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V. Die Jagd

1

 

Weib oder Kind, die beiden
Sind schwer zu unterscheiden.

Willst du das Weib dir fangen,
Bleibt's Kind im Netz dir hangen.

Und willst das Kind dir gewinnen,
Da flüchtet's als Weib von hinnen.

 

Der Frühling kam zeitig; im Lager der Jugend stieg der Jubel darüber in die weiche Luft hinauf. Der Frühling steckte ihr im Blut, mit Unruhe, tausend Einfällen, himmelstürmenden Plänen, ganz irdischen Schelmenstreichen, brausendem Taumel; es gab Tage, an denen die ganze Schulmaschinerie in Stücke zu gehen drohte und alle Kommandos zu Gelächter wurden. Ein Lärmen, ein Schelten, teilweise sogar Schläge, geschärftes Aufpassen, viele Künste, um den kleinen Weltkörper durch den gefährlichen Frühlingsgürtel hindurchzulenken, ohne ernstliche Zusammenstöße und Erschütterungen.

Sogar der Verein geriet ins Schwanken.

Wie wär's auch jetzt, wo die Bäume ausschlugen, möglich gewesen, am Garten vorbei- und in den inneren Hof hineinzugehen, und zu tun, als wäre an der Abhandlung einer Gefährtin über »die moderne Frauenkleidung« wirklich was dran. Hätte die Sitzung wenigstens draußen im Walde stattgefunden, so hätte »die moderne Frauenkleidung« sich im Heidekraut umherkugeln und in Fetzen zerreißen lassen, oder sich in einem Baum aufhängen können, und die Vögel hätten ihr Tirili darüber hinweg geschmettert. Jetzt scherten sie sich den Kuckuck um »die moderne Frauenkleidung«, die aus einem Aufsatzheft ihnen vorgeleiert werden sollte. I was, man ging eben einfach nicht hin. Nora wandte vergebens ihre ganze Überredungskunst und ihre ganze Erfindungsgabe an. – Doch da kam eine große Begebenheit – vielleicht auch aus Frühling und Frühlingstrieb geboren – und gleich »stob der Verein wieder voll«, wie Tora in ihrem Bergischen Dialekt schnarrte.

Miß Hall hatte in den obersten Klassen mit Energie eine Art Grundlage für die Vorträge zu schaffen gesucht, die sie in diesen Klassen zu halten hatte. Sie und die erwachsenen Mädchen hatten wirklich ganz tüchtig zusammen gearbeitet, aber das hatte denn auch die Folge, daß die Schülerinnen bei dieser strengen Arbeit volles Vertrauen zu der kleinen Miß gefaßt hatten; mit vollständiger Offenheit wurde von allem gesprochen, was die Konstitution und Gesundheit der Frau und die Pflege des Kindes betraf. Die Mütter hielten sich freilich im Namen ihrer Kinder so lange wie möglich verschämt, da diese selbst es nicht sein wollten. Die Väter unterstützten ihre Ehehälften darin; sie waren ungeheuer schamhaft. Aber da die schamlosen Mädchen immer schlimmer und schlimmer wurden, stimmte das Exempel zuletzt doch nicht.

Im Verein hatte dieses Wissen und vor allem dieses vertrauliche Verhältnis zu Miß Hall die Folge, daß die Frauenfrage allmählich auf das physische Gebiet hinüberglitt, und daß man dort ihre Ursache suchte. Ein Buch wurde wieder hervorgeholt, das den Grundsatz entwickelte, die Freiheit, die der Mann sich vor und teilweise auch in der Ehe gestatte, untergrabe den Charakter des Mannes und die Stellung der Frau und vererbe Treulosigkeit und Tyrannei von Generation auf Generation.

Karen Lote hatte in ihren kulturhistorischen Studien namentlich die Entwicklungsgeschichte der Ehe betont. Sie bewies nun, daß der Ausweg, der so oft vorgeschlagen worden war, nämlich der Frau dieselbe Freiheit zu geben, die der Mann sich nehme, ein Rückschritt, ein unerhörter Bruch in der Kulturentwicklung sein würde; denn diese gehe mit großer Bestimmtheit auf unverbrüchliche Monogamie als Ziel los, gleich heilig für den Mann wie für die Frau.

Miß Hall nahm nun in der nächsten Vereinssitzung die Sache von der physischen Seite. Kann physisch bewiesen werden, daß der Mann größeren Versuchungen ausgesetzt ist als die Frau, und deshalb eher zu entschuldigen ist? Sie bewies, daß im Gegenteil die Frau weit größere Versuchungen zu überwinden habe. Trotzdem sei die Regel, daß die Frau die Ehe durch ein keusches Leben respektiere, während man wohl behaupten müsse, daß beim Manne durchweg das Gegenteil der Fall sei.

Das rief eine mächtige Aufregung hervor. Also auch hier hatte der Mann sich das Recht des Stärkeren angemaßt, – vermeintlich zu seinem eignen Vorteil, aber in Wirklichkeit zu seinem eignen Verderben und zum Schaden der bürgerlichen Gesellschaft. Die Frau dagegen hatte in der zivilisierten Gesellschaft durch hunderte von Gliedern nur einem Manne angehört. Dadurch hatte sie eine angeborene Fähigkeit erlangt, treu zu sein. Folglich könne sich auch der Mann diese Fähigkeit erwerben. Während des Meinungsaustausches, der dem Vortrage folgte, stieg die Erregung noch, und im Laufe der Woche sammelten sich so viele Gedanken um diesen Gegenstand, daß eine neue Sitzung angesetzt werden mußte.

Zum erstenmal seit der Gründung des Vereins bat Tinka Hansen ums Wort. Eine Frau, die einen Mann mit einer unsittlichen Vergangenheit heirate, mache sich dadurch zur Mitschuldigen. Sie billige dadurch, daß ihr Geschlecht so behandelt werde. Und sie selbst erhielte die Strafe dafür. Ob denn die Frau sich einbilde, daß ein Mann, der sich an ein solches Leben gewöhnt habe, je damit aufhören könne?

Die jedenfalls könnten sich das nicht einbilden, die in den letzten Jahren alle die Vorträge mit angehört hätten, in denen nachgewiesen worden wäre, daß die Gewohnheit eine Nervenfrage sei. Kaum einer von Hunderten überwinde eine Gewohnheit aus freien Stücken; in der Regel müsse die bittre Notwendigkeit zu Hilfe kommen.

Wie immer hatte Tinka die Frage »mit Fredrik« verhandelt; kein Wunder daher, daß sie in allem, was sie sagte, Glaubwürdigkeit für zwei besaß.

Eine Erregung und ein Spektakel, wie noch nie seit Stiftung des Vereins. Zu zweien, zu dreien ließ man Äußerungen fallen wie: »Denk doch nur, einen Mann zu umarmen, der ...!« – »Denk dir, Brust an Brust mit einem, der ...!«

Diese geflüsterte Entrüstung sammelte Nora, indem sie das Katheder bestieg und erklärte: »Heut abend dürfen wir uns aber nicht trennen, ohne einander zu geloben, daß wir wenigstens alles tun wollen, damit die Frau in diesem Punkt Selbstachtung und Verantwortlichkeitsgefühl bekommt.« Noch hatte sie nicht ausgeredet, als alle sich erhoben, als sollte darüber abgestimmt werden.

Einige Tage darauf war schon wieder eine Sitzung. Es war etwas dazwischengekommen, das die Gedanken zersplitterte, eine neue Begebenheit.

Man hatte wohl bemerkt, daß Tora gern phantastische Märchen und ans Abenteuerliche grenzende Geschichten vortrug, – ihr Lieblingsbuch war Bulwers » A strange story«. Ihr Augustusköpfchen, schon so voll von Putz und bunten Stoffen und eleganten Schnitten, von fremden Sprachen, heimlichen Klatschgeschichten und allen weiblichen Eitelkeiten, – schwärmte für Mystik!

Plötzlich von einem ganz bestimmten Tage an jedoch hörte keine der Freundinnen ein Wort mehr davon. Nur einer, ein einziger sollte in Zukunft diese dunkle Seite ihres buntgesprengelten Wesens sehen. War es nur, um mit diesem einen das Eine gemeinsam zu haben – wie es junge Mädchen lieben? Oder war auch das eine Art von Mystik, daß er allein ganz dahinein paßte? Genug, wo sie von jetzt an mit Karl Wangen zusammentraf, sei es allein, sei es in Gegenwart von zwanzig andern – immer wußte sie es so einzurichten, daß sie miteinander flüsterten. Ihre Freundinnen wunderten sich nicht wenig darüber. Was in aller Welt hatte sie mit dem Pastor zu tuscheln? Er hatte ihr just in diesen Tagen » John Wesley« zu lesen gegeben. Sie verschlang das Buch, wie sie alle Bücher verschlang, und von da an sprachen die beiden nur noch über John Wesleys jähe Bekehrungen. Menschen, die unter den Einfluß seines Blickes, seiner Rede kamen, fielen um und waren von Stund an sein. John Wesley entstammte väterlicher- wie mütterlicherseits einer alten Pastorenfamilie; natürlich hatte das in hohem Grade seine Fähigkeit des Glaubens und der Verkündigung konzentriert. Sie zündete wie elektrische Funken; gewisse Naturen konnten ihr nicht widerstehen.

Wie das nun auf das Kurt-Geschlecht hinübergeführt wurde, für das Tora sich zu der Zeit außerordentlich interessierte, – ja, das war ihr Geheimnis. Aber gar bald saß der ehrliche Karl Wangen da und erzählte ihr begeistert von Tomas Rendalens Kampf, sich von dem Erbübel der Kurte freizumachen. Auch früher schon hatte Blutmischung in dem Geschlecht stattgefunden, auch früher war Widerstand gegen die Familiengewohnheiten geübt worden. Doch Tomas Rendalens Erziehung und Kampf waren mustergültig durch ihre Energie. Geheimnisvoll fragte Karl, ob ihr nicht Tomas Sauberkeit, seine ausgesuchte Art sich zu kleiden aufgefallen wäre. Ob sie nicht den leichten, fast unmerklichen Duft seiner – o, so teurer – Parfüms gespürt habe. Der folge ihm überall. Und mit Waschen und Baden beschäftige er sich fortwährend, fügte der junge Geistliche errötend hinzu ...

Die meisten glaubten, das sei Eitelkeit – und eitel sei er ja auch. Aber ob sie denn nicht ahne, was das bedeute? ... Tomas Rendalen habe infolge seiner Kämpfe zuletzt dasselbe Bedürfnis, dasselbe heilige Gefühl für Reinheit gewonnen, das jungen Mädchen angeboren sei. Ihm sei die Pflege und das Schmücken und der Duft des Körpers eine Art Tempeldienst – ganz wie für junge Frauen, denen Mittel und Zeit es gestatten ... Durch verschiedene Äußerungen von Tomas sei er darauf gekommen; es sei ganz sicher so. Seltsam, daß es gerade diese Form angenommen hat, nicht wahr? Aber das kommt vielleicht daher, weil er unter Mädchen aufgewachsen ist. Was sie dazu meinte? ...

Karl Wangen brachte diese letzte Vermutung mit großer Verlegenheit heraus; aus irgend einem Grunde schien es ihm am Herzen zu liegen, daß sie klar auffasse, man könne sehr wohl ein makel- und tadelloser Mann sein, ohne sich gerade zu putzen und mit Parfüms zu bespritzen.

Von diesem Augenblicke an hatte Tora Holm noch einen anzuschwärmen – noch einen auf ihrem reichen Repertoire.

Jetzt bildete sie sich ein, Rendalens Lebensplan und sein Wirken unter ihnen zu verstehen – und verstand sie auch nicht, oder besser dachte sie auch nicht nach über die Gründe seiner Stimmungsunruhe, seiner Verhältnislosigkeit – so vermochte doch nichts mehr das Bild, das sie sich von dieser »energischen« Natur gemacht hatte, zu trüben. Sie liebte ihn! Sie hatte kein andres Wort dafür, als daß sie alles, alles, was es auch sei, für ihn tun könnte. Und ebenso stellte sie es auch den andern dar; zunächst ihren besten Freundinnen, dann den nächstbesten, dann den nächstnächstbesten. Mit unverminderter Kraft sprudelte sie dieselbe Geschichte, noch ehe der nächste Tag um war, in derselben begeisterten Stimmung zum zwanzigstenmal heraus bis zu den letzten Gliedern der langen Freundinnenkette.

So große Begeisterung steckt an; wer von den Mädchen bisher noch nicht für Tomas Rendalen geschwärmt hatte, der schwärmte jetzt! Trotz der roten Haare, trotz der Sommersprossen und der flachen Nase, trotz der fahlen zwinkernden Augen und des augenbrauenlosen, unruhigen Gesichts – er war doch das Ideal eines Mannes! Er selbst kühlte diese Begeisterung allerdings einigermaßen ab, wenn er in die Klasse kam und an den Bänken auf- und abzurennen begann, ohne eine einzige der Mädchen anzusehen. Oder wenn er sich hitzig – ja, wutschnaubend, so daß alle zusammenfuhren – über etwas stürzte, das den Unterricht störte – denn in dieser Beziehung war nicht mit ihm zu spaßen! ... Aber sobald er gegangen war, flickten sie ihr Idealbild wieder zusammen; namentlich aber, wenn er einen Tag gut aufgelegt war und in seiner wunderbar energischen Weise in großen, klaren Zügen etwas darstellte – dann gab's auf der ganzen Welt nicht seinesgleichen!

Aber eben, weil es nur einen Tomas Rendalen gab, war es ganz natürlich, daß einige von den schwächeren Naturen sich zu fragen anfingen: »Aber, du lieber Gott, – wenn es nur einen gibt und unser so viele sind? ...« Ja, so fragten sie sich.

Ich will nicht verraten, wer es war, nicht einmal, wie viele es waren, die in diesen Zweifel verfielen. Die Frage selbst ist auch das Unbedeutendste an der Sache; nur auf die Antwort kommt es an. Die Antwort! Denn wir können nur ebensogut gleich eingestehen, daß einige von den Mädchen an dem Abend, da sie zu Tinka Hansens hochherziger Darstellung und Toras bleichem Gelübde so einstimmig »ja« sagten, sich ein wenig über ihre Kräfte angestrengt hatten. Das erkennt man erst später, wenn man in Ruhe an den einen denkt, den man heimlich lieb hat oder von dem man so gern geliebt sein möchte ... und von dem man weiß, daß er schon – – Ja, ja; denn die alte Kurtenstadt war ein fürchterliches Klatschnest.

Dann kommen einem leise Zweifel an jenen Kraftsätzen. Sollte man sich auf den bewußten jungen Mann, gleichgültig, was er getan hatte, nicht doch trotz allem verlassen können, wenn er nun ihr, der Einen, Treue gelobte? Und wenn sie auch ihm etwas gelobte? O, ganz gewiß! Er sollte schon ein artig Kind werden, wenn sie ihn nur erst mal hätte. Von den großen Theorien kann man nicht leben.

Aber da fand eine von ihnen, dies sei Verrat, und dann gerieten sie sich in die Haare, und es mußte eine neue Versammlung abgehalten werden. Da wurden alle diejenigen, die sich erkühnt hatten, ihre Ansicht zu ändern, aufgefordert, sich zu rechtfertigen. Anfangs wollte keine; aber schließlich sagte doch wirklich eine mutige Braune ganz offenherzig: Ihrer Meinung nach wären sie zu weit gegangen. Wenn alle Männer so wären, wie – ja, wie man sich's wünscht, – ja, dann! Aber so sind sie nun mal nicht – und was dann? ... Ja, dann stehen wir da!

»Gut, so stehen wir eben da!« lautete die Antwort. Auch auf diese heroische Antwort erfolgte eine Gegenantwort – und so bildeten sich zwei Parteien und eine Mittelpartei. Auf die letztern war jedoch nicht recht zu bauen, was bei Mittelparteien gewöhnlich der Fall ist. Tinka Hansen (und Fredrik) und alle, die mir ihr und ihm einverstanden waren – also die Fredericianer – kämpften für unbedingte Gleichheit beider Geschlechter. Unzüchtigkeit müsse fortan gleich streng beurteilt werden, gleichgültig, ob der Mann oder die Frau sich ihrer schuldig mache.

Miß Hall war die einzige von den Lehrerinnen, die bei dieser Versammlung zugegen war, und sie war eifriger »Fredericianer«. »Je scharfsichtiger allmählich unser Wissen wird, je weniger brauchen auch die Folgen der Unzüchtigkeit bei den beiden Geschlechtern verschieden zu sein. Nicht einmal das kann also mehr als eine spezielle Anklage gegen die Frau aufrecht erhalten werden. Diejenigen, die den Unterschied darin erblicken, daß das Vergehen der Frau das eigne Heim schände, während das des Mannes ... ein andres Heim, eines andern Frau, eines andern Tochter schände, diese mögen sich schämen und verstummen.«

Wenigstens zweimal kam Miß Hall hierauf zurück, da niemand darauf antwortete. Die Gegenpartei ging einfach zur Tagesordnung über; sie wiederholte in einemfort: Ein Mann könne ganz ausgezeichnet sein, auch wenn er, wie die Verhältnisse nun einmal sind, sich mal vergangen habe. Nur offenbare Unsittlichkeit mache eine Ehe unmöglich.

Die »Fredericianer« nahmen argen Anstoß an diesen »leichtfertigen« Worten. Das hieß ja der Fortsetzung weit die Tore öffnen. Man brauchte so starke Worte, daß auch die Gegenpartei wütend wurde. Allgemeine Aufregung entstand; alle redeten auf einmal, keiner hörte zu.

Das war am Donnerstag. Am Abend darauf saß der »Generalstab« bei Milla zusammen. Man hatte mit demselben Thema begonnen, war jedoch nach und nach wieder auf Rendalen zurückgekommen, welches Thema sich also als noch unerschöpflicher erwies als das andere.

Tinka saß da und kritzelte seine Handschrift auf großen Halbbogen nach. Die andern folgten diesen Versuchen mit Aufmerksamkeit. Seine großlinige Handschrift war ein Kontrast zu seiner sorgfältigen Toilette, nämlich nachlässig verschlungen, ineinandergezwirbelt, das eine Wort im andern.

Tinkas karikierte Proben sahen aus wie Stickmuster.

Sie schrieb: »Ich halte es nicht mehr aus – erwarten Sie mich heute abend neun Uhr auf dem Markt!« – Sie schrieb das als Randglosse zu dem, worüber sie sprachen, nämlich, wer von ihnen über einen solchen Brief am glücklichsten sein würde; sie schrieb es quer über den ganzen Bogen hin, groß ineinander verschlungen, und Blatt auf Blatt bemalte sie in dieser Weise.

Wer von den Vieren aber war es, der das ausheckte, was jetzt folgte? Darüber haben sie sich später nie einigen können. Nur eins steht fest, Milla war die einzige, die eine Einwendung machte; aber auch die war so schwach, so in Lachen erstickt, daß sie mit Fug und Recht für das Gegenteil erklärt werden konnte.

Jede von den Vieren hatte also am Sonnabend vormittag einen Brief zu besorgen. Der eine wurde in Karen Lotes Manteltasche gesteckt, der andre in die lange, verschossene, blaue Jacke der Zeichenlehrerin, der dritte und der vierte wurden in die Jacken von Miß Hall und einer der Sprachlehrerinnen hineingeschmuggelt.

Die Briefe waren nicht unterzeichnet, die Kuverts offen und ohne Adresse: – die Aufforderung war so flott hingeworfen, daß das Ganze für einen Scherz gelten konnte. Aber das war ja gerade das Verlockende an der Sache.

Denn andrerseits konnte man nicht leugnen, daß gerade dieses achtlos Hingeworfene Rendalen ähnlich sehen könnte, so, als ob etwas ihn quälte, dem er ein rasches Ende machen wollte.

Der Samstagabend war so friedlich und vergißmeinnichtsanft, daß keiner Verrat wittern konnte. Gegen neun Uhr kehrten die letzten biedern Spaziergänger von ihrem poetischen Abendgang zurück; die meisten zogen andächtig über den Marktplatz in die Stadt hinein. Um dieselbe Zeit kamen auch die Mädchen aus der Pension, die sich im Freien erholt hatten, durch die Allee zurück. Es war so ausgerechnet, daß der Generalstab sich an eine dieser Gruppen anschließen konnte, ohne Verdacht zu erregen, während er seine Schlingen ausnahm.

Natürlich waren alle vier zur Stelle. Sie schlossen sich an ein paar verdrießliche Freundinnen aus der Pension an und begleiteten sie. Sie richteten es so ein, daß sie gerade um die angesetzte Stunde über den Markt gingen. Und richtig – du barmherziger – ganz oben am Marktplatz, gerade an der Allee vorbei nach rechts hin schlüpfte – Karen Lote; ihre schlanke Gestalt, ihr grauer Mantel und ihre Hutfeder ließen keinen Zweifel. Gerade sie hier zu finden, kam ihnen allen so unerwartet, daß, wenn die von der Pension nicht so sauertöpfisch und müde gewesen wären, sie sicher ihre Verlegenheit gemerkt hätten. Konnte es wirklich Karen Lote sein? Jetzt drehte sie wieder nach links. Ganz offen vor aller Welt wanderte sie also hier auf und ab und erwartete jemand!

Die vier sahen sich starr an; sie lachten nicht, sie gaben sich kein Zeichen, – sie waren einfach baff.

Aber ihre Stimmung schlug plötzlich um, als sie die lange Zeichenlehrerin von oben her in die Allee einbiegen sahen. Schnell kam sie herunter und auf sie zu; ihr hatte man nämlich um dieselbe Zeit Rendezvous in der Allee bestimmt. Milla verkroch sich hinter Tora, Tora hätte sich am liebsten auch hinter jemand verkrochen. Sie mußten schnell irgend einen Ulk machen, um nur einen Vorwand zum Lachen zu finden.

Als die Zeichenlehrerin mit fieberhafter Hast vorbeistrich, hatten sie gerade Tinka Hansen in einen Graben gepufft, der zum Glück trocken war.

Nun waren sie aber drauf versessen, auch die beiden andern Schlingen auszunehmen. Sie gingen mit zu den Pensionärinnen hinauf, von wo sie den Hof überschauen konnten. Miß Hall hatten sie hinter der Turnhalle Stelldichein gegeben; aber falls sie nicht etwa ganz regungslos an der bezeichneten Stelle stand, so war sie nicht da. Viel besser erging es ihnen auch nicht auf ihrer Rekognoszierung des Gartens, wo die Sprachlehrerin hinbeordert war. Sie kam ganz richtig den Fußweg herunter, aber sie war mit mehreren zusammen und kam in vollem Lauf vom Walde heruntergesprungen; dabei sah sie sich nicht ein einziges Mal um. Hatte sie den Brief gelesen, so hatte sie ihn für einen Scherz gehalten ... Die Vier schlüpften durch die Gartenpforte auf demselben Wege hinaus; sie mochten Karen Lote nicht noch einmal begegnen.

Aber einige Stunden vorher hatte sich etwas zugetragen, das, wäre es nicht zum Halten gebracht worden, alles an den Tag gebracht hätte; und dann hätte wohl keine der Vier je wieder einen Fuß in die Schule gesetzt.

Miß Hall hatte um sechs Uhr, als sie von ihrem Spaziergange nach Hause gekommen war, sehr nervös und sehr bestimmt Herrn Rendalen zu sprechen verlangt. Sobald er kam, gab sie ihm den Brief. Er nahm ihn, las ihn, hielt ihn ein Stück von sich ab und fing an zu lachen; und als sie die Sache ernst nehmen wollte, lachte er noch mehr, dachte zuletzt ganz unbändig ...

Zehn Minuten später hatte er einen Brief von Miß Hall in den Händen, worin sie ihm mitteilte, daß sie mit dem nächsten Dampfer abreise. Er wütend zur Mutter hin, die er nach langem Suchen im Kuhstall fand. Höhnisch teilte er ihr alles mit und bemerkte, Miß Hall müsse verrückt geworden sein.

Jetzt stürmte Frau Rendalen zu Miß Hall. Diese war noch in gewaltiger Aufregung, weinte und gab wunderliche, heftige Erklärungen ab, während Frau Rendalen sich ein über das andre Mal die Brille abriß und sie putzte und putzte; sie verstand keinen Ton von der ganzen Geschichte. Vielleicht geht's besser, wenn wir englisch sprechen, dachte sie. Aber alles blieb ihr mystisch wie zuvor.

– Kurz und gut: weshalb sie denn so aufgebracht sei? Warum sie abreisen wolle? Was solle geschehen? Welche Genugtuung verlange sie?

– Sie verlangte, daß die Schuldige bestraft würde.

– Wenn's weiter nichts ist. – – –

Schnell liefen sie nun zusammen in die Zimmer der Pensionärinnen, die jetzt leer standen. Da machten sie sich ans Werk, Aufsatzbücher, Briefmappen, Bücherumschläge zu untersuchen; sie wollten dahinterkommen, wer in den ersten Klassen so nichtsnutzig sei, Rendalens Handschrift nachzuahmen. Von da ging's hinunter in die Klassen. Die obersten Klassen waren noch ganz so, wie die Schülerinnen sie verlassen hatten; denn der Reinmachetag dieser Klassen war Mittwoch, und der abendliche Kehrbesen war heute noch nicht bis hierher gelangt. Sorgfältig wurden alle fortgeworfenen Papierknäuel gesammelt, auseinandergefaltet und studiert, die Schreibbücher, die Schulbücher und die Pulte untersucht. Sie mußten durchaus herausbekommen, wer die Unglückselige sei, die Rendalens Handschrift nachahmte.

Alle taten esalle miteinander! –

Je mehr dieses Faktum offenbar wurde, daß also alle die erwachsenen Mädchen in der Schule sich mit nichts als mit Rendalen, Rendalen und immer wieder Rendalen beschäftigten – da milderte sich allmählich Miß Halls Zorn; – und zuletzt verließen die beiden die Schulzimmer, weder die eine noch die andre sprach ein Wort.

Miß Hall hat nie wieder von der Sache gesprochen ...

Aber Frau Rendalen sprach mit Karl Wangen. Und die Montagsandacht hatte als Text: »Man darf nie einem andern etwas antun, was man nicht will, daß der andre uns antue.« Das münzte er direkt auf die Jugend, die sich gern ein Hauptvergnügen daraus mache, andrer Leute Schwächen und wunde Punkte aufzustöbern und sie gerade da zu treffen.

Die Vier getrauten sich nicht aufzusehen, nur ganz verstohlen zur Seite, da, wo die Zeichenlehrerin saß, hinzulugen; sie hatte auch gerade heute den Einfall gehabt, sich an den Laboratoriumstisch, also mit dem Gesicht zu ihnen, zu setzen. Sie stützte ihren langen Arm auf den Tisch, ihr Kopf ruhte gesenkt auf der Hand; die andre Hand zupfte an etwas auf dem Tische, auf den sie unverwandt hinstarrte, und Träne auf Träne rollte ihr übers Gesicht, ohne daß sie sich rührte oder die Tränen trocknete; sie war ganz abwesend.

Alle vier sahen es. Und als die dritte Pause kam und die Lehrerin noch ebenso trostlos war, noch immer weinte, – da konnte Nora es nicht mehr aushalten. Sie zog sie mit sich in eins der Pensionszimmer, schlang die Arme um ihren Nacken und flüsterte: »Verzeihung, Verzeihung, Verzeihung.« Wofür, das wurde nicht gesagt.

In stummer Vertraulichkeit schmiegten sie sich aneinander; Trauer, Mitgefühl, Scham, Verzeihung verschmolzen ineinander ... Das arme, lange Mädchen, dem sie durch ihren Streich ihr teuerstes Geheimnis entlockt hatten, tröstete sich schließlich angesichts so grenzenloser Reue, so tiefen Verständnisses, so inniger Hingebung.

Noch an demselben Tage erfuhren Tora und Tinka, was Nora getan hatte. Sie wollten gleich dasselbe tun; aber das verhinderte Nora; die Unglückliche durfte um keinen Preis ahnen, daß mehr als eine um ihr Geheimnis wußte.

Karen Lote wurde krank. Rendalen mußte ihren Unterricht übernehmen und einige seiner Stunden an Miß Hall abtreten.

Alle drei fühlten, Karen Lote durfte man sich nicht einmal zu nähern wagen.

Wie hatten sie auch nur auf einen so scheußlichen Streich kommen können? Und das mitten in den erhabensten Verhandlungen über die Stellung der Frau, ihre Ehre, ihr Verantwortungsgefühl?

Milla wollte mit den drei andern gar nichts mehr zu tun haben. In der Schule hielt sie sich ganz für sich, und suchte man sie zu Hause auf, so war ihre Tür verschlossen. Alle hatten eine Empfindung, wie vor einem Gewitter.

Aber daß Milla sich so von ihnen zurückzog, als ob sie allein die Schuldigen wären und sie selbst gar nicht beteiligt – das konnte Nora denn doch nicht dulden ... Eines Tages also nahmen sie alle drei Milla auf die Seite und bestanden auf einer Erklärung von ihr. Beleidigt wollte Milla sich losmachen; aber das half ihr nichts. Und da kam's denn heraus, sie hätten Milla zu etwas verleitet, was unrecht war. Und da wolle sie eben nicht mehr mittun.

Als einzige Antwort bekam sie Noras große Augen; aber vor diesen Augen errötete Milla.

Selbstverständlich sei auch sie mitschuldig, das abzuleugnen, fiele ihr nicht ein; aber sie wünsche nicht, noch einmal in die Lage zu kommen, sich über sich selbst schämen zu müssen – das habe sie in diesen Tagen getan. Da fragten die andern, ob sie etwa meine, sie hätten sich weniger geschämt?

Milla vertraute ihnen nun mit etwas vornehmer Reserve an, daß sie in ihrem ersten Schreck über Karl Wangens Rede ihren Vater gefragt habe, ob er sie nicht auf seine Badereise nach Süddeutschland mitnehmen wolle. Mit großer Freude habe er ja gesagt; jetzt könne sie also nicht gut mehr zurück; in ein paar Tagen reise sie ab.

Anfangs empfanden die Freundinnen das Kühle in Millas Benehmen, daß sie wirklich so ohne weiteres hatte verschwinden wollen. Und Milla fühlte das sicher auch, denn sie schlug von dem Moment an um und versuchte den Eindruck möglichst zu verwischen. Jetzt war sie in jeder Beziehung die Liebenswürdigste. Und als die Zeichenlehrerin plötzlich in einem sehr hübschen Mantel und dito Hut erschien, ohne daß man herausbekommen konnte, wer »die gute Freundin« war, die ihr diese Sachen verehrt hatte, da war es den dreien sofort klar, daß Milla die Spenderin sei. Zwar leugnete sie es ab; aber dadurch wurde es ja nur noch reizender. Und so floß die kurze Verstimmung von beiden Seiten in einem noch innigeren Zusammenleben während der wenigen Tage bis zur Trennung zusammen. Millas Vater gab ein Abschiedsdiner. Das Hauptereignis dabei war die Enthüllung eines Kuchens, auf dessen Spitze vier zuckerne Jungfräulein sich an fingerlosen Händen hielten und um eine rote Fahne mit der Inschrift »Emanzipation« herumtanzten. Rings um den Sockel stand: »Der Verein«.

Aber Spott machte noch immer keinen Eindruck. Am folgenden Tage veranstaltete derselbe Verein Milla zu Ehren ein Abschiedsfest. Alle guten Geister waren über dieser ihrer letzten Zusammenkunft, über den vielen kurzen Reden, der Musik, dem Gesang, der ganzen Stimmung ... Eine kleine Sentimentale erinnerte daran, daß all das Herrliche, das sie in diesem Schuljahr zusammen erlebt hätten, oben am Grabe von Frau Engel begonnen habe, und jetzt hier mit dem Abschiedsfest für Milla seinen Abschluß fände. Da wurde Milla gerührt und ganz überwältigt. Sie erklärte, sie sei eine ganz Unwürdige, sie verdiene gar nicht alle die Güte, die ihr erwiesen würde; sie sei gar nicht so, wie sie alle dächten.

Tora ging zu ihr und umarmte sie, und alle fühlten, das war ehrlich gemeint. Tora war Milla so unendlich dankbar für die schönsten Tage ihres Lebens; das flüsterte sie ihr jetzt zu, und das tat so wohl. Alle beschlossen, Milla nach Hause zu begleiten, und Milla nahm Tora unter den Arm.

»Jetzt kommen gräßliche Tage für mich,« schluchzte Tora.

»Aber ich komme ja wieder, Liebste!«

Tinka schalt auf Toras Überspanntheit. Es fehlte nämlich nicht viel, so wäre das Ganze durch sie zur Karikatur ausgeartet, und das war direkt störend. Aber so war es eben immer mit Tora. Als sie an Millas Tür Abschied nahmen, lief Tora die Treppe hinauf ihr nach und hinein in den Hausflur. Sie konnte kein Ende finden. Dort zog sie ein Kästchen aus der Tasche, das Milla gleich wieder erkannte. Darin lag ihr einziges Kleinod, ein Erbstück von ihrem Onkel, der es in seiner Jugend aus Kalifornien mitgebracht hatte. Es waren kleine, rohe Goldklümpchen, zu einer schweren Kette zusammengeschmiedet, ein Prachtstück! Das drückte sie Milla in die Hand; sie selbst hatte es nie getragen.

Aber Milla wollte sie auf keinen Fall ihres Schatzes berauben; sie wüßte nicht einmal, wie sie einen solchen Schritt vor ihrem Vater rechtfertigen sollte. Sie schlug es auf das Bestimmteste ab, schließlich sogar ganz, so daß Tora gekränkt fortstürzte. Aber Milla holte sie wieder ein, hielt sie fest, zwang sie mit zu sich hinauf und küßte sie. Ob sie denn meine, Milla wisse nicht zu schätzen, wie groß das war, was sie da hätte tun wollen? Nur sei es eben eine Gewissenssache für sie, nein zu sagen. Doch so dürften sie nicht scheiden. Tora müsse dableiben, die ganze Nacht; ja?

Und so geschah es. Wenn zwei junge Mädchen sich so recht, recht lieb haben, müssen sie auch zusammenschlafen.

Die da draußen warteten eine Weile. Als Tora gar nicht wiederkam, gingen sie ein Stückchen. Sie ärgerten sich über sie. Aber nach einer Weile kamen sie zurück und schlichen sich ganz leise durch die Gartenpforte, am Kontor vorbei. Und kurz darauf hörten die beiden Freundinnen da oben im Schlafzimmer einen gedämpften Mädchenchor unter ihrem Fenster. Sie sangen mit Tinkas Altsolo das Lied: »Schlaf in Ruh!«

Da wurde das Rouleaux hochgerollt, und die Blonde und die Braune, in weißen Nachthemden, eng umschlungen, nickten lachend in den Garten hinab. – –

Die ganze Schule war am andern Tage an der Landungsbrücke. Frau Rendalen, die Lehrer und die Lehrerinnen, alle, nur Anna Rogne nicht; sie war auch gestern nicht mit beim Abschiedsfest des Vereins gewesen.

Allgemeine Rührung und Küsserei und Bewundern von Millas Reisekostüm. Auch die Kleinen mußten dabei sein; zwar weinen konnten sie noch nicht, aber küssen. Zuerst bot sich ein kleines Mäulchen dar, dann zwei, dann fünf. Zuletzt wollten alle einen Kuß von der Scheidenden, worauf sie kichernd wegliefen. Du Stewardeß mußte alle ihre Vasen und dann noch mehrere Schüsseln mit Blumen füllen; sie war hochbeladen.

Die verweinte Tora war mit Milla und ihrem Vater zusammen erschienen, der äußerst galant zu ihr war; aber jetzt hielt sie sich ganz, ganz hinten. Milla mußte sie suchen, um ihr den letzten Händedruck, den letzten Kuß zu geben.

Als der Dampfer beim letzten Wenden noch mal an der Brücke vorbeifuhr und die schlanke, schwarze Mädchengestalt – deren Hutschleier sich halb losgerissen hatte, so daß er im Winde flatterte – mit ihrem Taschentuche die Freundinnen grüßte, da wurde es in einem Nu weiß auf der Brücke; die Kleinen vorn, die Großen dahinter, alle winkten mit ihren Taschentüchern; vom Dampfschiff sah es aus wie der Schaum eines Gießbachs, der sich dort ins Meer stürzte ...

2. Im Taubenschlag

An einem Maimittag im Turnsaal, die beiden ersten Klassen übten gerade – ein bißchen träge, da das Wetter gar zu herrlich war und das große Fenster nach dem Berge zu offen stand, so daß von draußen her Duft von Blumen und jungem Laub hereinströmte, – – an einem Maimittag im Turnsaal, als eben Miß Hall hineingekommen war und wie gewöhnlich die regelmäßigen Übungen unterbrach, um einzelne der Mädchen zu Extraübungen herauszunehmen, – an einem Maimittag im Turnsaal, als einige der Mädchen sich infolgedessen zum Fenster zurückzogen, um wieder und wieder die Hunderte von blühenden Obstbäumen zu betrachten, die ein großes Quadrat der Böschung über ihnen amphitheatralisch mit einer einzigen, dichten Krone deckten, – – an einem Maimittag im Turnsaal, als eben diese Mädchen den Anblick nicht so ganz genießen konnten, wie sie wollten, weil dicht unter dem Fenster ein paar naseweise junge Bäume in diesem Jahr so fabelhaft hochgeschossen waren, daß es bald unmöglich wurde, die Herrlichkeit der Halde da draußen zu sehen, außer da, wo die jungen Bäume es erlaubten; ja, was noch schlimmer war, diese Schößlinge lockten die Bienen aus den Stöcken nebenan herbei, und diese Bienen waren noch naseweiser, denn sie burrten zum offenen Fenster herein und plagten die Mädchen, wenn sie zwischen den Baumlücken hindurchgucken wollten – – an einem Maimittag im Turnsaal, als gerade alle die winzigen Gartenarbeiter, alle die, die mit Spaten, Hacke und Rechen von Bein und nicht von Stahl arbeiten und ihr Tagewerk jeden Morgen bei Sonnenaufgang beginnen, um frühzeitig Schicht zu machen, und sich mühen und placken ohne festen Kontrakt, aber auch ohne Aufsicht und Kündigung den ganzen lieben Sommer und Herbst lang, und mit Weib und Kind in Kost sind bei Mama Rendalen, Gutfreund mit jedermann, außer mit der Katze – – an einem Maimittag im Turnsaal, gerade als alle diese winzigen Arbeiter, – o zu Hunderten, von allen Seiten zusammenflogen und hochschwirrten, um sich sofort wieder niederzulassen und im Gesträuch zu allen Seiten zu verstecken, – die Mädchen standen da und beobachteten es in größter Verwunderung –, – – da beugten sich plötzlich des Waldes Bäume, die links vom Garten beugten sich tief, tief herab, während Sand und Samen sich stiebend erhob zu einem finstern Angriff auf den Garten; ein jäher »Landwind« hatte ohne die geringste Anmeldung die Berge überfallen und peitschte nun von links nach rechts hinüber; – und kaum hatte er den Garten erreicht, so gehörten die Blüten der Bäume nicht mehr den Bäumen, sondern der Luft; jedwedes Blütenblättchen in jedweder reifen Knospe wurde hoch gehoben und in die Lüfte gestreut, – und leichter und lebhafter auf und davongetragen, als Schneeflocken wirbeln, denn diese streben der Erde zu. Millionen und aber Millionen von Blütenschwingen, ein Geriesel, ein Schimmern von lauter Schmetterlingsweiß, durch dessen Öffnungen man hier und da ein wenig Grün lugen sah, wie Inseln in einem Wolkenmeer, Fatamorgana-Inseln.

Die Mädchen jubelten, schrieen, klatschten und stürzten ans Fenster, während das Frühlingswunder leuchtend über den Garten hinzog. Der finstre Verfolger aus dem Walde schnob in den Garten hinein und in derselben Linie weiter; bald war er da, wo das Blütengeriesel gewesen war; seine Linie war schmaler, aber sein Flug eiliger, rasender. Die Mädchen stürmten nach der Tür, die halb offen stand; sie wollten ihnen folgen, den schimmernden Wanderern, den Flüchtlingen von den Obstbäumen. Sie vergaßen, daß sie im Turnanzug waren; hier hinter den Häusern tat das ja auch nichts; – sie juchzten, sie sprangen. Da wurde die Tür von außen her plötzlich aufgeschoben; auf der Treppe stand ein junger Mann in weißen Beinkleidern und der Uniform des Marineoffiziers. Er lachte und grüßte. Er grüßte und lachte.

Es war Nils Fürst.

Hinter ihm im Hof stand Kaja Gröndal unter einem hellen Hut und violettem Sonnenschirm. Sie sah prachtvoll aus. Auch sie lachte.

»Ist Elisa nicht hier?« fragte er.

Keine in den beiden obersten Klassen hieß Elisa, und niemand kannte überhaupt eine Elisa in der Schule.

»Ach, ich meine ja nicht Elisa,« sagte er; »nein, Olava?«

Auch eine Olava gab es in den beiden obersten Klassen nicht. Olava? Niemand kannte eine Olava. Es war ihm ganz gleichgültig, daß alle merkten, daß es nur Unsinn war. Er betrachtete sie in ihren Turnanzügen, eine nach der andern ... Er hatte beide Hände voll von Blumen; er mußte die, die er in der rechten hatte, mit dem linken Arm an die Brust drücken, wenn er grüßen wollte. Auch Frau Gröndal war mit Blumen beladen. Offenbar hatten sie sie soeben gekauft und dabei gehört, daß gerade jetzt die beiden obersten Klassen turnten, und das wollte er sich mal ansehen.

»Verzeihung,« sagte er, »vielleicht heißt sie Petra? ... oder vielleicht ist sie gar nicht hier

Er hielt die Hand an die Mütze; seine blonden Locken schienen mitzulachen; und sämtliche Mädchen brachen jetzt in ein schallendes Gelächter aus, so daß es von den Wänden der Turnhalle widerklang. Er sprang die Treppe hinunter. Frau Gröndal wandte sich und ging mit ihm. Als er um die Ecke bog, nickte er zurück.

Das Lachen der Mädchen rollte und rollte in der hohen Halle. Eine eigentümliche Erregung hatte die meisten ergriffen. Sie liefen durcheinander, warfen Fragen hin, ohne auf Antwort zu warten; wo drei zusammenstanden, drängten sich andre hinzu; lachte eine lauter als die andern, so stürmten alle dorthin.

Zwei gerieten in Streit; der Streit wurde lauter; einige liefen hinzu, dann mehrere, dann alle. Auch der Streit drehte sich um den großen Taubendieb in der Tür.

Die eine der Streitenden war Tinka. Sie war empört über solche Frechheit; und sie sah sich nach Hilfstruppen um. Da fiel ihr Blick auf Tora, die sich auf eine Bank neben der Tür gesetzt hatte und totenblaß war. Miß Hall machte sich gerade mit ihr zu schaffen.

Tinka lief auf sie zu und fragte schon von weitem: »Was ist denn? Was ist denn los?«

– Tora hatte vorhin ganz für sich allein geturnt; sie war nämlich eine leidenschaftliche Turnerin geworden und hatte sich ein eignes System ausgedacht. Gerade als sie im besten Üben gewesen war, hatte sie durch die halboffene Tür ein paar Vögel gesehen, die über einem Busch aufgeregt hin- und herflatterten. War denn da jemand unterm Busch? Hatten sie ihr Nest da? Oder spielten sie bloß?

Da hatte sie Kaja Gröndals helles Kleid plötzlich vor den Busch treten sehen; statt der Vögel ein großes Bukett und einen Sonnenschirm; einen jungen Mann in Marineuniform mit Blumen in beiden Händen. Sie kannte ihn nicht. Jetzt entdeckte Kaja sie, und ob sie sich's nun einbildete oder ob Kaja wirklich sagte: »Das ist sie!« genug, der Marineleutnant hatte Tora fixiert. Und dann hatte er seine Augen unverwandt auf sie geheftet; diese Augen lachten und stachen. Kaja Gröndal wollte ihn zurückhalten und trat selbst zurück; aber er kam immer näher und hielt nicht einmal vor der Treppe an, sondern ging hinauf, ohne den Blick auch nur eine Sekunde von ihr zu wenden. Sie konnte sich nicht rühren. Der plötzliche Lärm am Fenster, der Wirbelwind, der Frau Gröndals Schleier hochriß und ihren Sonnenschirm umzukehren drohte, das Wiegen der Büsche, das Sausen in den Bäumen ... sie sah es, sie hörte es, aber wie von fern. Sie konnte es nicht recht fassen, nicht recht zusammenbringen ... Eine seltsame Mattigkeit überkam sie, namentlich in den Knieen, sie wollten sie nicht mehr tragen. Da hatten die Mädchen plötzlich laut aufgekreischt und waren in wildem Haufen nach der Tür gestürzt, und in demselben Moment hatte er mit dem Fuß die Tür aufgestoßen. Das empfand sie als einen frischen Luftzug; als ob jemand sie faßte und stützte. Aber so lange er dastand, konnte sie sich nicht vom Flecke rühren, so gern sie auch wollte; sie mußte stehen bleiben.

Erst als er ging, versuchte sie sich zu besinnen, wo die Bank war; und erst als sie saß – erst da – war es ihr, als fühle sie sich unwohl. Sie kämpfte gegen dieses Übelbefinden an. Miß Hall kam hinzu; und dann Tinka. Und als diese sie laut und bestimmt fragte, half es; sie konnte endlich weinen.

Die andern kamen herbeigestürzt; aber vor diesem totenblassen Gesicht wurden sie ganz, ganz still; sie fragten nicht einmal.

»Sie hat zu übermäßig geturnt,« flüsterte Miß Hall.

»Sie tut doch auch alles zu übermäßig,« fügte Nora liebreich hinzu, indem sie sich neben sie setzte und Toras Kopf an ihre Brust lehnte.

Die andern zogen sich auf Miß Halls Bitten zurück. Man hörte sie bald darauf in dem kleinen Nebenzimmer, wo sie die Kleider wechselten, ihre Fröhlichkeit von vorhin wiedergewinnen; dann hörte man sie gehen, Schar auf Schar.

Als zu Mittag geläutet wurde, saß Tora noch immer da, Tinka auf der einen Seite, Nora auf der andern, und Miß Hall vor sich. Tora hatte mehreremale gesprochen und versichert, jetzt sei ihr ganz wohl. Alle drei glaubten, sie habe zu eifrig geturnt. Sie selbst glaubte es auch, aber plötzlich sagte sie: »Gott, so ein abscheulicher, schlechter Mensch!«

Die andern sahen einander an. »Meinst du Nils Fürst?«

Sie antwortete nicht sofort. »Also das war Nils Fürst?« – – Dann schüttelte sie sich wie vor Kälte. Aber irgend eine deutlichere Erklärung gab sie nicht. Sie glaubte, das, was geschehen sei, rühre vom Turnen her; aber weil sie nicht wohl gewesen sei, habe er solch einen eigentümlichen Einfluß auf sie gehabt. Sie wollte am liebsten nicht davon reden.

Auch Miß Hall ging jetzt. Die beiden Freundinnen blieben bei ihr. Sie bat darum. Es tat so wohl, ihre Hände zu halten ...

3. Fern von den andern

Schon am folgenden Tage hörte Tora, Nils Fürst habe gesagt, sie sei der »bildhübscheste Racker« in ganz Norwegen. Erst wollte sie es nicht glauben; aber in den folgenden Tagen hörte sie es von allen Seiten. Als sie das nächste Mal mit Kaja Gröndal zusammentraf, erzählte auch diese es. Tora kannte Frau Gröndal von Milla her und stand auf Grüßfuß mit ihr. Jetzt hatte Tora ihren Mutterwitz wenigstens so weit wiedergefunden, daß sie antworten konnte, wenn Leutnant Fürst nicht einen so schlechten Geschmack hätte, so wäre das ja jammerschade für die armen norwegischen Mädchen.

Der Sommer kam ins Land mit großer Hitze; alles, was nur irgend konnte, zog aufs Land, an die Meeresküste oder hoch in die Berge hinauf. Sobald die Schule schloß, verschwanden auch die Mädchen, nur einige von den Ärmeren blieben zurück. Unter diesen auch Tora. Nora reiste mit ihrer Mutter ins Seebad; Tinkas Eltern waren reiche Leute, die ein Landhaus hatten. Anna Rogne blieb in der Stadt; sie wollte sich mit Rendalens Hilfe an Karen Lotes Stelle zur Geschichtslehrerin ausbilden.

Aber Anna war wenig zugängig, namentlich für Tora, weil diese ja mit Milla so intim war. Und als Tora trotzdem einen Versuch machte, fand sie Anna so in Anspruch genommen und so aufgeregt – sie sollte schon gleich nach den Ferien die untersten Klassen übernehmen –, daß es Tora langweilig wurde.

Tora wohnte wieder drüben auf Tangen bei ihrer Mutter (vom Vater war gar nicht die Rede), hauste in einer Dachstube zusammen mit zwei Schwestern in einem gräßlichen Wirrwarr und Gepolter mit Schelten und Schimpfen um sich, und einer tiefen Unlust in sich, die sie nur abzuschütteln vermochte, wenn sie sich übers Wasser setzen ließ, um drüben oberhalb des Gutes im Wald umherzulaufen, oder rechts die Landstraße hinauf nach den »Hainen« zu wandern. Dies war ein Vergnügungsort im Walde, unmittelbar an der Landstraße, ein großer, offner Platz mit zahlreichen kleinen »Hainen«, d. h. ausgeholzten Stellen, wo Bänke und Tische hingesetzt waren. Ein kunstreiches Netz von Pfaden schlängelte sich hindurch.

An einem Samstagnachmittag, als sie wieder dorthin wollte, um ein bißchen Musik zu hören, aber schnell erst bei den Fräulein Jensen vorsprach, um jemanden mitzunehmen, begegnete sie Kaja Gröndal. Sie war nach der Stadt gekommen, um ihren Mann abzuholen; aber er sei noch nicht gekommen. Ob Tora nicht ein bißchen mit ihr hinaus aufs Land fahren wolle? Das Schiff ginge in einer Stunde. Für Einladungen hatte Tora eine große Schwäche. Nach einer Stunde war sie wieder da mit einer großen Hutschachtel, in der sich ihr Nachtzeug und ein weißes Kleid befand.

Am andern Morgen – es war Sonntag – stand sie auf dem Altan vor Gröndals kleinem Landhaus. Rechts von ihr waren gerade sämtliche Blumen des Hauses hinausgetragen, um etwas von dem schönen Regen abzubekommen. Noch war draußen nichts wie Nebel, nasser dichter Nebel; den Föhrenwald hinter dem Garten rechts hüllte er ein; man konnte nur die vordersten Bäume und einen Teil der nackten Felsen nach der See zu noch soeben unterscheiden; auch ein mattschimmernder Streifen des Meeres war hier oben sichtbar. Der Nebel hing sehr tief herab; die Luft war regungslos, ohne einen Atemzug.

Sie hörte den Dampfer gehen; kurz vorher hatte er unten links vom Landungsplatze her gepfiffen; jetzt eilte er weiter und vorbei; sie sah in undeutlichen Umrissen einen dichtern, dunklern, wallenden Nebel in dem hellen. Sie dachte nicht weiter drüber nach, sondern schaute auf den Pfad, der von der Landungsbrücke zwischen dem Gröndalschen und einem andern Garten herausführte, zwischen einem niedrigen, gelben Zaun und drüben einem hohen, eleganten, gußeisernen; dahinter alte Bäume in einem mächtigen Park. Sie wußte, daß dort mehrere Häuser lagen, die man vom Altan aus nicht sehen konnte. Dort wohnten nämlich Wingards, und die gaben heute ein Sommerfest für die Jugend. Wen sie dort wohl treffen würde? Sie sann darüber nach. Die Frau vom Hause dort war eine geborene Fürst ... Ob wohl Nils Fürst auch dahinkam? Daran dachte sie jetzt. Warum nicht? Es war ja heut Sonntag. Warum sollte er nicht auch noch ein paar Kameraden mitbringen? Wenn sie das gestern, ehe sie aufs Schiff stieg, gewußt hätte, wäre sie dann auch mitgefahren? Das fragte sie sich heute. Sie hatte, sobald sie von dem Feste hörte, eine bebende Angst empfunden; und auch heute kam die bisweilen wieder über sie; doch war es keine unangenehme Empfindung mehr – komisch, dachte sie. Hatte sie denn wirklich den Wunsch, ihn zu treffen? ... Sie mochte nicht von ihm angerührt werden. Nein, nein! – Auch nicht wieder so von ihm angeguckt werden, wie neulich ... Aber ihn sehen? Und von ihm gesehen werden – wenn es ganz zufällig geschehen konnte ...? Ja, dazu hatte sie Lust, – große sogar.

Wenn sie auf dem Altan bis an die Treppe ging, die links heraufführte, konnte sie ins Wohnzimmer sehen; da konnte sie auch in einen Spiegel gucken, wenn die Tür zu Frau Gröndals Schlafzimmer offen war. Nein, sie war noch immer zu. Sie ging also wieder an ihren alten Platz zurück.

Noch immer verfolgte sie den Dampfer, d. h. einen beweglichen dunklen Nebel in dem allgemeinen Nebel, der sich weiter und weiter hinzog. Das Geländer des Altans war feucht; sie trocknete sich die Hände, vergaß es aber wieder und legte sie wieder auf das Geländer. Das weiße Kleid hätte sie auch sparen können; es fiel ein feiner Regen. Die Vögel fühlten sich wohl in der feuchten Luft und sangen rings um sie her. Auch die Bäume, Blumen und Gräser schienen sich zu erquicken, und Tora achtete auf die verschiedenartigen Duftströmungen.

Einer von diesen führte ihre Gedanken weit, weit fort an ein Landhaus bei Havre, an die Meeresküste ... Blaue, durchsichtige Luft, Segelschiffe, Dampfer, ein langer Sandstreifen und das träge Geplätscher der Wellen. Dicht am Meer ein Landhaus, plump und grau; da wohnte sie; das schmale Gartenpförtchen war offen; sie stand in kurzem Kleidchen und mit bloßen Armen im Garten auf einer Steinbank; sie sah sich dastehen in langen, gestreiften Strümpfen, die sie so bewundert hatte, als sie sie zum erstenmal anhatte. Sie lugte über den Zaun, und dabei kam ruckweise derselbe Duft, der auch hier ruckweise herüberzog. Es war gegen Abend; sie erwartete den Onkel aus der Stadt. Der Weg durch den dunklen Obstgarten war kiesbestreut ... Da – seine Schritte. – –

Durch den feinen Regen sieht sie zur Linken einen ungeheuren Regenschirm, und darunter ein paar weiße Beinkleider. Der Regenschirm wird nicht so hoch gehalten, daß sie sehen kann, wer drunter ist; nicht einmal jetzt, wo die Gartenpforte geöffnet werden soll, hebt sich der Schirm; er gleitet nur noch tiefer vornüber ... Aber sie weiß jetzt, daß diese Schritte im Sande nicht auf das Landhaus bei Havre zukommen, sondern hierher ... Es war nicht ihr Onkel, sondern ...?

Der Schirm hebt sich; da steht sein Träger im Garten. Ein dunkler Rock, ein Strohhut und ein sehr verwundertes Gesicht werden sichtbar. Sie fühlt etwas von jener Beklommenheit, von der sie sich doch jetzt ganz frei geglaubt hatte. Aber sobald er sie ansah, ging es vorüber – gerade das Gegenteil von ihrer ersten Begegnung. Offenbar hatte er nicht erwartet, eine brünette Dame aus dem Altan zu finden, vielleicht überhaupt keine in so früher Stunde. Aber unlieb war es ihm durchaus nicht! Er lächelte und grüßte ... heut war gar nichts in den Augen, was stach. An der Treppe blieb er stehen.

Der Schirm ruhte auf der rechten Schulter, während er den linken Arm auf das Geländer stützte, um sich daran zu lehnen. Eine wohlgeformte Hand mit einem Siegelring. Er war schlank und geschmeidig, der Kopf zeichnete sich durch drei Dinge aus: eine nervöse, sinnliche Mundpartie, die fortwährend in Bewegung war, indem sich die Lippen wie durch ein Zugband immer aus- und einwärts zogen; die Lippen selbst waren kurz und voll; dann ein Paar große, schelmische, lachlustige Augen, die aber, wenn er den Kopf etwas hintenüberlegte, stechend waren, und drittens ganz lockiges Haar, gelblich blond, und lange, rötliche Whiskers.

Wie er sich da so aufs Geländer lehnte, lag Ruhe über ihm, voll von Genußfreudigkeit und Gleichmut. Aber drauf verlassen durfte man sich nicht, und dazu kam man auch nicht so leicht. Denn es war etwas in dem Kopf, dem Körper, den Händen hinter dem Lachenden, Trägen, Weichen, – – das unwillkürlich an die Katze erinnerte. Das sah und fühlte auch Tora, und heute mehr mit Neugier als mit Furcht.

»Sehr unerwartet, Sie hier zu treffen, mein gnädiges Fräulein. Sind Sie schon länger hier?«

»Ich bin gestern abend mit Frau Gröndal gekommen, sie war in der Stadt.«

»So?«

Und die beiden glitten in ein Gespräch hinein über die Fahrt hierher, das Wetter, den Ort, ohne daß sie einander vorgestellt waren – ein Geplauder, das nichts andres zum Zweck hatte, als den Vorwand, sich ansehen zu können. Was sie sagten, waren halbe Sätze, ganze Sätze, manchmal zwei, ohne Farbe, ohne Berechnung, nur damit das zuletzt Gesagte nicht das letzte blieb.

Er stand da unten und studierte sie mit wachsendem Wohlgefallen. Diese Kopfform, diese Gesichtszüge, ihre Harmonie und ihr Ausdruck! Die Augen funkelten förmlich unter den dichten, langen Wimpern. Was für eine Farbe war das nur? Es sah aus, als wären sie schwarz; aber ...? Und dann die Büste! Und die Figur! Hals, Brust, Arme, Hautfarbe, das tiefbraune Haar, ihre Toilette ... er rückte ganz zur Seite und sog sie förmlich in sich hinein.

Wie lange das dauerte, wußte keins von beiden; aber es war ziemlich lange. Er wollte sich und sie wollte ihn nicht stören. Sie betrachtete sich gleichsam in einem lebenden Stiegel; aber unschuldig war das Vergnügen nicht; denn allmählich wurde sie ganz berauscht davon.

Endlich nahm sie sich zusammen und brach ab; sie ging quer über den Altan, machte sich an den Blättern einiger Blumen zu tun, die sie gräßlich mißhandelte.

Dann kam er auf den Altan hinauf, langsam, mit dem Regenschirm über der Schulter, die linke Hand glitt am Geländer hin. »Gnädiges Fräulein kommen doch heute nachmittag auch zu meiner Schwester?«

»Frau Gröndal will mir eine Einladung verschaffen.«

»Aber natürlich. Es soll ja getanzt werden. – Darf ich um den ersten Walzer bitten?« Sie blickte nicht auf. »Wollen Sie den ersten Walzer mit mir tanzen?« Sie fühlte, darauf durfte sie nicht antworten.

»Verzeihung, mir fällt eben ein, daß ich mich noch gar nicht vorgestellt habe. Aber, wenn gnädiges Fräulein wissen, wer meine Schwester ist, dann wissen Sie wohl auch, wer ich bin, nicht wahr?« Er lächelte und kam näher, immer noch unter dem großen Regenschirm, während die linke Hand am Geländer entlang glitt. Sie stand auf, aber antwortete nicht.

»Das mit dem ersten Walzer ist also abgemacht, nicht?« Er sagte das etwas achtlos, etwas überlegen, beinahe, als wäre er gekränkt. Er klappte den Regenschirm zu und wandte sich nach dem Hausflur. »Frau Gröndal ist doch zu Hause?« Er ging hinein. Tora wollte schnell hinzufügen: »Sie ist aber noch nicht auf,« – aber das sähe ja aus, als wollte sie ihn bitten, zu bleiben. Und außerdem, jetzt war doch Frau Gröndal gewiß so weit fertig, daß sie ihn selbst abwehren konnte, wenn sie ihn unten im Zimmer hörte.

Er ging hinein und kam nicht zurück. War denn Frau Gröndal gekommen? ... Nein, gesprochen wurde nicht.

Sie ging nach der Treppe hin und guckte nach dem Spiegel: die Tür des Schlafzimmers stand weit offen.

Sie lief die Treppe hinunter durch den Garten, und aus dem Garten hinaus in den Wald. Dann wieder hinaus aus dem Walde, denn es war zu feucht da, und auf die Klippe am Meere, im Schutz des Waldes. Dort setzte sie sich auf einen großen Stein. Sie bebte am ganzen Körper, ihr Busen wogte, als wollte da drinnen etwas zerspringen.

»Fräulein Holm!« rief Frau Gröndal. »Fräulein Holm!« Sie war also doch schon fertig! Der Ruf schien vom Altan her oder aus dem Garten her zu kommen. Frau Gröndal war vielleicht draußen gewesen, als er ins Zimmer gekommen war. Darum hatte sie nicht sprechen hören.

Aber Tora konnte sich nicht gleich sammeln, Frau Gröndal zu antworten; sie fühlte sich so beengt. Da sie beim erstenmal nicht geantwortet hatte, fühlte sie sich genötigt, auch bei den nächsten Rufen zu schweigen. Dann hörte sie nichts mehr.

Wieviel Uhr mochte es nur sein? Schickte es sich denn überhaupt, daß er so früh am Morgen eine Dame besuchte? Direkt vom Dampfer? Nicht erst zu seiner Schwester, sondern gleich zu Frau Gröndal? Wieviel Uhr war es?

Aber sie hatte ihre Uhr nicht bei sich, sie hatte sie liegen lassen ...

Da kommen ja schon wieder die weißen Beinkleider ... und auch der Regenschirm auf den Felsen hinaus! Sie war also verfolgt und entdeckt ...

»Aber, mein gnädiges Fräulein, hören Sie denn nicht, daß Frau Gröndal nach Ihnen ruft?« Tora antwortete nicht. »Und wie naß Sie sind! ... Und ohne Schirm? ... Bitte sehr ... Warum sind Sie denn fortgelaufen?« Keine Antwort. – »Frau Gröndal hat den ganzen Morgen Eierpunsch für uns geschlagen.«

»So?«

»Ja, freilich. Ihr Mann sollte auch heute hier sein und er war mir einen Eierpunsch schuldig. Aber er ist nicht gekommen.«

»Wieviel Uhr ist es denn?«

»Wieviel Uhr? ... Was zum Kuckuck wollen Sie denn die Uhr wissen? – Gleich elf ist es.«

»Gleich elf?«

»Ja, sehen Sie doch selbst.« Er hielt ihr eine massiv goldne amerikanische Uhr hin, wobei er den Deckel aufspringen ließ.

Sie folgte ihm schweigend. Als sie wieder im Garten waren, wollte sie wissen, wie er sie so schnell habe finden können. Ganz einfach. Er hätte ihre Fußspur im Sande entdeckt und das übrige hätte er sich doch denken können; denn bei der Nässe ging doch kein Mensch in den Wald, also mußte sie auf der Klippe sein.

Dann tranken sie zusammen höchst vergnügt Eierpunsch. Aber eine Stunde später saß Tora allein auf ihrem Zimmer; sie hatte sich eingeschlossen. Und um sechs Uhr an demselben Nachmittag, gerade als die Gäste sich bei Wingards versammelten, saß sie auf dem Dampfer, der nach der Stadt zurückfuhr.

Was war nur geschehen? Nichts, gar nichts. Aber gleich dem Nebel, der noch immer über der Landschaft hing, wenn auch nicht mehr so tief wie am Vormittag – so lag auch hier über allem etwas, daß ihr unklar, unmöglich war. Sie konnte es nicht ertragen, Leutnant Fürst und Frau Gröndal zusammen zu sehen; sie kam sich so unnatürlich vor; alles, was sie sagte und tat, fiel verkehrt aus.

Darum getraute sie sich nicht auf das Fest zu gehen; schon bei dem bloßen Gedanken, mit Fürst einen Walzer tanzen zu müssen, erbebte sie. Nein, es ging nicht. So blieb ihr denn nichts andres übrig, als zu fliehen. Sie machte sich furchtbar lächerlich, indem sie alle möglichen Gründe für ihre Flucht angab. Gründe, wie, daß sie ihr weißes Kleid in der Schachtel zerknüllt habe, aber das konnte man ja mit einer heißen Plätte wieder gut machen. Daß ihre Mutter sie erwartete, setzte eine Taubenpost voraus. Einerlei, jetzt saß sie auf dem Schiff. Das war fast eine Heldentat, und sie freute sich drüber.

Die übrigen Passagiere saßen teils auf Deck, teils in der Kajüte, wo die Fenster geöffnet waren. Sie ging nach vorn, wo ein paar Arbeiter saßen.

Ganz weit vorn suchte sie sich ein einsames Plätzchen. Ihr war zumut, als ob sie aus etwas Engem herauskäme.

Trotz des Nebels war der Abend schön und mild; auch regnete es nicht mehr. Die Inseln, zwischen denen sie hindurchfuhren, lagen so klar da; ihre vielfarbigen Felsen, die grünen Wiesen, die Gärten mit den Häusern darin – fast auf jeder Insel wohnte jemand – alles war so deutlich zu sehen; ebenso die Menschen, die vor den Häusern saßen oder standen und dem vorüberziehenden Dampfer nachsahen. Sie wünschte sich ein solches Häuschen ... Sie träumte, daß sie wirklich da wohne ... und sie saß da und richtete es ganz nach ihrem Geschmack ein – dieses Mal ganz ärmlich und bescheiden. Das war so wohltuend nach all dem andern.

Doch da war auf einmal das Unheimliche wieder! Wie eine Art Alb; sie fühlte sich so unsicher ...

Natürlich nur eine Erinnerung, dachte sie, und atmete tief. Unwillkürlich wandte sie sich um und blickte zurück.

Da stand er! Vier, fünf Schritt von ihr stand er leibhaftig! ... Er grüßte und lächelte ... Totenblaß, flammendrot wandte sie sich mit tiefer Empörung von ihm ab.

»Aber, nicht doch, mein gnädiges Fräulein, Sie müssen nicht böse auf mich sein! ... Daß ich lieber mit Ihnen nach der Stadt zurückfahre, als hier bis fünf Uhr morgens zu tanzen, ist denn das so merkwürdig? Verdiene ich darum ihre Verachtung? Wie?«

Jetzt setzte er sich hinter sie. Sie fühlte es und rückte ein wenig von ihm weg.

»Aber, warum denn nur? Ich bin doch nur mitgefahren, um mit Ihnen zu plaudern, das können Sie sich doch denken ...«

Ein eigenes Gefühl der Scham und zugleich der Angst ergriff sie. Sie war ja so ganz allein, fern von den andern; sie hätte am liebsten nach ihnen gerufen. Und immer, wenn Tora sich verlassen fühlte, fing sie an zu weinen.

Das sah er, und mit ganz veränderter Stimme sagte er: »Mein liebes, gnädiges Fräulein, Sie dürfen mich nicht mißverstehen! Ich will Sie durchaus nicht belästigen; nichts liegt mir ferner! Ich möchte gern mit Ihnen reden, das ist wahr. Darf ich das denn nicht? Warum nur nicht?«

Sie gab keine Antwort; aber sie weinte doch wenigstens nicht mehr. Er ging nun zu ganz harmlosen Dingen über, und beruhigte sie dadurch allmählich. Er bedauerte, daß sie sich nicht schon früher kennen gelernt hätten. »Als ich Sie zum erstenmal sah, da sagte ich zu mir selbst – – na ja, ist ja egal, was ich da sagte. Jedenfalls hatte ich den bescheidenen Wunsch, Sie noch einmal zu sehen. Dieser Wunsch ging mir nun heute ganz unerwartet in Erfüllung. Aber gesprochen haben wir uns gar nicht. Sie waren wirklich ein bißchen komisch. Warum nur? ... Oder nicht? Waren Sie nicht ein ganz klein bißchen komisch? Warum zum Beispiel wollten Sie denn durchaus abfahren? ... Ich mußte ja beinah denken, daß ich daran schuld sei. Ehe ich kam, hatten Sie ja doch nicht fahren wollen ... Nun ja, ich gesteh es, das machte mich neugierig. Wenn ich Sie wirklich vertrieben habe, dann muß ich doch wenigstens wissen, womit ... Vielleicht mit meinem großen Regenschirm? Sehen Sie; jetzt lachen Sie! Sagen Sie mir's doch, bitte, bitte, warum wollten Sie durchaus weg?«

Er rückte etwas näher, und sie blieb sitzen. Er plauderte leicht und scherzend und ohne Pause. Sie konnte sich wirklich einmal sogar halb nach ihm umwenden und in sein Spitzbubengesicht sehen, und da stimmte sie ein in sein Lachen. Ja, amüsant war er!

Bei einer der vielen Haltestellen lag ein rotes Haus, vor dem eine Schar junger Leute sich um einige Turnapparate gesammelt hatten. Ein junger Mann und ein junges Mädchen hielten sich jeder an einem Seil in einem Rundlauf. Er setzte ihr aus allen Kräften nach. Ein paar Schritte auf der Erde, dann ein langer Luftsprung, wieder einige Schritte, wieder ein großer, weiter Luftsprung. Ob er sie wohl erhaschte? Nein, kein Gedanke. Sie war so viel leichter und geschmeidiger, und sie hatte kräftigere Beine; sie lief trip, trip, trip, so daß sich die Füßchen kaum trennten, und dann flog sie und baumelte in der Luft! Haar und Kleid spannten sich um ihren Körper wie eine Iris.

Gespannt aber schweigend folgten Tora und Fürst dieser Jagd ... Mit einem Mal fühlte Tora seine Nähe im Rücken wie Feuer; er war ihr näher gerückt. Und mit einer jähen Bewegung erhob sie sich, ging in die Kajüte und setzte sich dort mitten unter die andern.

Bei Tangen, wo sie aussteigen mußte, stand er an der Brücke. Er wollte ihr die Hand reichen. Aber sie entzog sich ihm. Er wollte ihre Schachtel tragen; sie lief aber fort. Er selbst ging wieder an Bord, um im Hafen abzusteigen ...

4. Die Jagd

Sie kam fast gleichzeitig mit ihrem Vater nach Haus, der mit einigen Kameraden auf einer Segelpartie gewesen war. Er mußte an Land geschleppt werden, und der Empfang war warm. Die Kinder rückten aus, Tora schloß sich in die Bodenkammer ein und wagte sich nicht einmal zum Abendessen hinunter, trotzdem sie sehr hungrig war. Später mußte sie ihre Schwestern hereinlassen und geriet in Zank mit ihnen. Die Mädchen hatten, während sie weg war, ihre besten Schuhe angezogen und sie fast verdorben. Der Streit endete damit, daß eine der Schwestern ihr die Schuhe an den Kopf warf; und so kam es zur Balgerei. Dann verklagten sie sie bei der Mutter, und dann kam auch sie noch wütend herauf. Tora weinte sich in Schlaf, ganz wie ein Kind. Am andern Tage versuchte sie, der Mutter im Haushalt zu helfen; aber auch das ging nicht ohne harte Worte und spitze Bemerkungen ab: So feine, vornehme Fräuleins wären doch nur im Wege. Aber sie setzte ihren Willen doch durch, der Mutter eine Hilfe zu werden, besonders beim Flicken und Stopfen. Von ihrer kleinen Leibrente steuerte sie bei, soviel sie nur irgend konnte, so daß sich die Verhältnisse etwas erträglicher gestalteten. Dafür, meinte Tora, habe sie denn aber auch das Recht, ein wenig ihre eignen Wege zu gehen. Kurz vor dem Abendessen ließ sie sich immer nach dem andern Ufer hinübersetzen und ging dann entweder in den Wald oberhalb des Gutes, oder hinaus in die »Haine«; zu Hause war ja kein Frieden. Wohin sie nun auch ging, ob in den Wald oder nach den »Hainen«, immer ließ sie sich am Bommen an Land setzen und ging durch den Bommen, obwohl das nicht gerade der kürzeste Weg war. Aber sie kannte in der ganzen Stadt nichts Reizenderes, als das Haus dort am Bommen mit dem großen Garten, und hatte jeden Tag aufs neue ihre Freude daran. Das Haus hatte der Familie Wingard gehört, aber jetzt hatten diese durch Tauschvertrag das Fürstsche Haus am Markt bekommen, wo die Wingards das Fürstsche Geschäft fortsetzten. Deren Schwager Nils Fürst war jetzt also Eigentümer des Hauses am Bommen mit dem großen Garten.

Tora ging immer mit ein bißchen Herzklopfen vorbei, – obwohl der Gefürchtete ja gar nicht hier war, sondern draußen auf den Kriegsschiffen bei den Übungen. Aber diese Angst war doch immerhin eine Unterbrechung, eine Beschäftigung, sie gehörte gleichsam mit zu diesen Wanderungen.

Sobald sie vorüber war, wanderte sie dann um so sorgloser hinauf oder hinaus. In einer solchen norwegischen Kleinstadt geht ein junges Mädchen ganz allein, wohin es will. Unterwegs trifft sie andre, schließt sich ihnen an oder setzt ihren Weg allein fort. Tora hatte in der Regel das Bedürfnis, ein paar Stunden ganz allein zu sein. Gewöhnlich hatte sie ihre festen Punkte und Plätze, und dort angekommen, zog sie ihr Buch hervor, wenn sie eins hatte, oder sie träumte auch ohne Bücher. Oder – und das war heute der Fall – sie schrieb lange Briefe – jeden Tag einen – über all das Merkwürdige, das sie erlebt hatte. Sie hatte ihre Mappe bei sich und ein Tintenfaß in der Tasche; so lag sie im Grase, die Mappe vor sich auf einem Stein, oder sie saß auf dem Stein mit der Mappe auf dem Schoß und dem Tintenfaß neben sich. Es ging ausgezeichnet, echte Freiluftsbriefe, in denen die Worte vor dem frischen Winde herflogen, und alles, was Lust hatte, kam mit. Und wie herrlich war es da im Dickicht, ein wenig beschienen von Sonnenstrahlen, ein wenig verklärt von Vogelgezwitscher, ein wenig erschreckt vom Geraschel des Eichhörnchens in den Zweigen. Der ferne Lärm vom Hafen, von den Werken am Flußhang oder von plaudernden Spaziergängern im Hain oder auf der Landstraße, zuweilen auch von Musik, machte ihren Schlupfwinkel nur noch lauschiger. Das war ihre einzige Sommerpoesie. Sobald sie des Morgens die Augen aufschlug, sehnte sie sich hier hin. Das Lärmen und Zanken zu Hause Prallten an ihr ab, als ginge sie das alles nichts an; hier, hier im Walde war sie heimisch, hier lebte sie! Ihr großer Ausflug zu Frau Gröndal und ihre merkwürdige Dampfschifffahrt nach Hause zurück wurden natürlich heute hier draußen in einem Briefe an Milla, einem an Nora und einem an Tinka geschildert. Am vierten Tage wollte sie dann alle diese Werke der drei vorangegangenen Tage wieder durchlesen, – sie freute sich schon richtig darauf. Sie wußte, sie hatte das Thema mit viel Kunst variiert. Aber schon beim Lesen des ersten Briefes wurde sie ein wenig bedenklich. Sie dachte an die andern und fand, daß die Verschiedenheit doch wohl etwas zu auffallend geworden sei. Wenn nun die Freundinnen einmal zufällig ihre Briefe verglichen – ja, dann konnte es leicht zu einer jener dummen Szenen kommen, wie immer, wenn Tora zur Rechenschaft gezogen wurde. Nein, davon wollte sie nichts wissen. Im ersten Brief hatte sie die Sache mit Ernst behandelt, ihre Verwirrung, ihren Irrtum, ihre Angst geschildert; wer den Brief las, konnte nicht im Zweifel darüber sein, daß sie es mit einem Menschen zu tun gehabt hatte, vor dem ihr bange war. Im zweiten Briefe machte sie sich über sich selbst und ihn und die ganze Sache lustig. Im dritten schildert: sie ein junges Mädchen mit braunem Haar, das an einem fremden Gestade wandelte, als aus den Fluten ein Meermann stieg mit blonden Whiskers und Locken. In ihrer Angst floh das braunhaarige Mägdlein an Bord eines Schiffes, um in die Heimat zurückzukehren; aber der Meermann schwamm die ganze Zeit hinter dem Schiffe her mit der Hand auf dem Herzen. Als sie ans Land stieg, stieß er einen Klageruf aus; den hörte sie von da an allnächtlich in ihren Träumen.

Sie zerriß alle drei Briefe und schrieb keinen neuen.

Aber ihren Wanderungen blieb sie treu. Sie ahnte nicht, daß Nils Fürst in die Stadt zurückgekehrt war, daß ein Kamerad seinen Dienst übernommen hatte, daß er in aller Stille fremde Sprachen studierte, um sich auf eine neue, noch glänzendere Karriere vorzubereiten, und daß er ganz richtig in seinem Hause wohnte. Noch weniger ahnte sie, daß er sie gleich am ersten Tage nach seiner Rückkehr in seinem Fensterspion hatte vorübergehen und ein bißchen scheu herüberlugen sehen; und daß er am folgenden Tage dasselbe beobachtet hatte. Er wußte genau, dies war nicht der direkte Weg nach dem Walde – dahin war sie am ersten Tage gegangen; auch nicht nach den Hainen – dorthin war sie am zweiten Tage gegangen. Beide Male hatte er sich gleich aufgemacht und war hinterhergegangen. Jetzt, am dritten Tage, saß er zum Ausgehen bereit, um ihr heute ganz zu folgen. Jetzt glaubte er zu verstehen.

Er kannte solche Mädchen, die wollen, und wollen und auch wieder nicht wollen; genau so benahm sie sich.

Richtig, auch heute kam sie, auch heute lugte sie ängstlich hinein und wanderte dann weiter mit ihrer Mappe unterm Arm. Sie wurde von jemand aufgehalten, und dabei guckte sie sich um. Da entdeckte sie ihn! Schnell kam er ihr nach, er war auf der Jagd, er hatte Witterung. Sie sagte adieu, und sobald es ohne Aufsehen geschehen konnte, beschleunigte sie ihre Schritte, soviel sie konnte; sie hatte Angst, eine unerklärliche Angst. Sie hätte vielleicht lieber umkehren sollen; aber heute konnte sie seine Augen nicht ertragen, und hier war kein Mensch zu sehen. So ging sie denn schnell und immer schneller, immer schneller; aber sie ahnte, daß er ihr auf den Fersen war; sie fühlte es beinahe.

Zu laufen wagte sie hier auf der offnen Landstraße nicht. Aber sie verließ sich darauf, daß sie im Hain besser Bescheid wisse als er und ihm da leicht entschlüpfen konnte. Sie bog daher von der Straße ab und schlug einen Richtweg im Wald ein. Zu ihrem Schrecken sah sie, daß auch er sofort in den Wald einbog, um dasselbe zu tun. Nun wagte sie, bergan zu laufen; aber in der Richtung zu ihm; dort duckte sie sich hinter einen großen Stein. Das war ein guter Einfall; denn im nächsten Augenblick sah sie ihn vorbei- und weiter hinaufstürmen, ganz nahe vorbei an der Stelle, wo sie kauerte, während ihr Herz klopfte, als wollte es das Kleid sprengen. Hier, wo niemand ihn sehen konnte, sprang er, lief er, hüpfte er; es existierte kein Hindernis für ihn, immer die gerade Linie vorwärts.

Sie wartete, bis er außer Gesichtsweite war, und flog dann in der entgegengesetzten Richtung durch den Wald. Sie machte nicht eher Halt, als bis sie hoch oberhalb des Gutes auf einem Felsen unter einer einsamen Föhre mit Laubbäumen ringsum angelangt war. Und während sie mit fliegendem Atem und flammenden Blicken sich umsah, und das wundervolle Bild, das sie blitzartig unter sich sah, anstaunte, stand er vor ihrem inneren Auge, so wie er da unten an dem Stein im Walde an ihr vorübergerast war ... Er war abscheulich. Der Mann war zu allem möglichen imstande.

Und nie wurde sie sein Bild wieder los. Immer und überall er, als gäbe es nichts andres in der Welt. Oder vielmehr: fortwährend flüchtete sie vor ihm, aber immer wieder stand er vor ihr.

Ihre Schwestern berichteten, daß er vorbeirudere und hineingucke, vorbeiginge und hineingucke; daß er sie auf der Straße anspräche und Grüße an sie bestelle. Sie waren Feuer und Flammen; sie waren stolz darauf; das Wort von Tora als dem »bildhübschen Racker« war auch ihnen zu Ohren gekommen.

Aber Toras Grauen vor ihm wuchs; sie war verfolgt; er ließ nicht davon ab, das wußte sie.

Wo sollte sie hin? Bei Rendalens war niemand mehr zu Hause. Nach den Ferien durfte sie dahinkommen, aber bis dahin waren es noch fast drei Wochen. Andern Menschen konnte sie sich nicht anvertrauen; solche Schande, wie das war. Einen Augenblick dachte sie an Schuster Hansens; aber Frau Hansen war so streng; sie würde sie gewiß nicht verstehen. An ihre eigene Mutter dachte sie nicht einen Augenblick.

Aber war denn nicht das Ganze etwas, das sich nur in ihrem eignen Hirn abspielte? Sie brauchte ja doch in keines Menschen Gewalt zu sein, wenn sie nicht wollte.

Nein, aber wenn sie ihn nun nicht mal aus ihren Gedanken bannen konnte?

Am Samstag abend warf sie sich so müde auf ihr Bett, als hätte sie den ganzen Tag die schwerste körperliche Arbeit verrichtet. Durchs Fenster sah sie die Rahen eines vorüberfahrenden Schiffes; sie verfolgte die Falten des lose gespannten Segels, das sich leicht im Winde blähte. Es schien ihr so nahe, als könnte sie es mit der Hand greifen. Draußen war heftige See. Vom Meere, vor dem Sturm, dem Wellengetöse da draußen fuhr das Schiff in den Hafen hinein. – Ach, sie wollte auch den Hafen suchen.

Es war Samstag abend; morgen wollte sie zur Kirche. Karl Wangens Gesicht lächelte ihr zu, wie sie daran dachte, und gleich wurde ihr so wohl ums Herz vorm Einschlafen. Wäre er ein Mädchen gewesen, – sie wäre zu ihn hingegangen – gerade zu ihm – und hätte ihm alles anvertraut, was sie verfolgte. Am andern Morgen in der Kirche setzte sie sich auf die letzte Bank. Karl Wangen war vor der Kirche auf sie zugekommen, hatte sie begrüßt und dabei gesagt, es sei schön, daß sie bald wieder hinaufzöge, um Frau Rendalen zu helfen.

Diese Worte hatten sie veranlaßt, sich auf die hinterste Bank zu setzen; sie war nicht ganz sicher, ob ihr nicht das Weinen kommen würde.

Aber das kam nicht. Es war alles so kühl, die Kirche, die Menschen und die Stille; es war gar nicht, als ob da draußen der helle Sommertag wäre. Und zudem, als Karl Wangen die Kanzel bestieg und das Gebet sprach, war es dasselbe Gebet, das sie an ihrem ersten Schultag gebetet hatten, – fast Wort für Wort. Das genierte sie. Daß auch ein Gebet von Karl Wangen nichts als eine Schullektion von früher her war.

Dieses kleine Zusammentreffen beschäftigte sie so, daß sie nicht bei der Sache war. Sie hörte, daß die Predigt von der Bekehrung handelte, und daß Karl Wangen, wie er das immer zu tun pflegte, seine Predigt durch Beispiele aus dem Leben beleuchtete. Aber diese Beispiele kannte sie ja samt und sonders von der Schule her.

Da wurde sie durch den Namen John Wesleyaufgeweckt. Dessen Bekehrung, meinte Wangen, sei die gründlichste, die in jedem Stadium vollkommenste gewesen, die er kenne. Er erzählte davon und ging dann über zu einigen Beispielen von plötzlicher Bekehrung, unter andern auch zu solchen, die durch Wesley selbst bewirkt worden seien. Andre Naturen, andre Vergangenheit, andres Wissen, andre Art von Furcht.

Aber gerade von diesen jähen Bekehrungen wolle er heute sprechen. Er habe einmal ein junges Mädchen gekannt, die eine brennende Sehnsucht gehabt habe, Gnade für ihre Sünden zu erlangen, die Gnade, die sie nicht erhoffen durfte; – bis sie eines Tages Rubens Bild von der Kreuzigung und Maria Magdalena in langem gelöstem Haar zu Füßen des Kreuzes gesehen habe. Eine Maria Magdalena – das wollte sie sein. Und sobald es ihr gelang, sich selbst an Maria Magdalenas Stelle am Fuße des Kreuzes zu denken, sich wirklich vorzustellen, daß sie und niemand anders das sei, die da lag – da wurde es ihr zur Gewißheit, für sie war Jesus gekreuzigt worden; ihre Sünden waren durch ihn vergeben. Ein hoher Jubel ergriff sie. – Der Redner wußte mehrere solcher Beispiele zu nennen, besonders aus der Frauenwelt. Viele hätten sich so inbrünstig an irgend eine einzelne Begebenheit aus Jesu Leben, ein einzelnes Wort von ihm, eine Einzelheit aus dem Mysterium der Gnade geklammert, – hätten diese angestarrt, bis sie auf sie gewirkt hätten wie ein herrliches Licht, eine selige Beschauung. Und von Stund an sei alles ihnen klar gewesen, sei ihre Sünde von ihnen abgefallen, ihr Wille voll freudigen Mutes gewesen.

Mehr hörte Tora nicht; am wenigsten, daß diese Beispiele gerade gegen das sprachen, wovon Wangen reden wollte.

Auf der Stelle machte sie eine Probe. Seine allzu bekannte Stimme surrte weiter, alle um sie her und sogar der Ort selbst versank vor ihr ... sie sah Jesus am Kreuz in einer fremden Landschaft mit schwarzen, jagenden Wolken; sah alle Hügel, alle Täler, alle Bäume mit dem Schleier der Trauer umhüllt. Sie sah seine Augen brechen, seine Brust sich heben und senken, und es ward Nacht. Sie fühlte ihr eignes kleines Leid in diesem großen furchtbaren versinken.

– – – Wie lange sie so versunken gewesen, sie wußte es nicht.

Die Predigt war noch nicht aus; sie konnte also noch nicht gehen; aber zuhören konnte sie auch nicht mehr, wollte sie nicht mehr.

Und als sie aus der Kirche ging, hatte sie nur den einen Wunsch: sobald wie irgend möglich diesen Traum wieder aufnehmen zu dürfen.

In allen diesen Tagen war sie nicht aus der Tür gewesen. Aber heute nachmittag mußte sie hinaus. Aus Angst vor Fürst ließ sie sich nach dem »Berge« übersetzen und von dort ging sie in den Wald, den Weg am Kirchhof entlang, fand wieder bis zu der großen Föhre und setzte sich auf den Stein darunter; er war niedrig und flach.

Es war ihr ernst mit dem, was sie vorhatte. Nicht Träumerei und Genuß suchte sie, nein, wirkliche Hilfe, Einweihung zu einem Leben. Die letzten schweren Tage hatten sie aufgeklärt. Sie wußte jetzt, daß sie von allem ein Stückchen in sich hatte, von allem ein wenig wollte, auch von der Sünde; darum konnte sie leicht die Beute eines Schurken werden. Sie hatte sich nicht von Anfang an gewehrt; sie war ja so ganz unvorbereitet gewesen; ja, die Gefahr hatte sogar etwas Verlockendes für sie gehabt! ...

Das mußte jetzt anders werden. Sie mußte sich eine Aufgabe schaffen, gleichviel welche; wenn sie nur davon in Anspruch genommen wurde. Kein Ehrgeiz war mehr in ihr, nur noch Angst.

Sie warf sich auf die Kniee, und mit heißem Blut von dem raschen Steigen sandte sie das Flehen des Standes zu Gott empor; es war das allerdemütigste, allerkläglichste Flehen. Die Not war über ihr. Einen energischen Willen gegen den ihres Verfolgers! Sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß ihre Form für diese Gabe die unmittelbare Beschauung werden mußte. Sie sah sich im Geiste mit Kraft ausgerüstet. Sie sah sich frei von aller Furcht; und mit einer Aufgabe – einerlei welche, wenn sie nur hielt. Und wenn sie auch ihr ganzes Leben durch dauern sollte – ach gern, am allerliebsten ... Ja, in diesem Augenblick konnte sie sich kein größeres Glück, keine größere Ehre, keinen größeren Reichtum denken, als eine schwere Aufgabe zu bekommen; es lag in ihrer Natur, immer das Äußerste zu wünschen.

Und so fing sie also an zu beschauen; nein, sie hielt inne, der Gedanke an ihre Freundinnen störte sie. Millas größte Besorgnis in ihrem letzten Briefe war gewesen, daß das schöne Wetter sich nicht halten möchte; und Nora hatte gefürchtet, man könnte vergessen, ihr die neueste Musik zu schicken. Warum sollte nur sie allein, die sich hier in der Einsamkeit versteckte, ein so furchtbar schweres Los tragen? Ihre verlassene Lage hätte die Menschen barmherziger machen sollen; aber gerade das hetzte sie nur auf.

Sie saß da an die große Tanne gelehnt, von der Landschaft abgewendet. Vor ihr lag ein Erlengehölz, junger, üppig wuchernder Erlenwald und Farnkräuter in Mengen.

Gott, wie nichtig war das alles, was sie da im Verein und so geschwatzt hatten, Arm in Arm umhergehend! Kaum einige Wochen war es her, und schon mußte sie sich hier verstecken. Wurde das bekannt – wer weiß, ob sie dann nicht die kleine Stellung, die sie sich erworben hatte, verlor. Zu Engels käme sie dann wohl nie mehr. Milla durfte sich nicht mehr als ihre Freundin bekennen und auch nicht mehr zu Frau Rendalen.

Sie fing zu weinen an. Aber sie wollte sich zusammennehmen. Doch das schweißtriefende, erhitzte, verfluchte Gesicht aus dem Walde da unten – da tauchte es wieder auf! Sie schauderte. Denn sie merkte selbst, daß die Angst, mit der sie sich fortwährend peinigte, gefährlicher für sie war als der Mann selbst.

* * *

Ein Weilchen, nachdem Tora den Berg hinaufgestiegen war, schlenderte Nils Fürst auf Deck eines Schiffes umher, dessen Kapitän ein Bekannter von ihm war. Und gerade, als Tora den flachen Stein unter der Föhre erreichte, probierte er das neue Schiffsfernrohr. Er stellte es und richtete es auf die Anhöhe drüben und ließ es dort und an den Halden entlang gleiten.

Kaum hatte sie sich auf den Stein gesetzt, als das Fernrohr sie erreichte und – er erkannte sie. –

Er schlug den nächsten Weg über den Markt ein und ging weiter rechts an den Gärten des Gutes hin ...

Seit der letzten Begebenheit hatte er an nichts andres gedacht. Er konnte nichts mehr vornehmen und schlief schlecht. Eine so stolze Schönheit hatte er noch nie gejagt. Daß sie Tag für Tag an seinem Hause vorüberging und sich trotzdem versteckte, sobald er kam, war ein Zeichen, daß sie noch unschuldig war. Es galt also nur, sie in ihrem Versteck aufzustöbern, man konnte ihr ja gar keinen größeren Gefallen tun. Je öfter sie sich versteckte, um so raffinierter war natürlich ihre Lust, gefunden zu werden. Jetzt wurde ihm auch klar, warum sie damals von Gröndals abgereist war; jetzt wurde ihm klar, warum sie auf dem Dampfer geweint hatte, o, diese unschuldigen, kleinen Mädchen! Aber diese Jagd wirkte verzehrend, wenn sie sich zu sehr in die Länge zog. Auch der Ehrenpunkt kam dabei in Betracht; niemand sollte sich einbilden, daß man ihn zum besten haben könnte! ... Außerdem war sein guter Ruf am sichersten, wenn es gelang; dann hielt sie reinen Mund. Wenn sie ihn nur nicht zu früh entdeckte! War er erst so nah heran, daß er sie mit den Augen festhalten konnte, dann –!

Trotz seiner glühenden Aufregung glitt er behende vorwärts, – nicht auf den Wegen, sondern direkt durch das Waldesdickicht, verdeckt vom Laub. Wo er nicht gehen konnte, kletterte er, wo er nicht klettern konnte, kroch er. Sie saß noch immer da und tastete nach einer festen Vorstellung, die sich ausdehnen könnte, bis sie sie ganz erfüllen und sich über ihr schließen könnte. Aber es gelang nicht. Da war immer ein gewisses Etwas, das sie wieder zerriß; – nun knackte auch ein Zweig da unten. Schon lange hatte sie die Versuchung gefühlt, sich umzudrehen. War denn doch irgend was hinter ihr? ... Sie sah hinunter ... Im ersten Augenblick merkte sie nichts ... Ja, doch, es raschelte im Laub und Zweige bewegten sich ... Es war wohl ein Pferd oder eine Kuh vom Gute; die Tiere waren jetzt ja auf der Sommerweide ... Aber heiß wurde ihr doch ... Sie hatte die größte Lust, aufzustehen und zu gehen ... Allein ihre Augen hingen unwillkürlich an den Zweigen da unten ... Etwas Dunkles war darunter ... Da kam ein Kopf zum Vorschein – ein Mann – er! ... Wie in aller Welt? Wußte er denn, daß sie –? ... In ziellosen, entsetzten Fragen verwirrte sich ihr Wille ... Da blickte er auf. Mit Aufbietung aller ihrer Kraft stand sie auf, obgleich sich hundert Zentner an sie hängten ... Aber sie wandte den Blick nicht von ihm ab und kam nicht vom Fleck ... nach und nach verlor sie auch den Willen dazu ... Jetzt trennte sie nur noch der Stein ... Ein Schauder überlief sie und machte sie einen Moment wach ... Jetzt wandte sie den Kopf, ging taumelnd ein paar Schritte ... und stand dicht vor ihm. Sie bog sich hastig zur Seite. Er berührte ihre Hand, sein Arm schmiegte sich leise unter ihrem durch, es war, als ob sich ihr ein Feuergürtel um den Leib legte. Sie fiel so unerwartet und so schwer hin, daß er beinah mit ihr vornüber gefallen wäre.


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