletscher wie flüssiges Silber glänzten.

Da schwankte aus der Tiefe empor auch schon das große Auto, dessen Dach mit Koffern und Gepäckstücken hoch beladen war. Der Direktor wandte sich lächelnd an den Portier:

»Die Bepackung läßt rentable Gäste vermuten; es ist auch Zeit, daß der »Adlerhorst« wie in jeder Saison sein »Besetzt« verkünden kann.«

Würdevoll, ganz seiner Erscheinung entsprechend, antwortete dieser, der nun schon seit acht Jahren hier weilte:

»Das kommt immer erst im Juli, dann aber bestimmt. Ich kenne das! So frühe Gäste wie diesen Herrn Direktor Streitter haben wir nicht immer; der war ja schon vor mir da. Sehen Sie, es scheint wirklich seine Lieblingsbeschäftigung zu sein, dem Eintreffen aller Fremdenzüge zuzusehen. Dort steht er bereits wieder und wie fast regelmäßig allein. Sieht eigentlich nicht menschenscheu aus, aber er meidet doch jeden Verkehr.«

So gerne der Portier erzählte, er hatte diesmal keinen aufmerksamen Zuhörer, denn schon war das Auto eingetroffen und hielt dicht vor dem grauen Eingang.

Die Kofferträger sprangen, der Direktor trat näher, und auch der Portier nahm seine würdevollste Haltung an. Für seine Menschenkenntnis gab es jetzt viel zu beobachten und zu beurteilen.

Die Gäste entstiegen dem Auto, von einem tiefen und sehr nachdrucksvollen Gruß des Direktors empfangen, auf den aber kaum jemand achtete, denn der Kofferträger war jetzt zumeist die begehrtste Persönlichkeit.

Ruhig schauten die grauen Augen des würdevollen Portiers, der nun in dem folgenden, lärmenden Treiben der einzig ruhende Pol zu sein schien, diesen Szenen zu, die er hier schon so oft erlebt hatte.

Er bewegte sich kaum, als wäre jede Aufregung unter seiner Würde, wenn sich einer der Fremden an ihn wandte, und mit der gleichen souveränen Ruhe gab er auch seine Antworten.

Aber kaum war über diese so rasch aufwallende Erregung und über diese überstürzend wirkende Hast auch nur eine Viertelstunde verstrichen, als sich die Wogen auch schon wieder glätteten, und der »Adlerhorst« lag wieder so still wie vorher.

Der Portier aber hatte nun Zeit, seine bei dieser Invasion gemachten Beobachtungen zu ordnen und abzuwägen.

Was hatte der Tag für den »Adlerhorst« außergewöhnliches gebracht? Der alte Herr mit den grauen, starken Bartkoteletten und der jungen Dame war jedenfalls ein Wiener mit seiner Tochter; die Familie, die mit drei Kindern und einer großen Dienerschaft eingetroffen war, konnten nur Amerikaner sein, und der Herr mit seiner jungen Frau, die immer an seinem Arm hing und alles wundervoll fand, vom Liftboy angefangen bis zur Sonnenkarspitze, befand sich zweifellos auf der Hochzeitsreise und durfte daher als der freigebigste Trinkgeldspender gelten. Die ältere Dame, – als Menschenkenner nannte der Portier selbst achtzigjährige immer nur ältere Damen –, war jedenfalls eine mißvergnügte Adelige, die zum Trotz ihrer Erben noch kostspielige Reisen unternahm. Alle Angekommenen waren leicht zu beurteilen, nur über die einzeln reisende junge Dame, die ohne Begleitung und ohne Zofe eingetroffen war, konnte er noch zu keinem Urteil kommen. Alleinreisende Damen galten sonst nicht viel, aber dieser Fremden sah man so viel überlegene Vornehmheit und dabei auch Sicherheit an, daß ein Zweifel leicht möglich war. Zuerst hatte der Portier nichts anderes erwartet, als daß die Fremde nach der Dependance verlangen werde; aber als der Träger dann die Gepäckstücke der Dame übernahm, als sie ihm mit einer auffallenden Ruhe, die sich sonst nur in ganz seltenen Fällen bei alleinreisenden Damen beobachten läßt, die entsprechenden Weisungen erteilte, als sie selbst den Direktor wie nachlässig behandelte, der sie dann trotzdem sofort in die Halle begleitete, da erst wurde das Urteil dieses bewährten Menschenkenners schwankend. Reiche und vornehme Damen in so verführerischem Alter und bei solcher Schönheit pflegen doch nicht ohne Begleitung in derartige Kurhotels zu kommen?

Wenn es für diesen Nachmittag etwas zu fragen gab, dann konnte es nur ein Interesse für diese Dame sein.

Für eine Studentin oder eine Frauenrechtlerin war sie zu schön, dann auch zu selbstsicher.

Für eine leichte Ware, gegen die auch schließlich der »Adlerhorst« gesichert genug war, trotzdem die Direktion sehr vorsichtig prüfte, sah sie zu vornehm und zu stolz aus.

Seltsam und vom Standpunkte seiner Menschenkenntnis aus immerhin bedenklich blieb es doch, daß eine solche Dame ohne jede Begleitung reiste.

Wenn ihn schließlich irgend etwas interessieren konnte, falls später dann die Namen der neu angekommenen Fremden auf der Tafel in der Vorhalle nahe bei den Telephonkabinen angeschrieben wurden, dann war es nur der dieser jungen Dame.

Er konnte sie wirklich nicht mit Sicherheit einschätzen.

And kaum zeigte die Fremdentafel die neuen Namen, da trat auch schon der Portier hinzu, um die neuen Aufzeichnungen zu prüfen.

47; 48. Frhr. von Pomeisl mit Tochter.

24;25; 26; 69. Francis Moore mit Familie und Dienerschaft.

97. Doris von Burgstraaten.

Der Portier nickte vor sich hin; das konnte nur die ältere Dame sein.

31; 32. Daisy Frommel.

Weiter nichts. And doch mußte sie es sein. 31 und 32 aber lagen nach vorne und hatten die schönste Aussicht auf das Tal; ein Salon und ein Schlafraum mit angrenzendem Bad. Die beiden Räume gehörten zu den elegantesten und natürlich auch zu den kostspieligsten. Das Gepäck, das der Träger vor ihr in das Hotel getragen hatte, entsprach wohl den ausgewählten Zimmern; aber daß eine solche Dame ohne jede Begleitung reiste? Daisy Frommel? Das klang wie irgendein beliebiger Name und verriet nichts.

Reich mußte sie jedenfalls sein!

Der vielerfahrene Portier kam zum erstenmal ins Zweifeln. Bald stimmte das eine und dann wieder das andere nicht.

Während seine Augen immer noch über die Fremdentafel hinglitten, hörte er plötzlich hinter sich eine Frage, die nur ihm gelten konnte:

»31 und 32 ist wohl die zuletzt angekommene junge Dame? Haben Sie diese beobachtet?«

Rasch wandte der Portier den Kopf. Es interessierte sich also noch jemand für diese Fremde.

»Fräulein Frommel! Gewiß! Vielleicht auch eine Frau oder Witwe. Wer kann das wissen? Haben Sie die Dame auch gesehen?«

»Ja! Hatte diese die Zimmer vorher schon reservieren lassen? Sonst werden doch alleinreisende Damen im »Adlerhorst« nur selten ausgenommen.«

»Das stimmt und ist auch ganz in Ordnung, Herr Direktor. Man weiß nie, was sich hinter solchen oft verbirgt. Aber die Dame von 31 und 32 scheint doch eine Ausnahme zu sein.«

Direktor Streitter, über den der Portier dem Direktor des Hotels gegenüber schon eine flüchtige Bemerkung gemacht hatte, war eine hohe Erscheinung mit glattrasiertem Gesicht, das an den Wangen eine leichte, rosige Puderschicht wies, wie dies manche Schauspieler bevorzugen; die Augen zwinkerten etwas wie bei Kurzsichtigen; er holte auch ein Monokel aus der Seitentasche seines Jacketts und klemmte dieses in das rechte Auge.

»Eine eigenartige, dabei vornehm erscheinende Schönheit. Sie pflegen in kurzer Zeit alles zu wissen, vielleicht können Sie mich dann auch davon verständigen, wer die junge Dame eigentlich ist und was sie hier sucht.«

Befriedigt nickte der Portier:

»Sie ist Ihnen also auch aufgefallen?«

»Natürlich! Damen bevorzugen es doch mehr, in Gesellschaft zu reisen.«

»Ganz meine Meinung. Und wenn sie wirklich allein kommen, dann suchen sie aber sehr rasch Gesellschaft.«

»Glauben Sie, daß die Dame zu jenen gehört, die Gesellschaft suchen?«

Auf diese zweifelnd vorgebrachte Frage des Direktors Streitter antwortete der Portier:

»Nein, das will mir doch nicht ganz glaubhaft erscheinen; dazu steht sie viel zu diskret aus; man hat doch auch Menschenkenntnis.«

»Was will Sie dann hier?«

Jetzt ließ der Portier ein behäbiges Lächeln hören:

»Aber Herr Direktor, was suchen denn die Gäste hier? Erholung, Gesundheit, Zerstreuung! Kurgäste sind doch alle. Sie sind doch gewiß auch nicht hier, um etwas bestimmtes zu suchen.«

»Da haben Sie recht. Aber wenn Sie von dieser Fremden etwas erfahren, dann werden Sie mir dies nicht vergebens mitteilen.

»Ich werde das nicht vergessen, Herr Direktor.«

Und mit einem kurzen Grüßen entfernte sich Direktor Streitter.

Während er langsam hinausschlenderte, tauchte im Vestibüleingang die Gestalt jener schon wiederholt erwähnten Fremden auf; sie trug noch immer das Reisekleid aus dem braunen Wollstoff mit der weißen Hals- und Ärmelgarnitur.

Einen Augenblick blieb sie stehen, und ihre schwarzen Augen schienen der Gestalt des Direktor Streitter zu folgen.

Da sich nun auch der Portier wieder entfernen wollte, trat sie wie in plötzlichem Entschluß auf ihn zu und fragte in scheinbarer Gleichgültigkeit:

»Wer war dieser Herr, der Sie eben verließ?

Der Portier schaute nochmals dem Entschwindenden nach, der den Alpenrosenweg in den Wald zu einschlug, und antwortete dann:

»Ein Herr Direktor Streitter aus Rotterdam.«

Daisy Frommel, wie sich die Fremde angemeldet hatte, schwieg eine Weile, während ihre Augen immer noch der Gestalt zu folgen schienen, und fragte erst nach einer kurzen Pause:

»Dieser Herr befindet sich wohl schon seit langem hier?«

»Das allerdings! Er war heuer der erste Kurgast und traf schon mit dem ersten Personal Ende Mai ein. Es lag noch etwas Schnee und die Matten oben zeigten noch ein weithin erstreckendes Weiß.«

»Ist dieser Herr Direktor Streitter ohne Gesellschaft?«

Das würdevolle Gesicht des Portiers zeigte einen erstaunten Ausdruck; aber er antwortete doch sofort:

»Allerdings! Er liebt die Gesellschaft nicht und bleibt immer allein. Ein paar Herrschaften versuchten schon eine Annäherung, aber er ist dabei stets ausgewichen.«

»Was macht dieser Herr Direktor dann immer allein?«

»Häufig macht er Hochtouren; die Sonnenkarspitze hat er schon bestiegen, das Steinmetzhorn, die Perlapschwand, das Rotäugel und sogar den Höllangergletscher. Wenn er da ist, vergnügt er sich meist damit, die Ankunft der Fremden zu beobachten; wofür er noch das meiste Interesse hat; aber einer Annäherung weicht er stets aus.«

»Welche Zimmernummer bewohnt er denn?«

»Zimmer 53 und 54.«

Da schien sie auf den erstaunten Blick im Gesichte des Portiers aufmerksam zu werden, denn plötzlich unterbrach sie die Fragen und entfernte sich mit einem leichten und flüchtigen Nicken des Kopfes.

Diesmal aber folgten ihr die Augen des Portiers nach, der dabei wiederholt den Kopf schüttelte; als sie dann seinen Augen entschwunden war, murmelte dieser halblaut vor sich hin:

»Das ist aber merkwürdig, sehr merkwürdig! Da haben die beiden das gleiche Interesse füreinander und die gleiche Neugierde. Sollte die Fremde doch so eine sein, die Gesellschaft sucht? Da mag ihr allerdings dieser Herr Direktor Streitter am lohnendsten erscheinen. Aber so sieht sie nicht aus, so nicht! Doch man kann sich irren, man kann! Ich werde vorerst mal zusehen ...«

*

Im Speisesaal des Kurhotels waren die Kellner mit den Vorbereitungen für den Abendtisch beschäftigt. Die kristallenen Lüster warfen eine verschwenderische Lichtfülle auf den weißen Seidendamast, mit dem die Tische gedeckt waren, zumeist kleine Tische, die das Absondern für Gruppen und Familien, die allein zu sein wünschten, eher ermöglichten.

Die Kellner hatten nur noch den letzten, prüfenden Blick, denn die ersten der Abendgäste konnten bald kommen.

Am Saaleingang stand neben einem der glattrasierten Kellner Daisy Frommel in einem ärmellosen Abendkleid aus dunkelblauer Chinaseide mit aparter Goldstickerei und redete flüsternd auf ihn ein, wobei ihre schwarzen Augen wie prüfend über die Reihe der gedeckten Tische hinglitten.

Im Abwenden sagte sie dann noch mit etwas lauter Stimme, die einen scharfen, beinahe befehlenden Ton hatte:

»Sie vergessen also nicht, was ich wünschte!«

Der Kellner verbeugte sich und fügte dabei hinzu:

»Sie dürfen sich darauf verlassen, gnädiges Fräulein. Ich werde alles so arrangieren. Also am Tische mit Herrn Direktor Streitter.«

Daisy Frommel antwortete nicht mehr darauf, sondern glitt bereits wieder aus dem Saal.

Es verstrichen auch nur wenige Minuten, als die ersten Gäste eintrafen und den gewohnten Platz aufsuchten, nur die Neuangekommenen Fremden fragten den Ober, wo für sie gedeckt sei.

Allmählich füllte sich der Saal immer mehr; unter den letzten Gästen befand sich Direktor Streitter, dessen Augen flüchtig über die bereits anwesenden Herrschaften hinirrten, als suchten sie nach jemand.

Er trat auf einen abseits liegenden, kleinen Fenstertisch zu, an dem für zwei Personen gedeckt war. Als er dies zweite Gedeck sah, rief er den bedienenden Kellner heran und erklärte diesem:

»Sie wissen doch, daß ich keinen Tischnachbar wünsche. Ich sagte Ihnen das wiederholt. Wen haben Sie mir da hergesetzt?«

Der Kellner zog bedauernd die Schultern hoch und antwortete darauf:

»Verzeihen Sie, Herr Direktor, aber für diesen Abend war es nicht mehr anders möglich. Die Dame wollte nicht mit größerer Gesellschaft beisammen sitzen, und da sonst nichts frei war, mußte ich hier servieren. Morgen werde ich bestimmt sehen, daß Sie wieder allein bleiben können.«

»Für heute ist es gut. Ein andermal möchte ich vorher verständigt werden.«

»Sehr wohl, Herr Direktor, verzeihen Sie.«

In diesem Augenblick tauchte im Türrahmen des Saales auch schon die Gestalt von Daisy Frommel in ihrem Abendkleide auf.

Direktor Streitter wandte dieser Richtung den Rücken zu und fragte eben mit einer unterbrechenden Handbewegung:

»Schon gut! Entschuldigungen können Sie sich ersparen. Was für eine Dame ist es denn, die Sie mir zuwiesen?«

»Als Fräulein Frommel hat sie sich in der Fremdenliste eingetragen. Aber da kommt sie schon!«

Und diskret trat der Kellner rasch zurück.

Bild: Ernst Dietrich

Für den Augenblick einer Sekunde öffneten sich die Augen des Direktors wie in bestürztem Erstaunen, wie in jäher Überraschung; und in unwillkürlicher Bewegung erhob er sich etwas, als wollte er gehen.

Da stand Daisy Frommel aber schon an dem Tische und verneigte sich in kühler Höflichkeit gegen ihren Tischnachbar. Es streifte ihn dabei nur ein flüchtiger Blick, wie man gleichgültige Fremde an einem gemeinsamen Tisch ansieht. Dann gab sie dem Kellner bereits Weisungen für ihre Wünsche.

Als sie sich darauf setzte, erhob sich Direktor Streitter und stellte sich mit grüßender Verbeugung vor:

»Lothar Streitter.«

Ein dankendes Nicken war die Antwort, weiter nichts.

Und eine ganze Weile war an diesem Seitentisch nichts zu hören als dann und wann das Klirren eines Glases, des Porzellans oder des Bestecks. Nur der servierende Kellner stellte Fragen, die aber kurz und wortkarg beantwortet wurden.

Erst als er das Dessert auftrug, prächtiges Tafelobst in einer Kristallschale, als die Augen wie ausruhend über den Saal hinglitten und die Sinne den Klängen der kleinen Musikkapelle lauschten, da suchte Daisy Frommel den Blick ihres Tischnachbarn, während die schmalen Hände einen kalifornischen Apfel schälten. In dem Lichte der Glühbirnen hatte die mattschimmernde Haut an den Schläfen, an denen das Geäder bläulich durchleuchtete, den glänzenden Ton von Perlmutter. Zur Schönheit wurde dies Gesicht erst durch das ebenholzschwarze Haar und das kräftige Rot der dünnen Lippen. Auffallend war der ernste Zug ihres Antlitzes.

In unwillkürlichem Begegnen trafen sich bei diesem Beobachten ihre Augen mit denen ihres Tischnachbarn, die aber dann auszuweichen schienen, als wollten sie eine vielleicht mögliche Vertraulichkeit vermeiden.

Die Brauen über seinen graubraunen Augen zogen sich hoch und die Lippen schlossen sich fest aufeinander.

Da wandte sich Daisy Frommel auch schon an ihn:

»Ich glaube, daß ich Ihnen gegenüber zu einer Entschuldigung verpflichtet bin, denn ich bin doch als Störenfried an Ihren Tisch gekommen. Aber der Kellner konnte mir nichts anderes mehr anweisen. Verzeihen Siel«

»Bitte! Zu einer Entschuldigung liegt wirklich gar keine Veranlassung vor, denn der Speisesaal eines Kurhotels ist ein so neutraler Ort, an dem alle gleiche Rechte haben.«

»Nicht ganz, mein Herr! Jeder Gast hat immerhin das Recht, seine Sonderwünsche berücksichtigt zu finden. Sie wollen allein sein, und da mußte ich für Sie nur störend wirken.«

»Das dürfen Sie nicht behaupten, gnädige Frau, oder ...«

Mit einem fragenden Lächeln blickte er auf sie; und da antwortete sie auch schon:

»Verzeihen Sie, daß ich auch hierin eine Nachlässigkeit beging und Ihr Vorstellen nicht beantwortete; Daisy Frommel.«

Direktor Streitter verneigte sich:

»Sehr angenehm! Aber auch in dieser Hinsicht haben Sie keine Veranlassung zu irgendwelcher Entschuldigung, denn Zufallsbegegnungen an einem Tische verpflichten doch nicht zu derartigen gesellschaftlichen Formen. Jedenfalls kann von einer Störung, wie Sie es nannten, keine Rede sein.«

»Ist das nicht nur eine Höflichkeit, die der Dame gilt?«

Und in einem liebenswürdigen Lächeln blitzten zwischen dem Kirschrot der schmalen Lippen die kleinen, weißen, Zähne wie leuchtendes Elfenbein aus dunkelrotem Samt.

»Das dürfen Sie gewiß nicht glauben. Ich bin keinesfalls der Misanthrop, für den Sie mich zu halten scheinen.«

»Aber der Kellner erklärte mir doch, daß er mir morgen einen anderen Platz anweisen müsse.«

»Sagte er das?«

»Allerdings! Er schien nicht erfreut zu sein, daß er mir hier servieren mußte.«

»Dann erlauben Sie mir, daß ich den besonderen Wunsch ausspreche, Sie als meine Tischnachbarin behalten zu dürfen.«

»Die Erfüllung werde ich keineswegs als ein Opfer betrachten. Ich danke Ihnen für die Gastfreundschaft an Ihrem Tische und werde davon Gebrauch machen; für heute müssen Sie entschuldigen, wenn ich mich bereits zurückziehe. Aber die Fahrt hatte mich doch mehr angestrengt als ich erwartete.«

Damit erhob sie sich, worauf auch Direktor Streitter aufstand und sich in diskreter Vornehmheit verabschiedete.

Er blieb noch stehen, bis ihre Gestalt aus dem Speisesaal verschwunden war; dann erst setzte er sich wieder langsam wie nachdenklich, wobei seine Augen immer noch an dem Saalausgang hingen.

Schließlich bewegten sich seine Lippen in leisem Selbstgespräch:

»Natürlich ist sie es und ihr Suchen gilt mir, aber ...«

Und in rascher Bewegung schüttelte er den Kopf.

Als gleichzeitig der Kellner hinzukam, um abzuservieren, erklärte er diesem:

»Sie können die Dame in Zukunft immer an diesem Tische unterbringen.«

»Wie Sie wünschen, Herr Direktor.«

*

Unten im Dorfe schien der Abend früher zu kommen als oben im Kurorte; die Schatten füllten so rasch das tiefe Tal. Die schmalen Gassen mit den zumeist ärmlich aussehenden Höfen bildeten einen ausfallenden Kontrast zu den Luxusstätten der Hotels auf den oberen Berghängen.

Der Boden dieses Seitentales gab herzlich wenig an Getreide und anderen Bodenfrüchten; nur die saftigen Watten boten als Viehweiden die einzige Erwerbsmöglichkeit der Bewohner. Einige der jungen Burschen waren jedoch als Bergführer gesucht und verdienten damit so viel, daß manche Not gemildert werden konnte. Einen sogenannten reichen Hof gab es im ganzen Tal nicht. An den Fremden aber, die die Schönheit der Berge Jahr um Jahr in dieses stille, verschlossene Tal führte, verdienten nur die großen Hotels.

So kam es, daß das Unterdorf sich wie eine fremde Welt zu dem Oberdorf verhielt, das eigentlich nur aus den Pensionen und Hotels bestand.

An den Wänden der Sonnenkarspitze hing noch ein rosiges Rot, während in den Gassen des Dorfes unten, bei dem auch die Bahnstation war, die Dunkelheit bereits hereingebrochen war.

Daisy Frommel kam eben von einem Ausfluge nach dem Seligental zurück und mußte noch durch das Unterdorf zu dem »Adlerhorst« empor.

Sie trug einen Touristenanzug aus graubraunem Lodenstoff und einen derben Stock.

Die meisten der kleinen Fenster in den niederen Häusern mit den Holzdächern, auf denen schwere Felsblöcke lagen, damit sie kein Sturm entführen konnte, lagen im Dunkel und nur hinter wenigen schimmerte Licht. Selten begegneten ihr auch noch Bewohner, die sich schon ziemlich früh verkrochen, denn hier begann der Tag mit seiner Arbeit meist schon um vier Uhr morgens.

Daisy Frommel war schon bis zu dem Dorfausgang gekommen und wollte bereits in die neue Straße einbiegen, die zur Höhe führte, als ihr eine schwankende Gestalt entgegenkam. In dem Dämmerdunkel des Spätabends war die Erscheinung nur undeutlich zu sehen. Breitschultrig und groß erschien sie und auf dem Kopfe saß schief gerückt ein spitzer grüner Hut mit einer Spielhahnfeder darauf.

Der Heiner Much! Daisy Frommel glaubte ihn, der schon wiederholt bettelnd oben im »Adlerhorst« aufgetaucht war, zu erkennen. Von ihm wurde so mancherlei erzählt; er soll einmal einer der kühnsten Bergführer gewesen sein, ein gewagter Kletterer, der auch als Wildschütze auf die Gemsen, die es in den Geröllhalden gab, bekannt war; dann aber war er durch eine Leidenschaft zu einer Dorfschönheit, die ihn aber wiederholt mit anderen betrogen hatte, ins Trinken geraten und immer tiefer gesunken, so daß ihm die Führererlaubnis entzogen wurde. Einmal wurde er auch als Wilderer gestellt, dabei verraten durch eben die, die er liebte, so daß er in das Gefängnis kam und dadurch noch mehr verlumpte, bis er nur noch eine halb verachtete und gefürchtete Rolle spielte. Niemand mehr vertraute ihm. Er aber konnte sich nicht zum Verlassen des Ortes entschließen und verdiente sich sein weniges Geld durch Betteln und Verkaufen von Alpenblumen und seltsamen Steinen, die er oft von gefährlichem Steigen niederholte. Das Geld aber vertrank er immer wieder.

Es war der Heiner Much.

Schon wollte sie ihm in großem Bogen ausweichen, denn offenbar hatte der Bursche mit den tückischen Augen und dem verwilderten Bart wieder zu viel getrunken, aber er schien diese Absicht zu merken und trat ihr nun absichtlich in den Weg. Als sie dann zur anderen Seite auszuweichen versuchte, bog auch der Heiner Much mit einem widerlichen Grinsen auf seinem borstigen Gesichte der gleichen Richtung zu, wobei seine schwerfällige Gestalt, die von ungewöhnlicher Kraft schien, haltlos schwankte.

Mit weiteren Versuchen bemühte sie sich, an ihm vorbeizukommen.

Als sie das Erfolglose dieser Bemühungen für den Augenblick erkannte, blieb sie unerschrocken und mit ungewöhnlicher Beherrschung stehen, um abzuwarten, daß der Much nun ausweichen werde. Dieser aber hob plump und grobschlächtig seine beiden Arme und versuchte damit nach ihr zu greifen.

Aber auch der Versuch konnte Daisy Frommel nicht erschrecken, die sofort nach diesen sie bedrohenden Armen schlug und mit herrschender Stimme rief:

»Was fällt Ihnen ein? Sehen Sie, daß Sie zur Seite kommen.«

Diese Stimme jedoch reizte den Heiner Much noch mehr, der jetzt um so zudringlicher auf sie zustrebte, so daß sie nun nach rückwärts ausweichen mußte. Mit einer wilden Lache begann dabei der Much zu reden:

»Oho, wie eine Wildkatz, wie eine Wildkatz! Aber die werden alle auch zahm, daß sie aus der Hand fressen. Bist ein schönes Katzerl! Tu dir nichts, nur dein Fell streicheln, das hat jede Katze gern. Mußt nicht gleich kratzen, sonst kann es sein, daß ich dir die Nägel verschneide.«

Während er die Worte brummend und knurrend hervorstieß, versuchte er mit seinen Bärenarmen immer wieder nach ihr, die sich immer verzweifelter seiner Angriffe zu erwehren bestrebte, zu greifen. Aber wenn sie auch behender war, so war der Heiner Much doch um vieles stärker. Bald hatte er sie gepackt.

»Lassen Sie mich los! Ich werde um Hilfe rufen!«

Sie spürte seinen keuchenden Atem nahe an ihrem Gesichte und sah zugleich die funkelnden Augen, in denen eine ungebändigte Wildheit glühte.

»Wird dir nichts helfen, bis du ein sanftes Katzerl bist und die Krallen hübsch eingezogen hast. Mußt dich schon erst streicheln lassen, habt das doch sonst gerne. Warum soll das der Much nicht auch können?«

Und da hatten seine Arme sie schon so fest, daß sie wehrlos an seine Brust gedrückt wurde und keine Bewegung des Widerstandes mehr machen konnte.

Jetzt beugte sich sein Gesicht mit dem derben Mund, aus dem die Gerüche des schlechtesten Fusels kamen, nahe über sie. Sie schrie dabei wohl noch auf, trotzdem sie genau wußte, daß hier dieser Schrei gar nicht mehr gehört werden konnte.

Seine Stärke aber trotzte jedem ihrer Versuche.

»Jetzt wirst dich halt doch dreingeben müssen.«

Und schon sah sie sich willenlos in die Gewalt dieses betrunkenen Burschen gegeben.

Aber fast in der gleichen Sekunde hörte sie einen kreischenden Fluch von den Lippen des Heiner Much, fühlte dabei, wie sich die Gewalt seiner Umklammerung löste, und vernahm gleichzeitig eine brüllende, im Zorn offenbar heiser schrillende Stimme:

»Ob du loslassen wirst!«

Bild: Ernst Dietrich

Ehe sie noch darüber zur Besinnung kam, was dies bedeutete, ließen sie die Arme des Much auch schon frei, der sich gegen einen neuen Angreifer zu wehren suchte.

Kaum fühlte sie sich auf diese Weise frei, da wich sie taumelnd zurück; zugleich aber sah sie, woher ihr die Hilfe gekommen war.

In dem abendlichen Dämmern bemerkte sie nun den Much im Ringen mit einer zweiten Gestalt, in der sie bald den Direktor Streitter, ihren Tischnachbar aus dem Hotel, erkannte. Die modisch gekleidete Erscheinung mit dem stets leicht gepuderten glattrasierten Gesicht rang Brust an Brust mit dem kräftigen Burschen, der ihn an Größe überragte.

Unentschlossen stand Daisy Frommel.

Was konnte sie tun? Helfen? Um Hilfe rufen? Oder davonlaufen?

Aber da hatte Direktor Streitter den Heiner Much auch schon mit einer Kraft, die in seiner Gestalt kam zu ahnen war, von sich abgeschüttelt und stieß ihn dann mit solcher Heftigkeit zurück, daß er ins Torkeln kam, vergebens nach einem Halt suchte und dann zu Boden stürzte. Ein paar Sekunden blieb er liegen und richtete sich dann erst mühsam auf.

Inzwischen aber trat Direktor Streitter schon auf Daisy Frommel zu und redete sie mit einer so ruhigen Stimme an, als wäre nichts geschehen, als wäre er ihr nur irgendwo in Gesellschaft begegnet:

»Erlauben Sie, gnädiges Fräulein, daß ich mich Ihnen anschließe? Bei der schon herrschenden Dunkelheit dürfte in dieser Einsamkeit eine Begleitung besser sein.«

Er warf nicht einen Blick zu dem Heiner Much zurück, der sich unterdessen brummend wieder aufgerichtet hatte und humpelnd davontrottete. Für ihn schien es wie selbstverständlich, daß dieser keinen Angriff mehr wagte.

Daisy Frommel aber schaute jenem Burschen doch noch einmal nach, der wohl seine Hände ballte und drohend streckte, aber doch weiterzukommen suchte. Dann wandte sie sich an ihren Befreier:

»Wie soll ich Ihnen das danken?«

Sie sah trotz der schon hereingebrochenen Dunkelheit ein Lächeln auf feinem Gesicht:

»Wofür? Ich traf Sie auf einsamen Wegen und da biete ich Ihnen meine Begleitung an. Ich glaube eher, daß die Pflicht des Dankes auf meiner Seite liegt, wenn Sie die Liebenswürdigkeit haben, mein Angebot auch anzunehmen.«

»Machen Sie es immer so, Herr Direktor? Sie müssen doch wissen, was ich Ihnen zu danken habe. Sie haben mich aus der Gewalt eines betrunkenen Rohlings befreit.«

»Darüber wollen wir wirklich keine Worte verschwenden, denn als eine besondere Heldentat werden Sie doch die Pflicht der bloßen Höflichkeit nicht ansehen.«

»Jedenfalls zeigten Sie dabei eine Kraft, die ich kaum vermutet hätte.«

Nun klang sein Lachen ganz hell wie in einem Scherz:

»So schwächlich hielten Sie mich? Aber vielleicht haben Sie auch recht. Der Bursche war betrunken, und da erforderte mein Eingreifen wirklich keine besondere Kraft.«

»Das dürfen Sie nicht behaupten, denn ich hatte doch vorher selbst seine Kraft verspürt. Ich bin Ihnen sogar zu besonderem Danke verpflichtet.«

»Wenn Sie das wirklich glauben, erlauben Sie mir dann wenigstens, daß ich die Form dieses Dankes bestimme?«

Überrascht von einer solchen Antwort wandte sie ihm ihr Gesicht fragend zu. Was beabsichtigte er damit? War dies nicht ein ganz ungewöhnliches Verlangen?

Trotzdem entgegnete sie ihm:

»Gewiß! Voraussetzung ist, daß ich die Möglichkeit habe, die Bestimmung auch zu erfüllen.«

»Schwierigkeiten bietet diese nicht. Ich verlange nur, daß Sie über dies Erlebnis weiter kein Wort mehr verlieren.«

»Aber ich darf ...«

Da unterbrach er sie schon wieder:

»Ich habe bereits Ihr Wort. Es ist weiter nichts geschehen, als daß ich Ihnen begegnete. Wo waren Sie übrigens heute nachmittag?«

Und damit erreichte er es, daß kein Wort mehr von diesem Abenteuer gesprochen wurde.

 

»Mein lieber Fred!

In meinem letzten Briefe hatte ich Dir von meinen verschiedenen Irrfahrten berichtet, die ich durchmachen mußte, ehe ich hierherkam, und von den Gründen, die mich gerade diese Spur aufnehmen ließen. Jedenfalls kannst Du Dich nicht beklagen, als löste ich etwa das gegebene Versprechen nicht ein, unter dem Du Dich schließlich doch noch für meinen Entschluß bereit erklärtest. Wie ich Dir damals schon zugestand, waren die Schwierigkeiten bedeutend größer, als ich es erwartet hatte, eine so einfach erscheinende Spur von einem genau geschilderten Mann, der noch dazu in seiner Gesellschaft ein so auffallendes Beweisstück wie den beschriebenen Reisekoffer haben mußte, zu verfolgen. Nun bin ich hier und stehe damit vor der Entscheidung, ob ich einer falschen Fährte nachjagte und wieder von vorne beginnen muß, oder ob ich endgültig den gesuchten Mörder stellen kann.

Unter dem Namen eines Direktors Lothar Streitter aus Rotterdam lebt der von mir zunächst Verfolgte seit Ende Mai hier im Hotel; der Zeit nach würde dies stimmen, denn nach meinen Ausführungen im letzten Brief reiste der angebliche Doktor Edwin Steffen von Hotel zu Hotel, um die Spuren möglichst zu verwirren. Auch die absichtliche Zurückgezogenheit jenes Direktors Streitter, in dem ich diesen Doktor Steffen vermute, der jeder Gesellschaft und Annäherung ausweicht, der gleichzeitig ein besonderes Vergnügen darin zeigt, die Ankunft aller Fremdenzuzüge zu kontrollieren, würde als Bejahung meines Verdachtes anzusehen sein. Daß dies natürlich noch lange nicht zu einem wirklich begründeten Verdacht ausreicht, weiß ich genau. Du brauchst von mir wirklich keine Unvorsichtigkeit fürchten, wie Du immer wieder betonst. Dazu solltest Du Deine Schwester schon besser einschätzen. Mir genügte noch nicht einmal, was ich durch das Hotelpersonal erfuhr, das hier gegen reichliche Trinkgelder ebenso mitteilungsbereit wie überall ist.

Also: Dieser Direktor Streitter kam mit einem Rohrplattenkoffer hier an, der genau der Beschreibung entspricht, die ich geben konnte. Gewiß! Es gibt vielleicht Hunderte dieses so beschriebenen Koffers, tausende vielleicht. Aber der Rohrplattenkoffer hat eine Geschichte. Der Hausbursche vertraute mir an, daß dieser Direktor Streitter nicht einen Augenblick von dem Koffer wegging, während er in das Hotel gebracht wurde, den er in sein Schlafzimmer schaffen ließ, in das das Zimmermädchen nur während seiner Anwesenheit darf, und daß er das Zimmer sonst mit eigenem Schlüssel abzusperren pflegt. Scheingründe liegen also genug vor, doch können dieselben immer noch nicht als Beweise gelten. Menschen haben Launen. Und so lange ich nicht in diesen Koffer selbst sah und seinen Inhalt mit meinen Augen kontrollierte, so lange dieser Direktor Streitter nicht selbst ein unfreiwilliges Geständnis macht, oder ein Zeichen von Schwäche und Schuldbewußtsein zeigt, so lange kann von einer Überführung des Täters nie gesprochen werden.

Indizien also könnten zur Beweisführung beschafft werden, was mir aber wicht genügen darf. Selbstverständlich begnügte ich mich damit auch nicht; da ich hier unter einem angenommenen Namen abgestiegen bin, und da jener angebliche Doktor Steffen eine Anita Wronker sicher nie kannte, so durfte ich es ohne Gefahr wagen, mich diesem Direktor Streitter zu nähern. Mit einer kleinen List und durch Bestechung eines Kellners gelang mir dies auch. Jetzt bin ich täglich Tischnachbarin des von mir Kontrollierten, aber ich muß das Geständnis machen, daß ich bisher nicht das geringste erreichte. Zufällig führte ich das Gespräch auf die verschiedensten Dinge, die ein unwillkürliches Eingeständnis unerwünschter Kleinigkeiten herbeiführen konnten. Aber entweder ist mein Verdacht vollständig ungerechtfertigt und dieser Direktor Streitter gänzlich ahnungslos, oder ich habe es in ihm mit einem Gegner von größter Geistesgegenwart und Energie zu tun.

Daß dieser, mein Gegner, beides besitzt, verriet mir ein Erlebnis dieser Tage. Aus einer abendlichen Heimwanderung wurde ich von einem betrunkenen Burschen angefallen und das Abenteuer würde ein unerwünschtes Ende genommen haben, wenn nicht ein Zufall gerade eben jenen Direktor Streitter hinzugeführt hätte, der mich aus der Gewalt des Betrunkenen befreite. Dies tat er mit einer Energie und Kraft, die ich seiner Erscheinung nie zugetraut hätte; dabei benahm er sich nach dem Erlebnis wie ein Kavalier bester Art, so daß ich in meinen Vermutungen wieder schwankend werden mußte. Ich bin ihm nun für sein Verhalten bei diesem Abenteuer zu wirklichem Dank verpflichtet, so daß ich mit meinen Anklagen doppelt vorsichtig sein muß. Ich setze mich der Gefahr aus, daß ich einen Mann wie eine Spionin beobachte und eines Mordes verdächtigen will, dem ich beim Mißglücken meiner Versuche beschämt gegenüberstehen werde, da ich seine Tat mir gegenüber mit Mißtrauen beantwortete.

Dadurch bin ich in eine mir unerwünschte Lage gekommen, die ich nicht länger ertragen kann und deshalb auf eine Entscheidung auf jeden Fall hinarbeite. Ich will es erzwingen, daß dieser Direktor Streitter oder Doktor Steffen, falls er mit diesem identisch ist, zu einem unwillkürlichen Geständnis gedrängt wird. Ich habe dafür schon meinen Plan, den ich auch durchführen werde. Entweder er gelingt und der Mörder des Professors Marschall wird dadurch gestellt, oder ich muß das Hotel möglichst bald verlassen. Eine Blöße darf ich mir nicht geben, denn ich will diesem Manne gegenüber schließlich nicht als undankbar dastehen.

Dabei habe ich noch das Empfinden, daß meine Erscheinung auf ihn nicht ohne Eindruck blieb, daß ich sogar weibliche Erfolge erreichen könnte; selbstverständlich werde ich dies auch für meine Aufgabe ausnützen, bedenkenlos, denn die Tat, die an Professor Marschall begangen wurde, rechtfertigt jedes Mittel, das zum Ziel führt.

Nur dann, wenn dieser Direktor Streitter doch nicht der Gesuchte sein sollte, dann muß ich mich um so schwächer fühlen, denn schließlich ist dieser Mann ein sehr liebenswürdiger Plauderer, ein selbstloser Kavalier, eine vielleicht bedeutende Erscheinung, wenn sich der gegen ihn gerichtete Verdacht als hinfällig erweist. Würde er mir unter anderen Begleitumständen begegnet sein, würde sein Verhalten bei dem Überfall, von dem ich dir schrieb, unter anderen Voraussetzungen erfolgt sein, ich würde ihn mehr als achten.

Schon deshalb muß ich eine baldige Entscheidung um jeden Preis herbeiführen. Ein Bild des Professors Marschall, das ich erlangen konnte, muß mir dabei behilflich sein. Mißglückt mein Plan, dann weiß ich nicht, was ich dann unternehmen werde; jedenfalls kann Dir mein nächster Brief schon das Ergebnis melden.

Gedulde Dich also bis dahin! Das muß meine Aufgabe bleiben, den Mörder des Professors Marschall zu entdecken und das Verbrechen an ihm zur Sühne zu bringen. Bis dies erreicht ist, wirst Du Dich auf ein Wiedersehen noch gedulden müssen. Deine Schwester

Anita.«

 

An dem Schreibtische in dem ihr zugewiesenen Salon saß Daisy Frommel und las den soeben vollendeten Brief; an manchen Stellen nickte sie wie bestätigend vor sich hin, andere prüfte sie und fügte schließlich noch eine kleine Notiz bei:

 

P.S. Lasse in Rotterdam Nachfragen über einen Direktor Lothar Streitter anstellen, ob ein solcher dort gemeldet und was über ihn bekannt ist. Ich bin mir allerdings auch darüber klar, daß selbst damit noch nichts bewiesen ist, wenn sich der Name eines Direktor Streitters als falsch erweisen sollte, denn auch eine Daisy Frommel wird nirgends zu erfragen sein. Aber immerhin würde das Ergebnis die schön vorliegenden Indizien noch vermehren. Sollte Herr Marlan bei Dir nach meinem Aufenthalt fragen, so wirst Du ihn wohl unter irgendeinem Vorwand zu vertrösten wissen.    A.«

 

Als Daisy Frommel auch noch diese Zeilen hinzugefügt hatte, aus denen sich wie aus dem Briefe schon ergab, daß Daisy Frommel und Anita Wronker die gleiche Person waren, steckte sie den Brief in einen Umschlag, den sie mit einer Anschrift versah und verschloß.

Langsam erhob sie sich dann und blickte wie sinnend vor sich hin, als grübelte sie an dem Entschlusse, von dem sie in dem Brief geschrieben hatte.

Dann verließ sie mit dem Briefe ihr Zimmer, um ihn selbst zur Post zu bringen, damit die Adresse von keinem Unberufenen gelesen werden konnte.

Auf dem Rückwege von dort zum Hotel begegnete ihr nun der Mann, von dem allein ihre Zeilen berichtet hatten.

Direktor Lothar Streitter trug einen Touristenanzug mit Kniehosen und hohen Strümpfen, offenbar kam er von einem Ausflug zurück. Er grüßte und schritt dann neben Daisy Frommel her. Nach einigen gleichgültigen Worten fragte er:

»Haben Sie den prächtigen Tag heute zu keinem größeren Ausflug benutzt?«

»Nein, ich hatte einige Korrespondenzen zu erledigen, die ich nicht länger hinausschieben durfte. Wo aber waren Sie, Herr Direktor?«

»Auf einem Training. Ich gedenke am kommenden Montag die Trettachspitze zu besteigen und habe heute mit den zwei Brüdern Giulini alles besprochen.«

Da hob Daisy Frommel wie in raschem Besinnen den Kopf:

Oh, die Trettachspitze! Das ist ein Ziel, das auch mich reizte. Wenn ich nicht wüßte, daß Sie kein Freund von Begleitern auf Ihren Touren sind, würde ich mich mit besonderem Vergnügen anschließen.«

Nur für ein paar Sekunden erfolgte ein Schweigen, dann entgegnete Direktor Streitter:

»Die Trettachspitze erfordert geübte Steiger.«

»Wäre dies das einzige Hindernis für meinen Wunsch?«

»Allerdings! Andernfalls wäre die Verantwortung zu groß.«

»Dann dürfen Sie mich mitnehmen; ich habe schon das Matterhorn und fast alle Zinnen der Rosengartengruppe bestiegen.«

»Das wußte ich nicht. Dann bietet für Sie die Trettachspitze keine Schwierigkeit.«

»Und Sie erlauben, daß ich mich anschließe, Herr Direktor? Sie wollen mich mitnehmen? Für dieses Jahr dann meine erste hochalpine Tour.«

»Gewiß! Aber um ein Uhr müßte dann schon die Nachtwanderung beginnen.«

»Sie werden mich bereit finden.«

Da trafen die beiden vor dem Hotel ein und gingen nach dem Lesezimmer.

*

Der weißlich fahle Schein des Mondlichtes beleuchtete die Hünengestalten der beiden Bergführer vor dem still und im Schlaf daliegenden Hotel; schweigend rauchten sie aus der kurzen Stummelpfeife. Der Stahl des Eispickels blinkte im Mondlicht, das Seil hing neben dem Rucksack, der prall gefüllt war. Die Augen flogen nur einigemale suchend zu dem Eingang des Hotels hin, ob sich dort noch immer nichts regte.

Im Hintergrund stieg vom Mondlicht beschienen die Steilwand der Sonnenkarspitze auf.

Aber die beiden Führer mußten nicht lange warten, als auch schon zwei Gestalten aus dem Hotel kamen, beide für eine Gipfelbesteigung vorschriftsmäßig ausgerüstet.

Die beiden Führer warfen einander fragende Blicke zu, als sie in jener zweiten Gestalt eine junge Dame erkannten. Wie prüfend schätzten sie diese dann ab, wobei die Blicke besonders über die Erscheinung vom Kopf bis zu den schweren Schuhen glitten und den selbstgetragenen Rucksack musterten. Dann nickten beide einander zu, als wollten sie sich gegenseitig ein Einverständnis mit dieser Vermehrung der Teilnehmer geben.

Daisy Frommel und Direktor Streitter waren die beiden, die aus dem Hotel heraus auf die bekannten Führer, die Brüder Giulini zugingen. Der Nachtportier kam hinter den zweien nach und schaute zu, wie die beiden sich flüsternd mit den Führern besprachen.

Auch Direktor Streitter und Daisy Frommel trugen das unvermeidliche Seil und den Eispickel, sowie den Bergstock.

Nur flüsternd wurde gesprochen.

Bei der herrschenden Nachtkühle, die in dieser Höhenlage oft sehr fühlbar ist, fröstelte Daisy Frommel etwas.

Aber der Marsch nach dem Walde zu machte bald warm. Die Führer gingen mit ihren schweren Schritten, die fast langsam schienen, aber sehr weit ausgriffen, voran. Direktor Streitter und Daisy Frommel folgten schweigend. Der Widerhall der Schritte war das einzige Geräusch. Später war dann ab und zu das Rufen eines Waldkäuzchens zu hören, das wie der Hilferuf eines Kindes erklang.

Ein schmaler Waldpfad führte ziemlich steil bergan.

Da der Anstieg ziemlich anstrengend war, wurde fast nichts gesprochen, nur Direktor Streitter machte seine Begleiterin ab und zu auf irgendeine Erscheinung aufmerksam, auf einen davonstreichenden Vogel, den die Schritte im Schweigen der Nacht aufgeschreckt hatten, auf einen Durchblick in das dunkle Tal hinunter, auf ein Reh, das aus dem Versteck heraus flüchtete.

Allmählich nahmen die Felsenhänge, die immer noch gewaltig emporragten, eine hellere Färbung an, die den schweigenden Wanderern verkündete, daß der Morgen langsam graute.

Dabei rückten sie immer näher an die Felshänge heran. Schon hatten sie den Wald hinter sich gelassen und schritten nur noch über die weichen Wiesenmatten.

Einige Rinder hatte die Helligkeit schon herausgetrieben, die verwundert diesen Wanderern nachschauten.

Immer felsiger wurde der Weg und nur noch die verkümmerten Latschen begleiteten sie an den nahen Einstieg in die Wände.

Direktor Streitter machte dabei einige Bemerkungen über die Arten des Kletterns. Daisy Frommel gab nur wortkarge Antworten; ihre Gedanken schienen mit anderen Dingen beschäftigt zu sein. Vielleicht galt ihr Schweigen auch nur der sich immer mehr entfaltenden Schönheit des Bildes, das sich mit dem Morgengrauen ständig prächtiger zeigte.

Tief unten lag jetzt das Tal, schwarzgrün; ein Bach glitzerte wie ein Silberband empor. Hell leuchteten auch die zerstreut liegenden Höfe des Unterdorfes und die Mauern der Kurhotels. So winzig sah alles von dieser Höhe aus, als wäre das alles willkürlich aus einer Spielzeugschachtel in das Tal geschüttet worden.

Vorne aber türmten sich gigantisch die Felsenmassen, in die nun bald der Einstieg beginnen mußte.

Trotz dieser wunderbaren Schönheit, die jeden immer wieder ergreift und überwältigt, irrten die Gedanken von Daisy Frommel weit davon ab.

Sie dachte an ihren Entschluß, von dem sie Fred geschrieben hatte.

An diesem Tag wollte sie die Entscheidung erzwingen! Deshalb nur hatte sie sich an diesem Aufstieg beteiligt, um dabei den Versuch zu wagen, ob sie der rechten Spur folgte, ob dieser, ihr Begleiter, jener Doktor Steffen war, oder ob sie einem Irrtum nachhing.

Das nur hatte sie so schweigend gemacht.

Ob ihr Begleiter etwas von diesen ihren Absichten ahnen konnte?

Da wandte sich ihr sein bartloses Gesicht zu; er trug eine graue Schneebrille, die die Augen vor dem starken im Schnee flimmernden Sonnenlicht schützen sollte.

»Wir werden jetzt bald die erste Rast vor dem Einstieg machen. Wie fühlen Sie sich?«

Aus seiner Stimme sprach dabei eine Weichheit, vor der Daisy Frommel doch etwas zusammenschrak. Die zärtliche Besorgtheit darin stand in so grellem Widerspruch mit ihren Gedanken und Absichten.

Mußte sie sich nicht irren? War die Stimme jetzt nicht die gleiche wie damals, als er sie aus der Gewalt des Heiner Much befreit hatte?

Konnte dies also jener Doktor Steffen, der Mörder des Professors Marschall sein?

Die besorgte Stimme hatte einen so vertrauten Ton, als erinnerte sie diese noch an eine andere.

Aber sie mußte doch antworten:

»Sehr frisch! Meinetwegen braucht keine Rast zu erfolgen; ich bin zum Klettern sofort bereit.«

»Um so besser! Eine kleine Rast werden wir deshalb aber doch machen.«

Die beiden Führer hatten unterdessen ihre Rucksäcke schon abgeworfen und richteten die Seile zum Anbinden bereit.

Bald setzte dann die Kletterpartie ein, die zunächst durch einen Kamin führte, der weniger gefährlich war, aber doch Unerschrockenheit und Kraft voraussetzte. Daisy Frommel hing am Seil, von dem einen Führer von oben geschützt. Direktor Streitter folgte mit den Blicken von unten; dabei sah und erkannte er bald, mit welcher Sicherheit sie die Füße setzte und den geringsten Halt zu einer Stütze benützte.

Bald aber häuften sich die Schwierigkeiten der Besteigung; eine steile Wand mußte auf ganz schmalem Felsband überschritten werden. Auch hier zeigte sich wieder, daß Daisy Frommel nicht zum erstenmal an einer derartigen Feldwand hing.

Eine Wanderung über Geröll führte dann an den großen Trettachgletscher, der sehr steil anstieg und aus dem die eigentliche Trettachspitze aufragte.

In dieser Wanderung blieb Direktor Streitter stehen, hob den Arm und rief begeistert:

»Die Sonne!«

Da hielten alle, und der Anblick, der sich zeigte, war überwältigend genug, um selbst den Verwöhntesten zu fesseln.

Die Bergspitzen in der Ferne erglühten in einem kupferfarbenen Rot, wie aus flüssigem Metall gegossen; und aus diesem Lichtband stieg gewaltig der mächtige Sonnenball hoch, zuerst brennend und dann langsam erblassend zu einem matten, fast schwefligen Gelb.

Ein wundervoller Sonnenaufgang war es, der alles andere vergessen ließ.

Die beiden Führer mußten erst zum Weiterwandern drängen.

Bald war dann auch der Gletscher selbst erreicht. Dabei schritt der eine Führer voran und sein kräftiger Arm schlug dabei die Stufen in das Gletschereis. Die Stahlspitze des Pickels sauste kreischend in das harte Eis, daß manchmal die Funken aufstoben und Eisstücke davonflogen.

Langsam kamen sie nur vorwärts; der eine Führer mußte bald durch den zweiten abgelöst werden.

Nach Überwindung dieses Hindernisses kam der letzte Teil, die Erkletterung der eigentlichen Spitze.

Dabei galt es die äußersten Kräfte zu sammeln, denn es mußte eine überhängende Wand genommen werden, der kaum beizukommen war. Manchesmal mußten die in Spalten eingekrallten Finger die einzige Stütze für den Körper sein.

Doch auch diese Schwierigkeiten wurden überwunden und die Spitze erreicht.

Ein Jubelruf begrüßte das endlich erreichte Ziel.

Direktor Streitter trat zu Daisy Frommel und begann ihr das prachtvolle Schauspiel, das sich nun zeigte, zu erklären; er kannte alle die Spitzen und Wände, die sich hier zeigten, die mächtigen Gletscher, die sich überschauen ließen und alle die stillen Täler weit unten.

Die Sonne beleuchtete die Schönheit, die sich hier offenbarte.

Schweigend hörte Daisy Frommel zu; ihre Lippen waren dabei fest zusammengepreßt, so daß Direktor Streitter mitten in seinen Ausführungen die Frage stellte:

»Sind Sie nicht zu sehr ermüdet? Aber der materielle Lohn wird auch kommen; die Rucksäcke werden jetzt geleert.«

Da schüttelte sie den Kopf:

»Nein, nein! Dafür habe ich noch kein Bedürfnis!«

Fast wie erschrocken klang die Antwort.

Aber er protestierte:

»Doch! Jetzt verlangt der Körper sein Recht! Zuerst ein stärkender Trunk.«

Da kniete er auch schon auf dem Boden und begann seinen Rucksack auszupacken.

Die beiden Führer hatten sich abseits der beiden niedergelassen und waren schon beim Mahl, das in Brot und Speck bestand, wozu aus einer Flasche getrunken wurde.

Direktor Streitter hatte unterdessen einen Becher mit Rotwein gefüllt und hielt diesen seiner Begleiterin hin:

»Dem erreichten Ziel und Erfolg der erste Trunk! Hier!«

Nur mit unmerklichem Zögern nahm Daisy Frommel den gebotenen Becher; dann aber leerte sie ihn doch und kniete darauf gleichfalls nieder, um jetzt auch ihren Rucksack zu leeren. Als sie dabei die Schleife öffnete, zitterten ihre sonst so festen Hände etwas.

Das mochte vielleicht auch Schuld sein, daß dann etwas aus dem Rucksack fiel und dabei dicht vor Direktor Streitter hin; es war dies eine Photographie, die wie zufällig in den Rucksack geraten sein mochte.

Er bückte sich sofort danach.

In diesem Augenblick aber hingen die Augen von Daisy Frommel wie starr auf ihm.

Tonlos klang die Stimme, wie erzwungen:

»Oh, das Bild, daran hatte ich gar nicht mehr gedacht.«

Direktor Streitter hielt das Bild schon in seiner Hand und blickte darauf; doch in dieser gleichen Sekunde zuckte er zusammen.

Oder war es Daisy Frommel nur so erschienen? Bückte er sich nicht tiefer, als wollte er sein Gesicht in diesem Augenblicke nicht sehen lassen? Zitterte nicht seine Hand auch?

Sekunden!

Daisy Frommel wußte doch, was dies Bild erreichen sollte!

Doch da richtete sich Direktor Streitter bereits wieder auf; und mit einem sorglos erscheinenden Lächeln reichte er ihr das Bild zu und fragte dabei:

»Eine Aufnahme Ihres Vaters oder des älteren Bruders?«

Sie nahm das Bild entgegen und dabei wichen ihre Augen nicht von seinem Gesichte, als prüften sie darin jeden Zug, als suchten sie hinter seiner Stirne die Gedanken zu lesen. Dabei antwortete sie:

»O nein, nicht das eine, nicht das andere. Kennen Sie das Bild nicht?«

Nein!«

Ein wie teilnahmslos wirkendes Kopfschütteln.

»Ein Bild des bekannten Forschungsreisenden Professor Marschall, dessen Ermordung und dessen Verschwinden doch so großes Aufsehen erregte.«

Diesmal zeigte das bartlose Gesicht sogar ein Lächeln:

»Ich habe wirklich für alle kriminalistischen Fälle wenig Interesse. Auch von einem Professor Marschall wußte ich bisher nichts. Gilt das in Ihren Augen als empfindliche Lücke im Allgemeinwissen?«

»Nein, nein, verzeihen Sie! Ich stand nur diesem Forscher persönlich nahe und in solchem Falle glaubt man immer, daß alle davon wissen müßten.«

War es die Beleuchtung? Oder die Nachwirkung der vorausgegangenen Anstrengungen? Es schien, als wäre das Blut aus dem Gesichte des Direktors gewichen.

Da gab auch er Antwort:

»Ich begreife das! Die Erinnerung daran traf Sie wohl schmerzlich?«

»Ein Verlust durch ein Verbrechen berührt wohl jeden tiefer.«

»Gewiß, gewiß! Sie standen ihm vielleicht auch menschlich nahe?«

»Ich schätzte den Toten. Aber hier oben wollen wir nicht länger von ihm sprechen. Sie kannten ihn ja nicht.«

»Nein, ich habe den Namen nie gelesen.«

Aber trotzdem von diesem nicht mehr gesprochen wurde, wollte kein ungezwungenes Gespräch mehr zustandekommen. Es war fast, als stünde mit einemmal doch der Schatten dieses Toten zwischen ihnen.

Und früher als es vielleicht beabsichtigt war, drängte Direktor Streitter zum Aufbruch für den Abstieg.

Ein paar Redensarten fielen, gleichgültige Worte, Ermahnungen für den Abstieg.

Die Gedanken der beiden schienen jetzt mit anderen Fragen beschäftigt zu sein.

Am lebhaftesten aber grübelte Daisy Frommel.

Hatte sie irgend etwas von dem erreicht, was sie sich erwartete?

Hatte dieser Direktor Streitter das Bild des Professors Marschall erkannt? War es der gesuchte Doktor Steffen, den sie auf einer Flucht erreichen wollte? War er wirklich erschrocken, oder hatte sie sich das nur eingebildet? War sie durch das Spiel auch nur um einen Schritt ihrem Ziel näher gekommen?

Woran aber dachte er selbst, da er nun schweigsam und wortkarg neben ihr ging?

Hatte er etwas von dem Spiel, das sie gewagt hatte, erraten?

War es doch jener Doktor Steffen, der sich nur durch eine viel größere Geistesgegenwart geschützt hatte?

Hatte sie jetzt irgendwelche Gewißheit? War ihr Gegner, wenn er als ein solcher in Betracht kam, nicht nur um so mehr gewarnt?

Rascher ging dann der Abstieg. Bei den wenigen Worten, die dabei fielen, schien Direktor Streitter wohl immer noch der gleiche zu sein, aber es war doch, als wäre ein anderer Ton in seiner Stimme.

So still kamen sie dann wieder vor dem »Adlerhorst« an, von vielen neugierigen Blicken begleitet, da es bekannt geworden war, daß diese die gefährliche Besteigung der Trettachspitze unternommen hatten; und eben so still war dann der Abschied, denn nur Daisy Frommel kehrte in das Hotel zurück, während Direktor Streitter noch mit den beiden Führern beisammen blieb.

Als Daisy Frommel dann in ihrem Zimmer allein war, warf sie den Rucksack auf den Tisch und nahm jenes Bild heraus, von dem sie die Entscheidung erhofft hatte. Lange ruhten ihre schwarzen Augen auf dem ernsten bärtigen Gesichte mit der Brille des Professors Marschall.

Hatte sie nun etwas gewonnen?

Da legte sie das Bild wieder auf den Tisch zurück und murmelte entschlossen:

»Es bleibt mir immer noch eine Möglichkeit, die ich jetzt auch wagen werde.«

Bild: Ernst Dietrich

Alexis Marlan begleitete Fred Wronker bis zur Türe; dabei stellte er mit einem liebenswürdigen Lächeln auf seinem sonnverbrannten, knochigen Gesichte die Frage:

»Von Ihrem Fräulein Schwester haben Sie bisher noch keine Nachricht, ob sie bereits die erhoffte Spur ausfindig machte?«

Fred Wronker schüttelte den Kopf; in seiner Tasche steckte wohl schon jener Brief, in dem sie über ihre Beobachtungen an jenem Direktor Streitter aus Rotterdam schrieb, aber er dachte doch auch daran, welche Warnung sie ihm für alle Fragen durch Alexis Marlan gegeben hatte. Deshalb entgegnete er jetzt nur:

»Bis jetzt schrieb sie darüber nichts.«

»Wo befindet sie sich denn zur Zeit?«

»Selbst darüber kann ich Ihnen nicht einmal eine bestimmte Auskunft geben, denn sie hat die letzte Station verlassen, ohne beizufügen, wohin sie sich wenden werde.«

Jetzt zog der Chef der Sicherheitspolizei die Schultern hoch und erklärte in überlegenem Tone:

»Das gnädige Fräulein hatte eben zu viel gewagt. Da uns nichts gelungen ist, so kann sie um so weniger etwas erreichen, zumal sie unmöglich mit solchen Hilfsmitteln arbeiten kann, wie sie uns zur Verfügung stehen.«

»Sie sprechen dabei ganz meine Überzeugung aus! Aber Sie kennen doch meine Schwester. Sie tat noch immer, was sie wollte. Haben Sie selbst eine neue Spur ausfindig machen können?«

Zu dieser Frage mußte Alexis Marlan allerdings auch den Kopf schütteln:

»Leider nicht! Inspektor Wendland arbeitet mit allen Mitteln, aber der Erfolg ist nur ein negativer. Wohin auch die Anfragen und Nachforschungen gehen, es kommt von überall her nur der eine gleichlautende Bescheid: Hier ist von einem angeblichen Doktor Steffen und von einem so beschriebenen Koffer mit derartigem Inhalt nichts bekannt. Wie unangenehm das für mich als den Leiter des gesamten Sicherheitsdienstes ist, werden Sie begreifen. Die gesamte Presse des In- und Auslandes griff ja den Fall des Professors Marschall auf. Da macht nun alles mich verantwortlich.«

»Ich begreife Ihre Lage. Aber das Verbrechen, das an dem Professor begangen wurde, gehört auch wirklich zu den eigenartigsten.«

Ein flüchtiger, höflicher Abschied erfolgte, dann schloß Alexis Marlan hinter Fred Wronker die Türe.

Darauf ging er mit langen Schritten in seinem Amtszimmer auf und nieder, die Hände gekreuzt auf dem Rücken. Der Fall Marschall, beziehungsweise Doktor Steffen hatte wirklich ungewöhnliches Aufsehen erregt, so daß eigentlich hätte angenommen werden müssen, daß bald Nachrichten über eine Spur einlaufen würden.

Es kamen auch Mitteilungen von überall her, die sich in der Kanzlei des Inspektors häuften, doch erbrachten sie nicht das geringste, das zu einer Weiterverfolgung hätte Anlaß geben können.

Alexis Marlan hatte kaum wieder an seinem Schreibtische Platz genommen, als ein erneutes Pochen an der Türe ihn aufstörte. Auf einen Zuruf trat Inspektor Wendland ein, den der Chef der Sicherheitspolizei gleich mit den Worten empfing:

»Sie kommen gerade günstig, andernfalls hätte ich Sie gerufen. Bringen Sie Neues?«

Inspektor Wendland nickte mit dem bekannten, gutmütigen Lächeln, wobei sich seine schmalen Schultern noch weiter vorschoben:

»Es ist eine neue Meldung im Fall Doktor Steffen eingelaufen.«

Alexis Marlan führ auf und stieß dabei einen Stuhl zurück:

»Was sagen Sie? Und gerade in der Sache wollte ich Sie rufen.«

»Ich glaube, daß nun die richtige Spur entdeckt ist.«

»Wirklich? So reden Sie doch? Was haben Sie erfahren? Eine bestimmte Nachricht?«

»Hier! Lesen Sie selbst, ein ziemlich ausführliches Telegramm.«

Dabei nannte der Inspektor auch noch den Ort, eine sehr bekannte, hochalpine Station.

»Und dort soll sich jener Doktor Steffen aufhalten?«

»Ich glaube ziemlich sicher zu sein, denn wenn nicht alles trügt, befindet sich auch Fräulein Wronker, die auf irgendeine Weise schon der Fährte gefolgt sein muß, unter falschem Namen dort.«

Dies erregte noch mehr die Überraschung des Chefs der Sicherheitspolizei, der sofort die ihm von dem Inspektor gereichte Depesche entgegennahm. Während er diese auseinanderfaltete, sagte er noch:

»Fräulein Wronker? Dann gilt es äußerste Eile! Sie müssen noch vor ihr zu einem Ziel gelangen. Sie darf uns nicht zuvorkommen.«

Da hatte er den Bericht schon geöffnet und flog über die Zeilen hin:

»Unter dem Namen eines Direktor Lothar Streitter aus Rotterdam hat sich hier bereits seit Ende Mai ein Kurgast eingemietet, dessen Beschreibung der jenes angeblichen Doktor Steffen entspricht; sein Fernhalten von jedem Verkehr und sein sonstiges Verhalten, das fast ängstliche Versperren seines Schlafraumes, das von dem Mädchen nur in seiner Anwesenheit betreten werden darf, sowie der gleichfalls mit der Beschreibung übereinstimmende Koffer, den er dort verbirgt, bestärken die Vermutung. daß dieser Fremde mit jenem Doktor Steffen identisch ist, um so mehr, da nach unseren Anfragen in Rotterdam ein Direktor Lothar Streitter völlig unbekannt und nicht gemeldet ist. Lediglich in diesen letzten Tagen erschien eine junge Dame, die sich als Daisy Frommel angab, die sich wie in bewußter Absichtlichkeit jenem Direktor Streiter näherte und die seine einzige Gesellschaft bildet. Erwarten Bescheid, was geschehen soll. Direktion des Kurhotel: ›Adlerhorsts‹.«

Mit glänzenden Augen blickte Alexis Marlan von dieser Meldung auf und rief dann erregt:

»Sie haben recht! Das ist er! Und jene Daisy Frommel ist keine andere als Anita Wronker, die wirklich seine Spur ausfindig gemacht hat. Da ist allerdings größte Eile geboten. Depeschieren Sie sofort.«

»Aber was? Soll ich selbst hinfahren?«

»Sie? Nein, nein! Ich reise selbst. Ich möchte vor Fräulein Wronker den Erfolg. Vielleicht gewinne ich damit noch mehr! Telegraphieren Sie, daß ein Beamter heute noch abreist. Dann sehen Sie nach, wann der nächste Zug in diese Richtung abgeht. Ich mache mich sofort reisebereit.«

*

Die meisten der Gäste hatten sich bereits zurückgezogen. In einer Seitenabteilung saß Streitter und sprach eben mit dem Kellner, der gerade eine neue Flasche in den Weinkühler stellte.

Während des Gespräches schien es dem Direktor, als wäre die Gestalt von Daisy Frommel am Eingange der kleinen Weinabteilung einen Moment aufgetaucht, als wären es ihre schwarzen Augen gewesen, die wie suchend durch den Raum huschten.

Aber als er sich der Richtung zuwenden wollte, da war ihre Gestalt auch schon wieder verschwunden.

Hatte sie ihn gesucht?

Und Direktor Streitter hörte nur noch zerstreut darauf, was ihm der Kellner auf seine eigene Frage antwortete.

Er hatte sich gewiß nicht getäuscht. Seine Unterlippe klemmte sich zwischen den Zahnreihen ein. Dann stand er rasch auf und erklärte dem erstaunt zurückweichenden Kellner:

»Einen Augenblick! Ich werde bald wieder zurück sein.«

Und mit raschen Schritten ging er an diesem vorbei dem Ausgang zu. Aber seine Augen konnten niemand mehr sehen. Unentschlossen stand er ein paar Sekunden da, bis sich wie in plötzlichem Besinnen seine Gestalt aufrichtete; dabei weiteten sich seine Augen und die Brauen darüber schoben sich dicht zusammen, worauf er gegen die Loge des Portiers zueilte und an diesen die Frage richtete:

»Haben Sie Fräulein Frommel nicht eben gesehen?«

Der würdevolle Portier mit seinem langen Bart und den verschiedenen Ehrenzeichen auf seiner breiten Brust, der zu Direktor Streitter zum erstenmal von jener Fremden gesprochen hatte, nickte zustimmend:

»Ja, ja! Sie kam auch von der Weinabteilung her.«

»Wo ist sie hin?«

»Die Treppe hinauf. Sie schien es sehr eilig zu haben.«

Da fragte Direktor Streitter nichts mehr, sondern eilte in der gleichen Richtung davon die Treppe empor.

Kopfschüttelnd schaute ihm der Portier nach und brummte dann leise vor sich hin:

»Da scheint ja nun alles so weit zu sein. Jetzt läuft er ihr nach. Es war doch so, daß dieses Fräulein Frommel zu denen gehört, die einen suchen. Das dürfte allerdings im »Adlerhorst« nicht sein. Aber mich geht es nichts an, mich nicht.«

Inzwischen war Lothar Streitter die Treppe zu dem zweiten Stockwerk hinaufgekommen und zögerte dort ein paar Sekunden. Die langen Korridore lagen still. Nur in der Ferne bog ein Stubenmädchen mit weißer Schürze und Haube in einen Seitengang ein.

Der Blick des Direktors glitt darauf die Treppe wieder hinunter, ob ihm jemand nachfolgte.

Dann erst eilte er weiter, bis er vor der Türe Nummer 51 stand. Und trotzdem dies ja die Tür zu seinem eigenen Zimmer war, zögerte er wieder und beugte den Kopf wie lauschend nach dem Türschloß. Dann erhob er sich auf die Zehen, so vorsichtig leise, als wüßte er sich auf verbotenen Wegen, und drückte ebenso bedächtig die Türklinke nieder.

Ganz langsam öffnete er; ein schmaler Spalt ließ in ein dunkles Zimmer sehen.

Auf den Zehen zwängte er sich durch den Spalt und schloß die Türe hinter sich.

Aber im Zimmer selbst gewahrte er einen schmalen Lichtstreifen, der aus der nur angelehnten Türe zu seinem Schlafzimmer drang. Ein matter Lichtschein nur, der nicht von der Zimmerbeleuchtung selbst kommen konnte, sondern der eher von einer Taschenlampe herrühren mußte.

Wie zu einem Steinbild erstarrt stand Direktor Streitter da und lauschte mit verhaltenem Atem.

Klang von dem Nebenraum nicht das leise Geräusch von Metall?

Und auf den Zehen schlich er darauf näher an die Türe. Schritt um Schritt mußte mit größter Vorsicht gemacht werden, wenn er nicht vorzeitig gehört werden sollte. Dabei ließ sich das schon einmal erlauschte Klirren jetzt deutlicher vernehmen.

Nun hatte er die Türe selbst erreicht. Er schob den Kopf vor; und da gelang es ihm auch, in das Innere zu sehen.

Jener matte Lichtschimmer, der ihm aufgefallen war, kam von einer Taschenlampe, die in der Hand einer ihm den Rücken zukehrenden, weiblichen Gestalt war, die in der Ecke seines Schlafzimmers kniete, über seinen Koffer gebückt. Scharf zeigte sich unter dem Lichtkegel dieser Laterne der gelbbraune Rohrplattenkoffer mit den Messingbeschlägen. Und ebenso deutlich ließen sich die blinkenden Dietriche in der schmalen, zierlich zarten Frauenhand erkennen, die damit beschäftigt war, den Koffer mit einem derselben zu öffnen.

Ein gespannter Ausdruck lag auf dem Gesichte des Lauschenden; aber er regte sich nicht.

Da mochte ein zufälliges Geräusch die auf dem Boden vor dem Koffer Kniende erschreckt haben, die unwillkürlich den Kopf hob und einen Augenblick um sich blickte.

Dabei aber war nun auch ihr Gesicht scharf beleuchtet.

Daisy Frommel!

Sie war es, die auf dem Boden kniete und mit falschen Schlüsseln den Koffer zu öffnen versuchte.

Nun wich Direktor Streitter ebenso langsam wieder von seinem Lauscherposten zurück, wie er sich hingeschlichen hatte. Dabei blieb sein Blick immer auf der Türe und auf dem schmalen Lichtstreifen ruhen.

Dann erst schaute er sich um und trat auf den Zehen zu dem Tische des Salons hin.

Dort erst blieb er stehen.

Suchend tastete seine Hand über den Tisch; es war ein vorsichtiges Greifen im Dunkeln. Er durfte kein vorzeitiges Geräusch machen; so schien es. Dann faßte die tastende Hand ein Glas.

Und dies Glas schien er nur gesucht zu haben, denn die Hand umfaßte es und zog es zurück; die Hand hob sich dann und warf das Glas auf den Boden, daß es klirrend in Scherben zersprang.

Gleichzeitig bückte er sich, als suchte er sich hinter dem Tische zu verstecken.

Nebenan im Schlafzimmer ließ sich in der nämlichen Sekunde ein erregtes Aufspringen hören, ein Klirren von Stahl, und dann erlosch auch jener schmale Lichtstreifen an der Türe. Huschende Schritte folgten, die aber nicht zu der Türe zu dem Salon herauskamen, sondern die sich nach einer anderen Richtung zu entfernen schienen.

Wieder nur Sekunden und dann war es so still, als wäre nichts geschehen, als wäre überhaupt niemand in den beiden Räumen.

Langsam richtete sich die Gestalt des Direktors Streitter wieder auf und schritt nun fester als vorher der Schlafzimmertüre zu.

In Dunkelheit lag der Raum; schattenhaft nur zeichneten sich die Gegenstände ab. Die Hand Streitters griff nach dem Einschalter der elektrischen Leitung und unmittelbar darauf flammte auch schon das Licht auf.

Die ersten Blicke galten dem Rohrplattenkoffer.

Noch war er versperrt.

Da flog ein grimmiges Lächeln über das bartlose Gesicht von Lothar Streitter; und er stieß mit dem Fuß wie verächtlich gegen den Koffer und von seinen Lippen klangen geflüstert und kaum hörbar die Worte:

»Dem allein galt alles! Es bleibt mir das Hindernis, bis ...«

Und das andere, das er noch erklärend hinzufügen wollte, verlor sich in einem unverständlichen Murmeln; dabei strich er sich mit der Hand über die Stirne hin, als wollte er sich von Gedanken frei machen.

Sein Kopf senkte sich tief auf die Brust nieder; so stand er einige Zeit wie überlegend.

Und wieder sprach er dann mit sich selbst:

»Was könnte sein, wenn das nicht wäre?«

Dabei stieß sein Fuß abermals gegen den Koffer.

Schließlich zog er aber die Schultern hoch, wie man etwas Unvermeidliches abfertigt, und ging nach der zweiten Türe des Schlafzimmers zu, die direkt auf den Korridor mündete, die aber stets versperrt war. Doch als er jetzt nach der Klinke griff, ließ sich diese öffnen.

Ein Lächeln flog über sein Antlitz hin.

Diese Türe hatte sie zuerst geöffnet, um sich einen sofortigen Rückzug zu ermöglichen. Es verriet dies ein geistesgegenwärtiges Handeln, daß an alle Möglichkeiten denkt. Der Gegner, mit dem er es zu tun hatte, war nicht zu unterschätzen.

Und wieder bewegten sich die Lippen, während Lothar Streitter nach dem Salon zurückging:

»Es muß etwas geschehen, um die Jagd zu Ende zu führen. Ich muß sie abschütteln, trotzdem ich dies letzte vermeiden möchte.«

Wieder erlosch das Licht im Schlafzimmer.

Und als Direktor Streitter kurz darauf wieder in der Weinabteilung erschien, in der die Flasche immer noch im Kühler stand, fragte der Kellner:

»Wo waren Sie nur so plötzlich hingegangen, Herr Direktor?«

»Nichts von Bedeutung! Ich hatte nur droben meine Streichhölzer vergessen.«

»Aber Herr Direktor, diese hätten Sie doch von mir auch erhalten können.«

»Allerdings, aber daran habe ich wirklich nicht gedacht.«

*

Tiefe Dunkelheit erfüllte die Dorfstraßen, schwere Wolken wurden über den Nachthimmel gejagt und erlaubten keinem Stern irgendwelchen Durchblick.

Hinter keinem Fenster der stillen Höfe brannte noch Licht; nur in dem niederen Einödgasthof, der außerhalb des Dorfes lag und der zumeist nur von Holzknechten aufgesucht wurde, war es noch hell.

Von der Bergstraße kam eine in einen Lodenmantel gehüllte Gestalt, die langsam und wie umherspähend dem Einödgasthof zustrebte.

Diese fremde Erscheinung schlich sich an eines der beleuchteten Fenster und drückte das Gesicht gegen die Scheiben, um in das Innere sehen zu können. Dieser späte Unbekannte schien jemand zu suchen.

Die forschenden Augen konnten von dem Fenster aus das ganze Innere der niederen Wirtsstube übersehen. Ein raucherfüllter kleiner Raum. An der Ofenbank des großen Kachelofens kauerte eine Kellnerin, die Hände auf dem Schoß, den Kopf tief auf die Brust gesenkt schlafend.

In der Wirtsstube selbst saß nur ein einziger Gast. Das war der Heiner Much, der sich über den Tisch beugte und mit seinen schweren, plumpen Händen ein geleertes Schnapsglas umspannt hielt. So döste der Much vor sich hin. Sein Geld war bereits wieder einmal ausgegangen und auf Kredit wurde ihm nichts mehr gegeben, selbst nicht im Einödgasthof. Gehen aber wollte er noch nicht, denn der Heiner Much hatte nur in irgendeinem Stallwinkel ein Unterkommen, nach dem er keine Sehnsucht verspürte.

Als der draußen am Fenster Lauschende dies sah, da nickte er wie zufrieden vor sich hin und ging dann nach dem Eingange der Gaststube. Als er die Türe öffnete, blickte die Kellnerin erstaunt über einen so späten Gast auf. Auch der Heiner Much hob den Kopf.

Das Licht der qualmenden Petroleumlampe fiel auf das bartlose Gesicht.

Da hatte es der Heiner Much auch schon erkannt und begann sofort abzurücken, als scheute er sich vor diesem Besucher. Das war ja der Fremde, der ihm damals am Abend am Dorfausgang in den Weg geraten und ihn zurückgerissen hatte, als er sich an jene schöne Fremde von dem Kurhotel oben gewagt hatte.

Scharfbeleuchtet war das Gesicht des Direktors Lothar Streitter aus Rotterdam zu erkennen.

Die Kellnerin schien über einen solchen Gast erstaunt und vergaß darüber vollständig nach dessen Wünschen zu fragen. Aber da nannte dieser auch schon seine Wünsche, wobei er mit der Hand auf den Heiner Much zeigte:

»Eine Flasche vom besten roten Wein und zwei Gläser, denn ich will beim Trinken Gesellschaft haben.«

Jetzt schaute der Heiner Much mit tückischem Blick unter seinen buschigen Brauen hervor; es war, als schätzte er den Fremden ab, was dieser von ihm begehren konnte.

Direktor Streitter aber setzte sich zu diesem an den Tisch, worauf der Much wieder etwas abrückte.

»Ich hoffe, daß du kein Feind einer guten Flasche sein wirst.«

»Hat keine Gefahr! Wein bekommt unsereiner nicht oft und man begnügt sich schon mit einem Glas Schnaps. Aber mit einer Flasche Wein wird der Much auch noch fertig.« Dann sank seine Stimme zu einem Murmeln: »Weiß zwar nicht, womit ich mir gerade eine Flasche Wein verdient haben soll.«

Da rückte Direktor Streitter näher an ihn heran und erklärte mit flüsternder Stimme, damit es die Kellnerin nicht hören konnte:

»Es könnte doch sein, daß die Flasche erst verdient werden muß, die eine Flasche und noch manche dazu; daß es mir dabei auf eine ansehnliche Summe Geldes nicht ankommt, sage ich nur nebenbei.«

»He!«

Und der Much rückte darauf etwas näher.

»Still! Erst laß die Kellnerin wieder im Ofenwinkel schlafen.«

»Ich verstehe schon. Wohl ein Geschäft, bei dem man nicht gerne jemand zusehen läßt.«

Ein bestätigendes Nicken war die Antwort.

Unterdessen kam die Kellnerin wieder und stellte vor die beiden den Wein und auch die Gläser. Dann ging sie mit schlürfenden Schritten nach der Ofenbank, um dort bald wie vorher weiterzuschlafen.

»Prosit!«

Direktor Streitter schob das gefüllte Glas dem Much zu und forderte ihn auf diese Weise zum Trinken heraus. Dieser leerte das Glas auf einen Schluck:

»Das ist mal was anderes; es wärmt. So was trinkt der Förgatschbauer nur an den Sonntagen. Warum soll es dem Much weniger schmecken?«

Direktor Streitter füllte ein zweites Glas:

»Nur zu! Ist die erste Flasche leer, so kommt eben eine zweite auf den Tisch.«

Da lachte der Heiner Much:

»Das gefällt mir. So mag ich das Leben.«

»Und ist noch nicht viel! Kannst dir leicht so viel verdienen, daß du den ganzen Weinkeller des Einödgasthofs für dich haben kannst.«

»Oho! Dafür ließe sich manches tun. Aber du wirst auch nur so daherreden.«

»Zweihundert Mark lege ich dir in bar auf den Tisch.«

Mißtrauisch schaute nun der Much auf seinen Gastgeber.

»Und was wäre da alles notwendig?«

»Ich brauche einen Burschen, der Kraft genug hat.«

Da reckte sich der Heiner Much:

»He! Kraft!«

Dann strich er die Ärmel seiner Jacke zurück und ließ die braunen Arme sehen, die wie mit Muskeln bepackt waren.

»Hab' einmal einen zwei Zentner schweren Hirsch aus dem Revier vom oberen Schöllhorn bis nach Reuttwang getragen. Fünf Stund'. Dabei durfte mir kein Forstner begegnen. Was meinst du? Reicht das? Soll mir einer nur nachmachen.«

»Dann darf er vor nichts erschrecken.«

»Vor nichts?« Der Heiner Much zwinkerte mit den Augen und stürzte rasch das wieder gefüllte Glas hinunter. »Ich könnte dir erzählen, wie der rote Forstgehilf in den Hegnauerwänden verunglückte. Der glaubte auch, er könne jeden Wilddieb mit der Hand fangen. Ich fürchte mich vor nichts.«

»Und du weißt auch den Grenzsteig?«

»Soll ich das nicht? Für einen Wildschütz gibt es keinen Steig, den er nicht kennt.«

»Nicht so laut!«

Dann beugte sich Direktor Streitter so dicht an den Heiner Much, daß von dem Nachfolgenden, das er eifrig zu erklären versuchte, kein Wort mehr zu verstehen war.

Der Heiner Much hörte mit weitaufgerissenen Augen zu und nickte mehrere Male wie zustimmend und einverstanden.

Eine halbe Stunde später verließ dann Direktor Streitter zusammen mit dem Heiner Much die Gaststube, nachdem er vorher drei Flaschen Wein bezahlt hatte, die der Heiner Much fast allein leerte.

Im Dunkel der Nacht verschwanden dann die zwei in der Richtung zum Oberdorfe hinauf, wo auch der »Adlerhorst« lag.

*

Daisy Frommel hatte eine unruhige Nacht verbracht. Früher als sonst stand sie auf und machte sich bereit, in das Frühstückszimmer hinunterzugehen; sie wollte an diesem Morgen nicht allein auf ihrem Zimmer bleiben, um dort unten durch manches, was sich beobachten ließ, Zerstreuung zu finden.

Immer wieder war sie aus dem Schlafe aufgeschreckt, wobei sich ständig das gleiche Traumbild in stets wechselnder Form wiederholte. Immer war sie im Schlafe dabei, jenen Koffer im Schlafzimmer jenes Direktors Streitter aufzusperren; aber bald wurde sie durch die Gestalt einer knochigen Totenfigur zurückgerissen, bald gelang ihr das Öffnen und aus dem Innern stieg Direktor Streitter mit grinsendem Gesicht heraus, dann wieder sah sie nur Blut. Immer aber erschrak sie an diesen Träumen und fuhr dann entsetzt auf, um zu erkennen, daß sie nur von einem Traumbilde genarrt wurde. Dann wieder lag sie lange schlaflos und grübelte darüber nach, was wirklich geschehen war.

Sie hatte das Gewagteste versucht und war in das Schlafzimmer eingedrungen. Bis zum Koffer selbst war sie hingekommen, der in seinem Aussehen genau der gegebenen Beschreibung entsprach. Sie bemerkte sogar noch die Reste völlig vertrockneter Blutspuren.

War es also doch der Rohrplattenkoffer des Professors Marschall, mit dem der unbekannte Doktor Steffen entflohen war und in dem er die mumifizierte Leiche des Ermordeten mitgenommen haben mußte?

Aber gerade als sie unter den mitgenommenen Dietrichen den richtigen gefunden zu haben glaubte, der den Koffer öffnen sollte, da war sie durch das laute Geräusch aus dem Nebenraum so erschreckt worden, daß ihr keine andere Möglichkeit mehr blieb als der Weg zur Flucht.

So war ihr auch diese Möglichkeit im letzten Augenblick mißglückt.

Offenbar war jemand in den Salon gekommen und hatte im Dunkeln etwas umgestoßen. Ob dies Direktor Streitter selbst war?

Jedenfalls hatte sie nichts anderes darauf tun können.

Also ein neues Mißlingen.

Wußte sie jetzt mehr?

Wer war nun dieser Direktor Lothar Streitter? War er der gesuchte Doktor Steffen, der Mörder des Professors Marschall?

Da sie von diesen quälenden Gedanken frei werden wollte und doch keine Ruhe mehr zu einem Schlaf hatte, ging sie schon so früh in das Frühstückszimmer.

Es war dies ja auch die Zeit, um welche unten in der Station der Morgenzug einzutreffen pflegte.

Vielleicht kamen ihr dabei neue Einfälle.

Sie sah sich schon so nahe am Ziel, daß ihr doch das letzte auch noch gelingen mußte.

Allerdings! Vor dem Direktor Streitter durfte sie ihre Schwäche dann nicht zeigen, wenn er der Gesuchte doch nicht sein sollte. Sie durfte nicht das Mißtrauen zugestehen, mit dem sie dann die Rettung aus der Gewalt jenes Betrunkenen beantwortete.

Unten im Frühstücksraum war sie aber dann der einzige Gast; die Kellner waren erst dabei, die kleinen Tische zu decken.

Deshalb ging Daisy Frommel durch das Vestibül vor das Hotel hinaus.

Es war kühler Morgen; der Himmel war mit ziehenden Wolken bedeckt.

Bild: Ernst Dietrich

Als sie suchend um sich schaute, bemerkte sie plötzlich eine Gestalt, vor der sie unwillkürlich erschrak und zurückzuweichen versuchte. Aber schon war es dazu zu spät!

Schon war sie selbst auch gesehen worden.

Vor dem Hoteleingang stand neben dem Direktor des »Adlerhorst« die sehnige Erscheinung des Alexis Marlan, aber selbst in diesem Gespräch entging ihm die Gestalt von Daisy Frommel nicht, in der er Anita Wronker wiedererkannte.

Sofort eilte er nun auf sie zu, und empfing sie mit einem liebenswürdigen Lächeln:

»Gnädiges Fräulein, ich bin entzückt, daß es mir gelungen ist, Sie hier zu entdecken.«

Und er führte die Hand, die sie ihm bot, an seine Lippen.

»Ich aber bin überrascht, wie Sie hierher fanden. Wollen Sie hier Ihren Urlaub zubringen?«

»Oh, an Urlaub darf ich noch nicht denken. Sie wissen doch, daß immer noch die Verantwortung auf mir liegt, den Mörder des Professors Marschall ausfindig zu machen. Dienstlich bin ich hier!«

Einen Augenblick kniffen sich die Lippen Daisy Frommels, wie sie genannt wurde, zusammen. Sollte Alexis Marlan die gleiche Spur entdeckt haben?

»Dienstlich?«

»Ja, ich bin überzeugt, daß mir noch diesen Morgen die Verhaftung des gesuchten Doktor Steffen gelingen wird.«

»Doktor Steffen? Gedenken Sie diesen hier zu finden?«

»Allerdings, gnädiges Fräulein!«

»Ich bin ahnungslos! Wer sollte dies hier sein?«

Schärfer als vorher zeigte sich nun der spöttische Ausdruck in dem sonnverbrannten Gesichte Marlans:

»Ein angeblicher Herr Direktor Streitter aus Rotterdam.«

»Haben Sie denn Beweise?«

»Immerhin so viele, daß diese eine Durchsuchung von dessen Koffer berechtigt erscheinen lassen. Dabei wird sich dann ja herausstellen, was der Rohrplattenkoffer in gelbbraun enthält, den er bisher mit besonderer Sorgfalt in seinem Schlafzimmer versteckt hielt. Ahnten Sie von all dem nichts?«

Wieder ließ sich ein unverkennbarer Spott in der Frage von Alexis Marlan fühlen, den Daisy Frommel auch erkannte; sie beherrschte sich aber und entgegnete wie überrascht:

»Ich bin erstaunt! Denn Direktor Streitter scheint ein liebenswürdiger Herr zu sein.«

»Wirklich? Sollte sich jene Anita Wronker, die den Einbrecher und Juwelendieb Susman stellte, so sehr haben täuschen lassen? Fast nicht möglich.«

»Warum? Haben Sie denn schon Beweise in Händen?«

»In einer Viertelstunde wird es geschehen sein. Jener Direktor Streitter äußerte zwar diese Nacht vor seinem Schlafengehen den Wunsch, nicht vor neun Uhr geweckt zu werden. Zu meinem Bedauern kann ich aber nicht so lange warten, und dieser Herr wird die Störung schon entschuldigen müssen. Selbstverständlich sollen Sie dann von dem Erfolg die erste Verständigung erhalten.« Dann wandte sich Alexis Marlan an den Direktor des Kurhotels, der inzwischen ebenfalls langsam herangekommen war: »Sie werden mich nun sofort nach dem Zimmer dieses Herrn führen.«

»Zimmer 51. Gewiß! Das kann sofort geschehen.«

Alexis Marlan wandte sich nochmals an Daisy Frommel:

»Nur eine kleine Viertelstunde und das Geheimnis von dem Morde des Professors Marschall wird seine Aufklärung gefunden haben.«

Daisy Frommel nickte, befand sich aber trotz der äußerlichen Ruhe, die sie zeigte, doch in einer solchen Erregung, daß sie den zwei Voranschreitenden über die Treppe empor nachfolgte.

Zu dem Direktor des Hotels trat auf dessen Wink noch ein weiterer Angestellter, um schließlich zur Unterstützung in der Nähe zu sein, falls dies notwendig werden sollte.

Da kam nun allerdings rascher, als Anita Wronker es erwartet hatte, vor allem aber in ganz anderer Art, die Entscheidung, die sie bisher vergebens herbeizuführen versucht hatte.

Oben an der Treppe blieb sie stehen und konnte von dort aus zusehen, wie Alexis Marlan an der Türe, die in die beiden Zimmer führte, die Direktor Streitter gemietet hatte, mehrere Male pochte, ohne daß er anscheinend eine Antwort erhielt. Einige Male richtete er sich auf und wandte sich mit einer Frage an den Hoteldirektor.

Was gesprochen wurde, konnte Daisy Frommel von ihrer Stellung aus nicht hören.

Dagegen sah sie dann, wie Alexis Marlan die Türe zu öffnen versuchte, die dem Druck seiner Hand auch nachgab.

Dann traten die drei in das Zimmer.

Doch was ging jetzt dort innen vor sich?

Warum war es ihr selbst nicht geglückt?

War es nun jener Doktor Steffen, der vielleicht im besten Schlafe aufgeschreckt wurde?

Langsam trat Daisy Frommel näher.

Was würde sich ergeben?

In der Nähe der Türe blieb sie dann stehen und hob lauschend den Kopf. Dabei fühlte sie eine solche Erregung, daß sie unwillkürlich die Hand gegen das Herz preßte.

Aber es dauerte nicht lange, da kam Alexis Marlan bereits wieder aus der Türe geeilt, worauf ihm der Hoteldirektor nachfolgte.

So plötzlich und heftig kam Marlan herausgestürmt, daß er Daisy Frommel beinahe überrannte. Er stammelte eine kurze Entschuldigung.

Aber sie hörte nicht darauf, sondern fragte nur von diesem einen Gedanken beherrscht:

»Ist er es? Ist es Doktor Steffen?«

Sofort blieb Alexis Marlan stehen und dabei flog ein wütendes Lächeln über sein Gesicht:

»Ob er es ist? Natürlich! Sie waren in täglicher Gesellschaft mit diesem Doktor Steffen.«

Da streckte sie sich:

»Also doch! Was sagt er? Hat er eingestanden?«

»Eingestanden? Ja, das hat er getan, aber etwas anders, als sie vielleicht vermuten. Gestanden, aber durch seine Flucht.«

»Wie? Durch seine Flucht?«

»In dieser Nacht! Deshalb wollte er erst um neun Uhr geweckt werden.«

»In dieser Nacht geflohen?«

Und sie dachte dabei an ihr eigenes Erlebnis am Abend vorher. So war es also doch Direktor Streitter selbst, der sie bei ihrem Versuch, in seinen Koffer einzudringen, belauscht und gestört haben mußte. Deshalb war er dann in dieser Nacht noch geflohen. Nur deshalb!

Dann konnte es aber nur im Schuldbewußtsein geschehen sein! Dann hatte ihn nur die Furcht fortgejagt.

Und hastend fügte sie die weitere Frage hinzu:

»Der Koffer aber? Was ist mit dem Koffer? Haben Sie diesen geöffnet?«

Da ließ Alexis Marlan ein wütendes Lachen hören, das über seine dünnen Lippen zischte:

»Der Koffer. Das ist ja das ärgerliche! Den Koffer hat er auch diesmal wieder mitgenommen.«

Überrascht fuhr Daisy Frommel auf:

»Wie ist das möglich? Da hätte er doch gesehen werden müssen. Er kann doch den Koffer nicht allein aus dem Hotel hinausgetragen haben.«

»Freilich nicht! Aber er muß die Gefahr genau geahnt haben, sonst hätte er das nicht in dieser Nacht noch gewagt. Er hat den Koffer mit einem Seil aus dem Schlafzimmerfenster hinabgelassen. Das Seil hängt jetzt noch am Fensterkreuz. Er selbst ist anscheinend auf dem gleichen Wege aus dem Hotel geflohen, denn niemand hat ihn gesehen.«

»Aus dem Fenster?« wiederholte sie kopfschüttelnd, so überraschend traf sie diese plötzliche Mitteilung.

»Ja! Sie können sich selbst davon überzeugen. Vielleicht finden Sie noch mehr! Jedenfalls aber muß er bei dieser neuerlichen Flucht die Hilfe eines zweiten erhalten haben. Allein kann er das nicht fertig gebracht haben.«

»Aber wer sollte das gewesen sein? Ich weiß bestimmt, daß er mit keinem Menschen verkehrte.«

»Das weiß ich vorerst auch nicht. Aber nur mit der Hilfe eines zweiten kann ihm diese Flucht geglückt sein. Nun heißt es zur Bahn zu kommen, um feine Spur aufzugreifen, soweit dies noch möglich sein kann. Sie müssen mich entschuldigen, aber diesmal soll dieser geheimnisvolle Doktor Steffen mit seinem Koffer nicht wieder in gleicher spurloser Weise verschwinden können.«

»Und ich? Darf ich auf eigene Verantwortung in die Zimmer hinein?«

»Selbstverständlich! Dort ist nichts mehr zu finden, was von Bedeutung sein könnte. Nur am Bahnhof kann vielleicht noch etwas entdeckt werden. Sie entschuldigen, aber es gilt den Mörder des Professor Marschall zu fassen.«

Damit machte Alexis Marlan gegen Daisy Frommel, die jetzt natürlich keine Veranlassung mehr hatte, ihren wirklichen Namen Anita Wronker noch länger zu verbergen, eine höfliche verabschiedende Verbeugung und eilte mit dem Hoteldirektor rasch der Treppe zu und über diese hinunter.

Anita Wronker blieb sinnend stehen; ihre Brauen über den großen, schwarzen Augen schoben sich dicht zusammen, während sie vor sich hinmurmelte:

»Also doch! Er muß es demnach gewesen sein. Wieder glückte ihm die Flucht! Doch diesmal, wenn ich ihn finde, dann ist er verloren.«

Und sie ging durch die Türe in die beiden Zimmer des angeblichen Direktor Lothar Streitter aus Rotterdam.


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