Theodor Birt
Charakterbilder Spätroms und die Entstehung des modernen Europa
Theodor Birt

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Einleitung

Die Weltgeschichte arbeitet in der Gegenwart mächtiger als je. Alle Kontinente tragen sich seit dem Weltkriege mit neuen Zukunftsplänen. Der Erdball selbst will seine Gestalt verändern, und so fühlt jeder Denkende sich wie wohl nie zuvor zu weltgeschichtlichen Betrachtungen getrieben. Krieg oder Friede? was ist das Heil? was ist die Bestimmung der Menschenvölker?

Es gab eine traumhafte Zeit; sie ist noch nicht lange her: da glaubten viele von uns Reichsdeutschen ernstlich an Weltbürgertum, an die ausgleichende Wirkung der Humanität, ein großes Verstehen und Verstandenwerden. Es war so schön! Aus allen Völkern kamen die Ausländer mit friedfertiger Miene in die deutschen Bäder und zu den deutschen Hochschulen gereist, um sich aus der einen Quelle Gesundheit, aus der anderen Bildung zu holen. Es war Trug und Schein; als die Schicksalsstunde gekommen war, warfen alle Völker die Masken ab; der Egoismus lag bloß, und der Neid und Haß griff zu jeder Waffe, bis zur grausamsten, der Aushungerung eines ganzes Volkes.

Dieser Neid aber ist alt, er lebt und wirkt in den Ländern Europas ohne abzusetzen durch die Jahrhunderte. Sehen wir von Deutschland, Polen und Rußland, die nie zum alten römischen Reich gehört haben, ab, so hat auch in England und Frankreich, Holland, Spanien, Italien und dem Donauland Österreichs und Rumäniens der Interessengegensatz der Nationen in all den Zeiten zu ständigen Reibungen mit Schlag und Gegenschlag, Erbfolgekriegen, Grenzkriegen, die nicht abreißen, zum Raub an Länderbesitz geführt. Was nützte es, daß die meisten dieser Staaten sich einer gemeinsam ererbten Kultur, der römisch-romanischen, rühmten? So ist es gegangen seit Attilas Zeit, seit der großen Völkerwanderung, die um das Jahr 400 für die heutigen Nationen die Grundlagen schuf. Nicht nur das: urältestes Menschengut ist der Neid; er ist Natur. Nur der Tod bringt ihn zur Ruhe. Das Leben selbst ist der Unfriede: Selbsterhaltung auf Kosten des Nachbarn, der pulsierende Trieb über sich selbst hinaus. Er ist so alt wie 3 der Unterschied der Menschenrassen, die sich bedrängen; sein Schlachtruf schallt uns entgegen schon aus der Zeit Lykurgs und Homers und der Semiramis, schon aus dem Streit Kains und Abels. Was hat Bestand? Alle Grenzen fließen, und das heut Gewordene ist morgen das Gewesene. Und was ist der Friede? ein negativer Begriff; Stillstand der Affekte ist er, ein toter Punkt, der sich umsonst zu verewigen trachtet. So lange die Erde steht, wird nicht aufhören Sommer und Winter, Saat und Ernte, Tag und Nacht, Krieg und Friede, im ewigen Wechsel.

In der Tat, so war es, so lange es Menschen gibt, auch schon in den vorchristlichen Zeiten, bis über gewisse Völkergruppen die großen Weltmonarchien kamen, die nun doch einen Frieden schafften und erzwangen: einen Notfrieden; so vor allem das Römerreich, und von ihm ist hier zu reden. Schon damals haben die Völker, die sich seit Beginn des Mittelalters mit Krieg zerfleischen, zum großen Teil bestanden und zusammengefaßt innerhalb der Grenzen des Römerreiches gelegt. Durch die Zentralgewalt Roms wurden sie entwaffnet und zu einem Völkerbündel zusammengebunden, wie der Packer die widerstrebendsten Dinge in einen Ballen schnürt, bis sie glatt liegen, oder wie einst die Tiere in Noahs Arche, die der Sintflut entronnen waren, sich vertrugen und ihre Mordgier vergaßen. Was unsere Pazifisten heute ersehnen, war erreicht.

Versöhnung durch Unterjochung, das ist das Geschenk der Weltmonarchie: eine Einfriedigung in doppeltem Sinne. Sie kann im Ernst unser Ideal nicht sein, aber wir leugnen nicht, daß sie Segen schafft, wenn gütige Despoten walten, die sich als Stellvertreter Gottes fühlen.

Solche Menschenfreunde auf dem Thron sind in der Tat etliche der Zäsaren, Augustus, Titus, Trajan, Hadrian und die Antonine gewesen. Raubgier hatte das Römerreich erzeugt; aber seine Lenker wurden hernach im Geist der Griechen durch philosophische Erziehung die erlesenen Wohltäter der Menschheit. Dies Weltreich der römischen Kaiser begann im Jahre 4 31 v. Chr. und hat durch seine Existenz den Weltfrieden durch volle zweihundert Jahre gesichert, bis zu Commodus' Ende, i. J. 192 n. Chr. Durch zweihundert Jahre waren, so weit es reichte, alle politischen Gegensätze aus der Welt geschafft. Es war ein Wunder, ein einziges Phänomen der Weltgeschichte.

Nichts ist begreiflicher als der Sieg der internationalen Gesinnung, den damals diese Welteinheit erzeugte; nichts begreiflicher, als daß ein Weltbürgertum, ein reines Menschentum entstand, wie keine spätere Zeit es wieder brachte, und daß so auch das Auftreten Jesu im stillen Galiläa und der rasche Eroberungszug seiner Lehre durch alle Länder möglich wurde. Gleichwohl war das moderne Europa damals schon im Entstehen; es lag noch friedlich schlummernd als Säugling in der Wiege des Römerreiches. Meine Aufgabe soll sein, zu zeigen, wie es wach wurde, wie die Wiege zerbrach und das moderne Europa sich endlich auf seine Füße stellte; in Chlodwigs, des Merowingers Zeit, ist das endgültig geschehen. Die Germanen waren es, die die Wiege zerbrachen. Das Weltbürgertum war damit zu Ende. Der Friede war nur ein Kindertraum der noch schlummernden europäischen Völker gewesen.

Was war in der Zeit Christi die »Welt«? Wenn wir das Wort gebrauchen, müssen wir von unserem modernen Größenbegriff allerdings völlig absehen. Schon damals floß der Amazonenstrom, rauschte der Niagara, zog der Kondor seine Kreise über den Cordilleren, blühten Japans Gebirgswiesen im buntesten Märchenflor, jagte der Papua das Känguruh in den Steppen Australiens. Aber man wußte es nicht. Alles das lag jenseits der »Welt«. Tee, Kaffee und Tabak waren den Griechen und Römern so unbekannt wie die Länder, die sie produzieren. Das schmächtige Mittelmeer war der Mittelpunkt dessen, was man damals die Welt, die Ökumene, nannte. Unsere Welt ist nur ein punctum im All, sagt uns ein RömerAmmianus Marcellinus 15, 1, 4; schon Cicero De re publ. I 26; Tusc. I 40.. Nur Europa kannte man und von Asien und Afrika nur die Europa zugekehrten Teile. Der Ganges stand auf den antiken Weltkarten am äußersten Ostrande des Bildes; durch die Kriegszüge 5 Alexanders des Großen allein wußte man auch vom Himalaya (den Emôdischen Bergen) zu reden und von den Riesenschlangen, die es dort gab. Deutschland erschien als leere Fläche mit Völkernamen unsicheren Sitzes, Rußland und Sarmatien ganz leer, Sibirien kaum geahnt. Einen echten Chinesen hat man in Rom wohl nie zu Gesicht bekommen. Von der Insel Ceylon kam wohl einmal eine Gesandtschaft an den KaiserhofUnter Kaiser Claudius.; übrigens war Indien ein Fabelland, wo angeblich einbeinige Menschen und Menschen, die keine Nase hatten, lebtenGleichwohl bestand ein mächtiger Import aus jenen fernsten fremden Ländern; für Seide, Edelsteine und Perlen aus China und Arabien gab Rom jährlich mindestens 100 Millionen Sesterz aus (Plinius, nat. hist. 12, 84). Römische Münzen sind in Indien bis Ceylon und Kap Komorin gefunden worden; s. E. Speck, Handelsgeschichte des Altertums III, 2, S. 919 bis 931.. Die Erde wurde als Vollkugel gedacht; aber der unermeßliche Ozean verschlang damals noch dreiviertel ihrer gewölbten Oberfläche. Man träumte von »Antipoden«, aber man wußte nichts von ihnen.

Trotz alledem hat sich das Römerreich mit Recht als die Welt betrachtet. Welt ist überall da, wo man von ihr redet, der Horizont mag weit oder eng sein. Welt ist aber nur da, wo Erinnerung, wo Selbstbewußtsein der Völker, wo Bildung, wo Geschichte ist. In den Büchern, in den Bauresten und Inschriften der Völker der Antike rettet sich die Erinnerung jener gebildeten Welt, des orbis terrarum, zu uns. Daher zählt der Kelte, der Germane nicht zur Welt, oder erst dann, seitdem die antike Kultur ihn mit erfaßte, erst unter dem Einfluß des Römertums. Kaum aber war das geschehen, als der Germane auch schon mächtig handelnd in das Weltdrama eingreift.

Vorläufig lag die Verwaltungszentrale dieser Welt, eines Reiches von etwa 5½ Millionen qkm, noch am Tiberfluß; Rom war noch die Nabe im ungeheuren Rad der Dinge. Wie der Papst heut im Vatikan, residierte der Kaiser, wenn er nicht reiste, für die Meisten unnahbar, als Stellvertreter Gottes selbst göttlich verehrt, auf seinem Palastberg, dem Palatin, um ihn ein tausendköpfiges Personal in hundert Bureauräumen. Von da aus sendet er seine Statthalter wie ausgreifende Fangarme in die Länder in ständigem Wechsel, und diese Vizekönige saßen in allen Hauptstädten Frankreichs, Englands, Österreichs, der Schweiz, des Balkanlandes, Ägyptens, Kleinasiens, Nordafrikas (von Tripolis bis Marokko), saßen in Syrien bis nach 6 Mesopotamien und am Euphrat. Allen Völkern galt die gleiche Fürsorge; dabei wurde jedem nach Möglichkeit seine Eigenart gelassen. Da sie aber alle das gleiche Schicksal trugen, das Schicksal unterjocht zu sein, so lernten sie sich sympathisch bald genug als Einheit fühlen, und der Rassenhaß trat auffallend zurück. Jedes Volk kannte wohl die Schwächen oder Laster des anderen, aber nie finden wir, daß etwa der Gallier den Briten, der Italiener den Spanier als solchen beschimpft oder ihm aus dem Wege geht. Verhaßt waren in diesem Riesenvölkerkomplex höchstens der Syrer und auch der Jude, weil dies Volk seine Rasse stärker betonte als andere.

Dazu kommt, daß, wie der Osten griechisch sprach, so im ganzen Westen sich das Latein als die Verkehrssprache durchsetzte; die Volksidiome verkrochen sich scheu in die Gebirge und entlegenen Strecken. Auch das wirkte mächtig zur Einung mit. Nicht anders die Literatur. Es gab nur griechische und lateinische Bücher, Weltliteratur in zwei Sprachen: Cicero und Demosthenes, Vergil und Homer. Überallhin trugen die Schulmänner die gleiche Bildung; eine fabelhafte geistige Uniformierung. Analphabeten gab es kaum. So verlor der Spanier, der Kelte an seiner eigenen Vergangenheit das Interesse. Aller völkische Ehrgeiz schwand; alle politische Keimfähigkeit wurde abgetötet.

Ja, auch zum Handelsneid, der sonst die Ursache der Gegensätze ist, kam es nicht. Jedes Land pflegt sonst dem anderen die Absatzmärkte für seine Waren nicht zu gönnen. Aber auch davon spüren wir nichts. Die kaiserliche Politik brachte vielmehr die Reichsländer einander wirtschaftlich möglichst nahe, machte sie voneinander abhängig, und alle Sondergelüste schwanden. Die niedrigen Ein- und Ausfuhrzölle wirkten nicht hindernd. Die Freizügigkeit war die größte. Dazu kam die Einheit des Münzwesens, die Reichsgoldmünze, die das Umrechnen des Geldes, das nachteilige Geldwechslergeschäft unnötig machteVgl. Speck, Handelsgeschichte des Altertums III, 2, S. 983; über die Zölle S. 1038 f.. Vor allem gab es kein Land, das, wie England in der Neuzeit, sich zum privilegierten Warenhaus, zur Großfabrik der Welt ausgebildet hätte; Italien tat das am allerwenigsten; und die 7 Häfen und Handelsstraßen, die Brückenbauten, alles stand überall gleichmäßig in größter Vollendung; die Länder verbindende Straße war der Triumph Roms, in der Tat eine Kulturleistung, die wir nie genug bewundern können. Das Mittelmeer wimmelte von Handelsflotten. Auch alle Überseetransporte waren reguliert und gesichert.

»Rom muß ewig herrschen, das ist der Wunsch des Erdreichs, so weit Menschen wohnen,« ruft ein Grieche in Smyrna um das Jahr 150 n. Chr.; »denn seitdem Rom herrscht, ruht aller Zank um Macht und Herrschaft und die Eifersucht zwischen den kleinen Staaten. Wie herrlich ist die Ordnung und die Gesetzmäßigkeit! Die ganze Welt gleicht einem eingehegten Garten; so ruht sie im Frieden, indes die Festungen draußen und das Berufsheer die Grenzen hüten. Des Menschengeschlechts glücklichste Zeit ist da!«Aristides' Lob Roms. Vgl. L. Hahn, Das Kaisertum (1913), S. 24 f. Speck Handelsgeschichte des Altertums S. 986. »Außerhalb des Römerreichs kein Leben, und wer das Reich nicht sieht, sieht die Sonne nicht,« deklamiert ein andererKallinikos im 3. Jahrhundert (Hahn, S. 29).. »Die ganze Erde hat ihre alte Tracht, das Eisen, abgelegt, und erscheint nun im Festgewande. Wer reist, wandert aus einer Heimat in die andere. Schon gibt es so viele Städte wie einst nicht einmal Hütten. Möge dieses Reich in Ewigkeit blühen, so lange, bis das Eisen oben auf dem Wasser schwimmt und die Bäume im Frühling nicht mehr blühen.«

Sehen wir uns in den Hauptstädten Europas um. Wer sie heute bereist, findet überall die ruhmredigen Denkmäler des Völkerhasses von Nachbar zu Nachbar, die Trophäen der europäischen Kriege: in der St. Paulskirche zu London die Flaggen der versenkten holländischen und französischen Flotten, auf dem Trafalgar Square ebendort die Nelsonsäule mit den vier Löwen; in Paris die Brücke von Austerlitz, die Brücke von Jena; Versailles verkündet in Gemälden die Gloire der bourbonischen Raubkriege. Nicht anders die Denkmäler in Petersburg, Wien, Berlin. Wer dagegen in Hadrians Zeit durch Europa reiste, fand es anders; da gab es keine Nationaldenkmäler, die die Gegensätze betonten, und doch war die damalige Welt an prangenden Großstädten ebenso reich wie die heutige; ihre 8 Einwohnerzahl ist auf 100 000 bis 400 000 zu schätzen. Sie blühten in allen günstigeren Lagen wie die Frühlingsanemonen im Wiesengrund und öffneten ihre Kelche dem Glück und Frohsinn. Wer kann sie aufzählen? Byzanz am Goldenen Horn, Saloniki, Smyrna, Antiochien, Damaskus; jenseits des Libanon Palmyra, die Palmenstadt; Nisibis, der Stapelplatz jenseits des Euphrat; Alexandrien, Ägyptens Welthafen, einer der Wirbel der Welt; in den Westländern Lyon, Marseille und Arles; in Spanien Saragossa, Cordova sowie jenes Merida, das, heut ein verfallenes Nest, damals das Rom Spaniens war. Wer die afrikanische Küste entlang segelte, dem öffnete sich wiederum ein glänzender Hafen nach dem anderen: Hadrumetum, Hippo, Caesarea, Gigthis, vor allem das neu erstandene großmächtige Karthago, auch dies ein Wirbel der Lebenslust. So wuchsen in England London und York, im Rheinland Trier und Köln heran. Um Residenzen waren die Statthalter nicht verlegen. Sogar die Kaiser selbst haben in Lyon und Trier ihre stolzen burgartigen Paläste gehabt. Wer einmal durch die felsenharte porta nigra in Trier eingetreten ist, den überkommt das Gefühl der Wucht und Pracht des römischen Städtebaues. Alle diese Großstädte lagen in Festungsmauern gesichert. Ein Kapitol mit säulengetragenen Gotteshäusern und farbig schimmernden Tempelgiebeln beherrschte das Stadtbild; an den weiten Foren die Gerichtshallen und Bazare; weiterhin Theater, Thermen, Arenen. So war es überall. Die öffentlichen Bauten schmückten und belebten die Städte damals noch verschwenderischer und eindrucksvoller als heute; aber sie alle hatten im Okzident ungefähr den gleichen Typus. Es ist der Typus der Römerstadt. Auch der Fremde fand sich überall gleich wie zu Hause. Am überwältigendsten wirken auf uns heute die menschenleeren Städte, die neuerdings in voller Ausdehnung aus dem Sande Nordafrikas in Tunis und Algier ausgegraben worden sindVgl. G. Boissier, l'Afrique romaine; A. Schulte, Das römische Afrika; P. Gauckler, l'archéologie de la Tunise; St. Gsell, lAlgérie romaine.: ich nenne Lambäsis und Thamugaddi (Timgad). Welche Wohlgepflegtheit! welche Raumverschwendung in den Bauten, welches Prunken mit Material, welche Freude am Schmuck 9 des Daseins in Plastik und Mosaiken! Überall vibrierender Handel, Geschäftigkeit, Konvente der Provinzialbehörden, Götterfeste, sorglos rauschendes Leben, aber fast nirgends Militär. Die Kasernen fehlen. Nur die von den Kaisern aufgebauten Triumphbögen, die überall breitstirnig den Hauptverkehrsstraßen zum Durchgang dienten, zeigten den Staatsbürgern an, wer ihr Herr und wer ihr Wohltäter war.

Es lohnte hierbei zu verweilen; denn man muß wissen, wie viel Segen und Glückseligkeit durch den Zusammensturz des Römerreichs, der uns beschäftigen soll, verschüttet worden ist. Jeder weiß übrigens, daß Spanien, Nordafrika, Kleinasien, Syrien damals gut bewässerte Länder von üppiger Fruchtbarkeit und viel ertragreicher als heute gewesen sind. Das gilt besonders vom wüsten nördlichen Arabien und der Landschaft Hauran, wo die Menschen wie die Tiere nur unterirdisch in Höhlen lebten, Räuber von Beruf; man sieht mit maßlosem Staunen, mit welcher Energie die römischen Kaiser und Landpfleger diese Steppen damals durch mühevolle Wasserbauten geradezu in blühendes Land verwandelt und die Menschen in Städte gesammelt habenDurch neuere Ausgrabungen sind dort große künstliche Wasserbehälter gefunden; in Bostra einer im Umfange von 390 Quadratfuß. Der syrische Statthalter Cornelius Palma zog einen Kanal, der so gut funktionierte, daß dort damals 20 blühende Ortschaften lagen, von denen heute nur noch eine einzige einige Bewohner hat. Auch in dem ingens oppidum Bostra jener Zeiten leben jetzt nur noch wenige Familien (vgl. G. Rindfleisch, in der Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins XXI (1898), S. 1 ff.).. Die Hochkultur drang auch in die ödesten Winkel.

Und nun Österreich-Ungarn; denn auch von Ungarn gehörten die Strecken diesseits der Donau zum Reich: ein unschätzbarer Erwerb. Denn es war das fruchtbarste Land, überreich an Viehzucht, auch für den Weinbau so geeignet (man denke an den Ruster Ausbruch bei Oedenburg). Schon in Neros Zeit bekam Rom von dort sein BrotkornMommsen, Röm. Geschichte V, S. 198.; und dazu das Menschenmaterial, die Illyrier genannt; es lieferte die ausgezeichnetsten Soldaten und sollte bald in der Geschichte die entscheidendste Rolle spielen. Die heutigen Albanesen oder Palikaren, wild und stachlig wie die Igel, sind die echten Nachkommen jener Illyrier; aber sie wohnten damals nicht nur im heutigen Albanien, sondern in ganz Dalmatien, Bosnien, Kroatien bis zur Donau.

Die Italiener unserer Gegenwart haben sich nicht imstande gezeigt, Dalmatien und Triest selbständig sich zu erobern; anders 10 das Rom des Altertums, das den Isonzo früh überschritt. Die Kaiser drangen sogar weiter über den Karst tief landeinwärts, und an der Donau entstanden die römischen Militärstädte Wien und Carnuntum. Hadrian baute die Stadt Esseg, noch heute die Hauptstadt Kroatiens; weiter wurden Oedenburg und Ofen Kulturzentren, und damit war auch Ungarn erschlossen. Auf der Donau lief eine römische Kriegsflottille. Von Straßburg ging die herrliche Römerstraße aus, die bis zum Schwarzen Meer die ganze Donau abwärtsführte. Auch die Gold- und Silberbergwerke im Grangebiet waren in Römerhänden. Aus den Pußten an der Theiß bezog man das Vieh, dort, wo die nomadenhaften Jazygen als reitende Hirten die wilden, breit gehörnten Tiere, wie heute noch, mit dem Lasso fingen.

All jenes Land von Salona und Triest bis nach Wien und Ofen nannte man Pannonien.

Wir haben die Welt des Römerreichs überschaut; sie sonnte sich in Frieden. Wie lange würde der Friede dauern? Solange das Kaisertum mit starker Hand alles zusammenhielt. Gleichwohl und trotz allem, was ich ausgeführt, zeigten sich im Reich selbst nun doch schon früh gewisse Merkmale drohender Zersetzung.

In all dem Aufschwung gab es auch einen leidenden Teil; das war Italien, das Herrscherland, selbst. Sobald der Gesamtkörper Europas mit seinen weiten Gebieten der Hochkultur erschlossen war, begann Italien langsam abzusterben; denn es war minder produktiv und hing nur als dürftige Landzunge an diesem Körper, ein schmaler Landstreifen im Meer. An der Faust Westeuropas war und ist Italien nur der kleine Finger, und es ringt auch heute wie in Verzweiflung, sich in der Konkurrenz der sog. Großstaaten seinen Platz zu sichern.

Vom Orient hatte Rom und Italien nur empfangen; für Westeuropa war es lange Zeit der gebende Teil gewesen. Jetzt hatte es sich ausgegeben, und es alterte und sank müde zurück zwischen seinen blühenden jungen Töchtern.

Die hochadeligen Protzen der Hauptstadt Rom waren einst 11 großenteils nur durch Ausraubung der Provinzen so reich geworden; seitdem diese Erwerbsquelle aufhörte, gingen viele Häuser ein und verarmten, der Luxus verzehrte das Kapital, und kein Erwerb deckte die Kosten. Das arbeitende Italien hatte nur Ziegeleien und Glasfabriken; sein stolzer Weinbau sah sich bald von anderen Weinländern überflügelt. Kaiser Domitian versuchte den auswärtigen Weinbau gewaltsam einzuschränken; Italien hatte das Monopol des Handels mit Wurzelreben oder SetzlingenSpeck, S. 1002.. Das half wenig. Die reichen Herren aus Frankreich kamen, kauften sich in Italien Land zusammen und wurden so als Großgrundbesitzer zu Senatsherren in Rom selbst; bald kamen auch Afrikaner, auch Syrer, sogar die unerwünschtesten, Ägypter, in den Senat. An der Regierung hatte der Senat, der einst die Welt aufbaute, kaum noch Teil; er hatte fast nur noch Repräsentationspflichten. Er war wie ein zermürbter Greis und erwachte nur bisweilen aus seinem Halbschlaf, schaute erstaunt in diese neue gärende Welt und konnte kein Wort des Befehlens mehr finden.

Rom war immer noch die goldene, die ewige Roma, und Italien hieß das heilige Land. Die Hauptstadt blieb Wallfahrtsort und Gegenstand der Verehrung; sie zehrte von ihrem alten Ruhm. Aber sie herrschte nicht mehr. Die Italiener waren ein Luxusvolk geworden, das wenig arbeitete, auf seine Vorrechte pochte und sich von der kaiserlichen Regierung nach Möglichkeit versorgen ließ. Ja, es entwaffnete sich selbst. Kein Italiener brauchte im Heere zu dienen; nur die Kaisergarde in Rom rekrutierte sich noch zeitweilig aus dem Lande. Die Provinzen mochten die fernen Grenzen sichern. Italien stellte höchstens die Offiziere der Reichsarmee und bald auch das nicht mehr.

Das aber war das Entscheidende. Wer das Heer stellt, ist der Herrscher. Die Truppenkörper draußen in den Reichslanden hatten aber nicht nur die Neigung, sich gegen Italien aufzulehnen; ein natürlicher Lokalpatriotismus regte sich in ihnen, der das Reichseinheitsgefühl leicht gefährden konnte.

12 Daher war es seit Vespasian oder seinen Söhnen Regel geworden, die Aushebungen nicht mehr distriktweise vorzunehmen, um den Verbänden den landsmannschaftlichen Charakter zu nehmen. Doch hat das schwerlich auf die Dauer geholfen. Nicht selten auch wurden die Verbände translociert; die Vorsicht gebot es. Doch kam es mehr und mehr dahin, daß sie da, wo sie ausgehoben waren, stehen blieben; die gallisch-germanischen Regimenter schützten also dauernd den Rhein, die illyrischen die Donau usf., und die Soldaten siedelten sich in ihren Standorten bald fest an; sie wurden zu seßhaften Grenzern, ähnlich der Miliz an der »Militärgrenze«, die in der Neuzeit Österreich-Ungarn gegen die Türken geschützt hatVgl. Daniel, Handbuch der Geographie II, 5, S. 230..

Hieß es, der Kaiser ist tot, so waren diese Leute immer bereit, gleich einen ihrer Generäle zum Kaiser zu machen. Sie fragten nicht viel, welcher Eltern Kind er war; sie fragten noch weniger danach, was man über den Nachfolger in Italien denken würde. Jedes der Reichsländer konnte also den Kaiser stellen. Mit Trajan begann das Spaniertum auf dem Thron; aber er und seine nächsten Nachfolger erwarben sich wenigstens noch die römische Senatorenwürde. Jetzt fiel auch das weg; aus allen Weltwinkeln kamen die Herrscher, Männer, die von der Pike auf gedient haben. Es ist die Zeit, wo die Klinge alles bedeutet. Dem Resoluten gehört die Welt:

Wer's zum Korporal erst hat gebracht,
Der steht auf der Leiter zur höchsten Macht.
Die Weltkugel liegt vor ihm offen.
Wer nichts wagt, der darf nichts hoffen.

Die Worte sind wie für diese Zeit gedichtet. So greift Severus, so Maximin, so Diocletian zu dem Reichsschwert:

Wer anders macht ihn als seine Soldaten
Zu dem großmächtigen Potentaten?

Soldatenkaisertum! Die Provinzialtruppen bestimmen mehr und mehr das Schicksal. Es ist daher unsere Pflicht, eine kurze Heerschau zu halten.

Fünf Armeen hatte das Reich; sie standen weit auseinander 13 gezerrt: die englische gegen Schottland, die rheinische gegen die freien Deutschen; die dritte an der Donau wiederum gegen Germanen und Slawen; eine vierte in Asien gegen die Perser; die fünfte in endloser Linie in Afrika gegen Kabylen und Berbern. Die Limesbefestigungen und tausend Kastelle kamen allerorten wie eine chinesische Mauer der Grenzverteidigung zu Hilfe.

Die Soldaten sind Berufssoldaten; sie sind Söldner und bilden so einen Stand für sich. Die Linientruppen waren die Legionen. Jede Legion hatte nominell 6000 Mann. Jeder angeworbene Legionär erhält, sofern er nicht schon Bürger ist, bei der Vereidigung das römische Bürgerrecht; ob Barbar oder nicht, hat er also schon dadurch in seiner Heimatprovinz eine bevorzugte Stellung. Es gab 25, dann 30, schließlich 33 Legionen; das sind immer noch nicht mehr als 198 000 Mann. Das Militärbudget des Reiches war gering im Vergleich zu dem moderner Staaten. Dazu kommt dann freilich noch die Artillerie, über deren Formationen wir wenig wissen, sowie die zahlreichen leichtbewaffneten Hilfstruppenkörper – auxilia –, die aus Mitbürgern bestanden und wozu die ganze Kavallerie gehört, jedes Bataillon nur 500–1000 Mann stark. Sie bildeten die Flügel in der Schlachtordnung und hießen daher alaeJ. Jung, Leben und Sitten der Römer, I, S. 80.. Diese Leute aber blieben, was wichtig, in ihrer nationalen Bewaffnung und bewahrten im Reichsdienst vielfach noch ihre ursprüngliche Nationalität.

Die Tradition im Heere war alt und gut und alles fest geregelt. Heute sind die Feldwebel das Knochengerüst im Heer, während die höheren Chargen wechseln, damals waren es die Centurionen, Hauptleute verschiedenen Ranges. Ein besonderer Kommissar, der Ortskenntnis hatte, besorgte in jedem Bezirk die Aushebungen. Das obligate Größenmaß für den Soldaten war 5 Fuß 1 Zoll. Seine Vereidigung wurde an jedem Neujahrstag wiederholt. In den Legionen hatte er 20 Jahre zu dienen, in den Alae sogar 25 Jahre. Der Sold war hoch; beim Abgang bekam der Veteran noch Prämien von 14 3000 Denaren oder wurde mit Haus und Hof ausgestattet und zum Siedler gemacht. Aber er war inzwischen 40–45 Jahre alt geworden. Der Fahnenträger jeder Kohorte verwaltete eine Sparkasse, in der jeder Soldat sein Erspartes niederlegte. Die alternden Centurionen gingen vielfach in den Zivildienst, etwa als Bürgermeister in den kleineren Städten; die höheren Offiziere a. D. wurden Präfekten oder Prokuratoren in der Länderverwaltung oder erhielten in der Reichspost, im Bergwerkswesen führende Stellungen.

So wurde die Reichsverwaltung immer mehr militärisch, und das Personal waren fast lauter Provinzialen. Die Männer im Reich außer Italien machten schließlich alles.

Trotz mancher Militärrevolten war die Disziplin der Truppe der Zivilbevölkerung gegenüber im ganzen vortrefflich, und der üble Satz: »Der Wehrstand soll leben, der Nährstand soll geben,« der nach Brandschatzung riecht, galt noch nicht. Im Winter lagen die Mannschaften in Militärstädten wie Köln und Mainz, Augsburg und Regensburg in Garnison; im Sommer gab es Manöver, Übungsmärsche und Scheingefechte; auch zur Schaufel und Hacke mußte der Soldat greifen; im Schanzen und Graben war er geübt wie unsere heutigen Helden der Unterstände.

Der Legionssoldat trug den offenen Helm und Lederkoller oder metallenen Schuppenpanzer, darüber den losen Mantel. Eine Uniform aber war das nicht; denn jeder trug sich etwas anders. Dazu kam als Auszeichnung der Kriegsschmuck, Kriegsmedaillen, aber auch Halskette und Armspange. Fremdartiger sah die Kavallerie aus, wenn sie im Visierhelm mit rotem Roßschweif, in rotem Waffenrock und in barbarischer Hosentracht einhersprengte.

Die Ehre der Regimenter hing an ihren Feldzeichen; in ihnen hatte man zugleich das Symbol des einheitlichen Römergeistes, der seit Jahrhunderten das Gesamtheer zusammenhielt; denn alle Feldzeichen zeigten denselben goldschimmernden römischen Adler, der den Blitz in den Klauen hielt. Auf besonderen Fahnenstangen wurde daneben das Bild des regierenden 15 Kaisers getragen. Zur Aufbewahrung diente im Lager das Fahnenheiligtum.

Auf seinem Schild aber trug jeder Soldat weithin sichtbar die Regimentsnummer vor sich her, und hieran knüpfte sich nun doch der Sondergeist, auch ruhmredige Benennungen der Legionen gab es, wie legio Martia victrix oder fulminata oder rapax: »die siegreiche Marslegion«, »die Blitz tragende«, »die reißende«. Jede Truppe war auf ihre Regimentsgeschichte stolz, die Gallier, die Spanier, vor allem die Bataver, die berühmte Formation aus Niederland, und nun gar die wilden Illyrier. Mehr als einmal erwachte in diesen Regimentern der unbändige Trieb, sich miteinander zu messen. In der Kavallerie, die ja in ihrer Nationaltracht ritt, war der alte völkische Geist sogar nie erstorben. Man bedenke, was es besagt, wenn Kaiser Hadrian den verschiedenen Reitertruppen gestattete, ihren Schlachtruf nicht lateinisch, sondern in ihrer Volkssprache zu brüllen: die Kelten keltisch, die Goten gotisch, die Räter rätisch!Arrian, Techne taktike 44.

So erwachte das Nationalitätsprinzip im Heer. Vom Heer, nicht von der Zivilbevölkerung ist die Gefährdung der Reichseinheit ausgegangen. Jedes Provinzialheer kreierte seinen Kaiser, den es wollte. Ob der Kaiser, für den es in wütendem Ehrgeiz focht, Maximin oder Gallienus hieß, darauf kam es gar nicht an. Der Name war nur Feldgeschrei; die Illyrier oder die Niederländer wollen nur zeigen, daß sie mehr als die anderen waren. Das Provinzialheer wurde unversehens zum Nationalheer.

Übrigens wurden seit dem 3. Jahrhundert, ja schon früher noch weitere Hilfskräfte nötig; zu den reichsländischen Legionen und Auxilien, von denen ich sprach, kamen weitere Formationen hinzu, die man einfach Heerhaufen (numeri) nannte, und sie wurden nun auch aus den sogenannten barbarischen Völkern von jenseits der Reichsgrenze, aus den immer kriegslustigen Alemannen, Franken und Goten angeworben. Auf diesem Wege kamen endlich die freien Germanen selbst, die Feinde Roms und seine zukünftigen Zerstörer, damals in den 16 römischen Heeresdienst, um Rom vor ihnen selbst zu retten. Ja, mit ganzen Hilfsvölkern der freien Germanen in geschlossenen Verbänden und unter eigener Führung wurde obendrein seit Mark Aurel das Heer verstärktVita Mark Aurels 21: emit Germanorum auxilia contra Germanos. Vgl. M. Bang, Die Germanen im römischen Dienst, S. 58.. Die wachsende Gefahr zwang dazu. Es ist so, wie wenn heute Frankreich England zu Hilfe ruft; es ist schwer, den Helfer wieder loszuwerden.

Der Drang nach Verselbständigung erfaßte dann bald die Zivilbevölkerungen in den Reichsländern. Vom Militär muß das ausgegangen sein; und auch in der Literatur trat bald die große Umwälzung ein. Während die literarische Produktion in Rom versiegt, sprudelt sie jetzt in Frankreich, in Afrika mächtig auf, in Lyon, Bordeaux, Karthago, Madaura. Christen und Heiden sind dabei tätig; Irenäus, Apulejus die ersten Schriftstellernamen. Die weiten Provinzen wurden nun literarisch mündig. Denn wo reiches, bewegtes Leben ist, da regt es sich auch im Wort. Am lautesten erhoben die Kirchenväter Afrikas ihre Stimme. Noch war und blieb dies alles freilich Weltliteratur; man wollte nur Römer sein und weiter nichts; die lateinische Sprache blieb allen gemeinsam, und der Buchversand trug die Schriften immer noch von einem Land ins andere. Aber die Lokalinteressen kamen jetzt doch vernehmlich zu Wort. Eine geistige Dezentralisation bahnte sich an. Viele lasen die Bücher, die so aus der Ferne kamen, mit Neugier, wohl aber nur mit halbem Verständnis.

Der Inhalt der römischen Geschichte im 3. bis 5. Jahrhundert ist nun der verzweifelte Kampf gegen die Dezentralisation, der Kampf für die Rettung der Reichseinheit, die Rettung dessen, was man die Welt nannte. Der Reifen zerbarst, der sie zusammenhielt, und es half nicht ihn zu nieten.

Einst hatte schon Mark Anton, der Freund Kleopatras, nach der Schlacht bei Philippi großzügig oder frivol diese Welt in drei Reiche zerlegt; er selbst nahm sich die Balkanhalbinsel und den Orient, mit Alexandria als Hauptstadt, dem Octavian gab er Westeuropa, dem Lepidus Afrika. Wäre es hierbei geblieben, wie er es wollte, so wäre die unausbleibliche Lösung schon 17 damals erfolgt, und drei Reiche mit drei Dynastien wären entstanden. Aber das war zu früh: Rom hatte sein großes Kulturwerk an den Völkern damals noch nicht vollendet, und der Plan des Mannes ward zum Glück für uns und für die Zukunft Europas vereitelt. Jetzt aber ist er neu aufgelebt; jetzt war er zeitgemäß geworden, und die führenden Männer, die den Purpur nahmen, Decius, Probus, Aurelian und wie sie sonst heißen, verbrauchen sich völlig im Kampfe mit ihm. Wie die Schaumkronen im wogenden Meere heben sich Kaiser und Gegenkaiser und verschwinden in diesem Kampf: bis endlich der große Schweiger Diocletian den Gedanken Mark Antons erfaßt und verwirklicht. Ein loseres, elastisches Band soll jetzt genügen, die Welt zusammenzuhalten. Doch es hielt nicht. Für das moderne Europa war der Grund gelegt.

Aber die Erinnerung an das einstige imperium Romanum, die geeinte Menschheit, hörte nicht auf. Das Wort hatte magische Kraft; es saß in seiner Glorie zu fest in der Phantasie und in den Herzen, als daß nicht immer neue Versuche, es wieder herzustellen, entstanden wären. Schon Constantin der Große hat das getan, später Karl der Große. Den Völkerfrieden schafft nur die Weltmonarchie: die Idee war begeisternd, aber sie wurde zum Fluch für Europa, insbesondere für unser deutsches Vaterland. Erst vor nun hundert Jahren, erst in Napoleon Bonapartes Zeit, ist sie ganz erstorben, als der letzte müde römische Kaiser deutscher Nation, Kaiser Franz im Jahre 1806 endlich abdankte, um sich auf sein österreichisches Kaisertum zurückzuziehen. Die großen Karolinger, die großen Sachsenkaiser und Hohenstaufen, die Scheinerben Constantins, waren an dieser Idee zerschellt, auch Napoleon, der noch einmal Europa unterjochte, bis es ihn vernichtete.

Wenn aber die politische Einheit des alten Imperiums zerbrach, so war ein Ersatz da, die Kirche. Das Christentum ist das letzte große Produkt des Altertums. In ihm faßte sich die Menschheit wunderbar großartig neu zusammen. Es fragt sich nur, ob damit ein wirklicher Ersatz gegeben war. Die Völker, 18 die sich heute, im 20. Jahrhundert hassen, haben alle denselben Christus. Die Religion Jesu ist alt geworden, aber sie hat uns nicht zum Weltfrieden verholfen. Der war und ist seit der Antoninenzeit für ewig verloren, eine Sage geworden, trotz der großen Völkerbundskomödie der Gegenwart.

So habe ich nun aber in den Blättern, die ich hier vorlege, vom Krieg im doppelten Sinne zu handeln. Nicht nur die Menschen, auch die Götter führten Krieg: ein heißer, atemloser Ringkampf der Geister, ein Kampf des Dogmas mit dem Zweifel, der organisierten gläubigen Welt gegen den Staat. Das Kreuz war stark und eisenhart und zerschlug die Götterbilder; die schönen Olympier wurden zu Gespenstern, die Marmortempel standen wie leere Muscheln da, ihres Inhalts und Zwecks beraubt, und neue Bethäuser erhoben sich über den Gebeinen der Märtyrer. Neue Mysterien taten sich auf, in denen Gott selbst im Pneuma jeden Einzelmenschen aufsucht und zu sich zieht. Ein neues Ziel war der Menschheit gesteckt: es gilt an Stelle des Weltreichs der Cäsaren ein Gottesreich der Frommen zu schaffen.

Wie sich das erhoffte Gottesreich unter Constantin verwirklichte, werden wir sehen. Verwirklichung war Verweltlichung. Sobald das Christentum sich mit Politik verknüpfte, hat es aufgehört einigend zu wirken und vergaß seine schöne Sendung, den Gegensatz der Völker zu mildern oder aufzuheben.

Gleichwohl wäre alles gut gewesen und das römische Reich, ob heidnisch, ob christlich, hätte sich als geschlossene Kultureinheit trotz allem erhalten können, wären nicht die Germanen gewesen, und damit ist das Schicksalswort gefallen. Das Römerreich war nicht mehr die Welt. Die Welt wurde größer. Neue große Völkergruppen unermeßlichen zukünftigen Kulturwertes treten ins Licht der Geschichte.

Daß sich im Osten jenseits des Tigris die Angriffskraft der Perser steigerte, war nicht das schlimmste; denn ihnen fehlte die Bevölkerungsmasse, die erdrückend hätte wirken können. Im Nordland dagegen, zwischen Rhein und Weichsel, saß das 19 eigentliche Volk der Zukunft, ein unerschöpflicher Menschenborn, eine Rasse, hochgewachsen und vielstämmig gleich den Urwäldern, in denen sie aufwuchs.

Man denke sich die Germanen nicht als die Barbaren und Wildlinge, wie man sie nach der Schablone des Gegensatzes zu schildern versucht hat. Sie waren ohne Frage schon damals, was sie noch heute sind, stark, aber uneinig, wanderlustig, freiheitssüchtig, und mit dem burschikosen Trieb zum Gesetzlosen, intelligent und unendlich lernfähig, ja, auch fleißig. Sie lagen nicht nur auf der Bärenhaut und tranken ihren Met aus Büffelhörnern. Sie hatten keine Schrift, sie hatten kein Münzwesen, sie hatten keinen Städtebau; ihre freie Existenz in den weiten Territorien des Nordens hatte das Bedürfnis dafür bisher nicht dringend gemacht. Es war wie ein Dämmerzustand vor dem Erwachen. Aber es genügte schon, wenn nur ein Germanenstamm, die Cherusker, sich regte, um Rom in Schrecken zu setzen.

Die Römer waren zu faul oder zu hochmütig, um deutsch zu lernen; diese Völker lernten dagegen schon damals die Weltsprache Westeuropas, das Latein, zunächst natürlich die unterjochten Stämme. In der Hauptstadt Rom selbst, dann im römischen Rheinland und Dekumatenland (Baden, Württemberg), in Mainz, Trier und Köln lebten Hunderttausende von völlig latinisierten Germanen; viele lateinische Inschriften, die sie setzten, sind noch da; so gut sie diese Denkmäler setzten, werden sie auch in lateinischen Büchern gelesen haben, und es versteht sich, daß sie so auch weiter zu den freien Deutschen römisches Wesen und römisches Wissen kolportierten. Dazu kam der ständige Grenzhandel am Limes; mehr als das; jährlich durchquerten die römischen Kaufleute das ganze freie Deutschland von Österreich her bis zur Ostsee, um sich Naturalien, um sich den Bernstein zu erhandeln. Römisches Geld sammelte sich in den deutschen Truhen. Die Handelssprache war auch da wieder die römische. Nicht erst heute oder seit der Reformationszeit lernt man an der Havel und Spree Latein; dort herrschte um das Jahr 20 90 n. Chr. der Germanenfürst Masyos, der Semnone, der damals auffallenderweise eine feierliche Huldigungsreise nach Rom machte; auch die weise Frau Ganna brachte er mit dorthin. Der Kaiser Domitian behandelte ihn mit EhrenCassius Dio 67, 5 (III, p. 180 ed. Boiss.). Da des Semnonen Land nicht an das römische Reich grenzte, können ihn nur Handelsinteressen dazu veranlaßt haben, und daß er einigermaßen Latein sprach, war die VorbedingungVgl. meine Schrift Die Germanen, S. 105 f. u. 124..

Schon seit Julius Caesars Zeit haben so die Germanen nachweislich in diplomatischem Austausch mit der römischen Reichsregierung gestanden. Jetzt war die Zeit gekommen, wo sich ihre Jungmannschaften von ihr für schweres Geld anwerben ließen, um vaterlandslos in großen Haufen für eine fremde Sache zu fechten; dabei lernten sie die römische Fechtkunst und machten sich mehr und mehr zu ebenbürtigen Gegnern des unbesieglichen Rom. Wehe, wenn sie auch die Einigkeit lernten, den Wert der einheitlichen Führung begriffen! Um das Jahr 100 schrieb Tacitus seine berühmte »Germania«, das Quellbuch des Wissens vom Urdeutschtum. Er schrieb es für Rom; man glaube aber nicht, daß die Germanen selbst diese für sie so wichtige Schrift nicht gelesen hätten; denn sie waren wach und helle. Kein Deutschenhaß sprach aus dem Buch (der Deutschenhaß setzte erst später ein), sondern nur Deutschenfurcht, ja, eine idealisierende Bewunderung, die den blauäugigen Barbaren, wenn sie das lasen, gut eingegangen sein muß. Vor allem aber verkündete Tacitus in seiner Schrift das odium sui, d. h. die Liebe zum Zwist, den Haß gegen die eigenen Blutsgenossen als das Heil, das Rom vor den Germanen rette. Das war wie ein Signal. Die Deutschen hörten es; sie waren gewarnt. Fortan beginnen die Germanenstämme sich wirklich zu einigen und zu großen Gruppen zusammenzuballen. Kaum 50 Jahre verrannen, da war es geschehen. Schon Kaiser Mark Aurel hatte den siebenjährigen Riesenkampf gegen den ersten großen Germanenbund durchzukämpfen. Es gelang ihm mühsam. Er war noch einmal der Retter Roms.

21 Die Kultur jener Deutschen schien den Griechen und Römern Unkultur, und sie war in der Tat noch völlig unentwickelt, so auch die Verfassungen lose und wandelbar. Aber gerade das befähigte die Urwüchsigen zum Völkerwandern, zum Raumwechsel, zur Übersiedelung in wildfremde Länder. Der Deutsche ist noch jetzt überall zu Hause. In der Heimat strotzten noch Tiefebene und Gebirgshöhen von dicken Urwäldern, das bebaute Ackerland hatte noch geringe Ausdehnung und ernährte die wachsende Bevölkerung spärlich. Sollte es diese starken Menschen nicht locken, ihre Barackendörfer zu räumen und in die Länder zu ziehen, wo der Feldbau ganz anders blühte, wo die Rebe und die Olive wuchs, wo die Bergwerke im Staatsbetrieb waren mit ihren reichen Erträgen, wo man prächtige Städte fertig vorfand mit steinernen Mauern und Türmen? Und die Sonne ist wärmer, die Luft balsamischer, das Meer lieblicher, das Leben berauschender im Süden. Auf das schöne Frankreich, das reichste der Länder, richteten sich die Angriffe zunächst, bald aber auch über den Balkan ans griechische Meer und den Bosporus gegen Saloniki, Byzanz; bald war auch Italien, war Rom bedroht.

Die Zeit der Cimbern und Teutonen sollte wiederkehren. Wo war der Marius, der ihnen widerstand?

Der Marius! die großen Männer, wo sind sie? In der Tat, wir sehen uns endlich nach Charakteren um. Es genügt nicht bloß von den Völkerschaften und ihren dunklen Trieben, es genügt nicht nur von der Soldateska zu reden. Die Massen sind nur Material in der Hand der führenden Figuren, die aus der Tiefe des Volkes wie ein Wunder auftauchen, zeitgemäß das Ziel erkennen und den kühnen Griff haben, der es erfaßt. In der Geschichte herrscht die Auslese, das Gesetz der Stellvertretung der Vielen durch den Einen. Wohl uns, wenn dem Einen sein Werk gelingt! Wir nennen ihn herrlich und groß, wenn er sein Volk sicher durch die Wüste führt und von keiner Fata Morgana sich täuschen läßt.

Auch die Jahrhunderte, von denen ich handeln will, sind 22 an bedeutenden Charakterköpfen reich. Das wachsende Christentum hat seinen Augustinus und Athanasius, das kämpfende Reich selbst die großen Kaiser wie Diocletian, nach deren Namen man die Zeiten sondert. Aber sie sind nicht das wichtigste; denn alle diese Kaiser standen nur in der Defensive; sie suchten nur zu retten, was zu retten war. Die Offensive war bei den Germanen; sie sind es, die damals Europa langsam neu gestaltet haben. Aber wir kennen zumeist ihre Führer nicht; wir hören kaum ihre Namen. Die Haupthelden fehlen also leider im ersten Hauptteil meines Geschichtsbildes: ein unersetzlicher Verlust. Deutsche Berichterstatter fehlen; der Deutsche selbst schrieb nicht; ein Wandervolk hat keine Bibliotheken; und die römischen Autoren werfen uns nur höchstens einen Haufen barbarisch klingender Namen hin, Mallobaudes und Teutomeres, Seudilo, Lutto und Maudio; sie reden auch wohl entsetzt von der Raubgier und tollen Rauflust der Germanenfürsten; weiter nichts. Man müßte Alarich oder Arminius, den Cherusker, verhundertfachen, dann hätte man das rechte Vollbild, das wir brauchen.

Überhaupt aber enttäuscht uns die Geschichtschreibung der Spätantike seit dem 3. Jahrhundert, die wir zu benutzen haben, z. T. auf das bitterste. Es ist, als wäre damals mit dem Schönheitssinn auch der gesunde Wahrheitssinn geschwunden. Wenn die Christen Geschichte schreiben, so verfälschen sie das Bild nur zu leicht durch konfessionelles Urteil; man denke, wie der fromme Grieche Eusebius Constantin den Großen vergoldet. Nichts aber ist kläglicher als die uns vorliegende Sammlung der lateinischen Kaiserbiographien, Scriptores historiae Augustae genannt; die Darsteller, die hier reden, leiden sichtlich an Gehirnschwund; klatschhaft wie ein altes Weib und unbeholfen wie ein Untertertianer, geben sie in ihrer Zeichnung lauter unverbundene Striche, aus denen kein Bild wird. Überhaupt herrscht bei diesen Späten der kahle Bilderbogenstil; sie geben nur starke Konturen und leere Flächen, und wir werden dabei unwillkürlich an die bildende Kunst 23 derselben Verfallszeit erinnert: man hatte nur den Büstenkopf Constantins neben den des Caesar; so wie die Porträtkunst erstarrt, verödet und nur noch ein Schema, einen Schemen gibt, so auch die Biographie. So sehen wir Diocletian, Theodosius und die anderen Majestäten halb unkenntlich und verwittert wie grob behauene Granitkolosse über dem flachen Leben der Alltäglichkeit ragen. Man erkennt ihren Umriß, aber ihre Gesichtszüge sind undeutlich, sind vieldeutig geworden, und fremd und mit leeren Augen starren sie uns an aus ihrer Höhe.

Jeder sieht, wie unendlich hierdurch die Darstellung für den modernen Erzähler erschwert ist. Denn wir wollen das Überlieferte nicht nur nacherzählen, sondern, was mehr ist, die Menschen, die da ihr Leben an ihr Ziel setzten, als Menschen verstehen und uns näher bringen. Es gilt also die leeren Flächen im Bilde nach Möglichkeit auszuschattieren. Die Divination, die Menschenkenntnis, der Sinn für das Wahrscheinliche muß dabei helfen. Man suche jeden der Männer nach seinen Absichten zu begreifen: dann kann das Urteil nicht fehl gehen; und man vergesse nie die riesenhaft weltumfassende Größe ihrer Aufgabe; dann wird man nicht kleinlich mäkeln statt sich einzufühlen. Es ist nichts possierlicher, als wenn ein moderner Professor, der durch seine Brille lesemüde in die Vergangenheit starrt, lobende und tadelnde Noten erteilt, post eventum mit Überlegenheit kritisiert und uns belehrt, was die großen Männer, die vor 2000 Jahren in einer übermenschlichen Position mit dem Schicksal rangen, hätten tun und lassen sollen. Mir soll es genügen, die Hergänge selbst verständlich zu machen.

Zwei ausgezeichnete Schriftsteller und hervorragende Erzähler seien zum Abschluß lobend genannt. Der eine ist Cassius Dio, ein feiner Grieche aus Kleinasien, der in den Jahren 200–230 n. Chr. als hoher Senator in Rom mit tagte, der Vertraute etlicher Kaiser war und uns nun als Augenzeuge klug erzählt, was er Weltbewegendes mit erlebt hat. Er wirkt als direktes 24 Sprachrohr, das all den Schlachten- und Straßenlärm, aber auch das Gerede und Geflüster seiner Zeit frisch und deutlich zu uns trägt. Den dröhnend stampfenden Marschschritt der Weltgeschichte unterbricht Dio oft, als müsse er Atem holen, und streut plauderlustig allerlei intim Memoirenhaftes ein. Er selbst war zugegen, wenn das Volk im Zirkus rief: der Kaiser ist tot, es lebe der Kaiser!, sah es zitternd mit an, wenn der Monarch gegen alles Herkommen nicht in Zivil, sondern säbelrasselnd in den Sitzungssaal trat, betete alljährlich fromm die obligaten Gebete für den Kaiser mit, er sei gut oder böse, kannte unzählige Menschen, die da auf- und untertauchen, persönlich, notierte sich manches sinnige Wort, das von den Lippen bedeutender Männer kam, und wußte für seine Person so zu lavieren, daß er bei allen Blutbädern, die den Senat heimsuchten, doch glücklich heil und verschont blieb. Man wußte, was man an ihm hatte: er war das literarische Genie der Zeit und dazu erfüllt von dem römischen Weltreichsideal. Wenn er Ferien hatte, ging er nach Bajä ans blaue Meer und schrieb dort in der Stille nieder, was er Aufregendes im Getöse der Hauptstadt erlebt und erfahren hatte. Sein Werk, das mit der Gründung Roms begann, umfaßte im ganzen 80 Bücher.

Größer noch steht der andere da, Ammianus Marcellinus, der gut hundert Jahre später lebte, ein Syrer, der lateinisch schreibt. Er gibt uns in die wilden Zeiten Einblick, die auf Constantin den Großen folgten, und weiß den Leser von Handlung zu Handlung mitzureißen. Für Dio war die Stadt Rom das Zentrum des Geschehens; des Marcellinus Erzählung stürmt mit grenzenloser Weite des Gesichtsfeldes durch alle Länder: ein unbestechlicher Mensch und Urteiler und immer großzügig, auch wo er ins kleine malt. Die rasende Kampfeswut der Alemannen und Franken, die da »ihr Leben vergeuden«prodigere vitam: Amm. Marcellinus 16, 12, 50., hat er selbst mit Augen gesehen, hat lange Zeit am Hof verkehrt und kennt die hohen Herren genau, die er schildert, auch die Eunuchen und schönen Knaben, die da am Hof Stimmung machen. Drastisch schildert er uns den Kaiser 25 Constantius, Constantins Sohn, der, ein übler Herr, für alle wichtigen Dinge nur taube und harte Ohren hat, für kleinliche Einflüsterungen und Verdächtigungen dagegen weicher ist als sein Ohrläppchenprodigere vitam: Amm. Marcellinus 19, 12, 5.. Innerlich feige, hat dieser Kaiser sich angewöhnt, im Publikum sich unnahbar starr bis zur Leblosigkeit zu zeigen; er spuckt nicht, regt die Hand nicht, guckt nicht rechts noch links, wenn er auf dem Wagen steht, als wäre er eine ausgestopfte Puppe im Ornat. Ein unterworfener slawischer Stamm an der Donau hat sich gegen Rom empört; Constantius kommt dorthin mit seinen Truppen; die Barbaren nahen sich ihm unterwürfig demütig. Er besteigt ein hohes Podest, um stolz und gnädig von Vergebung zu ihnen zu reden. Auf einmal brüllen sie ihren Kriegsruf »marha, marha!« und der Herr der Welt muß auf einen Gaul springen, um rasch zu entkommen. Die Wilden erbeuteten das goldene Sitzkissen, das noch warm war, auf dem der Kaiser gesessen.

Als achtzehnjähriger Jüngling und Adjutant eines der hohen Generäle hat Marcellinus, unser Erzähler, selbst den Perserkrieg des Jahres 359 mit durchgemacht. Armenien und Mesopotamien tut sich uns auf. Hören wir als Probe einmal, was er da erlebte. Wie der Moment es bringt, geht da Großes und Kleines durcheinander. Es ist wenig Hoffnung auf Sieg; denn der Kaiser Constantius hat gegen den Perser einen verbrauchten Greis zum Feldherrn bestimmt, der wackelig auf den Beinen und nicht einmal imstande ist, das Getöse eines Zechgelages auszuhalten. Marcellinus selbst steht zunächst in Nisibis am Euphrat. Ferner Rauch und Flammen verraten, daß die Feindesmacht nahekommt. Er flieht, findet auf der Flucht einen kleinen achtjährigen Knaben aus besserer Familie, der zwei Meilen vor der Stadt verlassen und hilflos auf der Straße steht, und nimmt ihn mit auf sein Pferd, um ihn zu retten. Zu einem Kastell gelangt er, wo römische Truppen friedlich rasten und die Reittiere grasen; er galoppiert heran, streckt den Arm und das zusammengerollte Stück des Reitermantels hoch zum Zeichen: Der Feind kommt! Die Nacht setzt ein; es ist Vollmond; die 26 weite Gegend flach und eben; die feindlichen Reiter aber sind schnell und werden uns fassen. Gibt es keine List? Da wird an einem Maultier eine Lampe festgebunden und das Tier so ohne Reiter in die Fläche hinausgetrieben; die Römer selbst reiten in anderer Richtung ab; der Feind wird glücklich durch das Licht getäuschtEs ist dies ein hübsches Beispiel für das »hinter's Licht führen« und kann zur Erklärung dieser Redensart dienen.. So retten sie sich endlich nach der armenischen Bergfestung Amida.

Marcellin aber wird weiter als Kundschafter ausgeschickt; eine hohe Bergspitze unmittelbar über der Tigrisebene erklimmt er; mit weitestem Horizont liegt das unendliche Flachland Mesopotamiens im grellen Licht tief unter ihm. Da sieht er den Großkönig Sapor selbst heranreiten und die gewaltigen Heersäulen hinter ihm heranwogen. Der König in Purpur strahlend, von Vasallenkönigen umgeben. Sogleich wird von den Römern nun das ganze umliegende Gebiet evakuiert, auch alle Felder in Brand gesteckt, wobei eine Menge Löwen umkommen, die da in den Schilfgräsern hausten. Dann kommt es zum Gefecht: Getümmel und Niederlage. Der Feind ist mit seinen Panzerreitern, den cataphracti, übermächtig. Marcellin muß mit seinem Feldherrn fliehen. Ein junger Kamerad hat einen Pfeilschuß; er will ihm den Pfeil aus der Wunde ziehen, wird aber überrannt. Römer und Perser drängen sich durcheinander zur Burg Amida hinauf. Es gibt nur einen einzigen schmalen Aufstieg, und ein paar Mühlen verengen ihn noch. Freund und Feind steht Leib an Leib gepreßt; so wird gekämpft; dem Nebenmann Marcellins wird der Schädel zerspalten; aber der Kerl fällt nicht um; so fest steht er eingekeilt.

Schließlich hat sich Marcellin in die Festung gerettet, und die Belagerung soll beginnen. König Sapor nimmt erst andere Römerkastelle weg, läßt sich die Schlüssel zu den Toren aushändigen; eine schöne vornehme Frau erbeutet er und schont sie großherzig in ihrer Ehre; so läßt er auch ein Nonnenkloster völlig unangetastet, das am Wege liegt. Dann reitet er vor die Mauer Amidas, er selbst seinen Scharen voran und alle überragend, auf dem Haupt einen goldenen Widderkopf als Helm, 27 der von einem strahlenden Diadem von Edelsteinen umgeben ist. Der Großkönig kommt an die Mauer so dicht heran, daß man sein Gesicht deutlich erkennt. Da zielen die Römer mit Wurfspießen auf ihn, und er wäre erledigt gewesen, hätte der Staub ein sicheres Zielen gestattet. Nun wurde ihm nur sein kostbarer Rock zerrissen. Das bringt den König so in Wut, als hätte man ein Götterheiligtum angetastet.

Wochenlange Kämpfe folgen; der Perser hat die schwersten Verluste, aber Panzertürme stellt er auf, auf denen Wurfgeschütze, Ballisten, stehen, und nimmt so nach 73 Tagen schließlich die Stadt, und Marcellin ist wieder auf der Flucht; wenige Leute sind mit ihm. Er hat auch kein Pferd. Die Gegend ist wüst und wasserlos und er ist am Verdursten. Da sieht er einen Troßknecht reiten, der vom Gaul stürzt und dabei verunglückt. Auf den Rücken des Tieres wirft er sich und findet endlich eine warme Schwefelquelle. Auch ein Brunnen ist da, aber er ist viel zu tief; womit schöpfen? Da schneidet er eine Tunika in schmale Streifen, macht daraus einen Strick, hängt eine Militärmütze daran, wie man sie unter dem Helm trug, und schöpft darin das Wasser heraus. Dann kann die Flucht weitergehen ans andere Euphratufer, bis er endlich zu den römischen Truppen stößt, die auf dem sicheren Rückzug sind.

Aus dieser Episode, die ich ausgehoben, mag man entnehmen, wie und was Marcellinus erzählt. Sein Hauptheld ist kein geringerer als der junge Kaiser Julian, der Abtrünnige. Aber er verherrlicht ihn nur mit Vorbehalt. Mit merkwürdiger Objektivität lobt und tadelt er, wie es kommt, beide, Heiden und Christen, und steht als reifer MannMarcellinus blieb nicht in der militärischen Laufbahn; er wirkte später allem Anschein nach als Jurist in höheren Verwaltungsstellungen; vgl. J. Gimazane, Ammien Marcellin (Toulouse 1889), S. 46 ff. erhaben über den Leidenschaften beider Religionsparteien. Es gibt nicht viele seinesgleichen.

Ich komme zum Schluß. Was ich in diesem meinem Einleitungskapitel vorgetragen, gleicht dem Vorspiel zur großen Oper, in dem die Hauptmotive schon deutlich anklingen. Drei Hauptmotive sind es, und sie werden die nachfolgende 28 Darstellung beherrschen: der Kampf der Kaiser für Rettung der Reichseinheit; das Vordringen der Germanenvölker, die von außen stoßen; die Wirkung der jungen christlichen Kirche, die zunächst reichstreu, aber zugleich angriffsfreudig wie die Germanen ist. Der Auseinanderfall der antiken Welt ist daraus das Ergebnis; das Mittelalter setzt endlich ein, und eine neue Welt kann beginnen.

Der Schwierigkeit meines Unternehmens bin ich mir wohl bewußt; denn es ist nicht zu leugnen: die Spätzeit Roms steht vielen fern, und je mehr sich die Geschichte des Altertums dem Mittelalter nähert, um so fremder mutet sie uns an. Die älteren Größen, ein Miltiades und Aristides, ein Scipio und Julius Caesar stehen unserem Gefühl nahe genug; in ihnen merken wir bei aller Zeitenferne doch den echten Herzschlag und ein natürliches Menschentum; wir können ihr Erleben mit erleben. Diocletian und Constantin wirken für den flüchtigen Betrachter hart und herzlos wie große Theatermaschinen, die das Fatum über die Bühne schiebt, ja, wie die Larve der Meduse. Sie sind das Geschöpf ihrer Zeit. Es ist eine Zeit, in der alle Heiterkeit, alles Lachen, alle Schönheit vergeht. Rohe Gewalt, Despotie, Hohn und Verachtung, Wutschrei und Angstschrei, Entsetzen, heißes Gebet, gellender Kirchenzank: das ist alles, was wir vernehmen. Rauch und Qualm, Feuerbrand, fliegende Asche hüllt Himmel und Erde ein. Durch das scheinbare endlose Grau dieser Welt sehen wir Menschen und Völker freudlos gehetzt in atemlosem Kampf um Sein und Nichtsein. Dazu das Christensterben und all das andere verspritzte Blut, das Wüsten mit Menschenleben als Staatsmaxime, ein Grauen selbst für den, der an den Massenopfern und an dem Morden des Weltkriegs, den wir in diesen Jahren erlebten, sein Herz verhärtet hat.

Gleichwohl soll es uns doch gelingen, einigen jener fremden großen Gestalten näher zu treten, und durch die düstere Wolkennacht, die über dem Geschehen hängt, bricht es doch wie goldenes Licht, ein blendender Strahl der Hoffnung, ein Ahnen 29 des Werdens des Zukünftigen, das beglückende Vorgefühl, daß nach dem Zusammensturz der Antike in den beruhigten Völkern diesseits und jenseits der Alpen und der Meere das reine und frohe Menschentum doch einst wieder aufleben, sich wieder darstellen muß und wird: das Griechentum, wie es sich der Deutsche denkt; der humane Mensch im humanen Staat.

Denn die deutschen Völker, die da zu Attilas Zeit die Welt zertrümmern, dieselben werden imstande sein, sie auch wieder aufzubauen. Die Lehrlinge der antiken Kultur sind dieselben wie ihre Zerstörer. In ihnen und durch sie werden einst die verschütteten Ideale sich verjüngen:

»Die Welt wird neu im Lenzsturm der Germanen.« 31

 


 


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