Björnstjerne Björnson
Der Bärenjäger
Björnstjerne Björnson

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Eine neue Ferienreise

(1869)

Die Provinzen Nordland und Finnmark sind den Bewohnern der übrigen Landesteile Norwegens, wenn sie dort oben nicht gerade Geschäfte haben, so wenig bekannt, daß man von Dänen oder Schweden nicht verlangen kann, daß sie sie kennen sollen. Gleichwohl fordere ich diese ebenso dringend wie die Norweger auf, während der Ferien zu ihnen hinauf eine Vergnügungsreise zu unternehmen. Aber ich muß zugleich hinzufügen, daß freilich denjenigen, die nur zu einer oder zu wenigen längeren Reisen während ihres Lebens Mittel oder Zeit besitzen, meine Aufforderung nicht gilt, wohl aber den vielen, die Europas Kulturländer schon gesehen haben, die sich nicht nach den großen Städten hin, sondern gerade von ihnen fort sehnen, die nicht mehr nach Zerstreuung jagen, sondern sich einige Monate lang in einer ungewöhnlichen Natur erholen und erquicken wollen. Auch an diejenigen wende ich mich, die ihr Nervensystem wiederherzustellen wünschen und die zu diesem Zwecke eher eine stärkende Seereise als das stickige Badeleben wählen müssen. Allerdings kann eine solche ein wenig Seekrankheit im Gefolge haben, obgleich in der ruhigen Witterung des Sommers doch nur selten; aber teils ist die Seekrankheit eine heilsame Krankheit, teils ist gerade diese Reise die am wenigsten gefährliche, die sich denken läßt, denn mit einigen kurzen Ausnahmen geht die Fahrt fast den ganzen Weg durch die Scheren hindurch; selbst bei starkem Sturm geht das Dampfschiff einen Tag wie den andern ganz still und ruhig; man lebt so sicher wie auf dem Fußboden seines eigenen Zimmers, nur mit dem Unterschied, daß man sich von der stärkenden Seeluft nährt und die großartigste Natur, welche der Norden besitzt, vor Augen hat. Die Engländer haben sie aufzufinden verstanden, jetzt auch die Amerikaner, Franzosen und Holländer. Auf jeden lustreisenden Norweger kommen zehn bis zwanzig Fremde. Die Engländer haben dort oben die besten Lachsfischereien und die besten Jagdreviere gekauft oder gepachtet.

Der alte deutsche Maler Preller, der zu seiner Zeit in Nordland nach Studien für seine historischen Landschaften suchte (ich sah bei ihm gerade eine mythologische Szene, die er in diese Natur verlegt hatte), sagte zu mir: »Wer Meer und Luft und Erde im gegenseitigen Kampf und den Kampf der Menschen mit ihnen allen sehen will, der muß hier hinauf reisen.« Ein Lustreisender wünscht einen solchen vielleicht nicht zu sehen, weil er leicht selbst ein Opfer desselben werden könnte, aber diesen Gebirgsformationen gegenüber kann er bei den Zeugnissen, die die Natur stets abzulegen Sorge tragen wird, ihn ahnen und von den Leuten an Ort und Stelle vollen Bescheid erhalten. Ich erwähne dies, weil die Berichte des Nordländers von seiner Natur und seinem Leben bisweilen zu dem Besten von meiner Reise gehörten; seine Phantasie ist von Gefahr und Einsamkeit großgezogen und mit der Natur verwandt.

Ein deutscher Weltreisender, Alexander von Ziegler, war, wie ich zu meiner Schande bekennen muß, der erste, der in mir die Lust erweckte, diese Gegenden zu sehen. Er nannte drei Stellen in der Welt, die er eine jede in ihrer Art als das Großartigste bezeichnete, was er gesehen hatte, und unter diesen bildeten Nordland und Finnmark die eine.

Die Reise dort hinauf ist am besten so einzurichten, daß man auf der Hin- oder Rückfahrt den Weg von oder bis Namsos über Land nimmt; vielleicht ist es am besten den Weg zu teilen, also bei der Hinfahrt über Land bis Trondhjem, und auf der Rückfahrt über Land von Namsos bis Trondhjem, und von dort aus wieder mit Dampfschiff die Küste entlang nach den romsdalschen Städtchen (unter ihnen das reizende Nolde) und weiter die Felsenküste entlang, wo man dann wieder in Bergen Rast halten kann, um von dort aus dem Hardangerfjord oder einem anderen der vielen Fjorde, zu denen man von Bergen aus auf kleineren Dampfbooten zu reisen pflegt, einen Besuch abzustatten. Um der Mitternachtssonne willen muß man Nordland jedenfalls gegen Ende Juni oder im Anfang des Juli erreicht haben. Man sieht sie auch später noch mit voller Wirkung, aber dann viel weiter nördlich und nur auf hohen oder freien Stellen.

Die Fahrt dort hinauf ist, wie mir scheint, sehr teuer. Wenn die verschiedenen Dampfschiffahrtsgesellschaften über die Herabsetzung der Fahrpreise bei längeren Reisen, also von Schweden und Dänemark bis dort hinauf, ein Übereinkommen träfen und darauf eingingen, daß man unterwegs aussteigen und nach eigenem Gefallen weiterfahren dürfte, so würde dies sicherlich zu ihrem eigenen Vorteil gereichen, denn es kann nicht fehlen, daß in einiger Zeit diese Sommerreise eine der beliebtesten im Norden sein wird. Es kann nicht fehlen; denn so wahr der Nordländer nordische Poesie und Sage liebt, muß er auch lieben eine Natur zu sehen, in der man erst die größten Gesänge der Edda oder die hervorragendsten Handlungen der Sage verstehen lernt. Die Sehnsucht, solche Natureindrücke in sich aufzunehmen, liegt in einem jeden Nordländer, er mag am Meer oder zwischen Bergen wohnen.

Sobald man die Namsoser Bucht, eine der schönsten unseres Landes, die sich zwischen tannenbewachsenen Bergen und weit hervorragenden Landzungen dahinschlängelt, und eine kurze Strecke weiter die Throndhjemer verlassen hat, wechselt auch die Natur. Der höhere Baumwuchs flüchtet in die besser geschützten Fjorde hinein, wo ihn die Meeresstürme nicht brechen können – und auch dem Menschen der Zutritt zu seiner Verheerung nicht ganz ebenso leicht gemacht ist. Denn daß einst die ganze Küste mit großen Wäldern bedeckt war, ist ohne allen Zweifel, ebenso daß die Meeresstürme dafür gesorgt haben, den Rest zu nehmen, den die Menschen ließen. Der Grasgürtel, der sich bis zu dem obersten Teil von Finnmark fortzieht, ist der üppigste, den ich gesehen habe. Dicht wie die Haare eines Renntieres stehen die Grashalme da, schön grün und saftreich durch das salzige Seewasser, das sie besprengt, oft buchstäblich besprengt und immer durch die Vermittlung der Luft. Die Viehzucht ist ein so wichtiger Faktor in dem Leben des Nordländers, daß ihn sogar ein reicher Fischfang nicht ernähren kann, wenn ihm in einem Jahre die Witterung die Bergung des stets üppigen Grases unmöglich gemacht hat. Dieser Umstand ist erfreulich, denn ein Volk, welches seine Nahrung nur aus dem Meere zieht, nimmt zuviel von der Unbeständigkeit desselben an, während die Erde einen Sinn für Treue und Ordnung einflößt.

Die Berge werden schon bei Helgoland schwerer und sind mehr voneinander getrennt, so daß sie schon hier beginnen, sich vereinzelt aus dem Meere zu erheben. Die Berge haben oft eine Art Moosdecke, die sich teils graugrün, teils braunrot bis zum Gipfel hinauf ausbreitet und, wenn die übrige Landschaft kräftige Gegensätze darbietet, unter dem Spiele der Sonnenstrahlen so neue Farbenwirkungen hervorrufen kann, daß sie ein Maler wie Klänge aus fremden Melodien empfinden müßte und – bei der Fähigkeit, sie aufzufangen – eine Gesamtwirkung von hinreißender Schönheit hervorlocken könnte. Man fährt hier an einigen historischen Stätten vorüber, wie zum Beispiel an dem Wohnort Haareks af Tjotta; wie ein langes Schiff, das gerade in das Wasser hinabgleitet, schießt er weit in die See hinaus; man hat eine weite und große Aussicht.Diesmal war ich auf all den drei Höfen, auf denen die drei Anführer in dem Aufruhr gegen Olav den Heiligen wohnten. Späterhin war ich auf Stiklestad im Värdal selbst, wohin sie ihre Scharen gegen den großen König führten, der daselbst fiel. Tiefer hat mich keine geschichtliche Erinnerung gerührt. Aber bei dem Anblick dieser wunderbaren Landschaft, die hier vor dem Beschauer großartig daliegt und die nämliche ist, die Olav und sein treues Gefolge erblickten, als sie nach langer Abwesenheit über das Gebirge zogen und der Heimat entgegenjubelten, der Heimat, die hier auch in der Tat wert ist, daß ihre Kinder den Heldentod für sie sterben, da dachte ich unwillkürlich an Bjarköj hoch oben in den Lofoten, wo Thorer Hunds ausgedehntes Gehöft von zerklüfteten Felsenreihen, die aber so hoch sind wie seine Seele, und vom Meere umschlossen wird, welches der Höhle des Fuchses mit den beiden Ausgängen auf zwei Seiten Einfahrt und Hafen gewährte; ich dachte an Tjotta auf Haalogaland, wo der listige Haarek im geheimen den Plan geschmiedet hatte, der, als die Zeit erfüllet war, zur Ausführung kam und ihn nach Stiklestad führte, aber weder ihm selbst zum Jarltum verhalf noch sein Geschlecht auf den Thron erhob; ich dachte an Egge in Thröndelag, welches wie ein über den breiten, geduldigen Rücken der Landschaft gelegter Sattel aussah, auf dem Kalf Arneson ritt; er konnte auch den Zügel nach jeder Seite anziehen, nach der er nur wollte, und mochte lange geschwankt haben, welche Richtung er einschlagen sollte, aber schließlich zog er doch nach Stiklestad gegen den König, gegen seine eigenen vier Brüder! Alle diese großen Heimatstätten hatten jedem von ihnen Charakter verliehen. Man kann versichert sein, daß sie bei Stiklestad der Heimat gedachten, für die sie sich schlugen, denn unterlagen sie hier, so unterlagen sie auch dort. Die ehrgeizigen Großen sahen mitten im Rachekampf, mitten in der Erwartung und in der Angst Erscheinungen von den Spielplätzen ihrer Jugend, von den Hünengräbern ihrer Väter vor sich auftauchen; sie sahen plötzlich den Hochsitz im Saale, sie hörten die Klänge eines Liedes ihrer Heimat, und unter ihnen erhoben sich vor ihren Augen die heimatlichen Berge. Scharen von Eidergänsen, die umherschwimmen, Möwen, welche schreien, Nordlandsboote, die anlegen, Jachten mit einem einzigen großen Rahsegel, denen man überall begegnet, und die anmutigen Küsten mit der beständigen Fernsicht auf hohe Berge und Felsenmassen, machen es zuletzt freundlich, ja fast vertraut, so vollkommen entspricht das eine dem andern, und so gewaltig ist es zugleich; es erobert und hält fest.

Aber dies alles ist nur eine Einleitung auf den Augenblick, da das Lofotengebirge dunkelblau hervorzuschimmern beginnt. Ich weiß nicht, wann es sich am herrlichsten ausnimmt, ob aus der Ferne, sobald man es wie eine einzige tiefblaue Wand mit tausend Türmen gekrönt über dem unermeßlichen Riesenschloß vor sich hat, in das wir gleichzeitig hineingefahren sind, nämlich in den Golf des Westfjords, im hellen Sonnenschein leuchtend, so weit du schaust, aber auch oft durch Luftspiegelungen abgelenkt, die vor dir und hinter dir lange Bergreihen in unaufhörlichem Wechsel auf den Kopf stellen, während Walfische spielen, Vögel schreien und sich auf den Wasserspiegel hinablassen, oder wenn man sich nähert und nun sieht, wie sich die Wand öffnet, jede ihrer Zinnen zu einem besonderen Berg wird, einer immer wilder als der andere, und dies in einer einzigen Reihe, so weit du auch mit dem besten Fernrohr nur immer zu blicken vermagst. Wenn man Romsdal mit den Zauberzinnen, den Ringelzinnen, dem Turme usw. preist, so will ich nur gleich hinzufügen: das Lofotengebirge gibt diese Felsenzinnen viele hundertmal hintereinander – oder besser ausgedrückt: das Gebirgspanorama, welches man bei Molde überschaut, bietet sich hier oben auch bei der schnellsten Dampfschiffahrt den ganzen Tag lang dar. Aber die Gebirgsformationen sind so zerrissen, daß kein Bild in meiner Seele aus dem Kreise der Mythologie oder der Bibel oder der Poesie imstande ist, die versteinerte Bewegung, die ich dort erblickte, die drohende Schlachtordnung, das ruhige Entsetzen, die tausendzackige Mannigfaltigkeit in diesem einzigen Steinguß recht zu bezeichnen. Man kann sich die erste Stunde, vielleicht den ersten Tag wehren und versuchen, auch hier den Maßstab der Schönheit anzulegen, aber wenn es tagelang anhält und immer gleich großartig, ob man sich nähert oder entfernt, dann empfindet man in der toten Natur zuletzt eine Spannung, wie inmitten einer lebenden Handlung. Dies haben auch die empfunden, welche einst die großen Sagen gedichtet haben, sowie die, welche sie jetzt an den Stellen, über denen sie schweben, erzählen; in diesen Sagen nehmen die Berge dramatisches Leben an, treten als Riesen und Riesenmädchen, als Ritter und Jungfrauen auf! Das Großartige darin wird noch größer durch die unübersehbare Entfernung zwischen den Auftretenden in diesem Steindrama. Wer hier oben fährt und träumt und dichtet, betrachtet nämlich Meilen wie Lustfahrten, und in der reinen Luft gewahrt man schon in einer Entfernung von elf, ja dreizehn Meilen Gegenstände, die man in wenigen Augenblicken zu erreichen glaubt. Und das Licht, welches über dieser Sagenwelt strahlt, hört ja nicht auf. Wir sind jetzt da, wo noch vor wenigen Monaten eine einzige Nacht war, aber jetzt herrscht dort nur ein einziger Tag. Auf dem Verdeck versammelt gehen die Passagiere in Erwartung der Mitternachtssonne auf und ab. Man hat behauptet, welche Vorstellungen man auch mitgebracht hätte, so würden sie sich doch unter dem überwältigenden Eindruck des Anblicks selbst völlig verlieren. Und das ist die Wahrheit. Sobald die schwimmende Feuerkugel in voller Größe den Horizont entlanggleitet, wozu die Vorzeichen nur einen Augenblick vorher wahrnehmbar sind, so verwandelt sich Himmel, Gebirg und Meer. Sie selbst kann stundenweise mit bloßen Augen betrachtet werden; es steht da kein hindernder Strahlenglanz um sie; alles Feurige befindet sich innerhalb ihrer Peripherie, aber diese ist auch weit größer, als man sie sich am Tage vorzustellen gewohnt ist, ja, so groß, daß man am Anfang ganz davon ergriffen ist, und noch lange von nichts anderem in gleicher Weise. Endlich tritt die Farbe hervor; die Sonne ist jetzt ein rotglühendes Meteor, von dem man glauben könnte, es wollte in Millionen Stückchen zerschmelzen, wenn nicht die ruhige Hoheit des Schauspiels, die harmonische Farbenpracht am Himmel, an dem es majestätisch vorwärts schreitet, Frieden gäbe, vollen und verklärten Frieden. Wenn ein Wolkenstreifen über die Kugel hinfort gleitet, wird er sofort durchglüht und immer dunkler rot, so daß sich auf der Sonne gleichsam Gebirge und Landschaften abzeichnen. Aber wenn ein Wolkenstreifen an dem farbenfeinen Himmel dahinschwebt, werden bloß die Ränder erhellt, sie erscheinen weiß oder rot glühend, während das Innere Farbe hält und das Ringsumliegende um so mehr hervorhebt. Denn der Himmel zeigt alle Farbenübergänge vom stärksten Blutrot über den Bergen bis zu dem weißlichgrauen Einerlei in der Höhe, und zwar in der Weise, daß du auf keinen einzigen Punkt auch nur so viel wie eine Nadelspitze setzen und sagen kannst: hier geht die eine Farbe in die andre über. Wäre der Anblick nun immer derselbe, so könnte man seiner schließlich vielleicht doch überdrüssig werden. Allein er wechselt unaufhörlich; jetzt ist die Sonne mehr violett und jetzt wieder mehr rotgelb, nun wie mit einem grünen Schleier verhüllt und nun wieder glänzend in hellem Weiß; aber hinter ihren wechselnden Schleiern immer warm, immer rot. Jetzt gleitet ein Nebelstreifen an ihren Rand, in einem Augenblick ist er glühend rot, jetzt ist er vorüber, und nun ist er sonnenhell, jetzt wieder gleicht er einem langen Wolkenstreifen, der zittert und brennt und fortgleitet. Und gleichzeitig wechselt der umgebende Himmel in allen Farbenübergängen, als durchflöge ihn ein unaufhörliches Beben, und je nachdem die Wolken an demselben sich verdünnen oder verdichten, je nachdem sie in die bläulichen, weißen Schichten oder in die roten, violetten kommen, erglühen ihre Ränder stärker, während ihr Inneres weiß oder dunkel wird. Das Schauspiel ist fortwährend so abwechselnd, so neu, daß ich alte Leute dasselbe mit der gleichen unablässigen Aufmerksamkeit habe verfolgen sehen, wie wir es taten.

Eigentümlich wird es auch dadurch, daß der übrige Himmel und die Berge, die unter ihm liegen, regungslos dastehen. Dort herrscht die gleiche unveränderliche Farbenkälte in dem stahlblauen Meere, in dem dunkelgrünen Gürtel am Fuße der Berge, in den tiefblauen Bergabhängen und Bergesgipfeln, während hier alles glüht, strahlt, wechselt, in der Sonne jubelt. Aber nun kann sich dort auch wieder in diesem kalten Tongemälde plötzlich ein einzelner Berg vollkommen loslösen und vom Gipfel bis zum Fuße erglühen; es ist, als hielte dieser Berg seine eigene kleine Sonne hinter sich verborgen. Der Grund liegt einfach darin, daß er von der Sonne erreicht werden kann, und seine Glut hebt die klare Kälte in der Umgebung nur noch stärker hervor.

Einmal, als gerade die Mitternachtssonne am herrlichsten war, ging der Mond auf; er wußte vermutlich nicht, was los war, denn ein traurigeres und zornigeres Gesicht, albernere und unlustigere Grimassen kann kein dem Opiumrauchen ergebener Chinese machen. Mit diesem haarlosen Exemplar der Säuferklasse hatte er überhaupt eine treffende Ähnlichkeit. Daß ein Dichter je Oden an ihn geschrieben, eine Geliebte je schmachtende Blicke zu ihm emporgerichtet habe, war nicht leicht zu verstehen. Wir pfiffen ihn aus, so daß er jämmerlich seine Straße zog, und folgten ihm mit lautem Gelächter. Er war auch merkwürdig zusammengeschrumpft und auffallend klein geworden; er mußte es gewiß selbst fühlen, denn er hielt sich in bedeutender Entfernung.

Der Gebirgscharakter, den die Lofoten haben, verliert sich weiter nördlich, wenn man einzelne Gegenden von wenigen Stunden Umfang ausnimmt, ungefähr wie wir ihn südlich, z. B. im Romsdal, bewundern. Im Lyngenfjord haben wir solche Gegenden wieder, teilweise auch im Balsfjord, vielleicht noch in einigen Fjorden, in denen ich nicht gewesen bin, so wie hier und da längs der Küste, wenn auch seltener. Trotzdem fahren wir beständig zwischen Bergen weiter und sehen nur Berge, bekleidet und unbekleidet, zuweilen grün bis zum Gipfel empor, zuweilen meilenweit den Anblick einer grauen Moosdecke ohne allen Rasen gewährend. Dagegen kann man auch nach Stellen kommen, die zuerst einen äußerst abstoßenden Eindruck machen; steigt man aber eine Strecke höher und sieht sie aus der Ferne, so daß die Formationen und Verhältnisse der Felsen, die tiefe Farbe des Meeres, die Klarheit der Luft ihre Wirkung auszuüben vermögen, so kann der Blick auf das weit ausgedehnte, wilde Land den Beschauer mit der Vorstellung der Unendlichkeit erfüllen, und dann nimmt es sich schön aus. So z. B. Hammerfest. Sobald man von dieser kleinen, aus einem Haufen von Erdhütten zusammengewachsenen Stadt des Tranes nach dem sogenannten »Saale«, einem Berge dicht hinter ihr, hinaufgelangt, liegt die Stadt, sich die Bucht entlangziehend, anmutig und zierlich da. Ihre außerordentliche Tätigkeit zeigt sich auf dem Fjord wie am Ufer in Fahrzeugen, groß und klein, Gestellen zum Dörren der Fische, Tranbrennereien, Booten und Dampfschiffen. Aus dem mehrere Meilen großen Teich, wie die See dem Beschauer hier wenigstens erscheint – eingerahmt von grauen Felsen, hinter denen Schneegebirge hervorblinken –, steigt außerdem eine Felseninsel mit einer weit hervorspringenden, üppigen Landzunge empor. In der Klarheit der Luft erhält die plumpe Natur einen gefälligeren Farbenton, und in seinem Rahmen wird die menschliche Tätigkeit mit ihr zu einem großartigen Eindruck erhoben. Dies ist die nördlichste Stadt der Welt unter dem 71. Breitengrad. Sonst scheint mir jede nordische Landschaft, im Gegensatz zu den dänischen, wenig Reiz darzubieten, wenn man sie aus unmittelbarer Nähe betrachtet, dagegen desto öfter unendliche Schönheit, aus der Ferne gesehen.

Ferner fesselt mich, wie ich glaube, die nordische Natur durch ihre Eigentümlichkeit, und zwar namentlich die Küste, und hier wieder, je weiter man nach Norden kommt. Um diese Eigentümlichkeit jedoch recht zu erkennen, muß man Beobachtungsgeist besitzen, muß das Leben der Menschen, Vögel und Fische, wie es hier hervortritt, beobachten. Man wird die ganze norwegische Küste entlang ebenso sicher eine Verschiedenheit in Gesichtszügen, Sprache, Benehmen und Kleidung wahrnehmen, wie man schon von Ferne andersartige Bootsformen sich nähern sieht. Das Boot des Nordländers erscheint dem von weit her Kommenden als etwas vollkommen Neues, meiner Ansicht nach als das Schönste im ganzen Land, eingerichtet, wie er es bei den großen Entfernungen dort oben bedarf, nämlich als Schnellsegler und gleichzeitig als Fischerboot, indem es sich leicht wenden und steuern läßt. Die Form desselben ist zugleich stark wie geschmeidig, und etwas Ähnliches scheint mir in dem Charakter des Volkes zu liegen. Man hat den Nordländer träge und schwerfällig genannt, und er wird sich so noch lange zeigen; er ist nämlich argwöhnisch. Ein unmenschlicher behandeltes, mehr ausgeplündertes und vernachlässigtes Volk hat der Norden bis ganz vor kurzem nicht gehabt. Man fühlt sich empört, wenn man von den Beamten und Verordnungen zur dänischen Zeit, von den Erpressungen der Bergener Kaufleute bis zu unserer Zeit hinauf sowie von ähnlichen Betrügereien der Handelsleute auf dem Lande vernimmt. In Nordland und Finnmark war ein so konsequent durchgeführtes Plünderungssystem wirkliches Herkommen geworden, daß sogar Peter Daß in seiner »Trompete des Nordlands« oft Schilderungen von Mißbräuchen und Aussaugungen gibt, die er selbst nicht als solche auffaßt.Jeder Besucher des Nordlands muß die von Peter Daft geschriebene »Trompete des Nordlands« besitzen, sie aber erst bei der Rückreise lesen, wenn er selbst einen Begriff davon bekommen hat, wie unvergleichlich wahr sie ist. Aber der Nordländer, des Landes erster Fischer, sein mutigster, unverdrossenster Seemann, ist nicht träge. Sieh ihn im Boote – ein jeder muß nach seinem Stande und Berufe beurteilt werden! Nicht allein ist er ein gewaltiger Ruderer, ein schneller Auslader, sondern seine Bewegungen beim Hissen der Segel oder beim Manövrieren sind mehr als schnell, sie sind leicht, sind schön. Rede dann mit ihm! Was hat er nicht gelesen und überlegt, wie leicht folgt er nicht, wenn du erzählst! Zwar ist er gegenwärtig wohl sehr in allerlei Kannegießereien vertieft, aber teils ist dies nicht zu verwundern, wenn man seine Vergangenheit kennt, teils muß man Gott dafür danken, wenn der Nordländer von dem Regiertwerden dadurch so leicht zur Selbstregierung hinübergelangt, daß er in fröhlichen Vereinen einige fremde Eier aufwärmt, die schon während des Brütens faul werden müssen und die er selbst deswegen zuerst fortwerfen wird. Hierbei wird ihm auch sein Beamtenstand beistehen; er ist jetzt im allgemeinen der Gegensatz des früheren.Zur Charakterisierung einzelner Mitglieder der früheren Beamtenwelt will ich folgendes erwähnen: Bald nachdem Norwegen ein selbständiges Land geworden war, wurde ein dänischer Pfarrer als Trunkenbold abgesetzt, der im Zorn darüber, daß ihm der Storting keine Pension gab, die norwegische Verfassung einen Lumpenkerl nannte; er hatte sie für einen Mann gehalten! – Noch vor wenigen Jahrzehnten gab es in Finnmark einen Pfarrer, der den Küster von der Kanzel eine Predigt aus einer Predigtsammlung vorlesen ließ, während er selbst bei den Handelsleuten auf dem Lande saß und Karte spielte. Kurz vorher lebte in Nordland, der in seiner Haustür ein Gitterfenster anbringen ließ, damit die Bauern durch dasselbe mit ihm reden könnten, und wenn sie ihm die Hand geben wollten, reichte er ihnen einen Stock heraus, den sie drücken sollten. Der gegenwärtige Beamtenstand wird zum größten Teil von jungen Männern gebildet, die sich dem Volke mit Leib und Seele anschließen. Diese Gegenden haben das an sich, daß sie die dorthin Gezogenen vollkommen bezaubern, die von dort versetzten Beamten reden von ihrem Aufenthalt dort oben im Norden stets wie von ihrer schönsten Zeit. Im Bunde mit dem Volke werden die jungen Beamten bald sein Vertrauen gewinnen; viele unter ihnen besitzen es schon. Die zähe Naturkraft im Volke selbst, welches jahrhundertelange Kränkungen ertragen hat, abgehärtet wie es war durch den Kampf mit dem Meer und das Glückspiel um Gut und Leben, wogegen jene Quälereien doch nur halblächerliche Geringfügigkeiten wurden – diese erprobte Naturkraft wird jetzt unter der Fürsorge des Stortings, dessen Schoßkinder Nordland und Finnmark geworden sind, diese Gegenden einer großen Zukunft entgegenführen.

Lappländer und Finnen bilden bekanntlich einen Teil der Bevölkerung. Erstere sind ein starkes, tüchtiges Volk, gute Seehundsjäger, Walroßfänger und Heringsfischer, aber auch Landwirte. Wenn sie in der Ehe mit norwegischen Männern und Frauen diese stets dahin bringen, lappländisch zu reden, so rührt dies nicht, wie man geglaubt hat, von ihrer Überlegenheit her, sondern im Gegenteil davon, daß es dem Lappländer eine physische Unmöglichkeit ist, norwegisch zu sprechen, wenn er nicht von Kindheit an daran gewöhnt worden ist. Man kann sich an Ort und Stelle davon überzeugen. Ein gutes Schulwesen sorgt jetzt dafür, daß die Kinder Norwegisch lernen, und es ist eine Erfahrung, daß die, welche einmal Norwegisch gelernt haben, es auch zu ihrer Umgangssprache machen.

Die Finnen sind natürlich die, nach denen man am meisten sieht und am meisten fragt, von dem Augenblick an, da der erste Finne an Bord gekommen ist, in seinem grauweißen, wollenen Kittel mit einem roten Saum und von einem Gürtel zusammengehalten (im Winter trägt er einen Renntierpelz), mit seiner eigentümlichen Fußbekleidung und seiner sonderbaren Kopfbedeckung. Sie sind fast alle klein, äußerst freundlich, gesprächig, voller Phantasie und Gefühl. Viele von den Finnen an der Küste kleiden sich wie Norweger und werden im Laufe der Zeit vielleicht völlig in ihnen aufgehen. Die Finnen im Gebirge halten sich dagegen ganz für sich selbst; während sie einst alles Land dort oben besessen haben, sind sie jetzt nach dem Hochgebirge zurückgedrängt, kommen auch dort mit den Eingewanderten oft in Streit und hegen im allgemeinen einen tiefen Groll gegen die Norweger. In ihren Märchen vom Teufel erscheint er stets als Norweger gekleidet. Trifft ein Norweger im Gebirge ohne Begleitung mit einem Finnen zusammen, so wird er unfehlbar niedergeschossen; dies wurde mir von mehreren Seiten bestätigt und namentlich von einem Finnen, der mir viele Aufklärungen über diesen merkwürdigen Volksstamm gab, zu welchem er infolge seiner Bildung und Stellung nicht mehr gerechnet werden konnte, den er aber noch immer liebte. Welche Ausdauer hat nicht dieses Volk, welches den größten Teil seines Lebens im Schnee, im Kampfe mit Wölfen und den Elementen zubringt! Den größten Teil des Jahres auf Wanderungen nach verlaufenen oder gestohlenen Renntieren, auf Schneeschuhen, solange der Schnee liegt, und dann unter unaufhörlichen Anstrengungen im Urwald oder auf ungebahnten Wegen hat sich der Gebirgsfinne einen eigentümlichen Gang mit gespreizten Beinen und schwankenden Knien angewöhnt; er scheint mehr dahinzugleiten als zu gehen. Die langen Wege, die er mit unverminderter Geschwindigkeit und oft mit schwerer Last auf dem Rücken zurückzulegen vermag, kommen unglaublich vor, ebenso, daß er vierundzwanzig Stunden hintereinander gehen kann, ohne der Ruhe zu bedürfen. Speise trägt er unter seinem Kittel auf der Brust bei sich, nämlich ein Stück Renntierfleisch und Brot. Wenn er auf seinen Schneeschuhen einem Wolf auf die Spur gekommen ist, setzt er ihm nach, bis er ihn erreicht. Der Wolf flüchtet sich den Berg hinab, aber der Finne ist auf seinen Schneeschuhen schneller, und nun geht es bergauf, bergab, oft tagelang; der Finne ißt, der Wolf kann weder fressen noch rasten; er kann so müde werden, daß er sich auf die Erde niederlegt und wie ein Hund nach dem Finnen schnappt, und dann wird er erschossen oder ganz einfach mit dem Schneeschuhstab erschlagen. Zehn Taler erhält dann der Finne als Schußgeld und außerdem den Wert des Pelzes. Ein Wolf, den der Finne aufspürt, kann ihm auf dem Schnee nie entgehen. Nichtsdestoweniger ist der Wolf sein schlimmster Feind. Er erscheint gern bei trübem Wetter und im Dunkeln; die Renntiere stehen in Schneefurchen, die sie des Mooses wegen aufgescharrt haben, sie stehen Seite an Seite, oft in Reihen von Hunderten, alle das Hinterteil in die Höhe gerichtet und den Kopf und das Vorderteil in die Aushöhlung hinabgebeugt, also außerstande, Witterung zu erhalten. Dann kommt der Wolf, und in einem Sprung ist er auf dem Rücken des fettesten Renntieres; ehe noch die Hunde, die ebenfalls getäuscht werden können, den Finnen zu wecken vermochten und es ihm gelungen ist, mit seiner Flinte aus der Erdhütte hervorzukriechen, ist die Herde zerstreut, und es kostet oft wochenlange Mühe, sie zu sammeln – wenn überhaupt alle Tiere je wieder gesammelt werden; denn die fremden Renntiere, die in die Herde eines Finnen geraten, werden gewöhnlich sofort geschlachtet, und wenn der Eigentümer kommt, ist nichts zu sehen. Selbstverständlich übt er Vergeltung, sobald er kann. Aber er kann es nicht immer.

Der Finne lebt vortrefflich. Das Blut des Renntieres, aus dem er Suppe kocht, sowie dessen Fleisch und Milch sind eine so fette und kräftige Nahrung, daß sie nicht alle von uns genießen können, selbst wenn wir sie auf unsere Weise zubereiten. Wenn das Essen aufgetragen wird, setzt man zugleich Mehl und Salz vor; man bereitet sich dann sein Brot selbst und bäckt es auf der eisernen Herdplatte. Ich erzähle von dem Finnen so viel, weil ich selbst nie müde werden konnte zu fragen und voraussetze, daß es anderen Reisenden ähnlich ergehen wird. Die Beamten dort oben haben die Finnen gern und erzählen viel von ihnen. Eine Reise nach dem Gericht geht dort im Norden oft in pfeilschneller Fahrt mit Renntieren über unwirtliche Berge hinweg. Der Führer fährt voran, hinter ihm der Reisende, dann ein Renntier mit dem Gepäck; letzteres ist oft ein ungezähmtes Tier und wird, damit es nicht fortlaufe, an den Schlitten des Reisenden angebunden, was oft die köstlichsten Szenen zur Folge hat. Die Fahrt ist schon aus dem Grund gefährlich genug, weil auch das bestgezähmteste Renntier doch immer ein wildes Tier bleibt, welches, sobald es müde ist, auf Mann und Schlitten losschlägt – sich selbst hinten aufstellt, wenn es abwärts geht, und überhaupt alles erst nach Aufgebot vieler Künste tut. Der Schlitten fällt einmal nach dem andern um, aber der Zaum ist fest um den Arm gewickelt, das Tier muß folglich warten, und die Pelzkleidung schützt gegen den Schnee; deshalb nur wieder hinauf – einiges Zureden, und dann wieder weiter.

Allein ich kann nicht aufhören, von den Finnen zu erzählen, ohne noch der Else Marie Schancke in Tanen zu erwähnen, über die ich von vielen Seiten Mitteilungen erhielt, seit ich erst fragen gelernt hatte. Sie wurde von allen Finnen rings auf den Bergen umher »Mutter« genannt und ist ihnen auch in Wahrheit eine Mutter gewesen! Mit einem reichen Kaufmann verheiratet, gab sie ihr und ihres Mannes Vermögen den Finnen und widmete den größten Teil ihres Lebens der Sorge für dieselben, obgleich sie Mutter von zwölf Kindern war und einem großen Haushalt vorstand. Ich will unter vielen ein Beispiel erzählen: Eines Abends vor dem Heiligen Abend, als Else Marie gerade in einem großen Kreis von Verwandten und Gästen das Essen vorlegte, trat ein Finne in das Zimmer und bat sie mit Tränen in den Augen, ihn zu begleiten, obgleich der Weg bis zum Gebirge weit war und Unwetter herrschte; seine Frau hätte zwei Tage in Kindesnöten gelegen; wenn »Mutter« nicht mit ihm gehen wollte, so gäbe es für sein Weib keine Rettung. Sowohl ihre Kinder wie die Gäste sagten ihm, daß eine Frau von zweiundsiebzig Jahren sich nicht bei Anbruch der Nacht und in einem solchen Unwetter nach dem Gebirge begeben könnte, am allerwenigsten bei einem so weiten Wege. Aber der Finne kannte die Mutter; er hielt sich an sie selbst und flehte Gott an, ihm bitten zu helfen. Da erhob sich die Greisin, einer mußte ihre Schneeschuhe holen, ein anderer ihren Pelzrock, während sie selbst Essen und Medizin zusammenpackte und die Tracht einer Finnin anlegte; sie begleitete ihn darauf in Schneeschuhen bei vollem Schneetreiben! Sowohl diese Nacht wie den folgenden Tag blieb sie fort; sie hatten sich bereits um den Weihnachtstisch versammelt und gerade nicht mit frohen Gedanken, als sie plötzlich in das Zimmer trat, grüßte, gegrüßt und umringt wurde. Aber sie achtete auf niemand, erteilte kurze Befehle, verlangte bald warmes Wasser, bald Milch, bald eine kleine Kiste, in welcher Zucker gewesen war, und als sie alles erhalten, langte sie aus dem Busen ein kleines Bündel hervor, wickelte es auseinander, und nun lag ein zartes Kind darin, in ein weiches Hasenfell gehüllt. »Dieses hat mir Gott gegeben, denn die Mutter ist tot.« Sie fütterte die Kiste mit dem Hasenfell aus, suchte Betten und Wäsche zusammen und legte das Kind, gewaschen und schön angezogen, hinein. Diese Kiste stand von nun an vor ihrem Bett; sie pflegte das Kind unermüdlich und trug es überall mit sich herum. Das Kind war, wie sie selber sagte, »ihr Herzenskind«. Aber in einem Alter von sechs Jahren kam es im Feuer um. Sie suchte da selbst die Gebeine desselben in dem Aschenhaufen, legte sie in dieselbe kleine, mit dem Hasenfell gefütterte Kiste, in welche sie zuerst das Kind gelegt hatte, und begrub es. Bei dieser Gelegenheit äußerte sie: »Ich hätte gegen meine eigenen zwölf Kinder eine bessere Mutter sein können. Hieß es nun nicht Gott versuchen, noch das dreizehnte nehmen zu wollen?«

Übrigens werden auch reiche, wohltätige Finnen genannt, die von ihren oft mehrere tausend Renntiere zählenden Herden einzelne Stücke den ärmeren Brüdern abgeben, ja sie wohl ganz unterhalten. Aber die Bewohner Nordlands, mögen sie nun Norweger, Lappländer oder Finnen sein, sind wohlwollende, freundliche Leute. Was die Menschen gewöhnlich davon abhält, es zu sein, alle die tausenderlei Rücksichten, die verschiedenartigen Geschäfte, das zerstreute Wesen, denen alles ungelegen und verdrießlich ist – alles dies findet sich hier seltener. Die Menschen sind unter so gleichmäßigen Verhältnissen fröhlich miteinander; in einer so großen Natur und so gefahrvollen Tätigkeit, in einer so langen Finsternis und einem so starken Lichte keimen tiefere Gedanken.

Kein Reisender möge versäumen, an Bord eines russischen Schiffes zu gehen, von denen es in Tromsö und Hammerfest wimmelt. Anstatt der elenden Jachtschiffe, deren sie sich früher auf ihren Fahrten bedienten, haben sie jetzt schöne Schoner und Briggs. Kann man einen Kaufmann zum Begleiter bekommen, der Russisch spricht (und die Kaufleute dort oben pflegen fast ebenso oft Russisch zu sprechen wie die norwegischen SpanischViele der Kaufleute dort oben verstehen auch Finnisch und Lappländisch, so daß sie bedeutend mehr Sprachkenntnisse besitzen, als alle Kaufleute haben müssen.), so ist man eines ausgezeichneten Empfanges sicher; man wird mit dem vorzüglichsten russischen Tee, mit Wein usw. bewirtet. Die Russen sind ein gutmütiges, freundliches Volk; zweifelt man, so beobachte man sie, wenn sie einen fröhlichen Tag haben; zweifelt man, so höre man sie singen und zu ihren Liedern tanzen, alt und jung durcheinander. Es findet sich immer ein Vorsänger, den die andern im Chor begleiten, oft mit großer Fertigkeit. Man kann hören, daß diese Lieder jahrhundertealt sind, und man kann gleichfalls hören, daß sie diese ganze Zeit lang im Herzen des Volkes gelebt haben, denn alle singen sie ohne Spur von Dressur, Lieder von einem halben hundert Versen, ganz wie man aus einem Brunnen herausschöpft, mit der beständigen Gewißheit, daß in ihm noch immer mehr zu finden ist. Man erzählte uns, daß alle diese Lieder von Liebe handelten; aber Rußlands und des Zaren Namen kamen stets darin vor – die Vaterlandsliebe wehte durch den Gesang. Ist das so wunderbar? Wie töricht ist es doch gewesen zu wähnen, daß die Russen ein Haufen Halbwilder wären, die man wie Pferde in den Kampf führte und die ohne Gedanken und Gefühle, bloß auf des Zaren Befehl, lebten, kämpften und in den Tod gingen! Können so große Dinge von Sklaven und Tieren ausgerichtet werden? Die Russen haben sich jahrhundertelang ein Nationalgefühl aus der großen Zeit des Kampfes bewahrt, aus der die Sagen und Volkslieder hervorgegangen sind. Es war die sich im Glauben und im Liede aussprechende Sehnsucht der Russen, die den Zar Peter auf den Thron setzte, Suwarow zum Siege führte, Nikolaus verteidigte und für ihn in den Tod ging und Alexander das Adelsgesetz der Freiheit eingab. Deshalb sind die Russen so furchtbar gewesen, weil sie mit einem lebendigen Gott in ihrem Herzen und einer lebendigen Vaterlandsgeschichte in ihren Liedern gegen den Feind zogen, was eben ihren »zivilisierten« Gegnern oft fehlte. Hierdurch erhält man auch ein Verständnis ihrer »Disziplin«, die Moskau verbrannte, die Schiffe im Hafen von Sebastopol versenkte und Hunderttausende von ihnen auf alle Schlachtfelder Europas legte.

Vielleicht habe ich mich bei den Völkern, die man auf dieser Reise trifft, zu lange aufgehalten; ich bitte, daß man es in diesem Falle nur wie Gedanken auffassen wolle, wie sie einem Reisenden unterwegs aufstoßen; dieselben Gedanken werden sich in unvermeidlicher Reihenfolge bei jedem einzelnen einstellen.

Unablässig spielt aber auch die Tier- und die Pflanzenwelt in das Schauspiel hinein. Ein Walfisch taucht auf, spritzt und wälzt sich. Der Feind des Walfisches ist der Schwertfisch, der ihm sein Schwert in die Seite stößt, so daß er, vor Schmerzen wild, oft gerade auf das Land zuschwimmt. Wir sahen einen Walfisch, der verwundet sein mußte; denn er schoß heftig in die Höhe, ellenhoch über den Meeresspiegel; er stieß so gewaltige Töne aus, daß sich alle auf dem Verdeck umwandten und ihm zuriefen. Bei solchen Gelegenheiten bekommst du von den Fischern und Kaufleuten, die sich an Bord befinden, zahlreiche Erzählungen zu hören, Erzählungen von den großen Fischereien dort oben, wenn Tausende von Booten beisammen sind. Wenn die Fische, namentlich die Heringe, so dicht stehen, daß die Boote in die Höhe gehoben werden und man sie mit den Händen herausschöpfen kann, oder Erzählungen von den großen Stürmen, welche die Boote meilenweit fortjagen; an den Orten, zu denen sie hingetrieben werden, geschieht dann ein Überfall von erfrorenen und ausgehungerten Menschen, welche die Schutzhäuser und Küchen plündern; sie können oft nicht warten, bis die Grütze, welche sie sich im größten Topf des Hauses kochen, aufgetan wird, sondern sie umringen den Topf, essen mit den Fingern und trinken Wasser dazu! Weiter bekommst du von Schiffbrüchen und jammernden Schiffbrüchigen auf einzelnen Balken zu hören, von heidenmäßigen Rettungsversuchen, die aber oft nur Trümmer zu Trümmern und Jammernde zu Jammernden fügen. Dann erfährst du die große Geschichte dieser großen Natur.

Aber mitten unter den Erzählungen schwimmen einige Eidergänse zutraulich vorbei und mit ihnen ihre freundliche Geschichte. Die Eidergans ist des Nordländers Liebling; sie ist auch so zahm, daß sie oft in die Häuser hineingeht und ihr Nest unter dem Bett, ja selbst auf ihm baut, in welchem Fall die Bewohner ausziehen, um dem Gast Ruhe zu gewähren. Die Eidergans will während des Brütens gern geschützt und bedeckt sein, weshalb man für sie aus Brettern und alten Booten kleine Verstecke einrichtet; gibt es auf dem Hofe Katzen oder Hunde, so werden diese fortgeführt. Die Leute können die Gans aus dem Nest nehmen und hochheben; die Federn, die sie um sich streut, sind ihr reicher Dank für Wohnung und Pflege. Aber Raben, Krähen und Möwen beobachten sie, wenn sie auf einen Augenblick nach dem Strand hinabwatschelt, um zu schwimmen und mit dem Gänserich zu plaudern, der dort mittlerweile auf der Wacht liegt. Haben sie nun dadurch, daß sie der Gans bei ihrer Rückkehr nachgehen, das Nest ausfindig gemacht, so stehen sie auf der Lauer, bis sie sich das nächste Mal erhebt; sie wollen nämlich die Eier aussaugen. Aber die Eidergans ist schlau; sie bleibt so lange liegen, bis diese in ihrer Ungeduld auf sie losbeißen und -hacken; dann schreit sie, der Gänserich hört es und kommt herbeigehüpft; jetzt erhebt sich ein gewaltiger Kampf. Gelingt es ihm nur, einen der Räuber zu packen, so zerrt er ihn unter entsetzlichem Geschrei, vor dem die anderen die Flucht ergreifen, rücklings und Schritt für Schritt bis an die See hinab; er ist ungelenk und schwerfällig, aber er ist stark, und nun taucht er den Spitzbuben so lange unter, bis ihm das Leben entflohen ist. Wenn die Eidergans ihre Jungen ausgebrütet hat, macht es ihr große Mühe, sie an den Strand hinabzubekommen, den ganzen Weg von den Raubvögeln verfolgt und in der Not von ihrem starken Freunde unterstützt; aber hat sie sie erst wohlbehalten in das Wasser bekommen, so verläßt der Gänserich sie wie die Jungen, schwimmt dem Meer zu und geht mit Tausenden von Kameraden draußen an den äußersten Scheren auf Abenteuer aus. Sie kämpft für seine und ihre Kinder weiter. Verliert sie die Jungen in diesem stillen, heimtückischen Wasser, das sie leider noch nicht verlassen darf, so schwimmt sie dem Treulosen nach und teilt mit ihm die Gefahren des Meeres.

Während du so auf die Erzählungen von der Eidergans oder von jenem dummen Vogel lauschest, der sich mit der Hand fangen läßt, oder von der Raubmöwe, die nur von dem Raube lebt, den andre Vögel fangen und den sie sie loszulassen zwingt – hat das Dampfboot einen Schwarm Möwen und Meerschwalben aufgescheucht, und wir befinden uns wie in einer Schneewolke. Die flimmernden, beschwingten Schneeballen, die zu MillionenBuchstäblich genommen! Ein deutscher Gelehrter hat durch Berechnung einzelner Quadrate in den Schwärmen bis zu sechs Millionen herausgerechnet. einander kreuzen, sich erhebend, senkend, schreiend, lärmend, wie in dem dichtesten Maschennetz, gewähren in der Tat ein so heiteres Bild, wie es Gottes Sonne nur je beschienen hat. Doppelt wohltuend ist es in einer so großen, aber auch erdrückenden Natur, wo hier und da eine baumlose Fläche nackte Häuser trägt und sich meilenweit keine andere Spur von Leben zeigt.

In den tiefen Fjordtälern, wo der Segen des Golfstromes nicht in den leeren Raum verdunstet, wo die Sonnenstrahlen von den Felsenwänden aufgesaugt werden, die sie wieder über alles, was sich ihres Schutzes erfreut, ausatmen – da wachsen Bäume, da grünen Wiesen, da gedeihen Gewächse bei dem steten Sonnenlicht des Nachts wie bei Tage, daß sie in drei Monaten höher aufschießen als irgendwo anders in fünf, und dort sieht man eine Vegetation wie in Norwegens fruchtbarsten Talsenkungen. Nur das, was südlich ein Wachstum von sechs Monaten verlangt, wie feineres Obst, kann dort nicht reifen; denn dieses ist wohl zu bemerken – unter dem 70. und 71. Breitengrad, also vielleicht das größte Wunder in diesem Land des Nordens. Als ich im Lyngenfjord stand und nicht genau darauf achtgab, was für Bäume und Früchte es waren, die hier so üppig wuchsen,Roter Wein wächst z. B. im Lynger Pfarrhof im Freien. konnte die Üppigkeit und Form der Natur, die Lichteffekte über Fjord und Berge mich zu dem Glauben verleiten, daß ich in Italien stände; die Schneeberge im Hintergrunde konnten diesen Eindruck nicht stören, denn solche erblickt man oft in Italien.

In dem Fahrwasser selbst trifft man bisweilen auch auf eine freundliche Schönheit mitten in der großen, wie sie z. B. die breite Einfahrt nach Tromsö darbietet. Eingerahmt von hohen Schneebergen, die aber am Fuße eben und anmutig weit in den Sund hervorspringen, tritt die Landschaft mit Gehöften und grünen Wiesen dem Beschauer entgegen; die Stadt liegt unterhalb einer bedeutenden, mit Birkenwaldungen bedeckten Anhöhe, aus denen viele Sommerhäuser mit ihren wehenden Flaggen hervorschimmern. Steht man oben in einer dieser Sommerwohnungen, so wird das Schauspiel noch größer, aber die Stadt in der Tiefe nimmt sich in der großen Natur klein aus; von allem, was Leben gibt, fühlt man sich angenehm berührt. Gehst du durch den Garten, so duften die Blumen mit dem feinen Arom des Nordens, und schlägst du einen Richtweg durch den Wald nach einem andern Hause ein, so grüßen Gräser und Birken auf gleiche Weise. Vor deinem Fuße fliegt ein Volk Schneehühner nach dem andern auf; diese buntgefleckten Vögel mit den weißen, kurzen Hälsen und dicken Federsocken gehen bis an die Häuser heran.

Während ich jetzt diese Schilderung schließen muß, die, wie ich dachte, zu einer neuen Lustreise ermuntern, ein Weckruf für alle Reisende des Nordens sein sollte – fließen alle Bilder vor mir in ein einziges zusammen. Ich habe es schon angedeutet, als ich sagte, daß die Natur Norwegens in der Perspektive am schönsten ist.

Ich sehe es in der Perspektive der Zukunft. Norwegen ist in der Gegenwart nicht immer reich – ungerodet, unfertig, wie es dasteht; aber aus dem Unfertigen schießt eine Zukunft empor. Das Symbol ist dem Lande gegeben, daß diese Gegenden, die im Grauen unserer Geschichte mit großen Geschlechtern und gewaltigen Taten dastanden, wieder aufflammen in der aufgehenden Sonne.

Als einen letzten Genuß von dieser Reise muß ich doch noch den anführen, daß wir nach wochenlanger Fahrt zwischen Bergen wieder zwischen niedrigen Waldrücken dahinfuhren, große Getreidefelder und geschützte Häuser sahen, daß wir in den Sund bei Namsos einlenkten und uns unter dem fröhlichen Volk Overhaldens mit ihren schnellen Pferden zwischen Höfen in dem berühmten Korn- und Waldland umhertummelten. Will man es tun – dann über Snaasen nach Stenkjär und nicht den anderen (gewöhnlichen) Weg. Von Stenkjär nach Levanger ist in seiner Art das schönste Stück unseres Landes, aber es muß im Sonnenschein gesehen werden. Hier heimeln uns die angebauten Felder an, der Aufenthalt in dem Großen und Wilden hat die Fähigkeit, das Ebene, Fruchtbare, Anmutige zu verstehen und zu lieben, gestärkt, ja verdoppelt.


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