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Gregor, ein Student der Medizin, war ein hübscher Bursche. Er war schlank gewachsen, hatte eine schöne Stirn, und seine Augen waren groß und klug. Aber der Arme war brustkrank. Man sah es ihm zwar kaum an, nur wenn er hüstelte und seine schlechten Tage hatte, merkte man es.
Seit kurzer Zeit hatte er eine Geliebte mit Namen Mimi, eine kleine Verkäuferin in einem Weißwarengeschäft. Dort hatte er sie das erstemal gesehen, als er sich einige Taschentücher gekauft hatte. Er hatte dabei, während sie ihm die Tücher vorzeigte, besonders ihre Hände bewundert, die schmal und rosig waren und deren Finger sich so auffallend vornehm und ruhig bewegten. Dann hatte er, ganz erstaunt über die schwermütige Schönheit der Hände, in das Gesicht des Mädchens hinaufgeblickt und hatte ein Paar Augen darin gesehen, die noch viel schöner waren: silbergraue Augen, mit einem zärtlichen Glanz und von langen, braunen Wimpern eingefaßt. Gregor starrte so lange in diese Sterne hinein, bis das Mädchen unwillig wurde. Sie fing an mit Nachdruck von den Taschentüchern zu sprechen. Er entschloß sich für irgendwelche, ließ sie sich einpacken und stolperte hinaus.
Er kam bald wieder, sah sich von neuem Taschentücher an und benahm sich diesmal besonnener und gesitteter. Sie war freundlich zu ihm und dachte bei sich: ›Ein hübscher Mensch; nur etwas kränklich sieht er aus; aber eine so schöne Stirn habe ich selten gesehen‹.
Er empfand es wohl, daß sie liebenswürdig war, und bemerkte mit innerem Jubel die Gefälligkeit ihrer Hände. Er ging, nachdem er sich wieder von den Tüchern hatte geben lassen, wie ein Trunkener heim, öffnete zu Haus das Paketchen und befühlte lächelnd den weißen Stoff, den auch ihre Hände berührt hatten.
Als er dann das drittemal kam, fand er schon den Mut zu einem scherzenden Wort. Sie ging darauf ein und dachte wieder: ›Wie hübsch und schlank er ist‹. Zum Schluß reichte er ihr die Hand, und sie zögerte nicht, die ihrige hineinzulegen. Dies war das letztemal, daß er Taschentücher bei ihr gekauft hatte.
Am Abend des folgenden Tages nämlich, um die Stunde, da man die Läden schließt, tat er so, als ginge er zufällig an ihrem Geschäft vorüber, irgendeinem andern Ziele zu. Als sie den Laden verließ, stellte er sich, als sei er ganz erstaunt, plötzlich ihr Gesicht auftauchen zu sehen, grüßte, richtete ein paar Worte an sie, und auf einmal waren sie im Gespräch. Sie gingen zusammen durch die Straßen, plauderten, und wenn ihre Augen sich trafen, erkannte ein jeder von ihnen die sehnsüchtigen Gefühle des andern. So schritten sie durch den sanften Herbstabend und kamen in einen öffentlichen Garten, wo gerade das erste Laub von den Bäumen fiel. Sie fanden eine stille Bank, legten die Arme umeinander und küßten sich. Er griff glücklich in ihr braunes Haar und entzückte sich an der sanften Linie ihrer Schultern.
So hatte der Student Gregor eine Geliebte bekommen, die Mimi hieß.
Sie waren viel zusammen. Er holte sie des Abends vom Geschäft ab, dann gingen sie zu ihm und aßen etwas. Danach nahmen sie sich bei der Hand und wanderten durch die Straßen oder in einen Park, bis sie müde wurden.
So lebten sie dahin, jung und glücklich. Nur die Stunden, in denen er sich elend fühlte, warfen graue Schalten in ihr Dasein. Er suchte zwar diese Zustände und Stimmungen zu verbergen, aber es gelang ihm nicht. Sie fühlte wohl, wie es mit ihm stand.
Eines Abends, als Gregor seine Geliebte nach Haus begleitete, klagte sie über Schmerzen im Halse. Am nächsten Morgen hatte sich der Zustand so verschlimmert, daß sie nicht fähig war, das Geschäft zu besuchen. Sie fieberte und mußte das Bett hüten. Gregor ahnte etwas und ging schon im Laufe des Vormittags zu ihr, um nachzusehen. Er fand Mimi blaß und müde in den Kissen. Sie freute sich wie ein Kind, als sie ihn kommen sah, und küßte lächelnd seine Hände. Gregor ließ sich an ihrem Lager nieder, fühlte ihren Puls und sah in den Hals. Dann schrieb er ein Rezept und gab es der Wirtin, die forteilte, um die Medizin zu besorgen. Gregor nahm Mimis Hand, neigte sich auf ihr Bett und sprach freundliche Worte zu ihr nieder.
Allmählich schlossen sich ihre Augen, und ihre Brust begann ruhiger zu gehen. Sie schlief ein. Gregor betrachtete die Ruhe ihres weißen Gesichtchens und dachte: ›Nun ist sie auch krank‹. Mit diesem Gefühl mischte sich ein anderes, merkwürdiges. Es war beinahe wie ein Triumph. Ihm war, als empfände er es als eine Befriedigung, daß er nun nicht mehr allein von ihnen beiden der Bemitleidenswerte sei. Aber dieses Empfinden, kaum entstanden, verdroß ihn aufs tiefste, und er schalt sich niedrig und gemein. Er mußte husten. Er wußte ja, daß er unendlich kränker war als sie. Sie war nur erkältet, das ging vorüber. Bei ihm saß es tiefer.
Es klopfte. Die Wirtin kam und brachte die Medizin. Er nahm sie ab, entkorkte die kleine Flasche und stellte sie auf das Nachttischchen. Er wollte Mimi nicht wecken, der Schlaf tat ihr besser als alle Medizin. Er blieb an ihrem Bette sitzen, horchte auf ihren Atem, und tausend Vorstellungen zogen durch sein Gehirn. Sein Auge wanderte in dem Zimmer umher, das er noch nicht sehr oft betreten hatte. Es war ursprünglich ein Mietszimmer nach der Schablone gewesen, aber jetzt konnte man überall die Spuren sorgender Hände entdecken. So war das Zimmer wohnlich und freundlich geworden, es hatte ein Gesicht bekommen, es war das Zimmer der kleinen Mimi mit dem beweglichen Sinn für das Bunte und Heitere.
An der dem Bett gegenüber gelegenen Wand stand ein schmaler Schreibtisch, der den Eindruck machte, als würde er selten oder nie benutzt. Allerhand Sächelchen standen darauf herum, kleine Tiere aus Porzellan, chinesische Figürchen und ein paar Flacons und bunte Kästen. In der Mitte von dem allen prunkte eine flache silberne Schale, angefüllt mit Photographien. Gregor ging auf leisen Füßen hinüber, holte sich die Schale an das Bett und stöberte in den Bildern herum. Es waren Freundinnen und Verwandte Mimis, die Kinder ihrer Wirtin und dergleichen mehr. Ganz zuunterst lag ein kleines Bildnis, das den Studenten, sobald er es sah, auf das sonderbarste berührte. Es stellte Mimi dar. Auf der Rückseite war vermerkt: sechzehn Jahre alt.
Sie stand in einem weißen Kleidchen da, und die ganze Figur war zu sehen. Ihre schönen Augen blickten geradeaus, die Hände hielt sie auf dem Rücken verschränkt. Es war das Bildnis eines reinen, unberührten Kindes, das noch von dem Brausen der Welt und von sich selbst nichts weiß. Wie eine weiße Blüte im Frühling stand sie da.
Gregor staunte das Bild an wie ein enthülltes Geheimnis. Er vergaß darüber ganz, daß die lebende Geliebte da neben ihm lag und atmete. Er empfand nichts weiter als die Schönheit dieses lieblichen Bildes. Seine Augen sogen sich förmlich fest daran.
Mimi bewegte sich und sprach einige zusammenhanglose Worte. Gregor steckte die gefundene Photographie in die Brusttasche und trug die silberne Schale auf den Schreibtisch zurück. Dann trat er wieder an das Bett, gerade als Mimi erwachte. Sie sah ihn aus fieberigen Augen an. Er wagte kaum in diese Augen hineinzusehen, wie in dem Bewußtsein einer Schuld. Er goß einige Tropfen Medizin in einen Löffel und reichte sie ihr. Sie nahm den Trank und ließ den matten Kopf schnell wieder zurück in die Kissen sinken.
Nachher, als sie wieder schlief, nahm er das Bild von neuem vor. Er meinte, nie so glücklich gewesen zu sein wie jetzt, da er sich im Besitz dieses Schatzes wußte. Er führte das Bild an die Lippen und küßte es mit geschlossenen Augen. Es wollte ihm scheinen, daß er erst jetzt gefunden habe, was er bisher noch immer unbewußt entbehrt hatte. Ja, ihm war, als müßte die Zukunft nun hell und freundlich sein. Er drückte das Bild an die Brust, voll leidenschaftlichen Fühlens, und sprach zu ihm in erregten Gedanken. Aber wenn seine Augen dann neben sich auf die ahnungslos Schlafende niederfielen, trübten sie sich und verloren den Ausdruck der Freude.
Nach einer Woche ungefähr war Mimi leidlich wiederhergestellt. Als er sie das erstemal ausführte, lenkten sie ihre Schritte in jenen Park, in dem sie sich das erstemal geküßt hatten. Sie fanden auch die Bank wieder, auf der sie damals gesessen hatten, und da gerade ein schöner sonnendurchwobener Tag war, ließen sie sich für ein Weilchen auf dem vertrauten Sitze nieder. Mimi sah noch bleich aus, aber sie wurde von einem unsagbar wohligen Gefühl durchströmt, wie es die Genesenden zu empfinden pflegen. Er hatte seinen Arm in den ihrigen gelegt, und ihre Hände ruhten vereint in Mimis Schoß. Das Mädchen sprach mit sanfter Stimme:
»Jetzt sind die Bäume leer. Damals hing noch fast alles Laub zu unseren Häupten. Weißt Du noch?«
»Ich weiß.«
»Damals küßtest Du mich in großer Liebe. Hast Du mich noch so lieb?«
»Ja, ja, ja, ich habe Dich noch so lieb. Immer.«
Er mußte, indem er es sagte, an das Bild denken, das auf seinem Herzen lag. Daher kam die Innigkeit in seine Stimme. Aber er vergaß, Mimi zu küssen.
»Warum küßt Du mich nicht?« fragte sie.
»Mimi, warst Du sehr schön, als Du sechzehn warst? Schön wie ein Engel warst Du, glaube ich.«
»Ich verstehe Deine Worte nicht. Hast Du mich nicht mehr lieb?«
»Doch, doch. Aber ich gäbe meine Seligkeit hin, wenn ich Dich hätte sehen können, als Du sechzehn warst.«
Dann legte er schnell sein Gesicht auf ihres und küßte ihre Augen, ihre Stirn, ihre Wangen, ihren Mund, mit wilder Leidenschaft. Es war, weil seine Gedanken meinten, ein süßes, vielgeliebtes Bild zu küssen.
Mimi merkte, daß eine Veränderung in Gregor vorgegangen war. Er zeigte sich über die Maßen zerstreut, hustete mehr als früher und wurde immer spärlicher in den Äußerungen seiner Liebe. Das bekümmerte Mädchen dachte nach, worin diese Veränderung ihren Grund haben könnte. Sie meinte zuerst, daß sie eine Folge der offenbaren Verschlechterung seines körperlichen Zustandes sei. Gregor war zweifellos sehr krank. Er sprach gar nicht mehr über sein Leiden, desto schwerer mußte es ihn innerlich bedrücken. Aber dann kamen auch gute Tage, an denen er sich leicht fühlte wie ein Vogel in der Luft: sein Benehmen aber blieb das gleiche. Er griff ihr nicht mehr mit der Hand übers Haar, und aus seinen Küssen schlug kein Feuer.
Mimi fühlte: seine Krankheit ist es nicht. Zumindest ist es seine Krankheit nicht allein. Es ist ein anderes Mädchen, das seine Gedanken beschäftigt und ihn zu mir so lau sein läßt. Er liebt eine andere und will es nicht gestehen, mir nicht und vielleicht sich selber nicht. Aber er soll es mir sagen, das ist er mir schuldig, denn ich kann diese grauen, schleppenden Tage nicht länger ertragen.
Eines Abends, es war in seiner Wohnung, sprach sie dann ganz ruhig zu ihm, – freilich, es kostete sie große Mühe, daß sie diese Ruhe erzwang
»Gregor, Du liebst mich nicht mehr. Ich fühle es an allem, Du trägst das Bild einer andern in Dir. Lüge nicht. Erlöse mich, gestehe es ein.«
Gregor sah bleich und mit verlorenen Augen an dem Mädchen vorüber, wie in eine Ferne. Dann rang es sich tropfenweise von seinen Lippen:
»Das Bild einer andern? Das ist nicht wahr! Dein Bild und kein anderes trage ich in mir, bei meiner Seele!«
Er senkte den Kopf zu Boden und starrte vor sich hin, dumpf und schweigend. Mimi wagte nichts zu erwidern. Sie sah ihn an, verängstigt und in großem Mitleid. Sie wußte nicht, was sie tun oder sagen sollte. Da bemerkte sie, daß sich ein paar Tränen aus seinen Augen stahlen und zu Boden stürzten. Ein unendlicher Jammer ergriff sie, daß sie selbst laut hätte weinen mögen. Aber das tat sie nicht. Sie stand auf und setzte sich neben ihn, ergriff sein Haupt, lehnte es an ihre Brust und sprach:
»Armer Gregor.«
Da schlang er seine Arme um ihren Leib, fest, als übermanne ihn die Furcht, daß er die Geliebte verlieren könne. Er schluchzte zum Herzzerbrechen, es war, als ob eine wilde innere Zerrüttung ihn wahnsinnig machen wolle.
Aber als er sich beruhigt hatte und Mimi ihn mit Vorsicht zu fragen wagte, was ihm sei? was ihn quäle? er solle sich doch durch eine Aussprache erleichtern, schüttelte er abwehrend den Kopf und sagte nur:
»Es ist nichts. Du kannst mir nicht helfen. Es wird alles vorübergehen.«
Damit mußte sie sich begnügen. Es schmerzte sie freilich, daß er es verschmähte, sich ihr anzuvertrauen. Früher hatte er ihr nie etwas verschwiegen. Aber sie dachte bei sich: Ich werde es dennoch erfahren. Es ist eine andere, ich weiß es gewiß. Es wird alles offenbar werden.
Für einen Sonntagnachmittag hatte man sich derart verabredet, daß Mimi um drei Uhr zu Gregor kommen sollte, um ihn abzuholen; bis dahin hatte er in der Klinik zu tun. Mimi verfrühte sich und traf schon vor der festgesetzten Stunde in Gregors Wohnung ein. Sie wartete, und als sie ihn endlich die Treppe heraufkommen hörte, schlüpfte sie schnell in das anstoßende Schlafzimmer, um sich zu verbergen und dem Geliebten eine Überraschung zu bereiten. Gregor trat in sein Zimmer, legte Hut und Mantel ab, hustete heftig und legte sich auf den Diwan. Mimi beobachtete ihn durch die Portiere, ohne daß er eine Ahnung von ihrer Anwesenheit hatte. Er fühlte eine Weile seinen Puls und neigte bedenklich den Kopf hin und her, als ob er einen fremden Patienten vor sich habe. Dann griff er in die Brusttasche und holte eine Photographie hervor. Er sah sie lange an, mit verzückten Augen. Darauf führte er sie an den Mund und küßte sie mit Leidenschaft. Er drückte sie an sein Herz, an seine Stirn, auf seine Augen und küßte sie wieder, unablässig, aufgeregt wie ein Wahnsinniger.
Mimi traute ihren Augen nicht. Es schwirrte ihr durch den Kopf wie ein Schwarm nächtiger Vögel. Ein Gedanke sagte den andern. Dann stand es ihr klar km Bewußtsein: das Bild da ist es, das Bild!
Sie wußte kaum, was sie tat. Sie stürzte aus ihrem Versteck zu Gregor hinein, vor den Diwan. Gregor schrie laut auf, dann starrte er sie an, mit verglasten Augen, unwissend was das zu bedeuten habe. Sie riß ihm mit Windesschnelle das Bild aus den Händen. Es berührte sie fast lächerlich, als sie dann sah, wen es darstellte. Sie zerriß das Bild, ehe er es hindern konnte, in kleine Fetzen und warf sie verächtlich beiseite. Gregor stand auf und reckte seine Arme hoch über den Kopf, mit einer verzweifelten Gebärde. Dann brach er zusammen und fiel rücklings über den Diwan. Ein kleiner Streifen hellroten Blutes war ihm auf die Lippen getreten. Auch aus der Nase quollen einige rote Tropfen.
Als Mimi ihn so sah, rief sie um Hilfe. Sie warf sich über ihn und nannte seinen Namen. Erst laut, als wollte sie ihn wecken, dann flüsternd und schmeichelnd, wie ein Kind. Es war fruchtlos, Gregor rührte sich nicht.
Die Wirtin hatte die Schreie gehört und trat in das Zimmer. Sie erkannte, was not tat, und lief zum Arzt. Als dieser kam und die bewußtlose Mimi mit Mühe von dem Körper Gregors losgelöst hatte, sagte er:
»Ein Blutsturz. Er ist tot.«
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