Björnstjerne Björnson
Kapitän Mansana
Björnstjerne Björnson

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I.

Auf einer Reise nach Rom kaufte ich mir, ehe ich in den Waggon stieg, in Bologna die Tagesblätter. Unter denselben befand sich auch eine florentinische Zeitung, in welcher ein römischer Brief meine Aufmerksamkeit bald vollständig fesselte; denn er versetzte mich um dreizehn Jahre zurück, in die Zeit eines früheren Aufenthalts in Rom, und geradewegs zu meinen Wirtsleuten in eine Ortschaft unfern der Hauptstadt, welche damals noch dem Papste angehörte.

Die Korrespondenz meldete, daß die Gebeine des Patrioten Mansana, welche bisher im Verbrecherkirchhofe zu Rom gelegen, auf Ansuchen seiner Vaterstadt seien ausgegraben worden und nun in ein paar Tagen vom Gemeinderat derselben und von den Abgeordneten verschiedener römischer und anderwärtiger Vereine nach A., Mansanas Geburtsort, würden geleitet werden. Daselbst harrte der Leiche ein Denkmal und ein festlicher Empfang; der Märtyrer sollte seinen verspäteten Lohn erhalten.

Und in dieses Mansanas Haus hatte ich vor dreizehn Jahren gewohnt; seine Frau und die Frau seines jüngeren Bruders waren meine Wirtinnen gewesen, allein von den Brüdern selbst befand sich damals der ältere in einem Kerker zu Rom, der jüngere landesflüchtig in Genua.

Der Artikel schilderte des ferneren Mansana des Älteren Lebenslauf; bis auf den letzten Teil kannte ich denselben schon vorher, und gerade dies erhöhte meinen Wunsch, mich dem Zuge anzuschließen, welcher am nächstkommenden Sonntag von der Piazza Barberini in Rom ausgehen und in A. enden sollte.

Und Sonntag um 7 Uhr morgens, an einem grauen Oktobertage, stand ich auf dem Platze. Ich bemerkte eine Menge Fahnen, gefolgt von den Männern – in der Regel waren es je sechs –, welche jeder Verein dazu gewählt hatte. Ich hielt mich zu einer Fahne, welche die Inschrift »Kampf fürs Vaterland« trug und zu den Leuten, welche ihr in rotem Hemde, eine Schärpe um den Leib und einen Mantel um die Schulter, die Beinkleider in den Stiefelschaft gesteckt und den breitkrempigen Hut mit Federn geschmückt folgten.

Welche Gesichter! Welche Entschlossenheit!

Wenn man das bekannte Bild Orsinis gesehen, des Mannes, welcher Napoleon III. Bomben nachwarf, dann hat man das italienische Typengesicht dieser Männer vor sich, welche sich gegen die Gewaltherrschaft des Staates und der Kirche erhoben und, Gefängnis und Richtstätten Trotz bietend, sich zu schrecklichen Vereinen verbanden, – den Krystallisationspunkten des Heeres, welches nachmals Italien befreite. Und Napoleon war eben Mitglied eines solchen Vereines gewesen; gleich allen Kameraden hatte er geschworen, jede Stellung, welche er erlange, zu Italiens Glück und Einheit auszunützen, – wenn nicht, so habe er sein Leben verwirkt. Und der Mitcarbonari Orsini war es, welcher Napoleon an diesen Eid erinnerte, als derselbe Kaiser von Frankreich geworden. Und Orsini that es derart, daß Napoleon wußte, was ihn erwartete, wenn er den Eid nicht hielte.

Als ich damals Orsinis Bild betrachtete, war mein erster Eindruck der, daß zehntausend solcher Männer die Welt müßten erobern können. Und hier stand ich vor Menschen, welche die gleiche Not des Volkes mit gleicher Willenskraft gerüstet. Nun hatte sich eine Art Ruhe auf diese Willenskraft gesenkt; allein etwas Düsteres über den Augen verriet, daß es nicht die Ruhe der Zufriedenheit sei. Die Medaillen auf ihrer Brust bezeugten, daß sie 1849 bei der Porta San Pancrazio gewesen, als Garibaldi zweimal die an Zahl überlegenen Franzosen zurücktrieb, daß sie 1858 am Gardasee, 1859 in Sicilien und Neapel mitgethan. Und was die Medaillen nicht erzählten, auch das gehörte wohl in ihre Lebensgeschichte, nämlich daß sie bei Mentana gestanden.

Solche von der Regierung nicht anerkannte Walplätze sind es, deren Gedächtnis sich am tiefsten in die Seele des Volkes eingebrannt hat. Und dies bekam Napoleon zu fühlen, als er sich Italiens Hilfe gegen Deutschland gesichert wähnte; Mentana verbot dem König und der Regierung, ihr Versprechen einzulösen; es würde dies eine Krone gekostet haben.

Der Gegensatz zwischen der finsteren, entsetzlichen Thatkraft des italienischen Volks und der spöttischen oder nur leichtfertigen Sorglosigkeit seiner Apathie ist nicht größer als der Gegensatz zwischen solchen orsinischen Charakterköpfen um mich herum und den bald höhnisch feinen, bald ganz unbekümmerten Gesichtern unter den Zuschauern und den Repräsentanten, welche Fahnen mit Inschriften wie »freie Presse«, »Gedankenfreiheit«, »freie Arbeit« u.s.w. folgten.

Unwillkürlich mußte ich denken: es ist der Leichtsinn des einen Teils, welcher die Willenskraft des anderen hervorgetrieben hat. So groß, so allgemein war dieser Leichtsinn gewesen, daß nun die Energie der Wiedererhebung so mächtig, so düster werden mußte.

Und durch mein Gedächtnis zog die Geschichte Italiens in ihren leichtsinnigen und in ihren willenskräftigen Gestalten. Ich zog kreuz und quer von Brutus zu Orsini, von Catilina zu Cesare Borgia, von Lucull zu Leo X., von Savonarola zu Garibaldi, und während dessen setzte sich der Zug in Bewegung, die Fahnen flatterten, die Ausrufer priesen schreiend ihre Blätter und Heftchen mit Mansanas Biographie an und die Prozession bog in die Via Felice ein. Stumm ging es vorwärts; in so früher Stunde lieferten die hohen Häuser wenig Zuschauer; noch weniger Menschen zeigten sich, als wir durch die Via Venti-Settembre am Quirinal vorbei kamen, etwas mehr, als wir zum Foro Romano hinab und dann am Coliseo vorüber zur Porta Giovanni zogen.

Vor dem Thore draußen harrte der Leichenwagen. Die Municipalität hatte denselben beigestellt und ihre Diener führten ihn. Derselbe bewegte sich sogleich vorwärts. Hinter dem Wagen schritten zwei junge Männer, der eine in Civilkleidung, der andere in der Uniform eines Bersagliere-Offiziers. Beide waren groß, mager, muskelig, mit kleinen Köpfen, kurzer Stirn, – beide einander in Gestalt und Antlitz ähnlich und doch so unendlich verschieden; es waren die Söhne des Verstorbenen.

Ich erinnerte mich ihrer noch als dreizehn-, vierzehnjähriger Jungen und der Umstand, an welchen sich diese Erinnerung knüpfte, war eigentümlich genug; ich erinnerte mich, daß ihre alte Großmutter nach ihnen mit Steinen warf und daß die Knaben in einiger Entfernung standen und sie nur auslachten. Ich erinnerte mich plötzlich ganz deutlich der mächtigen, zornvollen Augen, der sehnigen aber runzeligem Hände der alten Frau; ich erinnerte mich ihres emporgeträubten grauen Bürstenhaars und des kaffeebraunen Gesichtes, und nun, als ich die Jungen wiedersah, hätte ich fast behaupten mögen, jener Stein habe getroffen und er sitze noch fest!

Wie ihre Großmutter sie haßte! Hatten sie ihr dazu Anlaß gegeben! Gewiß; denn Haß erzeugt Haß und Krieg wieder Krieg. Aber uranfänglich? Ja, da war ich nicht dabei; aber erraten kann man es leicht.

Sie war frühzeitig Witwe geworden, die Alte, und stark und schön, wie sie war, betrachtete sie der Leute Gunst und Teilnahme als Einnahmsquelle für sich und ihre zwei Söhne, von denen nun einer hier auf der Bahre lag. Diese Söhne waren das einzige, was sie liebte, und zwar mit einer »rasenden« Liebe, und diese ermüdete die Söhne. Und wenn sie sahen, mit welcher List die Mutter den Vorteil, welchen sie als schöne Witwe besaß, ausnützte, um für die Knaben Güter zu erwerben, so verachteten sie diese Liebe auch. Nachdem sie sich einmal von ihr abgewendet hatten, warfen sie sich mit ihrer Neigung auf ideale Gegenstände, auf Italiens Freiheit, Italiens Einheit, wie junge, feurige Kameraden es sie gelehrt hatten; der Mutter »rasende« Beschränkung auf das, was ihr angehörte, begeisterte die Söhne täglich mehr, alles dem Allgemeinen zu opfern. Sie hatten nicht bloß so viel Kraft wie die Mutter, sie hatten deren noch viel mehr.

Es gab schwere Kämpfe und die Mutter unterlag; doch erst dann völlig, als ihre Verbindungen in den geheimen Gesellschaften den Jünglingen einen Umgang geschafft hatten, welcher weit über die Stadt und den Kreis hinausragte, dem die Mutter angehörte. Dann führte jeder von ihnen eine Braut von viel angesehenerem Hause heim, als das der Mutter gewesen, – mit einer Aussteuer, viel größer als die ihrige, mit einer Mitgift, welche sie bedeutend nennen mußte. Da schwieg sie eine Weile, denn es schaffte ja Vorteil, ein Vaterlandsfreund zu sein.

Allein die Zeit kam, wo beide Söhne sich flüchten mußten, wo der ältere eingefangen und in den Kerker geworfen wurde und ein schreckliches Aussaugungssystem ganz öffentlich Platz griff; – denn unredliche Beamte erkoren sich die wehrlosen Witwen zur Beute; es kam die Zeit, wo erst ihr Haus mußte verpfändet werden, dann der eine Weingarten und hierauf der andere, ja, es kam die Zeit, wo die Gläubiger den einen nahmen! Und es kam die Zeit, wo die vornehmen Gattinen der Mansanas, zwei Jugendfreundinnen, gleich Mägden im Felde, in der Vigne, im Hause arbeiteten, wo sie ihre Zimmer vermieteten und aufwarten mußten und zu all dem noch spottende Worte hinnehmen – nicht bloß von den Klerikalen, welche unter der päpstlichen Herrschaft auch die unumschränkten Gebieter der Stadt waren, sondern von anderen; denn sehr gering war damals die Zahl jener, welche die Frauen um des Opfers willen ehrten, welches ihre Männer dem Vaterlande gebracht und welche gleich diesen ihre Hoffnung auf Freiheit, Aufklärung und Gerechtigkeit gesetzt hatten. Nun hatte die Alte gesiegt! Allein wie? So, daß sie über ihre verschmähte Zärtlichkeit, ihre verschmähten Ratschläge, ihr verlorenes Vermögen weinte und sich erhob und den Söhnen fluchte, welche sie verlassen und geplündert hatten, – bis ein Blick ihrer älteren Schwiegertochter, ein einziger, stummer, sie wieder zum Kamine niederzwang, bei welchem sie müßig zu sitzen pflegte, wenn ein solcher Anfall über sie kam. Nach einer Weile ging sie dann hinaus und traf sie da die beiden Enkel, bei welchen sie leider schon den hellen Funken unter der kurzen Stirn zu entdecken glaubte, welchen sie an den Söhnen erst so geliebt und dann so gefürchtet hatte, so zog sie die Kinder blitzschnell an sich, warnte sie vor der Wegen ihrer Väter, schalt auf das Gesindel, welches keinen Schilling, geschweige denn das Opfer der Wohlfahrt, Familie, Freiheit wert war und verfluchte schließlich ihre Söhne, die Väter dieser Knaben; sie seien die herrlichsten, aber auch die undankbarsten und dümmsten, welche irgend eine Mutter dieser Stadt jemals geboren. Und die Unglückliche schüttelte die vor ihr stehenden Kinder.

»Wollt ihr vernünftig sein, Mistbuben ihr; was steht ihr denn und lacht! Seid nicht wie euere blöden Mütter da drinnen, welche sich in die Narrheit meiner Söhne vergafft haben; – ich lebe ja unter lauter Verrückten!« Und sie stieß die Kinder von sich und weinte, erhob sich und ging noch weiter abseits.

Späterhin machten weder Großmutter noch Enkel so viel Umstände mit einander. Diese lachten sie aus, wenn sie ihre Wutanfälle bekam und jene warf Steine nach ihnen, und zuletzt stand es so, daß die Knaben, so oft die Alte allein saß, ihr zuriefen:

»Großmutter, bist du wieder verrückt?« – und es flogen Steine.

Warum aber wagte die Alte der Schwiegertochter gegenüber nichts zu äußern? Aus demselben Grunde, aus welchem sie in früheren Tagen auch den Söhnen gegenüber den Kürzeren gezogen.

Ihr eigener Mann war kränklich gewesen, außer stand seine Wirtschaft zu betreiben; er hatte sie genommen, um sein Selbst zu ergänzen. Allerdings brachte sie ihr Eigentum in die Höhe, doch ihren Mann brachte sie herunter.

Er besaß ein feines Lächeln, allerlei Kenntnisse und ein Herz voll Sehnsucht – und er litt in ihrer Gesellschaft bittere Not. Seine edlere Natur vermochte sie nicht zugrunde zu richten, wohl aber seine Gesundheit und sein Glück. Und da geschah es, daß all das Schöne, welches sie verachtet hatte so lang er lebte, über sie den Sieg davontrug nun er tot war. Und als dies Schöne wieder in der Begeisterung der Söhne zum Vorschein kam und als vorwurfsvolle Erinnerung aus dem reinen Blicke der Schwiegertöchter leuchtete, da war sie ganz verloren.

Ich sagte, der Stein der Großmutter habe die Enkel getroffen und sitze noch immer fest. Seht die zwei Männer hier gehen! Der jüngere, der in Civil gekleidete, hat ein Lächeln auf den ziemlich schmalen Lippen, ein Lächeln auch in den kleinen Augen, doch ich glaube nicht, daß man ihn reizen dürfte! Durch die Hilfe der politischen Freunde seines Vaters war er emporgekommen, hatte frühzeitig gelernt sich zu bücken und zu danken, – allein ich glaube, nicht aus Dankbarkeit.

Doch nun seht den älteren! Derselbe kleine Kopf, dieselbe kurze Stirn wie der Bruder; aber beides breiter. Kein Lächeln um den Mund und keines in den Augen; ich wünschte nicht einmal ihn lächeln zu sehen. Hoch und schlank wie der Bruder, war er doch knochiger, und während beide den Eindruck gelenkiger Kraft machten, als könnten sie über den Leichenwagen springen, machte der ältere noch dabei den Eindruck, als habe er auch gute Lust dazu; denn der Überschuß an Stärke, welcher sich im halb schlendernden Schritte des jüngeren äußerte, war beim älteren zu ungeduldiger Elasticität geworden; er ging wie auf Stahlfedern. Offenbar war sein Geist nicht anwesend; die Augen blickten weit hinaus über alles, – und als ich ihm später meine Karte gab und meine alten Erinnerungen hervorholte, merkte ich, daß dem wirklich so war.

Im Zuge sprach ich mit einigen Leuten aus jener Stadt; ich fragte nach der Großmutter Mansana; sie lächelten und erzählten eifrig, immer ein paar auf einmal, die alte Frau habe noch erlebt, daß das Haus schuldenfrei gemacht, der eine Weingarten zurückgekauft, der zweite und die Felder ausgelöst worden seien. All dies war aus Dankbarkeit gegen den Märtyrer der Vaterlandsliebe geschehen, dessen Ruhm nun auf aller Lippen schwebte; denn nun war derselbe der Stolz der ganzen Stadt, welche zum Befreiungswerke nichts als sein und seines Bruders Leben beigetragen.

Also all dies hatte sie noch erlebt!

Und ich fragte nach den Frauen beider Märtyrer.

Nun, die jüngere war zusammengebrochen, hauptsächlich infolge des Schmerzes um den Verlust ihres einzigen Kindes, einer Tochter. Allein die ältere, die Mutter dieser jungen Männer, ja, sie lebte. Das Gesicht der Erzählenden wurde ernst, die Stimme milde; das Wort führte bald nur mehr ein einziger, unter ausfüllenden Zusätzen der übrigen, und all das mit einer gewissen langsamen Feierlichkeit. Offenbar hatte sie über jene Macht gewonnen, die reine Frau mit der großen Seele.

Ich hörte, sie habe es verstanden sich mit ihrem Manne in Verbindung zu setzen, während er noch im Gefängnis saß, habe ihm mitgeteilt, daß Garibaldi einen Aufstand im Innern der Stadt und einen Anfall von außen plane und daß man erwarte, Mansana werde frei werden; er sollte dann die Unternehmungen in Rom leiten.

Und er wurde frei! Er verdankte dies der eigenen seltsamen Willenskraft und der klugen Treue seiner Frau. Er stellte sich wahnsinnig – es geschah nach ihrem guten Rat; – er schrie, bis er keine Stimme mehr hatte und dann weiter, bis er vor Erschöpfung nicht mehr konnte; denn zugleich nahm er keinen Bissen und keinen Tropfen Nährendes zu sich. Dies setzte er fort, bis er dem Tode nahe ins Spital der Irrenanstalt gebracht ward; die Frau durfte ihn besuchen, – und von hier flohen sie, nicht aus der Stadt, nein, die großen Vorbereitungen verlangten seine Gegenwart und sie pflegte ihn erst und dann teilte sie sein waghalsiges Unternehmen.

Wer an seiner Statt hätte nach so langem Gefängnisleben nicht die freiheitliche Erde gesucht, wenn dieselbe nur zwei, drei Meilen weit entfernt lag! Und einer von jenen, für welche er sein Leben und all sein Eigentum aufs Spiel setzte, verriet ihn; er wurde wieder gefangen und mit ihm ein großer Teil des Plans zu nichte, d. h. es führte zu einer Niederlage an der Grenze, zur Verurteilung von Tausenden, zu Kerker und Tod, in der Hauptstadt und in der Provinz. Ehe die große Stunde der Befreiung schlug, war Mansana enthauptet und mit seinen Zellengenossen, Dieben und Mördern, in Roms großem Verbrecherkirchhofe begraben worden, – und aus diesem war er heute erstanden!

In einen langen schwarzen Schleier gehüllt erwartete ihn die Witwe vor der übrigen Menge auf dem flaggengeschmückten Friedhofe seiner Vaterstadt. Das schon vollendete Denkmal sollte nach dem neuerlichen Begräbnis unter dem Donner der Kanonen enthüllt werden und später abends sollten hochflackernde Festflammen von den Bergen herab darauf Antwort geben.

Über die gelbgraue Campagna hin ging es den Bergen zu. Und wir kamen bald zu dem einen, bald zu dem anderen Gebirgsort, – überall eine unabsehliche Menschenmenge mit entblößten Häuptern. Aus den Nachbargauen war das Volk herbei geeilt; Musikkapellen spielten in den engen Gassen; Teppiche und Fahnen hingen aus allen Fenstern; Kränze flogen, Blumen fielen, Tücher wehten und Thränen blinkten; wir nahten seiner Vaterstadt, wo der Empfang noch ergreifender ward und wohin uns die große Masse aus den übrigen Orten zu nicht geringem Teile gefolgt war; jedoch am ärgsten wurde das Gedränge bei und in dem Kirchhofe.

Ich als Fremder wurde besonders begünstigt und erhielt meinen Platz in der Nähe der Witwe. Viele weinten, als sie diese dastehen und stille Blicke auf den Sarg, die Blumen, die versammelte Menge werfen sahen. Sie weinte nicht; denn all dies zusammen, es gab ihr nicht wieder, was sie verloren, und gab ihm nicht mehr Ehre in ihrem Geiste. Sie blickte auf all' das, wie auf etwas, das sie schon vor Jahr und Tag gewußt.

Wie war sie doch schön!

Ich denke dabei nicht allein an die edlen Linien, welche nie vergehen, nicht an die Augen, welche einmal die herrlichsten der ganzen Stadt gewesen, ja, es noch vor dreizehn Jahren, als ich sie kennen lernte, waren, – obgleich sie damals schon zu viel geweint hatten. Nein, ich denke an den förmlichen Glorienkranz von Wahrhaftigkeit, den ihre Gestalt, Bewegung, ihr Antlitz, ihr Blick ausstrahlte. Diese Wahrhaftigkeit kündigte sich an wie das Licht und wie dieses verklärte sie jeden Gegenstand. Wer in Unwahrheit lebte und nahte dieser Frau, erfühlte dies gleich, wenn sie ihn ansah; sie bedurfte keines Wortes.

Nie vergesse ich das Zusammentreffen zwischen ihr und ihren Söhnen. Beide umfingen und küßten sie; jeden von ihnen hielt sie lange in ihren Armen, als betete sie für sie. Alles umher schwieg; einzelne nahmen unwillkürlich die Hüte ab. Der jüngere, welchen die Mutter zuerst umarmte, zog sich mit dem Taschentuch vor dem Gesicht zurück. Der ältere blieb stehen; denn sie sah ihn an; alle mußten ihn ansehen und er errötete tief. Ein unsäglicher Schmerz lag in ihrem Blick, – eine unergründlich tiefe Ahnung.

Wie oft habe ich mich seither daran erinnert!

Er schaute, während er errötete, sie wieder fest an, und sie schaute weg, um seinen Trotz nicht zu reizen; ganz deutlich war es so.

Die beiden Richtungen der Familie standen einander gegenüber.


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