Hugo Bettauer
Bobbie oder die Liebe eines Knaben
Hugo Bettauer

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XXIV. Kapitel

Die Verjüngungskur des Doktor Morton

Es war fast Mitternacht, als in einem Zimmer der Kriminalpolizei zwei Herren einander gegenübersaßen. Der eine vor dem Schreibtisch, der andere nicht weit davon neben dem Schreibtisch. Und hätte nicht an der Tür ein baumlanger Polizist mit dem Revolver in der Hand gestanden und nicht an einem kleinen Tischchen ein Schreiber gesessen, der Bogen auf Bogen vollkritzelte, so hätte man wirklich an eine freundschaftliche Unterhaltung denken können.

Der Herr vor dem Schreibtisch war der Inspektor Crispin, der andere Herr im Lehnstuhl der verhaftete Doktor Morton, dem vorher in der Zelle die Giftpillen aus der Westentasche, das Taschenmesser und alle anderen bedenklichen Gegenstände abgenommen worden waren. Während Herr Crispin mit verschränkten Armen dasaß und der Schreiber schrieb, stützte Doktor Morton das jetzt sehr welk und gealtert aussehende Haupt auf den rechten Arm und sagte:

»Ich habe Sie bitten lassen, noch heute nacht meine Aussagen zu protokollieren, weil es mir um nichts mehr zu tun ist als um Beschleunigung des Verfahrens. Mein Leben ist verfallen, und ein verfallenes Leben soll man so rasch als möglich seinem Ende zuführen. Ich werde daher jetzt ein volles Geständnis ablegen, nicht etwa aus Reue, sondern aus Zweckmäßigkeit, und weil ein Leugnen nur das ersehnte Ende hinausschieben würde.

Wenn Sie die in meinem Besitze befindlichen Papiere, Dokumente und Aufzeichnungen durchsehen werden, so werden Sie erfahren, daß ich nicht der Fünfziger bin, der ich zu sein scheine, sondern nahezu achtzig Jahre alt bin.«

»Unmöglich,« entfuhr es dem Polizeiinspektor.

»Sehr schmeichelhaft, Herr Crispin, aber es ist doch so. Ich werde, oder besser gesagt, sollte in wenigen Monaten achtzig Jahre werden. Und wenn ich Ihnen erkläre, wie es kommt, daß ich um so viel jünger aussehe, so habe ich damit auch erklärt, warum ich dieses arme kleine Mädchen in meine Gewalt gebracht habe und andere kleine Mädchen habe sterben lassen.«

Crispin fuhr empor: »Also Sie haben die Kinder, die in der letzten Zeit verschwunden sind, auf dem Gewissen?«

»Jawohl, Herr Crispin, ich bin gewissermaßen der Mörder mehrerer kleiner Mädchen. Wenn man das Töten in Notwehr und aus Selbsterhaltungstrieb einen Mord nennen will. Doch ich will alles in Kürze und Ruhe erzählen.

Ich wurde also vor nahezu achtzig Jahren als Sohn eines armen Landarztes geboren, und es stand fest, daß ich auch Arzt werden sollte. Gerade als ich unter unsagbaren Entbehrungen kurz nach dem Tode meiner Eltern das medizinische Doktordiplom errungen hatte, starb ein entfernter Verwandter, den ich nie gesehen hatte, da er in jungen Jahren nach Südamerika ausgewandert war. Ich war sein alleiniger Erbe und plötzlich Besitzer eines ungeheuren Vermögens. Mein Lebensweg lag für mich nun klar und fest umrissen vor mir. Reisen und forschen und das Leben in vollen Zügen genießen. Reisen, weil ich eine rasende Sehnsucht nach Abenteuern und fernen Ländern hatte; forschen, weil ich von einem tief inneren Trieb besessen war, den Rätseln und Geheimnissen der Natur näherzukommen, und das Leben genießen, weil ich es bisher entbehrt und nur in elendem dünnem Aufguß kredenzt erhalten hatte.

Ich verbrachte die nächsten Jahrzehnte in Südamerika und den Vereinigten Staaten, in Indien und China, in Japan und Sibirien, in Paris und Rom, lernte die ganze Welt kennen, sprach bald alle Kultursprachen und drang dabei langsam in die medizinischen und physiologischen Geheimnisse der ältesten Völker ein. Wenn Gelehrte sich die Mühe nehmen sollten, meine Schriften durchzustudieren, so werden sie außerordentlich wertvolles Material auf dem Gebiete der Heilkunde entdecken, das mich, wenn ich es hätte wollen, zum berühmten Manne gemacht hätte.

So wurde ich sechzig Jahre alt, als ich plötzlich nach einer anstrengenden Reise über die Kordilleren zusammenbrach und mich krank und gebrochen fühlte. Mühselig konnte ich noch meine beabsichtigte Reise bis Rio de Janeiro fortsetzen, wo ich mich von dem ersten Arzt untersuchen ließ. Das, was er mir sagte, wirkte einfach niederschmetternd. ›Lieber Herr Doktor Morton,‹ meinte der brasilianische Arzt, übrigens ein Deutscher, achselzuckend, ›Sie haben stark gelebt, haben gegessen und getrunken, wie es Ihnen behagte, haben tausend Nächte zum Tag gemacht und müssen nun die Rechnung zahlen. Arteriosklerose, Verkalkung, Altersschwäche. Sie haben ja so schöne, pharmakopeutische und physiologische Entdeckungen gemacht, versuchen Sie es nun einmal, dem Altern ein Hindernis entgegenzusetzen. Erfinden Sie endlich ein Verjüngungsmittel.‹

Und die Worte des deutschen Arztes faßten Wurzel in meinem Gehirn und in meiner Seele. Ich wollte nicht langsam absterben, wollte nicht als Greis dahinsiechen, wollte noch leben, lange und voll und ohne Beschwerden. Es würde zu weit führen, wollte ich Ihnen jetzt schildern, wie ich Tag und Nacht ohne Unterbrechung in meinem Zimmer hockte und nachdachte. Schließlich kam ich zur Überzeugung, daß sich eine Verjüngung nur auf dem Wege der Blutübertragung erzielen lassen würde, und begann meine Experimente mit dem menschenähnlichsten Tiere, dem Affen, zu machen. Glücklicherweise befand ich mich ja in Brasilien, wo man Affen noch leichter haben kann, als hier Meerschweinchen. Nach monatelangen, mehr oder weniger erfolglosen Versuchen hatte ich endlich hintereinander eine Reihe von Erfolgen. Es gelang mir, durch die Übertragung des Blutes junger Affen auf alte diese ersichtlich zu verjüngern, äußerlich und innerlich ihre Lebenskraft zu erhöhen; Tiere, die bisher kümmerlich im Winkel gehockt hatten, neuerdings zu anstrengenden Klettereien fähig zu machen; Affen, die alle Zeichen des Marasmus aufwiesen, jugendlich aussehen zu lassen. Allerdings führten etwa zwanzig gelungene Transfusionen zu folgenden Feststellungen:

Die Bluttransfusion hatte nur bei Affen derselben Art Erfolg.

Die Übertragung mußte vom anderen Geschlecht ausgehen, das heißt, die Verjüngung eines alten männlichen Affen geschah nur dann, wenn der junge Affe weiblichen Geschlechtes war und umgekehrt.

Und drittens stellte es sich heraus, daß der junge Affe, aus dessen Adern das Blut für den zu verjüngenden genommen wurde, unfehlbar nach kurzer Zeit verfiel und einging, trotz der sorgsamsten Pflege und der wissenschaftlichsten Nahrungszufuhr zwecks frischer Blutbildung.

Meine Gier nach Jugend, mein Wunsch, weiterleben zu können, war nun so mächtig und überwältigend in mir, daß ich nicht einen Augenblick zögerte, die Experimente auch an mir auszuüben. Mit recht großer Mühe konnte ich mich in den Besitz eines kleinen Mädchens spanischer Abkunft setzen. Ich brachte die Kleine unschwer in einen Dämmerschlaf, da ich auf dem Gebiete der Hypnose viel vermag, und schritt zur Tat. Ich öffnete meine rechte Pulsader und die des Mädchens, das ich hoch über mir zu liegen brachte, und stellte nun mittels Gummischlauches auch die Verbindung zwischen den beiden Öffnungen her. Da der von oben kommende Luftdruck stärker war, so verhinderte er mein Blut nach einigen Minuten am Ausströmen, und ich konnte etwa ein Liter Blut des Kindes in meine Adern pumpen.

Nach sechsmaliger Transfusion wurde die kleine Spanierin von Herzschwäche befallen und starb. Ich selbst fühlte wohl eine gewisse Frische, aber lange nicht in dem Ausmaße, das ich erhofft hatte. Neuerliche Untersuchungen und Blutforschungen brachten mir die Überzeugung, daß ein voller Erfolg nur dann eintreten würde, wenn ich das Blut mir ganz gleichartiger Mädchen, also hellhäutiger und hellhaariger, erlangen könnte. Das erschwerte natürlich die Sache außerordentlich, da in Brasilien die Zahl der Blonden sehr gering und die blonder Kinder minimal ist. Auch war es mir klar, daß ich für weitere derartige Transfusion ganz andere Instrumente, und vor allem eine zuverlässige menschliche Hilfe haben müsse.

Recht verzagt reiste ich mit einem Küstendampfer nordwärts nach den Vereinigten Staaten, um von New Orleans aus mit der Bahn weiterzufahren. In New Orleans herrschte am Tage meiner Ankunft gerade eine regelrechte Negerhetze. Mehrere Schwarze, die sich angeblich gegen eine weiße Frau vergangen hatten, waren schon gelyncht worden, und der Pöbel suchte nun nach einem Geschwisterpaar, das im Negerviertel aus dem Fenster heraus auf Weiße heißes Wasser geschüttet haben sollte. Diese zwei, es waren Mulatten, wurden mit Bluthunden gesucht, und der Mob raste eben mit den Bestien nach dem Hotel zu, in dem ich abgestiegen war. Plötzlich flog die Tür meines Zimmers auf, und herein stürzte ein riesiger junger Mulattenbursche, hinter ihm seine etwa achtzehnjährige Schwester. Sie fielen vor mir auf die Knie, winselten um Gnade und Erbarmen und baten mich, sie vor ihren Verfolgern zu retten. Es waren dies die Geschwister, die vom Pöbel gesucht wurden. Nun, ich verbarg sie tatsächlich bei mir, ließ sie die Nacht in dem Kofferverschlag neben meinem Zimmer verbringen und nahm sie am anderen Tag frühmorgens mit mir nach New York. Von da an hingen Sam und Sara mit hündischer Treue an mir, und da ich sie außerdem immer auf dem Wege der Suggestion unter meinem Willen hielt, so hatte ich an ihnen gefügige, willenlose, unbedingt ergebene Werkzeuge. Langsam brachte ich ihnen die Überzeugung bei, daß, falls ich sie nicht mehr beschützen könnte, sie beide der Justiz verfallen wären, ich also mein Leben verlängern müsse, um auch das ihre zu sichern. Ich konnte nunmehr Sam und und Sara unbesorgt verwenden, einerseits, um die Mädchen, die ich brauchte, in meine Gewalt zu bekommen, andererseits, um mir bei den operativen Vorgängen behilflich zu sein.

In New York gelang es mir unschwer, ein blondes, gesundes Kind zu bekommen, und nachdem ich mir alle notwendigen chirurgischen Instrumente verschafft hatte, die meinen Zwecken entsprachen, schritt ich abermals zur Transfusion, die diesmal vorzüglich gelang. Nach viermaligem Blutwechsel starb das Kind, aber ich war wie neu geboren, bekam eine frische, jugendliche Gesichtsfarbe, alle meine Sinne belebten sich in ungeheurer Weise, und ich fühlte mich neuerdings allen Strapazen und Anforderungen gewachsen. Nach Ablauf eines halben Jahres allerdings stellten sich wieder Zeichen von Müdigkeit und Abspannung bei mir ein, und ich wußte, daß ich ein neues Opfer brauche, um dem Altern Trotz bieten zu können.

New York ist groß, einer kümmert sich nicht um den andern, das Gewissen ist abgestumpft, und es konnten aus den Vierteln der Armen Kinder spurlos verschwinden, ohne daß sich die Öffentlichkeit weiter darüber aufgeregt hätte. Immerhin – leicht war die Sache nicht. Ich machte, bevor ich an eine Transfusion schritt, natürlich immer erst Blutproben, um mich zu überzeugen, ob das Blut des Mädchens nicht verseucht oder krankhaft in der Zusammensetzung sei. Und da machte ich denn die Erfahrung, daß dies unter zehn Kindern des Volkes bei acht der Fall war, und daß ererbte und erworbene Krankheiten, die ersteren häufiger, das Blut für meine Zwecke unbrauchbar machten. Dies erschwerte mein Vorhaben ganz außerordentlich, denn nach vollzogener Blutprobe mit solchem Ergebnis mußte ich die Kinder wieder laufen lassen. Denn, Herr Crispin, ich wiederhole es, ich bin kein Mörder, ich bin auch nicht die brutale Bestie, für die Sie mich halten mögen, sondern ich bin nur ein Mensch, der das eigene Leben über das der anderen stellte, was im Prinzip wohl die meisten Menschen tun.

Es mehrten sich im Laufe der Jahre also die Fälle, in denen Kinder auf zwei bis drei Tage verschwunden blieben, um dann mit einer Stichwunde am Handgelenk und in verstörtem Zustande zu den Eltern zurückzukehren. Was vorgegangen war, wußten die Mädchen niemals, da ich sie, so wie sie in meiner Gewalt waren, in einen Dämmerzustand versetzt hatte – aber immerhin wußten sie, daß sie mit Gewalt irgendwohin gebracht worden waren.

Die Häufigkeit solcher Vorkommnisse begann schließlich Aufsehen zu erregen und die Öffentlichkeit zu beschäftigen, und ich zog es vor meinen Aufenthalt zu verändern und abwechselnd in Chikago, Philadelphia und San Franzisko zu leben. Meine Erfahrung und Übung bei der Vorbereitung und Durchführung der jeweiligen Verjüngungskuren war im Laufe der Jahre außerordentlich gewachsen und ich sah es kleinen Mädchen fast auf den ersten Blick an, ob sie geeignet für mich waren oder nicht. Bekam ich ein blondes, sehr gesundes und kräftiges Kind in meine Gewalt, so dauerten die Wirkungen der Bluttransfusion bei mir bis zu zehn Monaten; war das Kind schwächlich und zart, so wurde schon nach drei Monaten eine Wiederholung notwendig. Vor sechs Jahren übersiedelte ich in diese Stadt und ließ mir mit großem Aufwand von Geld und Mühe das Haus in der Blumenstraße erbauen, das meinen Zwecken bis in die kleinste Einzelheit entsprach und mir jede Sicherheit zu bieten schien. In dieser Millionenstadt scheinen Kinder noch leichter und unbemerkter zu verschwinden als in den Städten der amerikanischen Union. Zweimal ereignete es sich, daß von den Eltern nicht einmal eine Abgängigkeitsanzeige erstattet wurde, und einmal, als ich mit meinem Automobil an einem brennenden Wohnhaus vorbeifuhr, konnte ich mich dreier geeigneter Mädchen bemächtigen, von denen man dann annahm, daß sie bei dem Brande ums Leben gekommen seien. Das Verschwinden der kleinen Ruth Clemens und Mary Peters – das waren die letzten Fälle – machte allerdings einiges Aufsehen.«

Den Kriminalinspektor überfiel ein starres Entsetzen über die kühle, sachliche Art, in der Doktor Morton seine zahllosen Kindermorde förmlich registrierte, und er konnte nicht umhin, auszurufen: »Das alles klingt so grauenhaft, daß ich es lieber für einen bösen Traum halten möchte.«

Doktor Morton nickte. »Ja, es ist furchtbar, daß einer, um zu leben, andere töten muß. Aber ungewöhnlich ist es doch nicht. Wieviel Menschen zum Beispiel sind schon durch die Regierungen umgebracht worden, weil diese sich einbildeten, ohne diesen oder jenen Fetzen Land nicht leben zu können. Übrigens irren Sie sich, wenn Sie glauben, daß ich ganz herzlos bin. Ich habe schwere innere Kämpfe durchgemacht, bevor ich mich daran gewöhnt habe, den Tod von Kindern zugunsten meines Lebens als Unabänderlichkeit zu betrachten.

Aber was sollen diese nutzlosen Auseinandersetzungen? Lassen Sie mich lieber meinen Bericht beenden.

Vor etlichen Wochen erregte im Jubiläumspark ein kleines blondes Mädchen meine Aufmerksamkeit, dessen Gesundheit, Feinrassigkeit und Gepflegtheit ersichtlich waren. Ich schickte Sam hinter dem Mädchen her und erfuhr bald, was ich wissen wollte. Nur erwies es sich als schwierig, an die Kleine heranzukommen, da sie immer in Gesellschaft eines Knaben war, der nicht von ihrer Seite wich. Ich hatte es mir nun einmal in den Kopf gesetzt, dieses Mädchen für mich zu verwenden, und so sann ich über Mittel und Wege nach, die Kinder auf einige Minuten von einander zu trennen. Nun, gar so schwer war es nicht. Ich erfuhr, in welches Gymnasium der junge Mann ging, erkundigte mich nach dem Namen seines Professors und benützte zur Ausführung meines Planes den Tag der Zeugnisverteilung. Während Sam mit dem Auto langsam in der Nähe des Parkes umherfuhr, lief ich rasch in ein Restaurant, telephonierte das Haus des Fabriksbesitzers Holgerman als Professor Brummel an und bat, den Knaben sofort zu verständigen, er möge mich anrufen. Als ich dann sah, daß tatsächlich die Kinder den Park verließen, fuhr ich ihnen im Auto nach. Hätte Gertie Sehring nicht unten gewartet, so hätte ich mein Vorhaben eben verschieben müssen; es ging aber alles ganz nach Wunsch.

Gertie blieb auf der Straße, ich fuhr langsam an ihr vorbei, riß die Tür des Autos auf, beugte mich hinaus, winkte der Kleinen, die sofort näher kam, fragte, ob hier das Haus des Herrn Holgerman sei, und als Gertie eifrig bejahte, hatte ich ihr auch schon die Kehle zugedrückt, so daß sie kaum noch einen Schrei ausstoßen konnte, und sie zu mir hineingehoben. Unterwegs nach meinem Hause versetzte ich die Kleine trotz ihres Widerstrebens in einen hypnotischen Schlaf, aus dem ich sie erst am nächsten Tage erweckte. Ich muß hier, um ganz bei der Wahrheit zu bleiben, zugeben, daß mir kein Kind so viel zu schaffen gemacht hat, wie Gertie Sehring. Sobald sie aus dem Schlaf erwachte, führte sie furchtbare Szenen auf, wand sich in Weinkrämpfen und ließ sich weder von mir noch von Sara beruhigen. Nach einigen Tagen gab sich das, aber von da an saß die Kleine, der wir gewaltsam Nahrung beibringen mußten, vollständig verstört und bewegungslos in der Zimmerecke, so daß ich ernstlich fürchtete, sie zu verlieren, bevor die Bluttransfusion, die ich wieder sehr notwendig brauchte, beendet sein würde. Bisher wurde die Transfusion dreimal vorgenommen, und ich hatte vor, heute die vierte, morgen die fünfte zu bewerkstelligen, was ja wohl gleichzeitig das Ende des Kindes bedeutet hätte. Jetzt, wo für mich alles vorbei und mein Leben verwirkt ist, freue ich mich, daß Gertie noch lebt und hoffentlich auch am Leben bleiben wird. Und nun, Herr Crispin, habe ich Ihnen alles mitgeteilt und bitte, so rasch als möglich dem ordentlichen Gericht überwiesen zu werden. Ich habe das Leben geliebt und das Altern gehaßt, aber der Tod hat keine Schrecken für mich, obwohl ich es entschieden vorgezogen hätte, freiwillig mit Hilfe meiner Giftpillen zu sterben als auf dem Schafott.«


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