Theodor Birt
Zur Kulturgeschichte Roms
Theodor Birt

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IV. Zum Rechtsleben.

Aber wir treten aus dem Privathaus und dem familiären Leben endlich wieder hinaus auf die offene Straße. Heute besichtigt der Reisende in den Großstädten pflichtgemäß die Kirchen, Museen und Schlösser, das Rathaus, das Parlamentsgebäude. In der Antike lockten die Göttertempel das Auge; mächtiger als sie noch die Hallenbauten der Basiliken; kolossaler als diese alle die Bäder, Theater und Amphitheater.

Nähern wir uns zuerst der Basilika. Sie ist eine meist am Forum gelegene große Durchgangshalle, die nicht nur als Bazar für allerlei Waren dient, sondern in der zumeist auch Recht gesprochen wird. Es ist Vormittag: Sklaven schleppen Kästen voll Akten herbei. Die Menge der Zeugen, der Verwandten, der Müßigen strömt zusammen; denn jeder will den Angeklagten sehen, jeder die Advokaten hören. Und die Vorstellung vom römischen Recht taucht vor uns auf.

Das römische Volk war das klassische Volk der Justiz, der Rechtsprechung und Rechtsfindung, und das war vielleicht sein bleibendster Wert; denn das ganz Erstaunliche ist geschehen, daß das römische Recht bei uns noch in modernen Zeiten gegolten hat, anderthalb Jahrtausende nach seiner Entstehung. Gewiß war der Römer zu dieser Leistung besonders befähigt durch seinen grellen Wirklichkeitssinn, durch seinen starken administrativen Ordnungstrieb, die kühle Berechnung der Konjunktur, den Zahlensinn, die Pünktlichkeit im Geben und im Fordern und endlich durch seine eigene Habsucht, die zur Errichtung des Rechtsschutzes drängte. Daher sagt auch der Römer nicht: wir halten das Gesetz, sondern das Gesetz hält uns, leges nos tenent.

So hat er von vornherein das Privatrecht vom Staatsrecht scharf gesondert, um den Privatverkehr von Bürger zu Bürger 53 zu sichern. Gleichwohl war das römische Zwölftafelgesetz, das noch in die Zeit der Vorherrschaft der Etrusker (451–450) fiel und zuerst das uralte Gewohnheitsrecht zu ergänzen versuchte, andern Stadtrechten der Zeit schwerlich überlegen, und es ist auch nicht einmal ohne griechisches Vorbild zustande gekommen. Erst seit der Besiegung Hannibals, als Rom seine politische zentrale Machtstellung für immer gesichert hatte, begann es den großen Ausbau des römischen Privatrechts, die Regulierung des allgemeinen menschlichen Verkehrs. D. h. die unterjochten Völker regten zu dieser Leistung an, und sie gaben auch Hilfe. Die Griechen halfen. Die römischen Juristen waren schon damals, um 100 v. Chr., von griechischer Bildung erfüllt; die stoische Philosophie übte Einfluß mit ihrer Dialektik und mit ihrer sittlichen Anschauung vom Menschenrecht.

Man unterschied die Bürger betreffendes Recht (Zivilrecht) und Völkerrecht. Zunächst hatte sich in den engen Grenzen des eigentlichen Römertums das Zivilrecht ausgebildet. Darin aber waren schon alle Grundprinzipien gegeben. Es herrscht schon hier im griechisch-demokratischen Sinn und in großartiger Folgerichtigkeit die vollständige Gleichheit jedes Bürgers vor dem Gesetz. Eine vollständige Nivellierung. Jedes Sonderrecht des Adels oder der Kultusbeamten fehlt. Schon damit trug das Recht den Stempel ewigen Wertes. Das Gerichtsverfahren aber ist öffentlich, und nicht nur der Jurist, sondern vor allem der Laie richtet. Grundlegende Unterscheidungen, wie die vom Besitz und Eigentum, grundlegende begriffliche Zusammenfassungen wie die der Person als Rechtssubjekt, wurden geschaffen. Der gutgläubige Besitzer wird gegen den Eigentümer geschützt. Neben das Familienrecht (Eherecht, Vormundschaftsrecht) trat das Sachenrecht mit der Kasuistik über Besitz und Eigentum, mit der Sonderung der Servituten und dem Pfandrecht, trat endlich das dauernd vollkommenste, das Obligationenrecht, das den Geschäftsverkehr ordnet und sichert. Denn Obligation ist die geschäftliche Verabredung, die als verpflichtender Kontrakt für Darlehn, Tausch, Kauf und Miete sehr verschiedene Formen annimmt. Sie ist »das eingeräumte Recht auf die Leistung eines anderen«.

Alles das war jedoch das Gegenteil eines starren Systems. Gewisse dehnbare Grundbegriffe wie nexum, manus, dolus, metus waren gegeben, und die Kunst bestand darin, den einzelnen Rechtsfall unter einen von ihnen zu subsumieren. Jene Begriffe 54 flossen z. T. aus uralter Symbolik. Symbolisch ist der »Kopf«, caput, womit der Einzelmensch als juristisches Ich bezeichnet ist. Der Mensch, der stirbt, ist zwar ausgetilgt, aber sein »Kopf«, sein juristisches Ich, an welchem ev. eine Schuld haftet, lebt in seinem Erben, der gegebenenfalls seine Schulden bezahlen muß, weiter. Wer dagegen rechtlos ist, hat seinen »Kopf« verloren (capitis deminutio). Ebenso symbolisch ist die »Hand«, manus. Sie bedeutet den Besitz. Der Hausherr hat Frau, Kinder und Diener »in der Hand«, in manu, und jeder Besitzwechsel war gleichsam »handgreiflich«, ein Greifen mit der Hand, mancipare.

Jene Einordnung der Rechtsstreitfälle geschah nun mit größter Klugheit und praktischem Geschick, und dabei wurden die Begriffe selbst möglichst weit gefaßt. Unter Diebstahl begriff Mucius Scävola schon den Fall, daß jemand ein Gespann, das bei ihm untergestellt ist, zur Ausfahrt benutzt. Ließ sich ein Grundsatz nicht durchführen, so wurde unbedenklich eine Ausnahme utilitatis causa, d. h. im Interesse des Publikums angesetzt; oder schien ein Begriff wie »Besitz« zu eng, so half man sich mit einem »gewissermaßen«, quasi. Es gibt eigentlich nur körperlichen Besitz; von Anrechten kann es nur Quasibesitz geben: quasi iuris possessio, keine iuris possessio. Die Hypothek entlehnte man aus dem Recht der Griechen; mit dem alten römischen Pfandrecht ließ sie sich schlecht vereinigen, aber man glich das eben aus, so gut es ging. Wie unsystematisch man noch vorzugehen pflegte, zeigt die ganz unordentliche Anlage des Inhalts der erhaltenen Gesetze, wie der Iulia municipalis, der lex Ursonensis, die nicht besser ist als im alten griechischen Stadtrecht von Gortyn.

Der Einzelbürger ist frei, hat absolute Freizügigkeit, freieste Wahl des Lebensberufs, und jeder hat gleiches Recht auf Klage. Diese Freiheit beruht auf dem Privateigentum. Das Privateigentum, d. h. das Haben und Herrschen des einzelnen, das war für den Römer die Grundlage alles Bürgerrechts. Bald gab es auch keine Bodensteuer; aller Landbesitz römischer Bürger in Italien wurde steuerfrei. Dies Privateigentum war so stark, daß daneben das anfangs umfangreiche Staatseigentum (ager publicus) allmählich im Verlauf auf ein Minimum eingeschränkt wurde. Aber es gab nicht nur keine Verstaatlichung des Eigentums; auch ein gemeinsames Vermögen mehrerer war dem naiven Römer der älteren Zeiten nicht geläufig. Gegebenenfalls wurde dann angesetzt, daß, wenn 10 Landwirte gemeinsam einen Zuchtbullen 55 besitzen, jedem Besitzer ein Teil des Tieres, also etwa 1 bis 1½ Zentner seines Gewichts gehöre.Vgl. die Bestimmung betr. des Gebälkes Digest. VIII, 2, 36.

Auffällig gering war dabei doch der Schutz des Grundeigentums. Denn zwischen Grundeigentum und beweglicher Habe wird in den Rechtsbestimmungen nicht wesentlich gesondert, und der Acker kann ebenso unbedenklich verkauft und verpfändet werden wie das Hemd, ganz anders als im mittelalterlich deutschen Recht. Auch die Bevorzugung des Erstgeborenen im Erbrecht fehlt. In diesem geringen Wertlegen auf die Unverkäuflichkeit und Unteilbarkeit der alten Familienlandstellen verrät sich die unerbittlich strenge Logik des römischen Rechts, sie verrät aber zugleich den Sieg der großstädtischen Interessen über die agrarischen. Rom war von früh an ein Handelsstaat. Die Landwirtschaft ist wohl nie so ungeschützt gewesen wie im römischen Altertum.

Charakteristisch ist ferner, daß die Arbeit als solche so wenig gewertet war, daß sie dem Kapital nicht gleichgerechnet wurde; denn ein Besitz des Unkörperlichen war dem alten Römer ursprünglich schwer vorstellbar. Der Acker hat seinen Geldwert; der jährliche Ertrag des Ackers hat gleichfalls seinen Geldwert; die Feldarbeit aber tut der unfreie Knecht, und der Knecht hat wieder seinen Geldwert. Damit war also der Wert der Arbeit als solcher, die der Knecht verrichtet, ausgeschaltet. Von Melioration, von Wertsteigerung durch Arbeit in der Landwirtschaft hören wir deshalb nichts, weil sie tatsächlich nicht bestanden hat. So entstanden nun aber für den Juristen merkwürdige Schwierigkeiten bei Beurteilung künstlerischer Bearbeitungen von Gegenständen. Stritt man um eine Statue, d. h. um einen bearbeiteten Block Marmor, so behaupteten Cassius und Sabinus, die fertige Statue müsse dem Eigentümer des Blocks gehören, sie rechneten also die Arbeit für nichts; nach Proculus wurde sie dagegen Eigentum des Künstlers, wenn auch der Marmor nicht sein war, aber dies geschah um der Gestalt willen, die dem Gegenstand eine neue Form gab (specificatio), nicht aber um der aufgewandten Arbeit willen.

Das Geschäftsverfahren im altrömischen Zivilrecht war sehr schwerfällig und durch allerlei symbolische Handlungen behindert. So durfte beim Akt des Kaufs und Darlehns das Symbol von Waage und Erzgewicht nicht fehlen. Wurde ein Acker verkauft, so mußte ursprünglich der Ackerboden mit der Hand berührt werden (mancipare); zu dem Behuf wurde nun jedesmal eine Scholle 56 des Ackers in die Stadt gebracht. Drakonisch hart war ferner ursprünglich die Art der Vollziehung, besonders im Schuldrecht; und das römische Sprichwort »der Gipfel des Rechts der Gipfel des Unrechts« (summum ius summa iniuria) schaut eben auf das altrömische Zivilrecht zurück. Die Schuldknechtschaft stand als drohendes Gespenst hinter jeder Obligation. Dazu das unbiegsame Formelwesen im Prozeßverfahren. Wehe dem, der sich in den solennen Formeln versah! Nur der Wortlaut selbst galt, nicht die Meinung (voluntas): ein Maschinenbetrieb, der den Unerfahrenen zermalmte. In der Folgezeit wuchs dagegen mehr und mehr der Einfluß der Billigkeit. Neue Gesichtspunkte kamen auf. Die Minderjährigen wurden vor Ausnützung geschützt. Die bona fides gelangte zur Anerkennung bei dem Beklagten, der ohne böse Absicht gefehlt hatte. Die Schikane (oder der dolus malus) und die Erpressung (der metus) wurden unter Strafe gestellt. Für das Kreditwesen fanden sie brauchbare Formen. Es wuchs endlich der Einfluß des Nichtrömers.

Während der persönliche Verkehr der Nichtrömer in Rom und der Geschäftsverkehr nach Rom sich ins Grenzenlose steigerte (denn die römischen Untertanen in den Provinzen waren ja noch ohne Bürgerrecht) und das Geschäftsleben selbst in Geldspekulationen und Bankwesen unendlich mannigfaltiger wurde, war es der jährlich wechselnde römische Prätor, der das Recht ergänzte, d. h. durch sein Edikt das überkommene enge Zivilrecht vor allem an die Bedürfnisse dieser »Fremden« mehr und mehr anpaßte. Und aus diesen prätorischen Edikten, die nur, wenn sie sich bewährten, vom Nachfolger beibehalten wurden, und die also mit großer Vorsicht und in elastischer Weise die jeweiligen Ansprüche des Verkehrs im Recht ausprägten, ist in den drei letzten Jahrhunderten v. Chr. langsam das »Völkerrecht«, das ius gentium hervorgegangen, neben dem das alte »bürgerliche Recht« selbst allmählich abstarb. Das heißt: alle Prinzipien blieben die gleichen; aber man hielt jetzt auf Billigkeit und Entgegenkommen, auf glatten Geschäftsgang. Beim Beginn der Kaiserzeit war die Entwicklung vollendet. Diesem für den Verkehr mit den Provinzen, insbesondere mit den griechischen Provinzen ausgebauten Recht, das dem »Naturrecht« der Philosophen nahe kam, unterwarf sich auch der Stadtrömer. Die Nivellierung der Menschheit war vollendet.

Aber noch nicht die Entwicklung der Dinge! Denn es folgt nun 57 noch ein außerordentliches, ergänzendes Recht durch Einzelentscheidungen einer neuen höchsten Instanz, und hier begegnet uns zum erstenmal die alles überragende Majestät des Kaisers. In der Tat wurde der allmächtige Monarch in Rom sogleich über den Prätor hinaus Quelle des Rechts. In diesem wie in den gottesdienstlichen Dingen erschien er als unfehlbar:Freilich werden die Entscheidungen verstorbener Kaiser von den Juristen gelegentlich kritisiert: Digest. V, 3, 40. eine Unfehlbarkeit, die hernach auf den römischen Bischof überging. Darum haben sich aus der Fülle der kaiserlichen Entscheidungen – »Dekrete« oder »Reskripte« – späterhin grundlegende Rechtsbücher wie der codex Theodosianus zusammengesetzt.

Und durch die Cäsaren kamen nun endlich durch autoritative Gesetzesauslegung auch die eigentlichen Forderungen der Humanität, wie die frommen griechischen Denker und auch Seneca sie predigten, zu praktischer Geltung. Die Widersprüche zwischen Recht und Leben minderten sich jetzt. Der Sklave, der rechtlich bisher nichts als eine Sache war, wurde nunmehr wirklich durch Menschenrechte bis zu einem gewissen Grade geschützt, den Haustöchtern in der Familie endlich der Anspruch auf Mitgift gesichert, jedem Bürger verarmten Verwandten gegenüber die Alimentationspflicht auferlegt, die Fürsorge für Taubstumme, für Geisteskranke, für Verschwender in den Familien unter staatliche Aufsicht gestellt und so fort. Im Erbrecht erhielt auch der formlos hinterlassene letzte Wunsch des Sterbenden (das Fideikommiß) gleiche Gültigkeit wie das altmodische Testament mit seinen sieben Siegeln. Die Erbschaftssteuer betrug beiläufig 5%. Die Vermenschlichung des Rechts mit ihren Rechtswohltaten gelangte in schöner Weise durch den Willen einer aufgeklärten und vom philosophischen Zeitgeist getragenen Gewaltherrschaft zum Siege: ein Gewinn für alle Zukunft.

Gesetzgebung und kein Ende! Nun aber der Recht-suchende Mensch selbst, der Rechtsstreit, das Prozessieren. Im römischen Volk lebte eine Prozessierwut wie im athenischen, und auch heute ist es in Italien noch ganz dasselbe: die Gerichtssäle überfüllt, alle Zeitungen überschwemmt von Reden, Reden, Zeugenaussagen; unendliche Sensation. Das liegt am öffentlichen Verfahren. Das öffentliche Verfahren und das Volksgericht verdankt die Neuzeit dem Altertum. Die französische Revolution nahm es von den Römern.

58 Schon bei Sonnenaufgang strömte alles zu Tausenden aufs Forum zusammen. Die drei Fora Roms genügen nicht mehr, sagt Seneca,De ira 2, 9, 4. und er entsetzt sich zugleich über die Massen der Raubtiere in Menschengestalt, die da Händel suchen, auch über die Niedertracht der Ankläger. Je schlimmer die Sache, je schlimmer der Anwalt! Einen unvergleichlichen Vorteil aber hatte der antike Prozeß vor dem modernen: er wurde nie über ein Jahr hinaus verschleppt. War das Jahr um, so erlosch er (causa exspirat). In Zivilsachen leitete ihn der Prätor und stellte die Rechtsfrage; in Kriminalsachen richteten konkurrierend bald der Senat, bald der Kaiser selbst; in den Provinzen dagegen die Statthalter, und sie sind es, deren streng sachliches Verfahren wir in den christlichen Märtyrerakten beobachten.Vorschrift ist: der Richter darf nicht zornig werden, aber sich auch nicht zu Tränen rühren lassen: Digest. I, 18, 19. Aber auch in der Ziviljurisdiktion war der Kaiser die höchste Instanz im Instanzenzug. Der Kaiser richtete in Rom in Person, ließ sich dabei jedoch auch oft und gern von dem Gardepräfekten vertreten. So ging z. B. der junge Kaiser Alexander Severus vormittags zum Fischen, während sein Präfekt, der große Jurist Ulpian, die Jurisdiktion für ihn ausübte; und das war gewiß gut. Dies kaiserliche Strafverfahren war geheim, und es hat die öffentlichen Geschworenengerichte allmählich verdrängt. Die Geschworenenlisten aber umfaßten in Rom an 4000 Namen, aus denen vom Vorsitzenden je nach dem Fall bald ein Richter, bald mehrere, bald hundert und mehr berufen wurden. Dies waren somit Laien. Nur sie, nicht der Vorsitzende, fanden das Urteil, das durch kein Appellationsverfahren rückgängig zu machen war.

Und hier begegnen wir also zum zweitenmal der Majestät des Kaisers. Von der unfehlbaren Gesetzeskraft seiner Dekrete und Reskripte haben wir geredet. Der Nimbus des Göttlichen umgab sie. Und doch klingt es wie Farce, was die Geschichte z. B. von Kaiser Claudius berichtet. Das Richten wurde bei ihm zur Manie, wie bei Kaiser Nero das Musizieren, und er riß auch die Zivilsachen an sich. Alle Tage saß er auf einer Erhöhung und sprach Recht, bis er einschlief; die Anwälte mußten schreien, damit er acht gab, und das Publikum höhnte laut über seine bornierten Entscheidungen. Er liebte die Advokaten, er haßte die Rechtsgelehrten. Denn die Rechtsgelehrten wollten klüger sein als er.

59 Verdienten die Advokaten diese Gunst? Einst war ihre Blütezeit gewesen, damals, als Ciceros Wort noch ertönte in Rom. Ciceros Beredsamkeit war nicht wie der zündende Blitz, sie war wie eine prasselnde Feuersbrunst. Aber auch »blitzende« Redner hatte die alte Zeit der freien Republik gesehen, wie Gajus Gracchus. Damals führten noch die vornehmsten politischen Größen des Staats nebenher selbst Prozesse vor den Assisen, geradeso, als wenn große Minister wie Pitt oder Palmerston oder Bismarck nebenher Bankerottiers oder Giftmörder zu verteidigen unternommen hätten. Großzügig, flott und schwungvoll war die Beredsamkeit jener Zeit gewesen – jede Rede ein Tagesereignis –, vor allem freilich groß im politischen Prozeß. Daher Ciceros stolzes Wort: »Wer nicht Saiten spielen kann, wird Flötenspieler; so wird auch Rechtsgelehrter nur der, der nicht reden kann.« Dabei will der Redner seine Sache, sei sie noch so aktuell, nicht nur durchsetzen; er dringt auch auf Schönheit; er will Richter und Publikum auch »ergötzen«.Cicero pro Mur. 29; De or. II, 317.

Aber das änderte sich unter der absoluten Monarchie sofort. Die kühne politische Rede verschwand ganz; es sank aber auch die Advokatur; auch das Ansehen, auch der Bildungsstand der Sachwalter ging merklich zurück. Der Mann aus dem Volk bei Petron sagt: »mein kleiner Sohn lernt so gut; er kann auch griechisch. Er soll eine Kunst lernen, z. B. Friseur, oder doch wenigstens Advokat.« Das ist denn doch eine schlimme Zusammenstellung! Natürlich gab es Ausnahmen, und einigen Bevorzugten gelang es, sich als Sachwalter die allerhöchste Gunst des Hofes zu erwerben. Dem Passienus Crispus wurde in der Basilica eine Statue errichtet. Eine Größe war z. B. auch jener abergläubische Regulus, von dem erzählt wird, daß er, um Erfolg zu haben, sich das rechte Auge mit Salbe bestrich, wenn er anklagte, das linke, wenn er verteidigte. – Das höchste zulässige Honorar hatte Claudius auf 10 000 Sesterz (über 2000 Mark) angesetzt. Die Mehrzahl aber muß hungern. Die Klienten bezahlen nicht. Ein Wagenlenker in der Arena verdient mehr als hundert Anwälte. Denn um sich in Ansehen zu setzen ist es nötig, daß ein solcher Redner stets glänzend auftritt, im Purpurkleid, mit großem Dienerschwarm. Er pumpt sich daher im Notfall, für den einen Tag, einen Ring, um mit dem Sardonyx zu imponieren, der bei seinem Händespiel in 60 aller Augen fällt. Ein klägliches Dasein! Vor den vierzig Geschworenen muß er seine Lunge üben, meist Bauern vom Lande, die seine Redeschnörkel gar nicht zu würdigen wissen. Denn auch seine Sprache ist natürlich elegant gedrechselt und überfeinert modern. Dazu die Körperhaltung! Auch für sie gab es strenge Vorschriften. Denn des Redners Unterkörper wurde durch kein Pult verdeckt. Daher ist ihm nicht nur das häßliche Achselzucken verboten; er darf auch nicht spreizbeinig stehen und muß sogar auch auf den Kontrapost acht geben; d. h. wenn er den rechten Arm ausstreckt, darf er immer nur den linken, niemals den rechten Fuß vorsetzen. Er wohnt irgendwo im 4. Stock, und sein Klient bezahlt ihn in Naturalien mit einem Korb voll Zwiebeln oder getrocknetem Thunfisch und stellt ihm auch noch ein paar Palmenwedel zum Dank an seine Haustreppe. Das ist alles.

Und dazu die Redeübungen jener Zeiten mit ihrem rastlosen Betrieb? Dazu hat Quintilian sein berühmtes Lehrbuch geschrieben, an dem auch noch unsere moderne Prosa gelernt hat, was Beredsamkeit und was Sprachstil ist? Das Redenhalten war eben Mode, war Sport geworden; es galt als wesentlichster Bestandteil der Bildung; alles lief in die Deklamationsschulen. Aber die wenigsten machten zum Glück daraus einen Beruf. Unter »deklamieren« verstand man das Freisprechen einer wörtlich vorbereiteten Übungsrede. Der Vortrag geschah in melodisch singendem Tonfall. Das Übungsstück selbst wurde genau nach Vorschriften gebaut, wie ein Gedicht. Als »Thema« aber dienten frei ersonnene Fälle oft abenteuerlichster Art, von Giftmord und bösen Stiefmüttern, von Piraten, Tyrannen und Tyrannenmord. Es war eine ungefährliche Wollust, vom Tyrannenmord zu deklamieren. Denn an die Kaiser selbst wagte sich keiner, und man überließ es zumeist der Soldateska, die unliebsamsten der Zwingherren Roms zu beseitigen.

Das Geschick will, daß uns solche Übungsreden zahlreich erhalten sind; die Reden der Advokaten selbst dagegen sind sämtlich wie Spreu im Winde verflogen; und wir grollen nicht darum. Sie dauerten gelegentlich 7 Stunden, und es galt als etwas Großartiges, wenn jemand sie ganz mit anhörte.Plin. epist. 4, 16. Beim Martial sagt einer: »Der Nachbar hat mir 3 Ziegen gestohlen; du aber, o Advokat Postumus, redest nur von Cannä und von Mithridat, von 61 Carthagischer Untreue, von Sulla und Marius. Komm' doch endlich auf die drei Ziegen!« Die Ausdehnung der Reden wurde vom Vorsitzenden genau vorbestimmt, und zur Sicherung diente dabei eine Wasseruhr, in der das Wasser ablief, wie der Sand in unseren Sanduhren: war das Wasser zu Ende, mußte die Rede schließen. »Dein Wasser läuft,« hieß also soviel als: du hast zu reden. An Kaiser Mark Aurel wird gerühmt, daß er den Advokaten die größten Wasserquanten gewährte. Dagegen kam es auch vor, daß der Gerichtsdiener die beredten Herren schikanierte und ihnen zu wenig einfüllte. Man hätte dies früher bei uns in den Parlamenten gelegentlich auch so machen sollen.

Wie anders der Stand der Rechtsgelehrten, die der närrische Claudius verachtete und die schon der freche Caligula hatte mundtot machen wollen! Hier war wirkliche Größe. Was damals die Rechtsgelehrten ausarbeiteten, war wohl die größte praktische Kulturarbeit der ganzen römischen Kaiserzeit und ist ihr Ruhmestitel bis heute geblieben. Und es war nicht nur Praxis, es war Wissenschaft. Auf die alte Zeit des Gewohnheitsrechts war in Rom zunächst eine glänzende Zeit der Gesetzgebung, die Zeit der prätorischen Edikte, gefolgt; jetzt folgte endlich eine dritte Periode, die Zeit des Kaiserrechts und der Rechtswissenschaft. Rechtsschulen bildeten sich, die nach den Schulhäuptern sich benannten, und eine ausgedehnte Literatur entstand, aus deren Fülle die »Pandekten« Justinians nur einen dürftigen Abhub geben. Es waren meist Männer vornehmster Geburt und Stellung – in der Person Nervas bestieg ein Mann aus einer Juristenfamilie den Kaiserthron –, und sie hatten als Vertrauensmänner des Herrschers die Ordnung des bürgerlichen Verkehrs der Welt in Händen. Denn die Rezeption des römischen Rechts gelang in allen Reichsprovinzen glatt – gleiches Recht für Alle! – mit Ausnahme etwa des griechischen Ostens, wo sich doch Rom zum Trotz manche lokale Rechtsgewohnheiten noch länger zu erhalten wußten. Gleichwohl ist Gajus und ist selbst Ulpian in Berytus im griechischen Osten zum römischen Juristen erzogen worden; und auch Papinian war anscheinend Syrer von Herkunft. Dies waren, um das Jahr 200, die drei Heroen des römischen Rechts: Papinian, Ulpian und Paulus, Männer, die als Präfekten auf dem Gipfel der Macht und dicht am Throne standen und in denen die Genialität, Tatkraft: und sittliche Bildung des Altertums noch einmal und zum letztenmal bis zum Eindruck des Erhabenen sich zusammenfand. Das 62 gilt vor allem von Papinian, dem »Asyl des Rechts«, der durch den Mordbuben Caracalla umkam. Er wurde mit dem Beil erschlagen, weil er die Ermordung Getas nicht gutheißen wollte und das Wort sprach: »ein Brudermord ist leichter getan als entschuldigt.« So wurde er zum Blutzeugen der stoisch-römischen Gerechtigkeit am Hofe nichtswürdigster Despotie.

Nur wenige Jahrhunderte später, und Theodorich, der Gotenkönig, herrschte in Ravenna. Die Goten rückten in Italien ein; im Osten aber entstand das byzantinische Reich. Der Schatz des römischen Rechts wurde damals zerlesen, zerfetzt und ausgeplündert. Aber es hat auch noch in entstellter Form vermocht, Europa zu erziehen und bis auf den heutigen Tag nicht nur eine historische, sondern auch eine produktive Rechtswissenschaft anzuregen.

Und die Basilika? Sie ist eine jener interessanten Gebäudeformen der antiken Architektur, die aus großem Zweck sich groß entwickeln: eine Halle in länglichem Rechteck, zunächst nur ein großer Bazar für Kleinhändler. Die Nichtstuer verbrachten da herumlungernd ihre Tage und, sollte das Gebäude abends geschlossen werden, mußte man das Volk mit Hunden heraushetzen. Aber das Mittelschiff des Gebäudes war überhöht, und in seiner Apsis stand oftmals ein erhöhtes Tribunal. Da oben präsidierte der Magistrat; im Mittelschiff saßen auf Bänken die etwa 45 GeschworenenGelegentlich auch viel mehr. unter dem Vorsitz der Dezemvirn inmitten des höchst profanen Menschengetriebes, und die Anwälte redeten. Das Publikum mußte stehen. An der Wand der Basilika in Pompeji hat sich die Anschrift gefunden: »Die süße Weintrinkerin ist durstig, ja, ja, sehr durstig.« Also wurde da fürs Publikum auch Wein verschenkt. Aber das versteht sich schon von selber. Meistens war nun der länglich gestreckte Raum so eingeteilt, daß in ihm an allen vier Innenseiten ein Säulengang herumlief, dessen Dachhöhe geringer war als die seiner Mittelhalle. Bisweilen jedoch zog dieser Säulengang sich auch nur an den zwei inneren Längsseiten des Hallenbaus hin, und so entstand die bedeutsame Form der Basilika mit zwei Seitenschiffen und überhöhtem Mittelschiff. Diese Bauform ist nun aber bekanntlich auch die des altchristlichen Kirchenbaus, und so kann es kein Zufall sein, daß die alten Christen ihre große Gemeindekirche Basilika benannt haben. Die Kirche ist vielmehr aus der antiken Gerichtshalle entstanden.

63 Wir werden noch weitere Einflüsse des antiken Profanbaus auf den christlichen Kirchenbau kennenlernen. Wer aber selbst in Rom war, wird hier sogleich der kolossalen Backsteinruine der Konstantinbasilika am Forum gedenken, der größten Basilika, die Altrom gesehen hat, von 6000 Quadratmetern Grundfläche. Nur das nördliche Seitenschiff steht noch, und alle Marmorbekleidung ist heruntergefallen. Gleichwohl, wie kühn und kraftvoll schön wirken noch heute seine zerbrochenen kassettierten Tonnengewölbe! Von diesem Monument des römischen Rechtslebens aber steht fest, daß es noch in der Renaissancezeit zum Vorbild gedient hat für Bramantes Entwurf zum Sankt Peter. In der Tat war das Mittelschiff des Konstantinbaus nur 3 Meter niedriger als das Mittelschiff des Kölner Doms.

 


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