Björnstjerne Björnson
Der Bärenjäger
Björnstjerne Björnson

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Ein Lebensrätsel

(1869)

»Weshalb sollen wir uns hier niederlassen?« – »Weil es hier hoch und hell ist.« – »Aber hier unten ist es tief; mir schwindelt, und die Sonnenstrahlen fallen so blendend auf das Wasser; laß uns weitergehen!« – »Nein, nicht weiter.« – »Dann zurück nach der grünen Laube; dort war es so schön.« – »O nein, auch dorthin nicht.« Er ließ sich nachlässig nieder, als könnte oder wollte er nicht mehr fort. Sie blieb, die Blicke unverwandt auf ihn gerichtet, stehen. Darauf sagte er: »Aasta, nun mußt du mir erklären, weshalb du so ängstlich wurdest, als der fremde Schiffer in der Dämmerung eintrat.« – »Habe ich es mir nicht gedacht!« flüsterte sie und schien davonlaufen zu wollen. – »Du mußt es mir sagen, bevor du gehst; denn sonst komme ich dir nicht nach.« – »Botolf!« rief sie und wandte sich um, blieb aber stehen. Er sagte: »Ich habe dir allerdings versprochen, dich nicht zu fragen, und ich werde mein Versprechen auch halten, wenn du das lieber willst; aber dann ist hiermit alles zu Ende.« – Jetzt brach sie in Tränen aus und näherte sich ihm. Ihre niedliche, feine Gestalt, ihre kleinen Händchen, ihr weiches, helles Haar, von dem das darumgeschlungene Halstuch hinabgeglitten war, und dann erst ihre Augen und ihr Mündchen, jedes fesselte für sich, und alles zusammen gab ein wunderbar liebliches Gesamtbild. Hell und leuchtend fielen die Sonnenstrahlen auf sie. Er sprang empor: »Ja, du weißt es, wenn du mich so anblickst, so gebe ich nach. Aber nun weiß ich auch, daß es hinterher nur schlimmer wird. Kannst du es denn gar nicht begreifen: Wenn ich dir auch hundertmal verspreche, deine Vergangenheit nicht kennen zu wollen – ich bekomme keinen Frieden, ich kann mein Versprechen nicht halten!« Sein Gesicht verriet auch eine leidenschaftliche Aufregung, die nicht erst von gestern herrührte. – »Botolf, das war es ja, was du mir versprachst, als du mich nie in Frieden ließest; du versprachest mir, von dem, was ich dir nie, nie sagen könnte, abzustehen. Du versprachest es mir feierlich, du sagtest, es wäre dir völlig gleichgültig, du wolltest nur mich, nichts als mich haben! – Botolf!« Und sie kniete vor ihm in das Heidekraut nieder, sie weinte, als fürchtete sie für sein Leben, sie blickte ihn an, während Träne um Träne ihre eigene Sprache redete, und sie war das Schönste und Unglücklichste, das er in seinem Leben gesehen hatte. – »Gott behüte mich!« sagte er, sprang auf, setzte sich aber sogleich wieder. »Hättest du mich so lieb, daß du mir Vertrauen schenken könntest, wie glücklich könnten wir beide sein!« – »Oder wenn du mir etwas Vertrauen schenken könntest!« bat sie und kam auf den Knien näher, und darauf fügte sie hinzu: »Dich liebhaben? In der Nacht, in der ich nach dem Zusammenstoß unseres Schiffes mit dem deinigen auf das Verdeck kam, da standest du auf der Kommandobrücke und gabst Befehle. Nie hatte ich so etwas Männliches und Kraftvolles gesehen; ich liebte dich auf der Stelle! Und als du mich, während die Fahrzeuge im Sinken begriffen waren, in das Boot hinübertrugst, da fühlte ich wieder Lust zum Leben, und die glaubte ich für immer verloren zu haben!« Sie schwieg und weinte, dann aber schlang sie die Hände um seine Knie: »Botolf«, flehte sie, »sei groß, sei groß wie damals, als du mich nahmst, ohne daß ich etwas besaß, mich, mich allein nahmst – Botolf!« Fast hart erwiderte er: »Weshalb versuchst du mich? Du weißt ja, ich kann nicht! Die Seele ist es, die wir haben wollen, nicht bloß das leibliche Leben – in den ersten Tagen mag das angehen, aber nicht mehr später.« Sie zog sich zurück und sagte hoffnungslos: »Ach nein, ein Leben wird nie wieder ein ganzes; o Gott!« – und wieder brach sie in Tränen aus. »Gib du mir dein ganzes Leben und nicht bloß ein Stück davon, dann wird es bei mir wieder ein ganzes werden!« Er sprach mit fester Stimme, wie um sie zu ermutigen; sie antwortete nicht, aber er sah sie kämpfen. »Besiege dich selbst, wage den Schritt! Schlimmer als es jetzt ist, kann es doch nicht werden!« – »Du verstehst es, mich zum Äußersten zu treiben!« sprach sie flehend; er mißverstand sie und fuhr fort: »Wenn es auch das größte Verbrechen ist, ich will es zu tragen versuchen, aber dies vermag ich nicht zu tragen!« – »Nein, auch ich nicht!« rief sie und richtete sich empor. – »Ich will es dir tragen helfen, jeden Tag es dir tragen helfen«, versetzte er, indem auch er aufstand, »wenn ich nur weiß, was es ist. Aber ich bin zu stolz, Hüter über etwas zu sein, das ich nicht kenne und das vielleicht einen andern angeht!« – Hier wurde sie glühend rot. »Schäme dich, von uns beiden bin ich die stolzeste, ich verlange keinen Hüter über das, was einen andern angeht. Nun aber höre endlich auf.« – »Nein, bist du stolz, so befreie mich erst von meinem Argwohn!« – »Jesus Christus, das halte ich nicht länger aus.« – »Nein, ich habe geschworen, daß es heute ein Ende haben soll.« – »Ist es nicht unbarmherzig«, schrie sie, »ein Weib, das sich dir anvertraut und so innig für sich gebeten hat wie ich, quälen und plagen zu wollen!« Und wieder war sie nahe daran, in Tränen auszubrechen, aber mit einem plötzlichen Umschwung rief sie: »Oh, ich durchschaue dich, du willst mich zur vollen Verzweiflung bringen, damit du etwas von mir erfährst!« Sie blickte ihn bekümmert an und wandte sich dann um. Da hörte sie langsam Wort für Wort: »Willst du oder willst du nicht?« Sie streckte die Hand aus: »Nicht, und wenn du mir alles bötest, was wir von hier überschauen können!« Sie trat von ihm zurück, ihr Busen wogte, ihre Blicke irrten hier- und dorthin, bald hart, bald traurig und dann wieder hart. Sie lehnte sich gegen einen Baum und weinte; dann hörte sie zu weinen auf und begann sich wieder zu entfernen. »Ich wußte ja, daß du mich nicht liebtest!« hörte sie – und in einem Augenblick war sie das zärtlichste und reuevollste Wesen; ein paarmal wollte sie antworten, aber statt dessen warf sie sich in das Heidekraut nieder und verbarg das Antlitz in ihre Hände. Er trat heran und neigte sich über sie. Sie fühlte seine Nähe, sie erwartete seine Anrede, aber als sie ausblieb, wurde ihr noch beklommener zumute, und sie mußte emporblicken. Augenblicklich sprang sie in die Höhe; sein wettergebräuntes, längliches Gesicht war hohl geworden; das tiefe Auge ohne Augenbrauen, der breite, aber zusammengepreßte Mund, die ganze kräftige Gestalt machte einen so überwältigenden Eindruck auf sie, daß sie ihn plötzlich vor sich stehen sah wie in jener Schiffbruchsnacht auf der Kommandobrücke; er war groß wie damals und von einer grenzenlosen Kraft geworden, aber jetzt stand er ihr selbst gegenüber! »Du hast mich belogen, Aasta!« Sie wich zurück, aber er folgte ihr; »du hast auch mich zum Lügner gemacht; keinen einzigen Tag, den wir zusammen verlebt, hat volle Wahrheit zwischen uns geherrscht!« Er stand ihr so nahe, daß sie seine warmen Odemzüge fühlen konnte, er blickte ihr gerade in die Augen, so daß es dunkel vor ihr wurde, sie wußte nicht, was er im nächsten Augenblick sagen oder tun könnte, deshalb schloß sie die Augen. Sie stand, als wollte sie fallen oder fortlaufen; der Augenblick der Entscheidung war gekommen. In der tiefen Stille, die voranging, wurde er selbst beklommen; noch einmal ging ein Umschwung in ihm vor. »Rechtfertige dich, lege alle deine Künste beiseite – tue es jetzt, hier!« – »Ja«, erwiderte sie bewußtlos. – »Tue es jetzt, hier, sage ich!« Er stieß einen Schrei aus, denn sie flog an ihm vorüber und an den Strand hinab, er sah ihr lichtes Haar, ihre emporgestreckten Hände, ein Halstuch, das sich löste und immer länger hinter ihr her wehte. Er hörte keinen Schrei, auch kein Plätschern, denn dort unten war es tief. Er hörte auch nicht, denn er war rücklings niedergesunken.

Vom Meer her war sie in jener Nacht zu ihm gekommen, im Meer war sie wieder verschwunden und mit ihr die Geschichte ihres Lebens. In der nachtschwarzen Tiefe war alles begraben, was seine Seele besaß – sollte er nicht nach? Er war mit dem unerschütterlichen Willen hierhergekommen, seiner Qual ein Ende zu machen; dies war kein Ende, jetzt konnte es nie kommen, jetzt würde die Qual erst ernstlich beginnen. Ihre letzte Tat schrie ja zu ihm empor, machte ihm den Vorwurf, daß er sich geirrt und sie getötet hätte. Ungeachtet die Qual zehnfach wurde, mußte er leben, um darüber nachzudenken, wie dies zugegangen war. Sie, die fast die einzige war, die in jener fürchterlichen Nacht gerettet wurde, sie sollte nur gerettet werden, um von ihm, der sie gerettet hatte, getötet zu werden! Er, der umhergesegelt war und Handel getrieben hatte, als wäre die ganze Welt nur Meer und Handelsstätte, war plötzlich das Opfer einer Liebe geworden, die sowohl ihn wie sie getötet hatte. War er schlecht? Er hatte es nie sagen hören, es nie selbst gefühlt. Aber was war es dann? Er erhob sich – nicht, um sich in das Meer zu stürzen, sondern um wieder hinabzugehen; niemand tötet sich in dem Augenblick, in dem er sich die Lösung eines Rätsels zur Aufgabe gestellt bat.

Aber es konnte ja nie gelöst werden. Sie hatte, seitdem sie erwachsen war, in Amerika gewohnt, von dort kam sie; als die Fahrzeuge zusammenstießen. Wo sollte er in Amerika mit seinen Nachforschungen den Anfang machen? Aus welchem Teile Norwegens stammte sie? – Er wußte es nicht bestimmt, er war nicht einmal sicher, ob sie ihren wirklichen Familiennamen fortgeführt hatte. Der fremde Schiffer? Ja, wo war er? Und kannte er sie, oder kannte sie nur ihn? Dies hieß das Meer ausfragen, reisen und Nachforschungen anstellen, hieß sich selbst hineinstürzen.

Er hatte sich geirrt. Eine reuige Sünderin würde sich durch ein ihrem Mann abgelegtes Geständnis erleichtert gefühlt haben, eine nicht reuige hätte Ausflüchte gesucht. Aber sie bekannte nichts, sie suchte auch keine Ausflüchte, sie warf sich in den Tod, als er zu heftig in sie drang. Diesen Mut besitzt keine Schuldige. O ja, weshalb denn nicht? Lieber als bekennen, denn das erfordert noch einen größeren Mut. Allein der Mut zu bekennen fehlte ihr nicht; sie hatte ja damit begonnen einzugestehen, daß es etwas gäbe, was sie nicht sagen könnte. Es mußte also das Verbrechen selbst gewesen sein, welches es verbot. Und doch konnte sie an keinem großen Verbrechen zu tragen gehabt haben, denn sie war oft froh, ja ausgelassen, sie war heftig, aber sie war zartfühlend und herzensgut. Das Verbrechen mußte ein anderer begangen haben. Aber weshalb es dann nicht sagen, daß sie unter der Schuld eines andern litte? Damit wäre ja alles vorbei gewesen. Hatte aber weder sie noch ein anderer etwas Unrechtes begangen, was war es dann? Sie hatte ja selbst eingeräumt, es wäre etwas – und der fremde Schiffer, vor dem sie sich so geängstigt hatte? Was war es, was um Gottes willen konnte es sein? – Hätte sie noch gelebt, so hätte er sie noch immer gepeinigt – dessen war er sich klar bewußt, und er fühlte sein großes Elend.

Aber von neuem regten sich die Gedanken in ihm. Vielleicht war sie gar nicht so schuldig, wie sie selbst glaubte, oder vielleicht nicht so schuldig, wie sie anderen erscheinen mochte. Wie oft liegt nicht Unschuld hinter unserer Schuld, Einfalt in der Sünde, wenn es auch so wenige zu verstehen imstande sind – und ihn hatte sie nicht für fähig gehalten, es zu verstehen, ihn, der lauter Argwohn war. Ihm würde eine einzige klare Antwort Veranlassung zu tausend argwöhnischen Gedanken gegeben haben, deshalb hatte sie sich lieber dem Tode anvertraut als ihm! Weshalb hatte er sie nie, nie in Ruhe lassen können? Zu ihm hatte sie sich aus ihrer Vergangenheit geflüchtet, bei ihm hatte sie Schutz gegen dieselbe gesucht, und nun war er es gerade, der sie unaufhörlich hinter ihr her schleppte und auf sie los hetzte! Sie war ihm ja ergeben, sie war an seiner Seite zärtlich und lieblich – was ging ihn denn ihre Vergangenheit an? Und wenn sie ihn anging, weshalb dann nicht gleich? Nein, je mehr ihre Liebe zunahm, desto mehr nahm auch seine Unruhe zu; als sie nicht nur aus Bewunderung und Dankbarkeit, sondern aus innigster Liebe die Seinige wurde, da wollte er wissen, ob sie schon einem anderen angehört und was sie vorher erlebt hatte. Und je weher er ihr tat, je mehr sie um Schonung bat, desto mehr drang er in sie, denn es war ja doch etwas!

Zum erstenmal fiel es ihm ein: Hatte er denn ihr alles gesagt? Ging es wirklich an, einander alles zu sagen? Würde es so aufgefaßt werden, wie es in der Tat war? Gewiß nicht.

Er hörte zwei Kinder spielen und schaute sich um. Er saß in der grünen Laube, von der sie vor kurzem gesprochen hatte, aber erst jetzt gedachte er dessen. Fünf Stunden waren vergangen; ihm waren sie wie Minuten vorgekommen. Vielleicht hatten die Kinder dort schon lange gespielt, jetzt erst hörte er sie. Ach, war das nicht Agnes, die sechs- oder achtjährige Tochter des Pfarrers, die Aasta bis zur Abgötterei geliebt hatte und die ihr so ähnlich war? Gott im Himmel, wie ähnlich war sie ihr! Eben hatte sie ihrem kleinen Bruder auf einen Stein hinaufgeholfen, er sollte den Schüler spielen und sie den Lehrer. »Sprich mir jetzt nach, was ich sage«, begann sie: »Vaterunser!« – »Va uns!« – »Der du bist im Himmel!« – »Himmen!« – »Geheiligt werde dein Name!« – »Heilig Namen!« – »Dein Reich komme!« – »Nein!« – »Dein Wille geschehe!« – »Nein, ich will nicht!« – Botolf hatte sich leise zurückgeschlichen; es war nicht das Gebet, welches ihn ergriff, er achtete nicht einmal darauf, daß es ein Gebet war; aber während er die Kinder anblickte und ihnen zuhörte, wurde er in seinen eigenen Augen zu einem unreinen Raubtier, ausgestoßen aus Gottes und der Menschen Gemeinschaft. Hinter dem Gesträuch zog er sich heimlich zurück, damit ihn die Kinder nicht entdecken sollten. Er war vor ihnen furchtsamer, als er in seinem ganzen Leben vor irgend jemandem gewesen war. Er schlich sich in den Wald hinein, weit fort von jedem Weg und Pfad. Wo sollte er hin? Nach dem leeren Haus, das er für sie gekauft und eingerichtet hatte? – Oder weiter fort? – Das war gleichgültig, denn wohin er seine Gedanken auch richtete, überall stand sie vor ihm. Von Sterbenden sagt man, daß sie in den Augen das letzte Bild bewahren; wer von einer bösen Tat erwacht, nimmt das erste, was er sieht, in sich auf und wird es nimmer wieder los. Es war nicht Aasta, die er sah, wie sie vor kurzem auf dem Felsenrand stand; es war ein kleines unschuldiges Mädchen, es war Agnes. Selbst das Bild der Untersinkenden ward zu dem des Kindes mit den kleinen, emporgestreckten Händen. Die Erinnerung an Aastas unsägliche Liebe zu dem Kinde verwechselte in seiner Seele die Bilder in geheimnisvoller Weise, die große Ähnlichkeit spielte in den monatelangen Zweifel, ob schuldig oder unschuldig, mit hinein. Hatte Aasta ein solches Kind in ihrem Herzen verschlossen getragen? Ja, er hatte es gesehen, oder richtiger, er sah jetzt erst, daß er es gesehen hatte. Vorher hatte er ja bloß darüber nachgedacht, ob dies auch Unschuld war, wenn sie mehreren zulächelte, oder weshalb sie dieses Kind verhüllt in sich trug, da es nur in glücklichen Augenblicken hervorzutreten vermochte. Ein unaufhörlicher Wechsel in ihrer Natur, eine Unruhe mit ewiger Übertreibung, die auch andere zur Übertreibung veranlaßte, hatte ihn, als sie noch lebte, angelockt und auch wieder abgestoßen; jetzt, nach ihrem traurigen Tode, vereinigten sich alle Erinnerungen in einem unschuldigen Kinde, welches betete.

Wohin sich auch sein Gedanke, sich ängstlich nach Licht sehnend, wendete, überall begegnete er dem Kinde; es hielt alle Wege zur Nachforschung abgesperrt. Jedes Ereignis in dem kurzen Zusammenleben, von jener Schiffbruchsnacht an bis zu dem Sonntagmorgen am Felsenrand – sobald er eine Frage an dasselbe richten wollte, augenblicklich zeigte sich das Antlitz des Kindes, und diese seltsame Verwechslung ermattete ihn an Leib und Seele dergestalt, daß er nach Verlauf einiger Tage kaum noch etwas Nahrung zu sich nehmen konnte und nach einiger Zeit nicht mehr imstande war, sein Bett zu verlassen.

Ein jeder sah, daß es mit ihm zu Ende ging. Wer selbst ein Rätsel in sich trägt, bekommt ein eigentümliches Wesen, das ihn anderen zum Rätsel macht. Schon von dem Tage an, da er hierherzog, hatte sein finstres Schweigen, ihre Schönheit und beider unbekanntes Vorleben das Geklatsche der Gegend beschäftigt; als die Frau mit einem Male verschwand, wuchs die Spannung bis zu dem Grade, daß das Unglaublichste am liebsten geglaubt wurde. Niemand vermochte eine Erklärung zu geben, da niemand von allen denen, die am Strand und den Berghalden wohnten oder an ihnen entlangfuhren, an dem Sonntagmorgen nach jener Felsenspitze geschaut hatte, als sie sich gerade in hellem Sonnenschein in das Meer stürzte. Auch wurde ihr Leichnam nicht an das Land getrieben, um selbst Zeugnis abzulegen. Es bildeten sich deshalb noch bei seinen Lebzeiten wunderliche Sagen über ihn. Häßlich sah er aus; er lag da mit dem länglichen, hohlen Gesicht, das ein roter Bart und struppiges Haar einrahmte. Die großen Augen blickten daraus wie aus einem mit Gestrüpp umwachsenen See hervor. Da er weder leben noch sterben zu können schien, hieß es, daß Gott und der Teufel um ihn kämpften. Einige hatten gesehen, wie sich der Böse selbst, von Feuerflammen umgeben, bis zu seinem Kammerfenster emporreckte, um ihn zu rufen. Man hatte ihn auch in der Gestalt eines schwarzen Hundes um das Haus herum lauern oder von den Beobachtern wie ein hüpfender Knäuel herrollen sehen. Leute, die vorbeiritten, hatten das ganze Gehöft in Flammen stehen sehen; andere hatten gehört, wie ein Zug lärmend, bellend, heulend aus der See stieg, sich langsam auf das Haus zu bewegte, durch verschlossene Türen hineindrang, durch alle Zimmer hindurchraste und darauf mit demselben Lärm, Hundegebell und Pferdegewieher wieder nach der See zurückkehrte, in der er verschwand. Des Kranken Gesinde, Männer wie Frauen, liefen ohne weiteres fort, und sie sprengten namentlich dergleichen Gerüchte aus. Niemand wagte mehr, sich dem Hause zu nähern. Hätten sich ein paar Kätner, gegen die er immer freundlich gewesen war, seiner nicht angenommen, so wäre er ohne alle Hilfe liegengeblieben. Die alte Frau, die nach ihm sah, war selbst voll großer Angst und Furcht; sie verbrannte Stroh unter seinem Bett, um den Bösen zu verjagen; aber obgleich der Kranke dabei fast verbrannt wäre, wurde er doch nicht erlöst. Er litt unglaublich. Die alte Frau kam endlich auf den Gedanken, er müßte auf irgendeinen Menschen warten. Sie fragte ihn, ob sie den Pfarrer holen sollte. Er schüttelte den Kopf. Gäbe es keinen andern, den er gern sehen möchte? Darauf antwortete er nicht. Am folgenden Tage sprach er, während er noch in demselben Zustand dalag, deutlich den Namen »Agnes« aus. Sicherlich konnte das nicht als Antwort auf die gestrige Frage der Frau gelten, aber die Alte nahm es doch dafür; zufrieden stand sie auf und ging zu ihrem Mann hinaus und bat ihn schnell anzuspannen und Pfarrers Agnes zu holen. Auf dem Pfarrhof glaubten sie natürlich, die Frau hätte falsch verstanden, und der Kranke wünschte den Besuch des Pfarrers, aber der alte Mann blieb fest dabei, Agnes wäre gemeint. Sie saß selbst im Zimmer und hörte es, und ihr wurde sehr angst; denn sie hatte ebenfalls vom Teufel und von dem Zuge gehört, der aus der See gekommen; allein sie hatte auch gehört, daß der Kranke, um sterben zu können, auf jemand wartete, und fand darin gar nichts Sonderbares, daß sie es wäre, die seine Frau ja so oft hatte zu sich hinüberholen lassen. Der Wunsch eines Sterbenden müßte erfüllt werden, sagten sie zu ihr, und wenn sie recht innig zu Gott betete, so würde ihr niemand etwas zuleide tun. Und sie glaubte es und ließ sich anziehen. Es war ein kalter, klarer Abend mit langen, stets zur Seite bleibenden Schatten; die Schellen hallten im Walde wider, es war etwas unheimlich, aber still saß sie da und betete, während sie die Hände in dem Muff gefaltet hatte. Sie sah keinen Teufel, hörte auch nicht den Zug aus der See, an dessen Ufer sie entlangfuhr, aber sie sah die Sterne und das Licht gerade vor sich auf der Anhöhe. Oben auf dem Hofe war es unheimlich still; aber die alte Frau kam sogleich heraus und trug sie hinein und nahm ihr ihren Mantel ab und ließ sie sich am Herde wärmen. Und währenddessen sagte die Alte, sie sollte guten Mutes sein und nur tröstend an ihn herantreten und ihr Vaterunser über ihn beten. Als sie sich gewärmt hatte, nahm die Alte sie bei der Hand und führte sie in das Krankenzimmer. Da lag er mit langem Bart und hohlen Augen und blickte sie groß an; er kam ihr nicht häßlich vor, und sie fürchtete sich nicht vor ihm. »Vergibst du mir?« flüsterte er. Sie merkte, daß sie ja sagen sollte, und deshalb sagte sie ja. Da lächelte er und versuchte sich emporzurichten, blieb aber kraftlos liegen. Sie begann sofort ihr Vaterunser zu beten, aber er machte eine abwehrende Bewegung und zeigte auf ihre Brust, und nun legte sie, weil sie glaubte, daß dies sein Wunsch wäre, ihre beiden Hände auf dieselbe, und er legte augenblicklich seine magere, eiskalte, knöcherne Hand auf ihre kleinen warmen, und dann schloß er die Augen. Da er nichts sagte, als sie ihr Vaterunser gebetet hatte, wagte sie nicht, die Hände fortzuziehen, und fing wieder zu beten an. Als sie dies zum drittenmal tat, kam die alte Frau herein, sah ihn an und sagte: »Jetzt kannst du schließen, mein Kind, denn nun ist er erlöst.«


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