Hugo Bettauer
Bobbie oder die Liebe eines Knaben
Hugo Bettauer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XVIII. Kapitel

Blumenstraße 12

Bob wartete eine Minute, dann schlenderte er mit seinem Begleiter, der wieder die Nase auf den Boden hielt, an der Stelle, an der der Mann verschwunden war, vorbei. Er hatte sich überzeugt, daß die Straße Blumenstraße hieß, und über dem Gittertor war die Hausnummer 12 angebracht. Die Blumenstraße ist voll der herrlichsten, oft palastähnlichen Villen, von denen jede mit einem großen, gepflegten Garten umgeben ist. Bob erinnerte sich, daß er einmal mit seinen Eltern in dieser Straße einen Besuch gemacht hatte und daß die Familie, zu der sie geladen waren, zu den reichsten des ganzen Landes gehörte. Ein schloßartiges Gebäude grenzte an das andere, jedes lag tief in seinem Garten und jeder Garten war von mannshohen Gittern mit spießartigen Spitzen umgeben. Nur gerade gegenüber dem Hause Nr. 12 befand sich noch ein leerer, von Holzplanken eingezäunter Bauplatz, an dem eine Tafel mit der Inschrift stand:

Dieses Grundstück ist zu verkaufen.
Nähere Auskunft im Geschäft,
Gartenstraße Nr. 8.

Bob hatte das Empfinden, daß sein Verweilen vor dem Hause in dieser stillen, menschenleeren Straße auffallen könnte und trotz des Einspruches Trolls, der hinüber zum Hause Nr. 12 strebte, ging er bis zum Ende der Holzplanke und zurück. Troll wurde wieder losgelassen, ein Wink und gehorsam sprang der Hund über die Planken und im Nu hatte sich Bob ebenfalls hinübergeschwungen, um nun jenseits der Planken zwischen verdorrten Grasbüscheln, leeren Flaschen, Tiegeln und Konservenbüchsen zu landen. Einige Schritte weiter aufwärts klafften die Bretter ordentlich auseinander, und der Knabe konnte nun in aller Ruhe durch die Lücke das Haus Nr. 12 in der Blumenstraße betrachten. Ohne viel von der Kunst der modernen Architektur zu verstehen, war er doch durch die gediegene Pracht der Villa überrascht. Sie war ganz aus getöntem Sandstein erbaut, ohne Ornamentik, ohne Erker und Balkons, aber in der Linienführung von köstlicher Harmonie und edler Einfachheit. Außer dem hohen Erdgeschoß besaß sie nur noch ein Stockwerk und alle Fenster, die trotz der Hitze geschlossen waren, fielen durch ihre Höhe, aber auch durch ihre Schmalheit auf. Die Umrahmung der Fenster bestand aus schwer vergoldeter Bronze und bildete den einzigen Schmuck des Hauses, das in der Front ziemlich schmal war, aber ersichtlich tief ging. Eine steinerne Freitreppe führte an der Vorderseite auf eine Terrasse, von der eine große, oben abgerundete Holztür mit reichem Kupferbeschlag den Eingang in das Innere des Hauses bildete. Von der Straße aus links, unterhalb und neben der Treppe, befand sich ein anderes mächtiges Portal, über dessen Bestimmung Bob nicht im unklaren war. Hinter diesem Portal befand sich ein Automobilschuppen, und Bob, der ähnliche Einrichtungen oft gesehen hatte, war überzeugt davon, daß man vom Inneren des Hauses aus ebenfalls die Garage betreten konnte. Reiche und vornehme Leute lieben das so, weil sie dann vom Volke ungesehen in ihr Auto steigen können.

Bob wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn und beschattete die von der Sonnenglut und dem angestrengten Starren schmerzenden Augen. War es möglich, daß in diesem vornehmen, nach Ruhe und Frieden aussehenden Hause Gertie gefangen gehalten wurde? »Nein«, sagte er sich, indem er versuchte, die Gedanken zu ordnen und aneinanderzureihen. »Nein« – eigentlich war das so gut wie ausgeschlossen; denn Millionäre rauben nicht kleine Kinder! Sollte Troll geirrt, sollte er falsche Witterung genommen haben?

Es mußte wohl so sein. Aber Bob schrie jetzt leise auf. Die Kette der Ereignisse, die er fast vergessen hatte, fiel ihm wieder ein. Troll hatte ja nicht dieses Haus gefunden, sondern war der Spur eines Mannes gefolgt, eines großen, entsetzlich häßlichen Mannes, dessen Gesicht er eben noch gesehen und – erkannt hatte! Woher aber kannte er es, wo war ihm dieser Mann mit dem bräunlichgelben Teint, mit den Blatternnarben, mit der leeren Augenhöhle schon begegnet? Wo, wo? Er hatte ihn schon gesehen, ganz sicher, er kannte dieses Gesicht, aber woher?

Der Knabe preßte den schmerzenden Kopf an die Bretterwand und dachte mit geschlossenen Augen nach. Und wieder löste sich ein Aufschrei von seinen trockenen Lippen, und mit einem Male war es ihm klar, daß er den Mann, der ein Negermischling sein mochte, im Traume gesehen hatte. Ja, in einer der Nächte nach dem Verschwinden Gerties war ihm das häßliche Gesicht erschienen – ganz deutlich sah er das Traumbild vor sich. Aber Bob war ein kluger Junge, der nie an Ammenmärchen, nie an den schwarzen Mann und an Geister geglaubt hatte, und so sagte er sich, daß er den Mann, der ihm im Traum erschienen war, unbedingt vorher einmal im Leben gesehen haben mußte. Und schon hatte er die tatsächliche Wirklichkeit erfaßt! Ja, damals, wenige Minuten, bevor er mit Gertie zum letztenmal heimwärts gegangen war, damals auf dem Spielplatz, als sie Diabolo gespielt hatten, hatte ja plötzlich dieser häßliche Mensch dicht vor Gertie gestanden und hatte sie aus seinem blutunterlaufenen Auge so durchdringend angestiert, daß sie erschrocken war. Und Gertie, das liebe, gute Mädchen, das niemandem auch nur in Gedanken etwas zuleide tun konnte, hatte den abscheulichen Kerl auch noch bemitleidet und Worte des Bedauerns über Menschen gesprochen, die von Natur aus häßlich sind!

War das nur Zufall, ein grotesker, alberner Zufall, daß Troll gerade hinter diesem Manne, der vielleicht der letzte Mensch gewesen, den Gertie vor ihrem Verschwinden gesehen hatte, hergelaufen war? Der Mulatte, der sich vor Gertie hingepflanzt, der Traum, die beharrliche Witterung Trolls, das große, geheimnisvolle Haus mit den verschlossenen Fenstern, hinter denen der Mann verschwunden war – nein, das alles konnte kein Zufall sein! Wie eine Erleuchtung, wie ein sicheres, helles Erkennen kam es über Bob.

Dieses Haus mußte das Geheimnis Gerties bergen. Was nun? Bob sah auf seine Taschenuhr. Himmel! Fast ein Uhr war es geworden! Rasch nach Hause, sonst würde er zu spät zu Tisch kommen, und sein Vater, der besonders in diesem Punkte keinen Spaß kannte, wäre imstande, ihn schon morgen mit Eduard aufs Land zu schicken!

Flink über die Planken. Troll beim Halsbande packend, weil der Hund winselnd wieder zum Hause Nr. 12 strebte, ging es mit ein paar Sätzen zur großen Allee; richtig, da kam ein Autobus, und so gelang es, gerade als die Suppe aus der Küche ins Speisezimmer getragen wurde, zu Hause zu sein. Und diesmal fielen den Eltern nicht einmal die Verstörtheit Bobs, die Schweißtropfen in seinen Stirnlocken auf, da Herr Holgerman eben mit seiner Frau den Plan zur Errichtung einer neuen Fabriksanlage besprach.

Bob zählte nach Tisch genau seine Barschaft nach. Er besaß, da ja Frau Krikl den ganzen Preis für Troll bezahlt hatte und ihm so der von seinem Vater bewilligte Kaufschilling verblieben war, noch eine beträchtliche Geldsumme, und er beschloß, in kluger Erkenntnis, daß es nun galt, alle Kräfte zu sparen und zu schonen, mit einer Autodroschke in die Nähe der Blumenstraße zu fahren. So konnte er Troll mitnehmen, der sonst wieder in der zunehmenden Nachmittagshitze hinter dem Autobus hätte herlaufen müssen. Troll war über die Fahrt im offenen Auto ersichtlich vergnügt, wurde aber, als sie ganz nahe der Blumenstraße angelangt waren, unruhig, blähte die Nasenflügel, schnupperte, kurzum, er nahm wieder die Witterung auf.

Bob hatte dem Chauffeur als Ziel das Haus Nr. 4 der Gartenstraße angegeben. Die Tafel auf dem Bauplatz gegenüber dem geheimnisvollen Haus in der Blumenstraße besagte, daß im Geschäft Gartenstraße 8 nähere Auskunft wegen der Verkaufsbedingungen erteilt würde; bis genau vor dieses Geschäft wollte Bob nicht fahren, da der kleine Detektiv ganz richtig die Kunst des Nichtauffallens als wichtigste aller Detektivkünste erkannt hatte, und so hielt denn das Auto zwei Häuser vor dem Geschäft.

Es erwies sich, daß die Gartenstraße in gleicher Richtung mit der Blumenstraße lief und von dieser nur durch einen Häuserblock getrennt war. Während sich in der Blumenstraße und in allen Nebenstraßen nur Villen und ganz vereinzelt auch villenähnliche Miethäuser befanden, machte die Gartenstraße einen weitaus weniger vornehmen Eindruck; sie wurde ausschließlich von hohen Miethäusern gebildet, die fast alle irgendwelche Geschäfte im Erdgeschoß beherbergten. Das Geschäft im Hause Nr. 8 war eine Konditorei, in der auch Kaffee und Tee ausgeschenkt wurden. Vorne diente das auf die Straße mündende Lokal nur zum Verkauf von Backwaren aller Art, hinter dem Verkaufsraum aber lag nach rückwärts ein mittelgroßes Zimmer mit mehreren Tischen – einem idealen Treffpunkt für Liebespaare. Bob freute sich jedenfalls, daß dieses Geschäft Süßigkeiten und nicht etwa Terpentin und Benzin führte; Troll schloß sich ganz seiner Meinung an, und beide verzehrten mit Behagen etliche Apfelkuchen und Schlagsahne.

Der schöne Junge mit den braunen Locken um das feine, mädchenhaft zarte Gesicht und der prachtvolle Hund – beide hatten die Aufmerksamkeit der Ladenbesitzerin und des bedienenden Mädchens erregt, die denn auch immer wieder in dem Zimmer auftauchten, bald, um Kuchen zu bringen, dann, um abzuräumen, um ein Glas Wasser hinzustellen, um den Hund zu streicheln, um mit den Schürzen die Kuchenkrümmel vom Tische zu kehren, kurzum, um die unbekannten Gäste gründlich zu beschnuppern. Schließlich blieb die rundliche Frau stehen, um abermals den Hund hinter den Ohren zu krauen, und sagte dabei:

»Der junge Herr ist sicher nicht aus der Gegend hier, sonst hätte ich Sie schon einmal vorher gesehen.«

Hocherfreut über diese Ansprache erwiderte Bob:

»Nein, bin zum erstenmal hier. Papa hat gehört, daß hier Auskunft über ein Grundstück in der Blumenstraße gegeben wird, und hat mich hergeschickt.«

Die Frau, sie hieß Angerlein, schmolz vor Wonne, rückte einen Stuhl zu Bob heran und rief zur Verkäuferin, die ihre Nichte war:

»Mary, bring' mal die Papiere vom Hause Nr. 8 in der Blumenstraße!« und zu Bob: »Gleich hab' ich mir's gedacht, daß Sie nicht aus der Gegend hier sind, junger Herr, denn unsereins kennt ja alle Leute, die hier wohnen. Bin schon fünfundzwanzig Jahre am Platz und hab' hier schon mein Geschäft gehabt, als es nur wenige Häuser in der Gegend gab.«

Bob gab sich kühl, gleichgültig, überlegen. Er nahm Einsicht in den Plan des Grundstückes, den Mary gebracht hatte und der mit Ziffern bedeckt war, studierte ihn scheinbar genau und sagte dann:

»Gute Frau, in dem Hause gegenüber wohnt wohl Herr Ludwig Miller mit seiner Frau und den Kindern, nicht wahr? Papa glaubt, daß er ihn kennt.«

»Nein, junger Herr, keine Spur von einem Herrn Miller mit Frau und Kindern. In dem Hause gegenüber, das die Nummer 12 hat, wohnt ganz allein für sich der Doktor Frederic Morton. Hat keine Frau und keine Kinder, sondern nur einen häßlichen Mulatten als Diener und dessen auch nicht viel schönere Schwester als Wirtschafterin.«

»So,« meinte Bob scheinbar gleichgültig, während seine Pulse klopften, »ist wohl ein Arzt, dieser Doktor Morton?«

»Nein, ist er nicht, wenigstens praktiziert er nicht. Sum und Sarah, die bei ihm sind, sagen, er sei ein großer Gelehrter, der seine Studien hier macht. Mehr ist aus ihnen nicht herauszukriegen! Wenn man sie ausfragen will, so werden sie grob und frech. Aber reich muß er sein, der Doktor Morton, er hat ein wundervolles Automobil.«

»Einen Benz mit achtzig Pferdekräften,« fiel Mary ein, die ununterbrochen bewundernd den schönen Knaben anstarrte.

»Ah, ja,« sagte Bob, »hab' ja vorhin einen großen, weißen, offenen Wagen stehen gesehen.«

»War nicht der von Doktor Morton, junger Herr; sein Wagen ist geschlossen und dunkelblau.«

Bob lehnte sich in den Stuhl zurück, beobachtete scheinbar den Hund, der sich mit hündischer Inbrunst gerade kratzte, und sagte dann leichthin:

»So ein alter Sonderling, dieser Doktor Morton, wie man ihn von Dickens her kennt?«

»Nein,« sagte Frau Angerlein, die nicht wußte, ob Dickens ein Ort oder eine Torte sei, und half dem Hunde beim Kratzen, »alter Sonderling kann man eigentlich nicht sagen. Hat noch ein sehr gutes Aussehen, kann kaum viel über fünfzig sein und genießt auch sein Leben, kommt gewöhnlich erst spät nachts heim. So um fünf Uhr herum fährt er immer mit dem Auto fort, wohl nach dem Klub.«

Mary, ein recht hübsches, munteres Mädel, war anderer Ansicht. »Tante, das mit den Fünfzig glaube ich nicht. Einmal, vor ein paar Wochen, hab' ich ihn gesehen, wie er sich aus dem Fenster des Autos herausbeugte, da sah er wie ein richtiger Mummelgreis aus. Und das Stubenmädchen von Nr. 14 in der Blumenstraße hat mir auch einmal gesagt: ›Der Doktor Morton,‹ hat sie gesagt, ›bei dem kennt man sich gar nicht aus. Einmal könnte man ihn für vierzig oder noch jünger halten, und dann wieder gibt es Tage, wo er wie ein Siebziger aussieht. Wahrscheinlich schluckt er Arsen oder so etwas, was jugendlich macht.‹«

»Na,« meinte Bob, »wozu braucht denn der Doktor Morton ein so großes Haus für sich allein? Wann hat er es denn gekauft? Gibt wohl große Gesellschaften?«

Frau Angerlein und Mary schüttelten die Köpfe und begannen lebhaft zu sprechen. »Eigens für sich hat er den Kasten vor fünf Jahren bauen lassen. Und kein hiesiger Architekt hat ihn gebaut, sondern einer aus Frankreich, den er sich kommen ließ. Von Gesellschaft keine Spur! Kein fremder Mensch betritt die Villa, immer sind die Fenster dunkel, und wenn aus der Nachbarschaft jemand einmal neugierig war und sich gerne die Einrichtung ansehen wollte, dann haben ihn der Sam und die Sarah angefaucht wie Wildkatzen.«

Indessen war mehrmals die Ladentüre auf und zugegangen; das Hinterzimmer betrat jetzt ein Student mit einem holden Backfisch, die gar nicht erbaut darüber zu sein schienen, hier die Wirtin, einen Knaben und einen Hund zu finden, und da es auch schon auf halb fünf ging, zahlte Bob seine Zeche und ging, von den wohlwollenden Abschiedsgrüßen der Frau Angerlein und ihrer Nichte begleitet, die es sich nicht nehmen ließ, Troll noch einmal eine Makrone als Geschenk zu überreichen. Troll aber sah als wohlerzogener Hund erst seinen jungen Herrn fragend an und steckte den Leckerbissen nicht ins Maul, bevor Bob nicht sein zustimmendes »Nimm!« geäußert hatte.

Bob schlenderte langsam durch die Blumenstraße und mußte Troll strenge zu sich rufen, da der Hund sich vom Gitter des Hauses Nr. 12 nicht entfernen wollte. Troll folgte schließlich, sah ihn aber verwundert und verärgert an, als wollte er sagen: »Du zwingst mich, tagelang an einem Strumpf zu riechen, rennst mit mir in der Hitze umher, so daß meine Hundeseele stöhnt, und endlich, wo ich die Geruchsquelle entdeckt habe, darf ich ihr nicht nachjagen! Was sind das für Ungereimtheiten?«

Dem Knaben wirbelten die Gedanken im Kopfe herum. Was für Geheimnisse barg dieses verschlossene Haus? Wer war Doktor Morton? Was konnte er von einem armen, kleinen Mädchen wollen? Befand sich Gertie lebend in der Villa des Mannes, der nie jemanden bei sich empfing und einmal alt und dann wieder jung aussah? Oder – aber das mochte er gar nicht ausdenken. Und was sollte nun geschehen? Wieder zur Polizei rennen und dem Herrn Crispin von Erlebnissen erzählen, die eigentlich gar keine Erlebnisse waren? Herr Crispin würde ihn diesmal auslachen und seinen Vater anrufen. Und dann würde sein Vater furchtbar böse werden und ihn sofort aufs Land schicken und jedenfalls dafür sorgen, daß sein Junge nicht mehr die Straße betrat. Nein, er mußte allein, nur mit Hilfe Trolls, der Spur nachjagen, mußte allein das Geheimnis des Doktor Morton und seines Hauses ergründen!


 << zurück weiter >>