Elisabeth Beskow
Wildvogel
Elisabeth Beskow

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12.

Das Porträt schritt nur langsam vorwärts. Wildvogel hatte ihre Tatkraft verloren, und die hätte sie nötig gehabt, um Beata zu den Sitzungen zu bewegen. Die Frau des Hauses hatte hundert Eisen im Feuer, so daß es schwer war, sie an eine bestimmte Stelle zu fesseln. Entweder kamen Leute, die sie sprechen wollten, oder sie mußte notwendig den oder jenen begrüßen oder jemand aufsuchen. Dann hatte sie immer eine Menge Briefe zu beantworten und unglaublich viel Zeit nahm das Telephon in Anspruch. Für alles und für alle suchte sie Sonja zu interessieren. Das gelang ihr aber nur selten.

»Ich glaubte immer, daß mich die Menschen fesselten, das ist aber leider nicht der Fall,« sagte sie lachend. »Ich kann mich unmöglich für Kreti und Pleti und alle ihre Angelegenheiten erwärmen, wie du es tust.«

»Dein Herz muß weiter werden, liebe Kleine.«

»Ja, das täte wohl not,« gab Sonja seufzend zu. Ihre Lippen lächelten, aber ihr Blick war ernst.

Sie sann darüber nach, ob ihr Herz weit genug sei, um auch nur Einen auf die rechte Weise aufzunehmen. Vielleicht müßte es dazu weiter sein, als um der großen Menge Platz zu gewähren? –

Beata ließ sich durch Sonjas Interesselosigkeit nicht abschrecken, sondern fuhr fort in ihren Bestrebungen, sie für all das zu gewinnen, was sie selber interessierte. Mitunter ging Sonja auch darauf ein, mit einem Eifer, der Beata in Erstaunen setzte, denn sie war nicht scharfsichtig genug, um zu merken, daß Sonja nur von ihren eigenen Gedanken loskommen wollte.

Wildvogel, die niemals eine Fessel geduldet hatte und immer bereit gewesen war, die Flügel zu heben und davonzufliegen, verstand sich selber nicht mehr. Sie fragte sich, was aus ihrem Stolz geworden sei.

Weshalb blieb sie hier und ließ sich von Max verletzen, warum mußte sie sich immer und immer wieder dadurch erniedrigen, daß sie über jedes seiner Worte und seine Blicke grübelte? Warum flog sie nicht fort?

Wenn sie ihn stark, erfolgreich und glücklich wiedergefunden hätte und er sie dann so behandelt hätte wie jetzt, wäre sie dann geblieben?

Nein, tausendmal nein! Bei der bloßen Vorstellung stieg ihr die Röte stolzer Entrüstung ins Gesicht.

Aber nun war er weder stark, noch erfolgreich und glücklich, sondern schwach und schwerfällig und stand unter dem Fluch beginnenden Verfalls, in den er mehr oder weniger durch ihre Schuld getrieben worden war. Das war es, was Wildvogel hier festhielt. Das und noch etwas, etwas, das trotz seiner beißenden Verächtlichkeit und spöttischen Gleichgültigkeit aufflammte und ein inneres Feuer verriet.

Wenn er sie nun brauchte, wenn sie ihm noch etwas werden könnte, sollte sie sich dann zurückziehen, könnte sie das überhaupt tun?

Sie prüfte ihre eigenen Gefühle und verglich sie mit der Musik der Scharwache, die ganz leise in der Ferne anhebt, und beim Näherkommen lauter und lauter wird, bis ihre Klänge, stark und mächtig brausend, die ganze Umgebung erfüllen, um dann langsam wieder abzunehmen und zu ersterben.

So waren ihre Gefühle für Max in der Vergangenheit gewesen. Unter Schmerzen waren sie erstorben. Jetzt aber erklang es wieder mächtig und stark durch ihres Herzens Saitenspiel; doch mit den Tönen wachte auch der Schmerz wieder auf, und beide nahmen an Stärke zu; wie würde es sein, wenn sie ihre volle Kraft erreichten? –

»Du bist schmal geworden, seit du zu uns kamst, Wildvogel, so geht das nicht weiter!« sagte Beata eines Tages, als sie nach langer Unterbrechung wieder einmal Modell saß.

»Es bleibt gewiß noch genug von mir übrig, um mein Werk zu vollenden,« antwortete Sonja leichthin und malte weiter.

»Deine Augen sind so groß, du wirst bald ganz Seele, eine lodernde, weiße Flamme,« fuhr Beata in zärtlich bekümmertem Ton fort.

»Das war ein schöner Vergleich,« sagte Sonja mit ihrem kurzen, anmutigen Lachen.

»Du verzehrst dich aber selbst, du kleine Flamme. Mitunter, wenn du dich unbeobachtet glaubst, liegt ein Ausdruck von Unruhe und Schmerz in deinen großen Augen.«

»Wirklich? Das ist mir kaum bewußt. Aber wahrscheinlich trägt das Meer die Schuld daran.«

»Das Meer?«

»Ja, seine Größe und Weite und Unendlichkeit weckt meine Sehnsucht weit über das Gewöhnliche hinaus. Mein Leben kommt mir so erbärmlich vor.«

»Mit dem Künstlerfunken in der Seele kann dein Leben doch nicht erbärmlich sein?« »Künstlerfunken!« rief Sonja seufzend aus. »Ach, wenn ich den hätte, dann wäre mein Leben eine Flamme, wie du vorhin sagtest. Ja, wenn ich schöpferische Kraft hätte und in großen, packenden Momenten auf der Leinewand zu der Gegenwart und der Nachwelt spräche, das wäre etwas, – aber nur Porträts malen!«

»Was möchtest du denn?«

»Ich möchte ein Charakter sein und eine Aufgabe haben, die einen Charakter erfordert. Mitunter habe ich das Gefühl, als schlummere eine Kraft in mir, die höhere Ziele erreichen könnte, als die sind, denen ich nachstrebe. Aber die Kraft schlummert in der Dämmerung, tief, tief in meinem Innern und ich kann sie nicht wecken.«

Das letzte fügte Sonja in einem tragikomischen Ton hinzu. Sie fürchtete aber, daß sie schon zuviel gesagt hätte, und Wildvogel erhob die Schwingen und flatterte fort von ernsten Gedanken.

»Vielleicht wartet eine große Aufgabe auf dich,« warf Beata leicht, aber nicht ohne Hintergedanken hin. »Vielleicht liegt sie dir näher als du glaubst.«

Aber Wildvogel schüttelte den Kopf und lachte traurig.

»Ach nein, mich erwartet keine große Aufgabe. Mein flatterhaftes Wesen taugt nicht zu etwas Ganzem. Hierhin und dorthin, von einer zufälligen Aufgabe zur anderen, so ist mein Leben, weil mein Wesen so ist.« »Wildvogel könnte doch eingefangen werden,« sagte Beata mit anzüglichem Lachen.

»Nicht so leicht.«

»Eros ist ein schlauer Bursche.«

»Eros ist ein Götze,« fiel ihr Wildvogel auf ihre rasche, scherzhafte Art ins Wort; und Beata lachte gutmütig über ihre Schlagfertigkeit.

Da ging die Tür auf und Doktor Reis stand auf der Schwelle.

Beata sprang auf, reichte ihm in ihrer herzlichen Weise beide Hände und sprach ihm ihre große Freude aus, ihn zu sehen, während Wildvogel sich damit begnügte, ihm zuzunicken, als er sich vor ihr verbeugte.

»Es ist wirklich ein Vergnügen, zu Ihnen zu kommen, Frau Hök. Man wird immer bewillkommnet, als hätten Sie eben Sehnsucht nach einem empfunden,« sagte er.

»Das ist ja auch der Fall, Doktor. Das heißt, ich will nicht gerade sagen, daß ich Sehnsucht nach Ihnen hätte, aber Sie kommen doch äußerst gelegen. Ich hielt Sonja eben eine Strafpredigt, daß sie hier in Sund abmagert und blaß wird. Ich weiß nicht, wo das hinaus will, und es gefällt mir gar nicht. Vielleicht können Sie etwas dagegen tun, Doktor?«

»Mager und blaß?« sagte Max und warf einen schnellen, prüfenden Blick auf Wildvogel. Es lag etwas darin, das ihre Wangen plötzlich höher färbte und sie veranlaßte, auf ihre Palette hinabzusehen, um ihre glänzenden und allzu ausdrucksvollen Augen zu verbergen.

»Es ist nichts Gefährliches,« antwortete sie leichthin und mischte ihre Farben eifrig.

»Wenigstens ist sie jetzt nicht gerade blaß, Frau Hök,« bemerkte Max ziemlich unbarmherzig.

»Das beweist nur, wie nervös sie ist,« antwortete diese. »Ihre Farbe wechselt alle Augenblicke, ohne jeglichen Grund, wie ich beobachtet habe, und das müssen Sie mit in Betracht ziehen, wenn Sie Ihre Diagnose stellen, Doktor.«

»Wünschen Sie, Frau Hök, daß ich sie untersuche und etwas verschreibe?«

»Ich bitte Sie darum, Doktor. Sie ist mein Gast, und ich kann nicht ruhig mit ansehen, wie sie dahinsiecht. Sie muß ein Stärkungsmittel bekommen.«

Der Doktor ging auf Sonja zu, die sich mit ihren Farben beschäftigte und anscheinend gar nicht zugehört hatte.

»Darf ich dein Herz untersuchen, Wildvogel?«

Ehe sie antwortete, sah sie ihn schnell an, aber er sah völlig beherrscht und unbefangen aus.

»Das ist ganz in Ordnung,« antwortete sie.

»Weißt du das gewiß? Laß es mich doch untersuchen!«

»Wozu in aller Welt?«

»Frau Hök wünscht es.«

»Frau Hök sollte lieber nicht solche Dummheiten wünschen. Warum soll ich mich untersuchen lassen, da ich doch ganz gesund bin! In meinem ganzen Leben habe ich noch nie etwas so Dummes gehört!«

Sie lachte, aber es klang gezwungen. Sie konnte nicht begreifen, warum Max auf Beatas Einfall einging, und sie konnte sich auch nicht erinnern, daß er jemals früher so undurchdringlich ausgesehen hatte.

»Aber Sonja, nimm doch Vernunft an, und gib zu, daß dein Schwager dir etwas Stärkendes verschreibt. Du bist nicht gesund, und darum wollen wir dich nach Herzenslust pflegen,« redete Beata ihr zu.

Sonja sah sie verwundert an.

»Meinst du das wirklich im Ernst? Ich glaubte die ganze Zeit, du machtest nur Spaß. Aber ich will dir nur sagen, daß es gar nichts zu bedeuten hat, wenn ich auch ein wenig abgemagert bin. Es kommt vor, daß ich mitunter in ein paar Stunden zusehends abnehme und es ebenso schnell wieder einbringe. Ich bin nun einmal so geschaffen, daß ich heute furchtbar krank aussehe und morgen wie die Gesundheit selbst. Ich glaube, das kommt von meinem Temperament, dagegen kann kein Doktor etwas verschreiben. Du mußt dich also beruhigen, liebste Beata, denn untersuchen lasse ich mich nicht.« Bei den letzten Worten machte sie eine kleine scherzhaft trotzige Bewegung mit dem Kopf auf Max zu, aber als sie seinem Blick begegnete, hüpfte ihr Herz. Sie las darin, daß er an vergangene Zeiten dachte, und an alles, was sich damals zwischen ihnen zugetragen hatte.

Das Unbedeutendste kann mitunter die größten Umwälzungen herbeiführen. Es fiel ihm ein, daß ihm diese kleine, so charakteristische Kopfbewegung früher an ihr aufgefallen war, und diese unbedeutende Erinnerung erregte ihn so sehr, daß er aus seiner Rolle kühler Gleichgültigkeit fiel und sein Inneres durch seinen Blick vollständig enthüllte.

Aber das war nur ein unbewachter Augenblick, im nächsten hatte er sich wieder ganz in der Gewalt, der Vorhang war wieder zugezogen, so daß Wildvogel glaubte, sich geirrt zu haben.

»Hast du Appetit?« fragte er geschäftsmäßig.

»Gewiß, auf das, was ich gern esse. Wünschest du vielleicht, daß ich auch die Zunge ausstrecke?« fragte sie, denn der eine Blick hatte sie übermütig gemacht.

»Ja, bitte,« antwortete er.

Sie aber wollte nicht.

»Man macht solch eine häßliche Grimasse dabei,« entschuldigte sie sich.

Wider Willen mußte er lachen, während sein Blick auf ihrem strahlenden Gesicht ruhte. Es war so sonnig, daß es den Blick unwiderstehlich anzog. Er ärgerte sich aber, als er seine Schwachheit fühlte und gab sich große Mühe, sie wenigstens zu verbergen.

»Jetzt sieht sie doch nicht krank aus, Frau Hök bemerkte er in einem Ton, der herablassend sein sollte. »Sie hatte ganz recht mit dem, was sie von ihrem Temperament sagte.«

»Nein, jetzt kann ich mich allerdings nicht über ihr Aussehen beklagen,« stimmte Beata bei und betrachtete Sonjas verklärte Züge verwundert und entzückt. »In dem kleinen Wesen erkennt man wahrhaftig die Macht der Seele über den Stoff! Was hat denn mit einem Schlage deine Lebensgeister so sehr gehoben, liebe Kleine?«

»Daß ich mich euch beiden widersetzt habe,« erwiderte Wildvogel fröhlich.

Aber Max sah sie mit einem heißen und doch finsteren Blick an und meinte, eine andere Ursache ihrer erhöhten Stimmung gefunden zu haben. Er wußte, daß er sich in einem unbewachten Augenblick verraten hatte, nun hatte die Katze die Maus gesehen, die sie schon für entwischt hielt, und würde ihr grausames Spiel von neuem beginnen.

Er wollte ihr aber schon zeigen, daß er sich nicht so leicht fangen ließe.

13.

Wildvogel ließ es sich nie merken, wenn sie niedergeschlagen war. Fühlte sie sich traurig, so durfte es niemand ahnen; mitunter überwältigte der Schmerz sie aber dermaßen, daß sie in die Einsamkeit flüchten mußte; es ging über ihre Kraft, ihn zu unterdrücken.

Eines Abends Ende Juli wanderte sie einsam auf dem Kirchhofe umher. Er war unansehnlich, und die Grabmäler schlicht und einfach, aber seine Lage war schön.

Bei Ingrids Grab blieb sie stehen. Das Kreuz darauf erhob sich auf einem Sockel und war höher als die der umliegenden Gräber.

Plötzlich hörte sie Schritte, und als sie sich umwandte, sah sie den Pastor kommen. Er kam gerade auf sie zu, so daß sie ihm nicht entgehen konnte. Während sie sich begrüßten, wunderte sich Sonja, warum er wohl hierher gekommen sei, denn er machte nicht den Eindruck, als hätten ihn Geschäfte hergeführt. Vielleicht verrieten ihre ausdrucksvollen Augen ihr Erstaunen, denn er antwortete darauf, als habe sie es ausgesprochen.

»Wenn der Abend sinkt, spaziere ich sehr gern zwischen den Gräbern umher und denke an den Tod,« sagte er, und nach seiner Stimme und seinem Ausdruck zu urteilen, waren seine Todesgedanken keineswegs düster.

Sonja blickte auf das Grab hinab, neben dem sie standen, und plötzlich fiel ihr ein, daß der Pastor gewiß in Ingrids letzten Lebensjahren alles erfahren hatte, was sie selbst und Max und Ingrid betraf. Ein brennendes Verlangen, zu hören, wie die Lösung, die sie selbst für den Konflikt zwischen ihren drei Geschicken gefunden hatte, sich dem darstellte, dessen Blick in der Einsamkeit mit Gott hellsehend geworden sein mußte, gab ihr Mut. Sie sah schnell auf und begegnete seinem Blick, dessen Ausdruck ihr verriet, daß er wissend sei.

»Sie besaßen ihr Vertrauen?« stieß Sonja mit einem Blick auf das Grab hervor.

»Sie suchte Hilfe bei mir, wenn die Bürde zu schwer wurde.«

»Was machte sie denn so schwer?« fragte Sonja und setzte sich auf den Sockel des Kreuzes; denn die Spannung verursachte ihr solches Herzklopfen, daß sie nicht imstande war, zu stehen.

»Das müßten Sie doch wissen,« sagte er, während sein Blick forschend auf ihrem Gesicht ruhte.

»Als ich sie kannte, war sie fröhlich und sorglos,« flüsterte Wildvogel leise.

»Damals war ihr wohl noch nicht bewußt, daß sie dem Manne, den sie liebte, eine Last war,« antwortete der Pastor.

Er hatte den einen Fuß auf den Sockel gesetzt und stützte den Ellbogen auf das Kreuz, während das Kinn in seiner Hand ruhte. Sein Blick schien ihr Innerstes erforschen zu wollen, er war es ja gewohnt, in der Seele seiner Mitmenschen ebensogut wie in seinem eigenen Innern zu lesen. Sein klarer Blick erschreckte sie nicht, denn es lag eine unendliche Güte und der Wunsch, zu helfen, darin. Wildvogel machte keinen Versuch mehr, das Geheimnis zu hüten, das ihm doch schon bekannt war.

»Klagte sie – Max – und mich an?«

Sie vermochte kaum den Satz zu vollenden und senkte den Kopf, so daß er ihr Gesicht nicht mehr zu sehen vermochte.

»Sie klagte niemand an, außer sich selbst, sie sprach mit Hochachtung sowohl von ihrem Manne wie von Ihnen.«

»Mit Hochachtung?!«

»Sie erkannte Ihr Opfer als groß und edel an. Hätte sie eine Ahnung davon gehabt, als Sie es brachten, so hätte sie es niemals angenommen. Später, als ihr alles klar wurde, fühlte sie eine große Schuld auf sich lasten und sah ihr früheres Verhältnis zu Max als eine schwere Sünde an. Sie erkannte, daß sie damit Leiden über alle Beteiligten gebracht hatte.«

Wildvogel blickte ihm lebhaft ins Gesicht.

»Nahmen Sie ihr denn die Schuld nicht ab? Legten Sie nicht wenigstens einen Teil davon, den größten, auf ihn?« fragte sie und hielt den Atem gespannt an.

»Das tat ich nicht, aber ich wies sie zu dem hin, der alle unsere Schuld bezahlt hat.«

Wildvogel blickte über das Meer, und es kam ihr vor, als hätte seine einfache Antwort Ähnlichkeit mit dessen großartiger Weite.

»Und sie?« fragte sie nach einem Weilchen. »Fand ihn und den Frieden.«

Wildvogel mußte unwillkürlich an ihre eigene Handlungsweise in der Vergangenheit denken, und wie sie es auf sich genommen hatte, anderen den Weg zu weisen. Sie dachte daran, mit welcher Selbstverständlichkeit sie die beiden aneinander gekettet hatte, die doch so wenig zueinander paßten, daß sie sich gegenseitig das Leben verbitterten. Sie hatte geglaubt, für Ingrids Wohl zu handeln und hatte ihr Traurigkeit bis zum Tode gebracht. Dieser Gedanke siel ihr mit solcher Schwere aufs Herz, daß sie ihn nicht für sich selbst behalten konnte, sondern dem Pastor rückhaltlos mitteilte.

»Durch die Traurigkeit bis zum Tode lernt man den Jubelklang verstehen,« antwortete er mit der Kraft eines Menschen, der genau weiß, was er sagt. »Das wurde ihr geschenkt, trauern Sie deshalb nicht um sie,« fügte er in dem rücksichtsvollen Ton hinzu, in dem man gern von Verstorbenen spricht, besonders wenn man das Wesentliche in der Persönlichkeit des Heimgegangenen berührt.

»Sie glauben also, daß der Weg, den sie gehen mußte, der richtige für sie war?«

»Ganz gewiß wurde er es, wie es denn auch zu Anfang gewesen sein mag,« antwortete er und blickte gedankenvoll auf das Grab hinab. »Das Leiden ist kein Fluch, am allerwenigsten, wenn es einen dazu treibt, Versöhnung bei Gott zu erlangen.«

Ein jedes seiner Worte fiel wie ein Tropfen Balsam auf eine brennende Wunde und gereichte Sonja zum Trost. Aber noch hatte sie nicht Antwort auf alle ihre Fragen erhalten.

»Und Max? Sagen Sie mir, habe ich unrecht gegen ihn gehandelt, als ich forderte, daß er sich mit der verheiraten solle, die schon sein war?« fragte sie so scheu und leise, daß er sich zu ihr niederbeugen mußte, um ihre Worte zu verstehen.

»Unrecht!« rief er mit dem Schimmer eines Lächelns aus. »Sie waren hart, härter als Sie selbst wissen, aber – das Ideal ist hart.«

Er richtete sich auf, nahm seinen Hut ab und strich sich das Haar aus der Stirn, während sein Blick über die Kreuze des Kirchhofs weit hinaus auf das Meer schweifte.

»Die Forderungen des Ideals können wir beim besten Willen doch nicht erreichen, wenn es uns nicht mit göttlichem Erbarmen und Kraft emporhebt,« gab er zu.

Sonja saß still da und dachte intensiv nach. In der Forderung des Ideals, die an den armen Max gestellt war, hatte weder göttliches Erbarmen noch göttliche Kraft gelegen, und deshalb hatte er sie gewiß so schlecht erfüllt. Ohne Flügel kann man nicht fliegen. Er hatte einen Anlauf genommen, als sie ihn beseelt hatte, aber als sie ihn verließ, fiel er.

Ihr Impuls, der Max und Ingrid zusammengefesselt hatte, war einer Forderung des Ideals entsprungen, – aber ach! es mußte etwas Wesentliches daran verkehrt gewesen sein.

Ihre fein gezeichneten Augenbrauen zogen sich grübelnd zusammen, so daß sich eine tiefe Denkfalte dazwischen eingrub. Was war das Verkehrte gewesen? Und ließ es sich noch jetzt wieder gut machen?

Als sie den Pastor ansah, begegnete sie seinem durchdringenden Blick. Es lag eine solche Teilnahme darin, daß sie Mut fand, ihre Zweifel auszusprechen.

»Ich denke mir, daß die Forderung, die an ihn gestellt wurde, vergaß, daß wir Staub sind; sie drang nicht tief genug ein, um eine Forderung seines eigenen Herzens zu werden. Sie weckte keine wirkliche Reue und in der Art der Genugtuung lag keine Kraft der Vergebung,« antwortete er in der langsamen, nachdenklichen Weise, die jedem seiner Worte vermehrtes Gewicht verlieh.

Wildvogel senkte den Kopf.

»Wie konnte ich das geben, was ich selbst nicht besaß?« murmelte sie leise.

Gedemütigt, zu kurz gekommen, abgesetzt fühlte sie sich. Der Impuls mußte der richtige gewesen sein, und doch hatte sie nichts weiter ausgerichtet, als Ingrid zur Verzweiflung und Max in die Gefahr, unterzugehen, zu treiben. Daß Ingrid aus der Verzweiflung gerettet wurde, war das Werk eines anderen gewesen. Und Max aus der Gefahr zu retten, lag nicht in ihrem Vermögen. Selbst wenn sie die Voraussetzungen dazu in sich selbst gehabt hätte, was ja nicht der Fall war, so besaß sie jetzt doch keine Macht über ihn, keinen Einfluß. Abgesetzt, ohne Aufgabe im Leben, gewogen und zu leicht befunden, so fühlte sie sich.

Da drang des Pfarrers Stimme durch das Gewühl der kummervollen Gedanken an ihr Ohr.

»Besitzen Sie ihn jetzt?« fragte er auf seine rücksichtsvolle, eindringliche Art.

»Was sollte ich besitzen?« entgegnete sie leise und mutlos.

»Den Glauben, der über Mauern klettert und Dächer abdeckt, um sich und seine Bürde vor des Erlösers Füßen zu legen?«

Tränen stiegen in ihre Augen, und unendliche Sehnsucht ergriff sie, ein neues, warmes, starkes Gefühl regte sich mächtig in ihr in der Stunde ihrer völligen Ohnmacht. Sie faltete ihre Hände und blickte durch schimmernde Tränen zu ihm auf.

»Helfen Sie mir dazu,« flüsterte sie mit bebenden Lippen.

Da faltete auch er seine Hände zum Gebet für sie, wie er an das Kreuz gelehnt dastand. Gesenkten Hauptes lauschte sie seiner Fürbitte und fühlte sich dadurch vor das Angesicht des Erlösers getragen, zu dessen Füßen sie niedersank.

14.

Der Augenblick und die Ewigkeit müssen miteinander verwandt sein, wenn sie einander berühren und ineinander aufgehen.

Der Augenblick, als der Sturm Wildvogel in ihrem kleinen Boot zwischen den Klippen überraschte, gehörte der Ewigkeit an. An der Grenzlinie zwischen Zeit und Ewigkeit wurde sie in ihrer kleinen Nußschale von den brausenden Wogen umhergeschleudert. In der höchsten Spannung ihres ganzen Wesens erwartete sie den Augenblick, wo sie in die Ewigkeit untertauchen und aus der Zeit verschwinden würde. Sie empfand weder Furcht, noch Traurigkeit, noch Freude, nur eine große Spannung.

Der entscheidende Augenblick, als sie von der Grenzlinie gerissen wurde, kam. Aber sie wurde nicht, wie sie erwartet hatte, darüber hinausgeschleudert, sondern zurück in die Zeit. Wie es zuging, wußte sie nicht, sie wußte nur, daß sie sich plötzlich und unerwartet auf einer Klippe befand und sich an eine kleine, dünne, sturmgepeitschte Fichte anklammerte, während die Wogen ihr Boot zertrümmerten. – –

Gibt es einen großartigeren Anblick als ein aufgeregtes Meer, gibt es einen wunderbareren Augenblick als den, in dem man sich seiner Gewalt entrissen, aus seinem Rasen gerettet findet?

Regungslos lag Sonja auf der Klippe, auf die sie geschleudert war. Sie ragte nur eben soweit aus dem schäumenden Gischt empor, daß sie nicht fortgespült werden konnte. Das Tosen des Sturmes und das Brausen des Wassers erfüllten die Luft. Wildvogel lauschte den Gewalten und vernahm die Stimme Gottes. Sie fühlte seine Nähe und seine starke Hand, und bebend betete sie ihn an. Niemand konnte sich wohl unbedeutender und ohnmächtiger fühlen als sie, die einsam und vom Sturm umbraust auf der abgelegenen Klippe lag, ohne die Möglichkeit, sie wieder zu verlassen? Und doch, wer hatte das Meer gezwungen, sie von sich zu geben, und wer setzte der Herrschaft des Sturmes ein Ziel? In ihrer ganzen Nichtigkeit und Ohnmacht war sie doch der Gegenstand der Fürsorge des Allmächtigen.

Zum zweiten Male war ihr das Leben geschenkt. Das erstemal war sie nur ein kleines, neugeborenes Kind gewesen, von dem man nichts fordern konnte, und sorglos war sie aufgewachsen, ohne einen anderen Gedanken, als daß ihr Leben nur ihr gehörte. Aber jetzt, als es ihr zum zweiten Male geschenkt wurde, war sie sich der Verantwortung bewußt und sah ein, daß sie es nicht wieder erhielt, um es für sich selbst zu leben. Noch wußte sie freilich nicht, welche Aufgabe ihr Gott mit dem wiedergeschenkten Leben stellte, aber draußen in der Einsamkeit mitten im Sturm, Auge in Auge mit Gott, weihte sie ihm ihr künftiges Leben. »Im Gehorsam gegen dich, mein Gott! Gib mir nur einen Wink, und ich will ihn in deiner Kraft befolgen, Gott, mein Erretter!« – Das war ihre Stimmung, und als sie Gott Gehorsam gelobte, war es eher ein Gebet als ein Versprechen.

Noch umschloß der Augenblick die Ewigkeit da draußen auf der Klippe. Von allen, die hinausfuhren, um Wildvogel zu suchen, als man sie samt ihrem kleinen Boot vermißte, war es Max Reis, der sie fand. Die anderen fuhren zu zweien und dreien in einem Boot. Er fuhr allein mit gerefften Segeln und einer grimmen Entschlossenheit, sie zu finden oder nie wieder zurückzukehren.

Seine Sinne brausten mit dem Sturm um die Wette. »Wildvogel, mein Wildvogel, voll Trotz und Härte habe ich dir widerstanden, ich wollte mich für alles das rächen, was ich gelitten habe. Es war mir ein Genuß, dir den Rücken zu wenden, dir zu widerstehen, dich von mir zu stoßen; und wie der Geizhals nach Gold sucht, so suchte ich den Schmerz in deinem Blick! Du solltest alles büßen, auf dich warf ich meine Fehler und Sünden, und suchte die Schuld dafür bei dir. O Wildvogel, mein Wildvogel, nun hebst du mich über mich selbst, und der Sturm, der dich entführt hat, reißt auch mich in feinen Wirbel. Die wilden Meereswogen, die dich gefaßt haben, spülen allen kleinlichen Groll aus meiner Seele fort. Mein Herz liegt offen da, mein befreites Wesen wirft die Fesseln ab, um dich zu finden, oder mit dir zu sterben.«

Auf der Klippe weit draußen im Meers fand er sie. Er kam wie ein Sieger, und Wildvogel begrüßte ihn als ihren Retter. Er aber gab seiner Freude darüber, daß er sie gefunden hatte, keinen Ausdruck; die Dankbarkeit, daß sie noch lebte, überwältigte ihn nicht. Sein Blick strahlte ihr nicht entgegen, keine zärtlich unruhige Frage, kein Wort des Trostes kam über seine Lippen. Nein, statt dessen schalt er sie wegen ihrer kopflosen Unvorsichtigkeit, sich in solch einem elenden Boot so weit hinaus zu wagen. Er ließ sich von seiner Heftigkeit ganz und gar hinreißen und glich dem Meer und dem Sturm. Sein Zorn war die dritte Sturmesgewalt, die sie draußen auf der Klippe umbrauste.

Kein Wort der Erwiderung kam über Wildvogels Lippen. Schweigend ließ sie ihn sich austoben, und eine große Freude stieg in ihr auf, denn die Gewalt seines Zornes verriet ihr doch nur die Größe seiner Unruhe, während er sie gesucht hatte, und eine Gewißheit kam über sie, die etwas von der Ruhe der Ewigkeit an sich hatte, die Gewißheit, welche Lebensaufgabe ihrer wartete, als ihr das Leben neu geschenkt wurde. Sie hatte um einen Wink von Gott gebeten, und war Max nicht selbst als Antwort gekommen?

Als er endlich schwieg und mit brennendem Blick auf sie niedersah, sagte sie lachend: »Du mußt müde sein, Max. Setz dich und ruhe ein Weilchen in meinem Königreich, ehe wir nach Hause fahren.«

Der freudige Klang ihrer Stimme ließ ihn verstummen, und der Gegensatz machte ihm erst die Größe seines Zornes klar. Aber obgleich ihn ein Gefühl der Scham beschlich, wollte er doch nicht weich werden, sondern sein Blick blieb streng und seine Gesichtszüge finster.

»Du freust dich wohl noch über das, was du angerichtet hast!« grollte er.

»Angerichtet? Ich habe doch den Sturm nicht heraufbeschworen!« sagte sie unschuldig.

Sie lachte, aber in ihren Augen schimmerte es feucht, und um den tapferen, gewöhnlich so selbstbeherrschten Mund zuckte es.

»Hoffentlich bist du nicht ganz so leichtsinnig, wie du tust!«

Finster und streng stand er da und beobachtete sie, während sie verzweifelt nach Selbstbeherrschung rang.

»Wenn du aus Todesgefahr gerettet worden wärest, würdest du dann nicht auch übermütig werden?«

Das hätte sie nicht sagen sollen, denn diese kleine Verteidigungsrede brachte sie um ihre Fassung. Die Gefahr, der sie entronnen war, hatte sie mehr erschüttert und aufgeregt, als sie sich bewußt war, aber jetzt, da die Spannung nachließ und sie sich umsorgt und wie ein Kind gescholten und beschützt fühlte, ließ ihre Kraft sie im Stich. Vergebens wandte sie sich ab, um die hervorbrechenden Tränen zu verbergen, vergebens drückte sie die Hand an den Mund, um das Beben der Lippen zu verdecken. Ihre Fassung verließ sie, sie lehnte sich an den Felsen und weinte herzbrechend.

Er stand schweigend neben ihr, eine Beute gewaltsamer Erregung, die aber anderer Art war als vorher. Der Zorn war verflogen, und was ihm zugrunde gelegen hatte, brach hervor und forderte sein Recht. Seinem Zorne hatte er rückhaltlos Luft gemacht, aber das, was sich jetzt Bahn brechen wollte, hielt er mit Gewalt zurück. Ihre Hilflosigkeit zwang ihn dazu. Sie war ja gänzlich in seiner Hand, und beide waren sie erregt und ihrer selbst nicht mächtig.

In seiner Unschlüssigkeit erwachte der Arzt in ihm; er ging, um Kognak zu holen, den er mitgebracht, aber im Boot vergessen hatte. Mit der Flasche in der Hand kniete er neben ihr nieder, sie lag noch an die Klippe gelehnt und kämpfte vergeblich gegen ihre Schwäche. Sanft schob er ihr seinen Arm unter den Kopf und die Schultern und richtete sie auf, so daß sie sich jetzt an ihm stützen mußte.

»Hier, trinke!« sagte er und hielt ihr die Flasche an den Mund.

Sie nahm einen kleinen Schluck und schluckte ihn mühsam. Dann redete er ihr zu, mehr zu trinken. Ihre Blicke flehten ihn an, sie damit zu verschonen, da ihr das Schlucken so viel Beschwerde verursachte; er gab aber nicht nach, weil ein Schüttelfrost sie durchfuhr. Immer wieder mußte sie versuchen zu trinken, bis sie sich wieder kräftiger fühlte.

»Wie kann es einem nur so schwer sein, Kognak zu schlucken!« sagte er mitleidig und vorwurfsvoll zugleich.

Der Schüttelfrost ließ nach und das heftige Weinen ebenfalls, und sie lag ganz still in seinem Arm. Unverwandt blickte er in das bleiche, liebliche Gesicht, in dem ein neuer Ausdruck lag, etwas, das früher nicht darin zu finden war und wohl in den einsamen Stunden, die sie in dem Sturm durchlebt hatte, entstanden sein mußte. Er hätte gern den Grund gewußt.

Es kam ihm wie ein Traum vor, daß sie in seinem Arm ruhte, und ein Gefühl der Unwürdigkeit beschlich ihn. Sie lag ja nicht aus freiem Willen da, sondern war nicht imstande, sich zu erheben, er aber hatte das Gefühl, als mache er sich ihre Schwachheit zunutze. Trotzdem wünschte er, daß es immer so bleiben möchte.

Plötzlich schlug sie die Augen auf und sah ihn mit dem Blick eines Menschen an, der soeben eine neue Aufgabe von Gott erhalten hat. Noch niemals war ihm ein solcher Blick begegnet, und ein Schauer durchging ihn, obgleich er nicht wußte, warum. Ihm schien, als ginge alles Kleinliche in einem einzigen Großen auf, aber es war ihm unbewußt, was das eine Große war. Er hatte das Gefühl, als dringe ein Weckruf durch den Panzer der Gewohnheit, des Zynismus, des Trotzes und der Gleichgültigkeit in sein innerstes Ich und rüttelte es auf, so daß es sich auflehnte und seine Fesseln abwarf.

»Wildvogel,« flüsterte er wie abwesend und beugte sich tiefer über sie.

Sie öffnete die Lippen, als wolle sie etwas sagen, er aber verschloß sie mit einem Kuß. Geschah das, um der Aufforderung, die er in ihrem Blick gelesen hatte, zu widerstehen, oder bedeutete es eine zustimmende Antwort?

Er wußte es selbst nicht, darum versuchte er sie am Sprechen zu hindern, damit sie keine Frage stellte, die er nicht beantworten konnte. Er drückte sie fest an sich in einem langen Kuß, und sie widerstrebte nicht.

Wenn er aber glaubte, daß er sich ihre Macht über ihn dadurch entziehen könnte, so irrte er sich. Es strömte eine Kraft von ihr auf ihn über, die ihm durch und durch ging. Er fühlte, daß er sich nicht mehr selbst gehörte, sondern ihr. Wenn das aber der Fall war, mußte sie ihm auch wiederum gehören! Der Gedanke überfiel ihn mit einem gewissen Trotz, und beseelt von dem Gefühl des Besitzrechts, nahm er sie in seine Arme, erhob sich mühelos mit ihr und trug sie hinunter ans Boot, das an der windgeschützten Seite der Klippe schaukelte. Ihren ermunternden Blick brauchte er jetzt nicht mehr zu fürchten, denn ihre Augen waren geschlossen, aber der liebliche, reine Ausdruck ihres Gesichts beherrschte ihn ganz. Er machte es ihr auf dem Boden des Bootes so behaglich wie möglich und stieß dann ab. Kein Wort weiter hatte er gesprochen, aber ein neuer Glanz war in seine Augen gekommen.

Der Sturm faßte in das Segel und drückte das Boot auf die Seite, aber es war ein kleines, standhaftes Fahrzeug, das sich bald wieder tapfer aufrichtete und davon schoß. Sie lag ganz still und gab sich der Müdigkeit und der Ruhe hin.

Ruhig, wachsam und stark saß Max am Steuer. Es war harte Arbeit, die Leine schnitt ihm in die Hände, und er mußte seine ganze Kraft aufwenden, um das Boot vor dem Wind zu halten. Sein Gesicht glühte, sein Auge funkelte, und seine ganze Haltung war die eines Siegers.

»Ein tüchtiger Sturm und ein tüchtiger Mann ist das schönste, was man sehen kann,« jubelte es in Wildvogel. Sie liebte den Sturm, der ihr den Mann in Max gezeigt hatte. Wie sehr er auch von dem Kampf mit den Elementen in Anspruch genommen war, so weilten seine Gedanken doch bei ihr. Jedesmal, wenn sie aufsah, begegnete sie seinem Blick. Es war nicht möglich, bei dem Zischen und Brausen der Brandung miteinander zu reden, es war aber auch nicht nötig. Es gibt Dinge, die am besten im Schweigen zur Reife gelangen.

An der Brücke bei Sund wurden sie von den Freunden, die sie mit Angst erwartet hatten, jubelnd empfangen. Es flossen Freudentränen über die Verlorengeglaubte und Wiedergefundene. Und dann wurde sie ins Bett gesteckt und auf jede erdenkliche Weise gepflegt. Bei jedem kleinen Dienst lächelte sie dankbar, sprach aber wenig, sondern verhielt sich sehr still. Von dem, was sie in ihrem Innern erlebt hatte, sagte sie kein Wort, ebensowenig wie von der neuen Aufgabe, die Gott ihr gegeben hatte, und auch Max schwieg.

»Du hast einen Ausdruck in deinem Gesicht, als wärest du Gott begegnet und hättest mit ihm geredet,« flüsterte Agnes.

»Das habe ich auch,« antwortete Wildvogel.

15.

Als Sonja am nächsten Tage aufstehen wollte, fühlte sie sich so matt, daß sie sich wieder hinlegen mußte.

»Daß mich das so mitgenommen hat!« sagte sie zu Beata und lachte über ihre eigene Schwachheit.

»Das ist doch kein Wunder,« meinte Beata, und machte sich mütterlich mit ihr zu schaffen. »Nun mußt du ganz still liegen, um dich ganz auszuruhen, du liebes Wildvögelchen, das uns beinahe davongeflogen wäre!«

Max kam. Er fühlte sich innerlich schwankend, erregt und nachdenklich, aber nach außen war er ganz Arzt, fühlte den Puls, pochte, horchte und verordnete.

Frau Beata war im Zimmer, und Agnes ging ab und zu und sorgte für das Nötige. Mit ihrer gewöhnlichen Umsicht merkte sie sich auch des Doktors Vorschriften genau. Er war besorgt, gründlich und zart gegen seine Patientin. Agnes hatte ihn an vielen Krankenbetten gesehen, aber heute war seine Art ganz anders als sonst.

Sonja war still und schweigsam. Sie beantwortete seine Fragen, blickte auf und lachte, wenn sie angeredet wurde, aber ihre Seele weilte noch bei dem großen Augenblick, als die Ewigkeit sie umfing und ihr die große Aufgabe von Gott gegeben wurde.

Sie lag noch einige Tage krank, und Max kam zweimal am Tage, immer nur als Arzt, und als solchen schien sie ihn auch zu empfangen, aber beide wußten, daß sie sich mehr waren. Draußen auf der Klippe hatten sie einander ins Herz gesehen, und keines von ihnen vergaß auch nur für einen Augenblick, was er bei dem anderen entdeckt hatte.

Als Max am fünften Tage kam, fand er Sonja in einem Ruhesessel draußen im Garten. Sie war sorglich in Kissen und Decken gehüllt, war aber in dem Augenblick allein.

»Wer hat dir erlaubt, aufzustehen?«

»Ich selbst,« lachte sie.

»Behandelt man seinen Arzt so?«

»Ja, wenigstens einen von den vielen.«

Er schüttelte mißbilligend den Kopf, mußte aber doch lachen. Plötzlich beugte er sich vor und sah sie bekümmert und unruhig an.

»Verträgst du aber das Aufsein auch wirklich? Du siehst aus wie ein Hauch, der im nächsten Augenblick verfliegt.«

Er begriff selbst nicht, warum sie ihm den Eindruck machte, denn ihre Augen lachten vor Lebenslust, und die Farbe wiederkehrender Gesundheit lag auf ihren Wangen. Aber trotzdem sah sie durchgeistigt aus, und der Abglanz einer höheren Welt lag über ihr, und das war es, was ihn beunruhigte.

Seine Unruhe entsprang dem Aufruhr, der seit dem Sturmtag in seinem Innern tobte und ihm den Schlaf seiner Nächte und die Ruhe seiner Tage raubte. Er hatte so lange über das nachgedacht, was er glauben, sagen und tun solle, bis er weder aus noch ein wußte. All das Mißtrauische, Finstere und Versteckte seiner Natur hatte sich empört, um das zu stürzen, was die Stunden draußen auf der sturmumbrausten Klippe in ihm aufgebaut hatten. Wenn er einsam grübelnd saß, nahm die Finsternis überhand, aber im Beisammensein mit Sonja wich sie wieder.

Seit dem unvergeßlichen Tage war er heute zum erstenmal allein mit ihr. Er mußte über das Vorgefallene sprechen, aber was sollte er sagen?

Sie saß still und schweigend, ganz erfüllt von einem feierlichen Gefühl wie vor großen Ereignissen, in denen eine höhere Macht wirkt und die eigene kleinliche Schwachheit verschwindet. Wenn Max ihre Aufgabe von Gott war, dann mußte Gott ihn zu ihr führen trotz seiner Verdüsterung, Unruhe und Ungewißheit. Sie sah, wie es in seinem Innern kämpfte, wie er sich unter den alten Feinden seiner Natur wand, und er tat ihr von Herzen leid.

Sie kam ihm aber mit keinem Wort zu Hilfe, fühlte auch keine Angst, daß die alten Feinde wieder die Überhand gewinnen könnten. Die Liebe hatte ihre Herrschaft gestürzt, denn Max liebte sie ja, das stand jetzt fest bei ihr. Sie hatte es draußen auf der Klippe gesehen und gefühlt, und auch später hatte sie es aus seiner Schüchternheit und aus seinem veränderten Wesen herausgelesen. Darum fühlte sie sich ganz ruhig, um so mehr, da sie überzeugt war, daß Gott es so wollte. Dieser Glaube befestigte sich jetzt in ihr, denn niemand störte ihre Einsamkeit in der Stunde, in der sie einander zugeführt werden sollten. Das reiche Leben des Hochsommers summte und zwitscherte um sie her, aber von Menschen war keine Spur zu sehen oder zu hören.

Endlich sah Max auf. »Wildvogel,« hub er an, kam aber nicht weiter. Aus ihren Augen leuchtete es seinem sehnsüchtigen Blick so warm entgegen, daß er verstummte. Er wagte nicht an das zu glauben, was er sah, konnte sich aber doch nicht davon losmachen.

In heftiger Erregung legte er seine Hand auf die ihren, die gefaltet in ihrem Schoß ruhten, und angstvoll sah er sie an.

»Wecke keine Hoffnung in mir, um mich nachher wieder zu enttäuschen! Ich könnte es nicht überleben, dich noch einmal zu verlieren!« sagte er heiser.

Seine Stimme klang streng und seine Hand bebte, als schwanke er, ob er sie festhalten oder zurückstoßen solle.

»Dir gegenüber ist kein Falsch in mir, Max.«

Aber die finstere Unruhe seines Blickes schien sich vor dem Licht in dem ihren nur noch zu verdüstern. Sie merkte, daß sie einen Strauß gegen alle Feinde seiner Natur kämpfen müsse, aber sie schreckte nicht davor zurück, sie hatte ja die stärksten Bundesgenossen – Gott und die Liebe.

»Ein Wildvogel duldet keine Fesseln,« erinnerte er sie düster.

»Erblickt die Liebe eine Fessel in dem Willen des Geliebten? Ist es nicht die wahre Freiheit, denselben zu erfüllen?« antwortete Wildvogel mit heiterem Ernst.

Es war eine große Veränderung mit ihr vorgegangen, das merkte sie jetzt. Wohl hatte sie früher geliebt, Viktor, seinen alten Vater und Max, auch hatte sie mehrere Freundinnen, aber sowohl in der Freundschaft wie in der Liebe hatte sie sich immer eines vorbehalten, – ihre eigene Persönlichkeit. Aus Furcht, sie ganz zu verlieren, hatte sie sich immer gescheut, sie hinzugeben, aber jetzt, seit sie sich auf der Klippe Gott ganz ergeben hatte, war sie ihr mit solcher Kraft wiedergegeben, daß sie ihr verblieb, auch wenn sie sich einem geliebten Mann in Liebe ergab. Ihre Persönlichkeit war genug erstarkt, um die seine zu gewinnen.

Aber sein Mißtrauen war nicht leicht zu überwinden. Er hatte es in bitteren Zeiten zu lange gehegt und gepflegt.

»Du hältst es wohl für gerecht, dir dasselbe anzutun, was du einst auf Rechnung einer anderen von mir fordertest. Du träumst von Wiedervergeltung!« sagte er mit Bitterkeit.

»Ich träume nicht, Max, ich bin vollständig wach.«

Er aber fuhr fort: »Ein einmaliges großes Opfer zu bringen und dann fortzufliegen, um in anderen Gegenden die Freiheit zu genießen, ist heldenmütig und – leicht! Aber die schwere Kette tagaus, tagein, jahrelang zu schleppen, ist schlimmer. Traust du dir zu, das zu können?«

Ihr heller Blick verdunkelte sich nicht vor seinen scharf forschenden Augen.

»Ich nenne es kein Opfer, für den leben zu müssen, den ich liebe.«

Bei diesen Worten zuckte er zusammen. Er hatte wieder die Empfindung wie draußen auf der Klippe, als ginge eine Kraft von ihr aus. Sie erfüllte ihn mit einem überwältigenden Gefühl, gegen das sich das Widerstrebende und Feige in seiner Natur zu wehren suchte, denn es forderte ebensoviel, wie es gab, und wie sollte er die Forderung erfüllen?

»Warum führst du mich in Versuchung? Warum weckst du das Erstorbene zu stürmischem Leben? Begreifst du denn nicht, daß ich ein Elender bin?« rief er wild und unzusammenhängend aus.

»O Max! Du ein Elender!«

Sie lachte ein wenig, ein weiches, glückliches Lachen, das sein Selbstbewußtsein weckte und ihn die Herrschaft über seine Rührung wieder gewinnen ließ.

»Ich bin doch ein Elender,« beharrte er, »aber so schlecht bin ich nicht, daß ich dich zu mir hinabziehen möchte.«

»Das sollst du auch nicht.«

»Nein, das weiß ich, und deshalb, – deshalb – muß ich entsagen.«

»Das kannst du gar nicht ohne meine Einwilligung. habe ich denn gar kein Wörtchen mitzureden?«

»Aber Wildvogel, du vergißt – du weißt nicht –, hast du die Scherben vergessen?«

»Hast du sie vergessen?«

»Wie könnte ich? Ich habe sie ja beständig vor Augen. Sie rufen mir zu, daß ich dich fliehen und dir widerstehen muß, um deiner selbst willen.«

»Das ist aber nicht, was sie dir sagen sollten.«

Er saß mit gesenktem Kopf, den düsteren Blick zur Erde gerichtet. Er wollte fest bleiben und wagte darum nicht, sie anzusehen. Aber das half ihm wenig, ihre bloße Nähe beherrschte ihn, und sein Inneres erbebte bei dem Klange ihrer Stimme.

»Ich will dich nicht durch Versprechen betrügen, die ich vielleicht doch nicht halten kann. Die Gewohnheit ist stark, zur zweiten Natur geworden,« murmelte er.

»Liebst du mich, Max?«

»Ob ich dich liebe! Gerade deshalb will ich dir ja widerstehen.«

Heftig und schroff stieß er diese Worte aus; sie aber durchströmte ein seliges Glücksgefühl. Er gehörte ihr, und es war ihre Aufgabe, ihn aus seiner Düsterheit herauszuretten. Er durfte nicht hartnäckig darin verbleiben.

»Das ist feige, Max. Sei doch ein Mann, kämpfe gegen die Macht der Gewohnheit!« sagte sie kraftvoll.

Da er sich weder rührte noch antwortete, beugte sie sich vor und legte die Hand auf seinen Arm.

»Kämpfe um meinetwillen und um derer willen, die vielleicht noch kommen.«

Innig und leise sprach sie diese Worte, und als er aufsah, begegneten ihm ihre Augen wie zwei leuchtende Sterne.

»Wen meinst du?« fragte er.

Sie antwortete nicht, errötete aber tief unter seinem Blick, ohne jedoch den ihren zu senken. Da verstand er. Bittend blickte er ihr in die Augen und ließ ihr Verlangen bis in sein Innerstes dringen, wo das göttliche Leben schlummerte. Der Ruf erreichte ihn, der Ruf, dem sich ein Mensch nur zu seinem eigenen Verderben entziehen kann.

»Sage, daß du es willst, Max!«

»Niemals sollst du einem Sklaven angehören!« gelobte er.

»Darum mußt du dich aufraffen und ein freier Mann werden!«

Mit neuerwachter Willenskraft richtete er sich auf.

»Ja, das muß ich, und ich will es auch!«


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