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Ebeth

An einem Herbsttag, als die Ahornblätter in der Sonne wie Kupfer waren, sah ich Ebeth das erstemal. Es war in einem Vergnügungsgarten vor den Toren der Stadt. Sie fuhr mit einer Freundin auf einem von Glasbehängen überglitzerten Karussell, zu dem eine Drehorgel spielte, in den Akkorden der Melancholie. Die Mädchen aßen Schokolade, sie saßen lachend quer über glotzäugigen Holzpferden da, und an Ebeth floß ein weißes, welliges Kleid herunter. Sie wiegte sich sacht in den Hüften, zur Melodie des klagenden Walzers. Wie hell und lustig war ihr Lachen, wie weich war dieses Wiegen der Hüften, wie wallte das Kleid an ihren schlanken Gliedern hin! Nachher tanzten wir. Ich fühlte sie kaum beim Tanz, sie tanzte nicht hüpfend, sondern schwebend, und man hatte das Empfinden, daß sie einem zwischen den Armen zerrinnen könne wie ein Gebilde aus Nebel.

Als Ebeth das erstemal zu mir kam, hatte sie weiße Schuhe an den Füßen, und unter dem Kinn trug sie eine blaue Schleife aus Seide, – aber das Blau ihrer Augen war seidiger, zarter und schimmernder. Wie sie die Arme um mich warf! Mir war, ich sollte in einer Wolke duftender Rosen untergehen. Wie sie dann sprach, gleich einem zwitschernden Vogel, der Lieder singt, von denen er nichts weiß. Ihre Lippen waren rot wie Blutstropfen und hatten einen sanften rhythmischen Schwung. Sie waren es besonders, die dem Gesicht jenen schwer zu beschreibenden Reiz verliehen, dem man nicht widerstehen konnte.

Ebeth! Wenn ich an das Jahr zurückdenke, das wir zusammen durchlebten, so ist mir, ich sähe in einen Sommergarten mit unzähligen Blüten und Düften und mit Sonne, in der die Flügel schillernder Schmetterlinge gaukeln. Wenn ich an Dich denke, so ist mir, als höre ich den warmen Sommerwind leise wehend über die Felder treiben, die rot sind von wucherndem Mohn, und ich vernehme das geheimnisvolle Schlürfen kleiner, lange vergangener Schritte.

Wenn Ebeth kam, war Jugend, Glück und Licht in meinem Zimmer. Bis in die Stunden des Nachmittags arbeitete sie in einem Bureau. Dann kam sie. Meist brachte sie Blumen mit, zumal gelbe Rosen, die sie abgöttisch liebte. In gewissen übermütigen Launen war sie fähig, ihr ganzes Vermögen für diese Blüten hinzugeben. Sie hatte gar keinen Begriff von der Bedeutung des Geldes. Was sie hatte, gab sie ohne Bedenken aus, auch für Fremde und selbst auf die Gefahr hin, daß sie selber dadurch in Verlegenheit kam. Zu Hause hatte sie Berge von Schokolade liegen, die sie an Kinder zu verteilen pflegte. Ihr Herz litt es nicht, daß ein armer Blinder oder Lahmer an ihr vorüberging, ohne daß sie ihm eine Gabe zusteckte.

Geradezu eine Leidenschaft aber waren die Käufe in den Blumenläden. Sie war unverbesserlich darin, und alles Ermahnen blieb fruchtlos. Wenn ich ihr Vorstellungen über ihren Leichtsinn machte, stand sie mit ihrem Kindergesicht da, sah mich schweigend an, und wenn ich geendet hatte, wußte ich, daß alles an ihr vorübergerauscht war wie an einer Wand. Einmal, es war im Februar, schleppte sie ein Rosenbukett von der Größe eines Wagenrades ins Haus. Sie sei so glücklich, sagte sie, sie möchte am liebsten allen Menschen etwas Freundliches sagen, denn die Sonne sei so goldig um alles draußen, und man merke deutlich, daß der Frühling in Kürze kommen müsse. Da habe sie sich nicht bezwingen können, sie habe den wundervollen Strauß, der ihr aus dem Schaufenster so verlockend entgegengelacht habe, ohne Besinnen gekauft. Sie rankte sich an mir auf wie eine Rebe und wühlte in meinem Haar. Als sie sich beruhigt hatte, sagte ich ihr wieder, wie lieb, aber wie unvernünftig sie sei. Meine Rede wurde sehr inständig, und als ich am Schlusse sicher glaubte, diesmal Eindruck auf sie gemacht zu haben, sprach sie kein Wort, sondern nahm nur meinen Kopf in beide Hände und lachte.

So war Ebeth.

Ganz aus dem Häuschen geriet sie, wenn sie schöne Kinder zu Gesicht bekam. Hier fand ihre Zärtlichkeit keine Grenzen, und nicht selten machte sie auf der Straße halt, um sich in den reizendsten Liebkosungen zu ergehen, wenn sie einem solchen anmutigen Wesen begegnete. Sie verstand es, so vertraut mit Kindern zu verkehren, als hätte sie nie in ihrem Leben etwas anderes getan. Sie hat mir auch oft gestanden, daß es ihr sehnlichstes Wünschen sei, solch ein Geschöpfchen ihr eigen zu nennen, und ich weiß, daß ihr nicht selten vor stillem Neid die Tränen nahe waren, wenn sie eine junge Mutter mit ihrem Kinde an sich vorübergehen sah.

Für gewöhnlich freilich erinnerte sie nicht an eine Mutter. Sie war vielmehr wie ein Kind: unbedacht in allem, was sie tat, immer nur dem Andrang des Gefühls nachgebend und unfähig, über den Tag hinaus zu denken, an dem sie lebte. Sie war von einer Offenherzigkeit, die erstaunlich war; von einer Ehrlichkeit im Gebrauch der Worte, die ich bewunderte. Nie hat sie mich belogen, nie ein Gefühl geheuchelt, das sie nicht hatte, nie hat sie mir etwas verborgen, was in ihr vorging. Wenn wir zusammen durch die Stadt gingen und einem Manne begegneten, dessen Gesicht ihr gefiel, sagte sie einfach, wenn er vorüber war: »Der war schön, findest Du nicht?« Sie sagte es in einer Weise, daß es mich nicht verletzen konnte. Freilich, ich war immer erstaunt, so oft sie es sagte. Ich verstand ihren Geschmack nicht. Die Gesichter, die ihr gefielen, auch die weiblichen, hatten immer etwas Stumpfes, Geistloses, und zuweilen fand ich sie von einer bedenklichen sinnlichen Roheit, so daß ich mich nicht enthalten konnte, Ebeth gelegentlich zu fragen: »Sehe ich denn auch so aus?« »Nein,« sagte sie und schmiegte sich an mich, »das ist ja gerade das Gute, das Du nicht so aussiehst.«

Sie kleidete sich immer nett, sauber und geschmackvoll, meist in heiteren Farben. Sie bevorzugte weiß und blau. Einmal, im Frühling, hatte sie sich einen kostbaren großkrempigen Hut in diesen Farben hergestellt, der lange mein Entzücken war. Unter diesem Hute sah sie aus, als wäre sie ein verirrtes Prinzeßchen aus dem Märchenland. Ich fühlte, daß die Leute aus der Straße still standen und ihr nachsahen, wenn sie plaudernd an meinem Arme hing.

Ihr Körper war so geschmeidig und wohlgeformt, daß die Kleider immer als etwas Herabrieselndes bei ihr erschienen. Als bade sie sich in den dünnen, gleitenden Wellen dieser Stoffe, welche die schwebende Leichtigkeit ihres Ganges und den Liebreiz ihrer Bewegungen nur wenig behinderten.

Wenn wir ausgingen, gab es etwas, was wir aufs peinlichste vermeiden mußten: nämlich einem Fuhrwerk zu begegnen, dessen Kutscher auf die Pferde einhieb. Wenn Ebeth sah, daß man ein Tier quälte, geriet sie in eine heftige nervöse Aufregung, daß sie kaum mehr zu besänftigen war. Ich habe eine ganze Reihe von Szenen mit ihr durchgemacht, wo sie Fuhrleute zitternd mit den liebevollsten Worten zu bewegen suchte, von dem Aufpeitschen auf die Pferde abzulassen, und sie konnte so rührend bitten, daß ihr Bemühen zuweilen von Erfolg gekrönt war. Brutalere Burschen suchte sie durch Geld zu bestechen, und wenn alles nichts fruchten wollte, die rohen Gemüter zu erweichen, so hatte sie in der schmerzlichen, zuweilen wahnsinnig gesteigerten Erregung, in der sie nichts mehr von sich selber wußte, Worte der Beleidigung für jene Gesellen bereit, die, wenn sie ihr gerichtlich zur Last gelegt worden wären, was natürlich nie geschah, ihr obendrein noch ärgerliche Strafen zugezogen hätten.

Das Ende solcher Szenen war immer, daß Ebeth körperlich auf das Jammervollste ermattet war, quälende Atemnot bekam und mitunter noch stundenlang nachher von Schüttelfrösten heimgesucht wurde. Sie sah dann bleich aus wie eine Wand, und ich ängstigte mich um sie, denn ich wußte, daß ihre Gesundheit nur zart und besonders das Herz nicht in Ordnung war. Darum gab ich mir alle Mühe, sie vor jenen Erregungen zu bewahren. Ich lag auf der Straße eigentlich immer auf der Lauer. Sobald ich bemerkte, daß man irgendwo in der Ferne auf ein Pferd einschlug, machte ich unter irgendeinem Vorwand kehrt oder bog mit ihr in die nächste Seitenstraße ein. In den meisten Fällen freilich hatte sie die Quälerei schon eher als ich bemerkt, denn ihr Instinkt war nach dieser Richtung erstaunlich entwickelt.

Ebeths Kränklichkeiten machten mir Sorge. Ich wußte, sie tanzte zuviel. Aber sie tanzte so leidenschaftlich gern, daß es unmöglich war, es ihr ganz zu verbieten. Es war ihr fast notwendig wie Brot und Atmen. Ich wehrte so viel es ging. Nicht selten hörte sie auch auf mich. Einmal aber übernahm sie sich so, daß sie gezwungen wurde, das geliebte Vergnügen auf lange hinaus ganz zu meiden.

Es war ein Frühlingsabend, lau, müde machend und verworrene Wünsche bringend, die man nicht zu nennen weiß. Wir saßen, es war ein Sonntag, mit einer kleinen Gesellschaft Bekannter im Tanzsaal eines Vergnügungsgartens, nachdem wir nachmittags in den Wäldern gewesen waren. Ebeth sprudelte über von Laune und Lustigkeit. Aber sie sah blasser aus als sonst. Unter ihren viel zu glänzenden Augen lagen dunkle Schatten. Sie hatte ein paar gelbe Rosen auf der Brust, zu denen sie sich öfter niederneigte, um den Duft einzusaugen. Sie tanzte unbändig und trällerte obendrein die Melodien mit. Ich bat sie, sich mehr zu schonen, aber sie lachte nur. Ich sah sie hinschweben durch die Reihen der Tanzenden, verlor mich in die heitere Grazie ihrer Bewegungen und dachte: Kind. Da sah ich, wie sie erschlaffte, taumelte und umfiel. Ich sprang auf, eilte hinüber, nahm sie auf den Arm und trug sie in ein Nebenzimmer. Sie war bewußtlos und bleich wie der Tod. Ihr Atem röchelte. Ich knöpfte ihr die Brust auf und besprengte sie mit kaltem Wasser. Allmählich kam sie wieder zu sich. Als sie die Augen aufschlug, sah sie mich groß an und erkannte mich.

»... zuviel getanzt ...«, murmelte sie und schloß die Augen wieder.

»Ja«, sagte ich.

»... nicht böse sein ...«, flüsterte sie, lächelte und griff nach meiner Hand.

Wie hätte man ihr böse sein können? –

Zuweilen gingen wir ins Theater. Auch Konzerte besuchten wir, und hier bewies sie ein auffallend feines Verständnis. Die Musik wirkte am nachdrücklichsten auf sie. Es konnte geschehen, daß sie nach einem Konzert, von dem sie besonders heftig bewegt worden war, noch im Traum die Melodien zu singen versuchte, die sie am Abend gehört hatte. Wir sangen auch allerlei Lieder in den Wäldern. Denn wir gingen viel in die dunkeln, leise rauschenden Kiefern, die sich um die Stadt hinziehen. Wir ließen uns auf dem hohen Ufer des Flusses nieder, wo die wilden Enten fliegen, sahen über den Fluß in die Ebene, ließen unsere Augen den großen Kähnen folgen, die langsam stromabwärts trieben, und Ebeths Hand ruhte auf meiner Schulter. Traumhafte Stunden des Sonnenunterganges, wo seid ihr?

Es war an einem Regentage im Herbst. Wir waren in meinem Zimmer, Ebeth lag müde und blaß auf dem Diwan, und der Regen sickerte sanft an das Fenster, in eintöniger Melodie. Ich saß neben ihr, wir schwiegen beide, plötzlich schlang sie die Arme um mich, zog mich an sich und drückte meinen Kopf unsinnig heftig an die Brust. Ich sagte nichts. Allmählich wurde sie ruhiger. Dann nahm sie auf einmal meine Hand, biß mit aller Kraft hinein, daß das Blut kam, und wollte sich totlachen. Die Narbe dieser Wunde ist eine der wenigen Erinnerungen an Ebeth, die ich habe.

Einige Tage später war ein Sonnentag; dennoch sieht dieser Tag grau aus in meiner Erinnerung.

Sie kam des Nachmittags, Blumen in der Hand, und war wie immer. Nur etwas hutsamer schien sie und ein klein wenig ernster als sonst. Wir tranken Kaffee, plauderten, und Ebeth nähte etwas. Als dann das rötliche Licht der Abendsonne in den Gardinen hing, setzten wir uns ans Fenster und sahen den feinen, schnell dunkelnden Wolken über den Dächern zu. Ebeths Augen blickten schimmernd in die Ferne. Als ich genau in sie hineinsah, fand ich, daß etwas darin war, was ich noch nicht kannte. Wir schwiegen. Ein paarmal war mir, als wolle sie etwas sagen. Endlich sprach sie, ohne mich anzusehen, während sie ein Haar von mir zwischen die Zähne nahm:

»Weißt Du, daß wir uns trennen werden?«

Ich fühlte einen Stich in der Brust, bezwang mich jedoch und fragte:

»Wie meinst Du das?«

»Frage nicht,« sagte sie, »bist Du mir böse?«

»Nein,« sagte ich, »Du darfst doch tun, was Du willst.«

Wir waren wieder still. Die Zeit rann, als habe sie bleierne Gewichte an den Füßen. Endlich sagte Ebeth:

»Ich werde Dir öfter schreiben, – darf ich?«

»Gewiß,« sagte ich und lächelte, »ich werde es immer gern sehen.«

»Du bist gut,« sagte sie. Und dann:

»Komm, wir wollen in den Stadtpark gehen. Die Abendstunde ist so schön unter den Bäumen.«

Ich nickte. Sie stand auf. Ich half ihr in das Jackett. Sie setzte den Hut auf, ich band ihr den Schleier fest.

Dann gingen wir in den Park, und sie hing an meinem Arme wie sonst. Sie plauderte vom Meer, wo ich im Sommer einige Tage mit ihr gewesen war, und ich merkte, wie sie sich Mühe gab, ungezwungen und heiter zu sein. Die gleiche Mühe gab auch ich mir. So unterhielten wir uns recht gut, lachten sogar, und die Leute, die uns sahen, mußten meinen, daß wir ein jungverliebtes Pärchen seien.

Wir traten in ein Kaffeehaus und tranken etwas. Mitunter mußte ich Ebeth ansehen, verwirrt, staunend und gewillt, mir jeden Zug ihres Wesens deutlich einzuprägen. Als wir das Kaffee verließen, brannten draußen die Laternen schon.

»Jetzt gehe ich«, sagte sie, sah an mir vorüber und reichte mir die Hand.

»Leb wohl, Ebeth,« sagte ich.

Sie wollte noch irgend etwas sprechen, aber ich wandte mich und ging.

Der Lärm der Menschen quoll um mich her. Der Himmel war ganz dunkel geworden. Ich schlenderte langsam durch die Straßen, dösig und beklommen. Als ich nachher in mein Zimmer trat, setzte ich mich einsam in die Dunkelheit, in der noch der feine Duft ihrer Kleider war.

Hin und wieder kamen Kartengrüße. Grüße in der feinen, langgezogenen Kinderhandschrift mit den kapriziösen Schnörkeln. Dann blieben auch die aus, und ich hörte nichts mehr von ihr. Mein Leben lief weiter, auch ohne sie, aber ich gedachte ihrer oft, ihrer schwebenden Füße, ihres Leichtsinns, ihres Lachens. An einem Wintertag, um Weihnachten, als weiße Flocken vom Himmel trieben, sah ich sie unvermutet wieder. Sie sah schlecht aus, sehr blaß, müde und ein wenig verwahrlost, was mich am meisten wunder nahm. Als ich den Burschen sah, an dessen Arm sie hing, erschrak ich. Es war, wie ich befürchtet hatte, eins jener stumpfen, dabei stark sinnlichen und rohen Gesichter, an denen sie zu meinem Unwillen schon früher Geschmack gefunden hatte. Diesen Menschen also liebte sie?

Wieder sah ich sie lange nicht. Mir war immer, als ob sie mir eines Tages schreiben müßte, einen armen, elenden Brief, und es gab Stunden, in denen ich darauf geschworen hätte, daß sie mir einen Brief von Ebeth bringen müßten, – aber ich irrte mich.

Dann freilich kam dennoch ein Brief. Nicht von ihr zwar, sondern von ihrer Vermieterin, aus einem der ärmlichsten Teile der Stadt. Die Person schrieb in kaum zu entziffernden Buchstaben, daß das Fräulein schwer krank liege und öfter von mir spreche. Das Fräulein würde sich gewiß sehr freuen, wenn ich sie einmal besuchen würde. Sie sei sehr hinfällig.

Ich ging hin. Es war eine armselige Kammer, in die ich geführt wurde. Dort lag Ebeth in einer Ecke auf schmutzigem Bett, abgemagert, mit müde flackernden Augen, ein Bild des Jammers. Als sie mich kommen sah, zog ein Schimmer der Freude über ihr Gesicht. Sie streckte mir die Hand entgegen und lächelte, indem sie meinen Namen nannte.

Dann erzählte sie. Der andere hatte sie verlassen, gerade zu der Zeit, als sie sich Mutter werden fühlte, was sie sich immer so innig gewünscht hatte. Gleichzeitig habe sich ihr Herzleiden verschlimmert, wozu wohl besonders die vielen erregten Szenen mit jenem Manne beigetragen hätten, den sie so liebe. Denn sie liebe ihn noch immer unbeschreiblich und werde niemals von dieser Liebe lassen, da er ihr das Teuerste auf der Erde sei. Sie habe ihre Arbeit aufgeben müssen und liege nun hier bei einer herzlosen Frau, die ewig mißgelaunt sei, ihr schlechtes Essen gebe und nur darauf ausgehe, sich an ihr zu bereichern. Jetzt sei sie so weit, daß sie nichts mehr bezahlen könne, und um das kommende Kindchen, daß doch nur neue Kosten verursachen werde, trage sie die größte Sorge. Sie sei von allen verlassen, fühle sich krank wie nie und glaube, daß sie sterben müsse.

Sie weinte.

Ich gab mir Mühe, ihren Mut wieder aufzurichten, machte ihr Vorwürfe, daß sie sich nicht längst an mich gewendet habe und versprach ihr, daß sie aus diesen Verhältnissen herausgenommen und vor allem der sorgfältigen Behandlung eines Arztes unterstellt werden solle. Dann werde alles wieder gut werden.

Ihre Dankbarkeit war rührend. Sie suchte meine Hände zu küssen, was ich verhinderte. Ja, sagte sie, nun hoffe sie auch noch einmal, sie werde bestimmt wieder gesund werden, sie wolle sich dazu zwingen mit allen Kräften, die ihr noch zu Gebote ständen, und wenn es erst erreicht sei, werde sie auch den Andern wiedersehen, und wenn sie wieder hübsch wäre, werde er sie auch wieder lieben. Dieser Gedanke schien der Gipfel aller ihrer Hoffnungen zu sein.

»Kannst Du ihn nicht vergessen?« fragte ich.

»Nein,« erwiderte sie, mit einem seligen Glanz im Auge, »Ich weiß zwar, daß er schlechter ist als irgendeiner und tausendmal schlechter als Du, – aber für mich ist er das Liebste und Schönste in der Welt.«

Ich ließ sie in eine saubere Wohnung schaffen, sie erhielt eine Diakonissin zur Pflege, der Arzt ging täglich zu ihr. Gleich nach seinem ersten Besuch hatte ich eine Unterredung mit ihm, in der er mir mitteilte, daß sie sterben müsse, da das Leiden schon zu weit vorgerückt sei.

Es wurde auch nicht wieder besser mit ihr. Sie wurde zwar zufrieden und in gewisser Hinsicht glücklich, aus Freude an der Reinlichkeit um sich her, an der liebreichen Pflege und meinen täglichen Besuchen. Aber das Bett hat sie nicht mehr verlassen. Sie glaubte selbst noch an Genesung. Doch war von Tag zu Tag zu beobachten, wie ihre Kräfte verfielen.

Eines Tages, als sie sehr verzagt war, eröffnete sie mir mit leise flehender Stimme einen Wunsch, den zu erfüllen mir nicht leicht wurde. Sie bat mich nämlich, zu dem Manne zu gehen, den sie liebte, und ihn zu bitten, daß er noch einmal zu ihr kommen möge, sie könne es vor Sehnsucht nach ihm nicht ertragen. Sie habe auch das untrügliche Gefühl, daß, wenn sie ihn wiedergesehen habe, sie schneller genesen werde.

Ich ging zu ihm. Von seinem Benehmen zu mir, den Gebärden, die er hatte, den Worten, die er in den Mund nahm, erzähle ich nichts. Nachdem ich alle Mühen aufgeboten hatte, versprach der Mann, daß er am nächsten Tage zu einer festgesetzten Stunde zu Ebeth kommen werde.

Ich war zu der betreffenden Zeit bei ihr. Sie ordnete sich mit zitternden Händen das Haar, glühte vor Erwartung und sah ihm entgegen wie eine Braut dem Bräutigam. Als es klingelte, öffnete ich und ließ ihn in Ebeths Zimmer. Ich blieb draußen im Korridor. Ich hörte einen kleinen, erleichterten Aufschrei, als er eintrat. Nach fünf Minuten ungefähr kam er wieder heraus, schritt stumpf an mir vorüber und verließ die Wohnung. Ich ging zu Ebeth hinein. Sie lag mit dem Kopf nach der Wand zu, wie eine Tote. Nie ist mir ein Mensch bejammernswerter erschienen als sie in diesem Augenblick. Ich trat an das Fenster und sah in den Frühsommertag, durch den das freudlose Treiben der Großstadt flutete. Dann hörte ich, wie Ebeth sich bewegte. Ich trat zu ihr, setzte mich neben sie und ergriff ihre Hand. Schüttelfröste wallten über sie hin, während sie das Gesicht in den Kissen verbarg. Als sie ruhiger wurde, merkte ich, wie der Schlaf kam, sie zu umfangen. Ich blieb bei ihr, ihre magere Hand in meiner, bis sie erwachte, als es dunkel war.

Drei Tage später, am Vormittag, wurde ihr Zustand so schlimm, daß man mich holen ließ. Der Arzt war schon da. Er gab mir ein Zeichen, daß es zu Ende gehe. Ich setzte mich zu ihr auf die Bettkante, sah in ihre großen, brennenden Augen, küßte noch einmal die Stirn der Lebenden und ihre Hand. Sie war auffallend unruhig, in einer dunklen Vorahnung des Kommenden. Aus ihren armen hastigen Bewegungen waren tausend letzte Wünsche zu erkennen. Ich fragte, ob ich ihr irgend etwas zuliebe tun könne. Sie schüttelte den Kopf. Ob sie noch irgendeinen Menschen zu sehen wünsche, den sie gern habe, eine Freundin oder einen Freund.

»Nein,« flüsterte sie.

Dann hauchte sie nur noch ein einziges Wort, das ich nicht verstand, während ihre Augen schon geschlossen waren. Zwei Stunden später starb sie in meinen Armen, bewußtlos, das Kind unter dem Herzen.

Zweimal im Jahre besuche ich ihr Grab, im Mai und im Herbst. Im Mai höre ich dort die Nachtigall schlagen, im Herbst sehe ich die Blätter von den Linden treiben, sehe die letzte gelbe Rose über Ebeth welken und denke an den fernen Oktobertag, da ich sie zum ersten Male sah, lachend, in weißem Kleid.

Auf ihrem Grabstein steht nur »Ebeth«, mit großen Buchstaben in Gold.

*


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