Hugo Bettauer
Bobbie oder die Liebe eines Knaben
Hugo Bettauer

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II. Kapitel

Zukunftspläne

Die Freundschaft zwischen den beiden Kindern war damals vor drei Jahren entstanden, als Gertie zum erstenmal in ihrem Leben nach dem Tode des Majors Sehring statt eines hellen Kleidchens ein schwarzes tragen mußte. Es war ein heißer Sommertag zu Ende Juli wie heute gewesen, und Gertie saß allein, von all dem Jammer zu Hause, den sie in seiner ganzen Tragik wohl empfand, aber nicht verstehen konnte, verstört auf einer Bank im Park. Da trat aus einer Gruppe von Kindern, die irgendein Spiel aufführen wollten, ein grobschlächtiger Junge auf sie zu und sagte, während er mit dem schmutzigen Zeigefinger in der Nase bohrte:

»Komm' mitspielen, wir brauchen noch eine!«

Schüchtern erwiderte das kleine, blonde Ding: »Ich danke, ich mag' aber heute nicht spielen.«

Wohl hatte Mutter ihr das Spielen nicht verboten, aber trotz ihrer acht Jahre fühlte sie doch, daß sie heute, wo Papa irgendwo in weiter Ferne in einem frisch geschaufelten Grab lag, nicht spielen und heiter sein durfte. Und dann gefielen dem feinen Kinde, das immer wie eine Prinzessin aussah, der Junge und seine Gefährten durchaus nicht.

Der Junge pflanzte sich nun breit vor Gertie auf.

»Was, spielen magst du nicht? Vielleicht weil du ein schwarzes Kleid anhast! Bildest dir wohl ein, wir sind nicht fein genug für dich! Steh' auf und komm', sonst setzt es was ab.«

Und schon hatte er Gertie beim Arm gepackt und in die Höhe gezerrt. Gertie fing zu weinen an und wehrte sich, da versetzte ihr der Junge einen Schlag ins Gesicht und wollte weiter drauflosschlagen.

In diesem Augenblicke aber war Bob, der die Szene beobachtet hatte, zur Stelle. Seinen Schulranzen warf er ins Gras, stürzte sich auf den rohen Jungen und haute ihm links und rechts Maulschellen herunter; ein kurzes Ringen und der Unhold flog wie ein Gummiball nieder. Wohl sprang er wieder auf, um sich auf Bob zu werfen; als er aber in dessen bleich gewordenes Gesicht mit den funkelnden Augen sah, schlich er wie ein geprügelter Hund fort. Bob ging nun auf das kleine Mädchen zu, das vor lauter Überraschung zu weinen vergessen hatte und ihn bewundernd ansah.

»Ich heiße Bob Holgermann. Sag' mir, wie du heißt und wo du wohnst, ich bringe dich nach Hause.«

Gertie machte einen artigen Schulknicks, vergaß aber vor lauter Verlegenheit zu antworten und begnügte sich mit der hingebungsvollsten Feststellung: »Bist du aber stark! Könntest auch unsere Zeichenlehrerin verhauen!«

Dann ergriff sie die warme Hand des Knaben und ließ sich von ihm bis zu ihrem Hause führen, wobei Bob entdeckte, daß das blonde, kleine Mädchen mit den veilchenblauen Augen und dem schwarzen Kleid gerade der Villa seines Vaters gegenüber wohnte.

Von da an wurden diese beiden unzertrennliche Spielgefährten, bald besuchten sie einander täglich und auch Frau Sehring begann im Hause des millionenreichen Fabrikanten und seiner Gattin, die die unglückliche, gebildete und sehr stille Frau schätzte, als Gast zu erscheinen.

Bob ging nun heute als frischgebackener Vorzugsschüler, die herrlich langen Sommerferien vor sich, in fieberhafter Erwartung des versprochenen Hundes, mit Gertie in den Park. Sie hatten zuerst wie gewöhnlich Diabolo spielen wollen, aber das ging heute doch nicht. Bob fühlte sich, er war voll Mitteilungsdrang, er mußte sprechen. Sie gingen zuerst den Weg knapp am Parkgitter entlang, aber ein großes, geschlossenes Automobil, das im langsamsten Tempo fast neben ihnen her, nur außerhalb des Gitters fuhr, störte sie mit seinem Rattern und Benzingestank und so bogen sie in eine schattige Allee ein und ließen sich auf einer Bank nieder.

»Bob, freust du dich sehr über dein gutes Zeugnis?«

Bob überlegte und strich sich die Locken aus der freien, hohen Stirn.

»Eigentlich wollte ich sagen: Ach was, es ist mir ganz egal! Weil Jungens immer so tun müssen, als wenn ihnen solche Schulsachen nicht so wichtig wären. Aber ich freue mich doch sehr. Auf den Hund, und weil Mama sich freut, und weil du dich freust. Und dann freue ich mich, weil es mir gelungen ist. Weißt du, Gertie, Mathematik und Geographie sind sehr ekelhaft, und ich denke, man sollte Jungens nicht so damit quälen. Aber wegen des Hundes, den mir Papa versprochen hat, und wegen der Freude von Mama wollte ich Vorzugsschüler werden, und nun sehe ich, daß man kann, was man will. Lebertran kann man nicht essen, wenn man nicht will; wenn man aber will, kann man es auch. Und mit der Mathematik ist es nicht anders. Und drum sage ich auch, ich will dich heiraten, Gertie, und wenn ich groß bin, tue ich es auch gewiß. Papa hat mir, als er es einmal hörte, gesagt, ich sei ein dummer Junge und solle nicht an solche Sachen denken. Aber ich meine, daß ich immer daran denken soll, weil ich dann nie aufhören werde, es zu wollen, und wenn ich etwas ernstlich will, dann kann ich es auch tun.«

Mit scheuer Bewunderung hing Gertie an seinen Lippen.

»Ach, Bob, das wird zu herrlich sein, wenn du mich heiraten wirst. Aber Mami darf immer bei uns wohnen, nicht wahr? Und eine kleine Katze werde ich auch bekommen, mit der ich mir die Zeit vertreiben kann, wenn ich warte, bis du aus der Fabrik kommst, nicht wahr?«

Bob machte ein sehr nachdenkliches Gesicht.

»Deine Mama muß natürlich bei uns wohnen, weil sie sonst ganz allein ist. Unsere Köchin hat zwar neulich gesagt, daß immer die Hölle los ist, wenn die Schwiegermutter im Hause wohnt, aber bei deiner Mama glaube ich das nicht, weil sie sehr gut und sanft ist. Das mit der Katze sollst du dir aber aus dem Kopfe schlagen, Gertie. Ich habe in der Zeitung gelesen, daß ein kleines Kind daran gestorben ist, daß es der Katze ins Fell griff und dann Katzenhaare in den Mund bekam. Und ich denke, wie furchtbar das wäre, wenn das unserem Kinde geschehen würde. Und dann werden wir ja ein eigenes Haus bewohnen, und da gibt es sehr viel zu tun, so daß du dich gar nicht langweilen wirst. Meine Mama langweilt sich auch gar nicht.«

Gertie sah das alles ein, den Mangel an Langeweile und auch die Gefahr für die Kinder, und ging auf ein anderes Thema über.

Bob und Gertie standen aber bald auf, um nun doch ein wenig Diabolo zu spielen. Sie verließen die schattige Allee und begaben sich nach dem großen, freien Spielplatz in der Mitte des Parkes, der mit feinem, weißem Sand bestreut und ringsum von Bänken umgeben war. Da tollte die Jugend des ganzen Villenvororts herum, saßen die Kinderfrauen und Ammen mit ihren Babies, strickten und stickten Mütter, um von Zeit zu Zeit aufzublicken und warnend zu rufen: »Erhitz' dich doch nicht so, Elsie!« Da wurden zwischen Knaben Schlachten ausgekämpft, kicherten Backfische mit langen Zöpfen, wenn hinter ihnen Gymnasiasten aus den oberen Klassen einhergingen und es an anzüglichen Bewerbungen nicht fehlen ließen; zwischendurch flogen die Gummibälle und Diabolos hoch in die blaue, von der Sonne durchflimmerte Luft.

Auch Gertie und Bob schleuderten ihre Spulen himmelaufwärts, und bald hatte sich um sie ein Kreis von bewundernden Zuschauern gebildet. Die Kinder wetteiferten an Anmut und Geschicklichkeit miteinander. Flog Gerties Spule so hoch empor, daß sie nur mehr wie ein Punkt aussah, so schleuderte Bob die seine noch um ein gutes Stück höher, um gleich darauf wieder von seiner kleinen Freundin übertroffen zu werden. Und es war ein reines, ungemischtes Vergnügen, zu sehen, wie sich die schlanken Körper der beiden hoben und senkten, drehten und beugten, wie ihnen die Locken um die im Eifer des Spieles erglühenden Wangen flogen und wie sie neidlos einander lobten und ermunterten. Auch der außerordentlich gefürchtete einbeinige Parkwächter in seiner verschlissenen Veteranenuniform konnte sich von dem Anblick nicht trennen, so daß hinter seinem Rücken ungezogene Rangen in aller Seelenruhe die Blumenbeete plündern konnten. Und als er schmunzelnd erklärte: »Das ist das hübscheste Pärchen, das ich seit vierzig Jahren in dem Park gesehen habe«, da nickte man ihm von allen Seiten beistimmend zu.


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