Elisabeth Beskow
Wildvogel
Elisabeth Beskow

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11.

Ich versuche, es mir klar zu machen, warum der Doktor seine Söhne nicht gleichmäßig lieb hat. Sie sind allerdings sehr verschieden, aber ich weiß nicht, ob das die einzige Ursache ist, oder ob es von etwas anderem abhängt.

Max ist in sich gekehrt. Er ist mürrisch, zieht sich zurück und ist in allem das Gegenteil von Viktor. Während andere Leute von der Liebenswürdigkeit Viktors und der des Vaters eingenommen sind, scheint Max sich darüber zu ärgern. Ja, es kommt mir sogar vor, als ob er dem Vater und dem Bruder gern wehe tut. Wenn es ihm gelingt, scheint er aber am meisten darunter zu leiden. Ich glaube nicht, daß die anderen es merken, aber ich habe es einmal so deutlich gesehen, daß ich Mitleid mit ihm empfand. Ich war freundlich gegen ihn, obschon er gewiß merkte, daß mir aufgefallen war, wie scheußlich er eigentlich gewesen. Sein mürrisches Mißtrauen bei dieser Gelegenheit werde ich nie vergessen. Es kam mir vor, als hätte er sagen wollen: »Es ist nur Anstellerei. Ich weiß schon. Ich bin in deinen Augen ebenso unangenehm und scheußlich wie in denen der anderen. Aber ich bin nun einmal abscheulich, und das ist mir auch ganz egal!« Der arme Max! Er hat Sonnenschein rings um sich her, aber er läßt sich nicht von der Sonne bescheinen.

Max will Arzt werden wie der Vater, und arbeitet angestrengt. Auch während seiner Sommerferien studiert er fleißig. Wenn er sich nach der Arbeit ausruhen will, geht er spazieren, aber immer allein. Er will keine Begleitung haben. Der gemeinsame Beruf scheint Vater und Sohn kein gemeinsames Interesse einzuflößen. Der Doktor interessiert sich viel mehr für Viktors Bestrebungen. Heute fragte ich Viktor, woher es kommt, daß seinem Vater und Max der gemeinsame Beruf nicht zum gemeinsamen Interesse wird.

»Ach, siehst du! Sie sind so sehr verschieden,« antwortete er. »Vater ist ein Menschenfreund, Max ein Gelehrter.«

»Allerdings, aber soviel werden sie doch wohl gemeinsam haben, daß sie sich darüber unterhalten können,« fiel ich ein.

Viktor sah etwas verlegen aus.

»Weißt du,« sagte er zögernd. »Papa übt seine Kunst nur aus, um anderen zu helfen. Er betrachtet sie nicht als ein Mittel, um vorwärts zu kommen. Aber alle können es ja nicht so auffassen wie er.«

»Und faßt Max es denn nicht so auf, wie er? Er strebt doch vorwärts, nicht wahr?«

»Gewiß. Aber das kann man ihm ja nicht verdenken. Alle können ja nicht so sein wie Vater.«

»Aber Max wird doch nicht getadelt, weil er so handelt, wie die meisten?«

»Nein, bewahre! Aber Max versteht den Vater nicht und stichelt oft auf ihn wegen seines Mangels an Unternehmungslust. Das hast du gewiß auch schon bemerkt.«

Ja, das hatte ich.

Da ich aber einsah, daß unser Gespräch Viktor unangenehm war, ging ich auf etwas anderes über, obschon ich große Lust verspürte, die Unterhaltung zu Ende zu führen. Viktor ist sehr gut und möchte nur etwas Nettes von seinem Bruder sagen, aber es wurde ihm jetzt schwer, das zu tun und zugleich gerecht zu sein. Der arme Max! Es tut mir doch sehr leid um ihn.

12.

Das Fremdenzimmer, eine Treppe hoch, wird nie benutzt. Das ist aber schade. Es ist ein ganz famoses Zimmer und voll Stimmung. Es ist eine Eckstube. Das eine Fenster geht auf eine Bucht des Vängansee, das andere auf den angrenzenden Wald. Seit ich hier bin, steht dieses Fenster offen, ich habe es selbst aufgemacht, und nun dringt der Tannenduft hinein und erfüllt den ganzen Raum. Vorher schlug einem ein Geruch von eingeschlossener Luft entgegen, wenn man die Tür öffnete.

Die altfränkischen Möbel sind hell überzogen, und vor dem Sofa liegt ein verblichener Teppich. Die Stube ist niedrig, und der große, blaue Kachelofen, der in einer Ecke steht, sieht sehr alt aus. Es ruht etwas Stimmungsvolles auf dem Ganzen, besonders wenn das Feuer im Ofen hell auflodert und über die Diele leuchtet. Bei solchen Gelegenheiten setze ich mich an das alte Klavier und spiele Beethoven. Das Klavier hat einen so entfernten Ton, als ob er aus dem siebzehnten Jahrhundert käme.

Der Doktor lacht mich aus, wenn ich auf dem alten Klimperkasten spiele, und Max geht fort. Viktor aber bleibt und freut sich über das Spiel. Er erfaßt die Stimmung und liebt den weltfernen Ton. Und wir träumen und versetzen uns weit zurück in der Zeit und befinden uns mit einem Male im siebzehnten Jahrhundert. Wir spielen zwei junge Verliebte mit Idealismus und Illusionen und einer unaussprechlichen Tiefe des Gemüts.

Dieses Spiel fesselt uns. Und wenn wir zu zweien in dem alten, unbewohnten Zimmer sind, wiederholen wir es oft.

13.

Donnerstag abend war ein Fest auf der Inselburg, und da sah ich alle unsere Nachbarn. Ich kann gerade nicht behaupten, daß mir alle zusagten. Am liebsten mag ich den alten Baron. Er und der Doktor sind Jugendfreunde und verstehen sich.

Es gefiel den Gästen gut auf der Inselburg, fast zu gut, fürchte ich, denn nach der Abendtafel hörte ich den alten Baron seiner Schwiegertochter zuflüstern: »Jetzt sind sie alle gesättigt, aber dennoch werde ich sie nicht los.«

»Schlage vor, daß wir ein Lied singen, ehe wir uns trennen, dann werden wir schon verstehen, daß es Zeit zum Aufbrechen ist,« flüsterte der Doktor, der dem Baron ganz nahe stand und seinen Stoßseufzer gehört hatte.

»Du Schlaukopf! Du stehst und horchst.«

Der Doktor lachte nur und klatschte in die Hände; das Stimmengewirr verstummte.

»Unser Wirt schlägt vor, daß wir, ehe wir uns trennen, › Du gamla, du friaSchwedische Nationalhymne: »Du gamla, du fria, du fjälthöger nord« == Du alter, du freier, du felsenhoher Nord. singen.«

»Du weißt immer guten Rat,« flüsterte der Baron dem Doktor zufrieden zu.

»Es gehört ja auch zu meinem Beruf,« antwortete der Doktor. Und › Du gamla, du fria‹ wurde gesungen.

Aber gerade das Gegenteil von dem, was der Doktor beabsichtigte, traf ein. Wir gerieten in Stimmung und gingen gar nicht weg.

»Jetzt singen wir: › Söner ad ett folk, som blöttSöhne eines Volkes, das geblutet. «, hört man Viktor sagen, und kaum ist der Vorschlag gemacht, als Elsa Valender, die am Klavier sitzt, den Ton angibt, alle Stimmen fallen ein, und der Kriegsmarsch wird kräftig gesungen. Der kleine Viktor aber singt am allerkräftigsten, gerade er, der nicht einmal einen Vogel erlegen mag. Er sieht doch vielleicht im Geist andere Feinde, die mit anderen Waffen als Kugeln und Schwertern bekämpft werden müssen.

Ein Lied folgt dem anderen. Die Stimmung wurde heiter und vaterländisch, und selbst der alte Baron wurde hingerissen und vergaß darüber seine Sehnsucht nach dem Bett.

Allmählich legte sich aber die Begeisterung. Kein neuer Vorschlag erfolgte, und schließlich schlug die junge Baronin ein geistliches Abendlied vor. Als wir es gesungen, wurde der Baron uns endlich los.

Er war doch nicht zu erschöpft, um uns auf den Hof zu begleiten. Der Hof lag dunkel unter den Linden, und unter ihrem Schatten hielten die Wagen.

»Du liebe Zeit!« rief der Baron aus, als er das Gig des Doktors bemerkte. »Fährst du denn wirklich? Aber das Pferd? Wie kannst du das übers Herz bringen?«

»Ach, es gefällt meiner Rosinante im Pferdestall der Inselburg, und außerdem habe ich ja ein Dämchen bei mir,« antwortete der Doktor, und reichte mir die Hand, um mir beim Einsteigen behilflich zu sein.

Ich durfte mitfahren, Max und Viktor gingen zu Fuß. Endlich fuhren wir durch die grüne Gitterpforte hinaus. Der alte Baron aber stand noch immer mit bloßem Kopfe auf der Steinbrücke unter den Linden und winkte, bis er nicht mehr zu sehen war. Der Weg führte zuerst am Vängansee entlang, bald aber bog er in den Wald, oder richtiger der See entfernte sich vom Wege in einer seiner vielen unmotivierten Krümmungen. Es war mondhell, trotzdem der Himmel bewölkt war. Der Wald wurde dichter, je weiter wir hineinkamen, und bei der Kirche von Sunnanfors war es sehr finster. Gerade, als wir an der Steinmauer, die den Kirchhof umgibt, vorbeifuhren, geschah etwas sehr Sonderbares. Das Pferd legte sich ins Geschirr, als ob der Wagen plötzlich sehr schwer geworden wäre. Und doch waren wir ja, wie bisher, nur zwei im Gig. Wenigstens war sonst niemand zu sehen, und der Weg war glatt und eben und ging nicht bergan. Sobald wir die Mauer hinter uns hatten, gab das Schwere nach, und das Pferd ging wie gewöhnlich.

Ich sah den Doktor an. Er saß ruhig, als ob nichts passiert wäre, aber bei dem bleichen Mondenschein unter den schimmernden Wolken bemerkte ich, wie blaß sein Gesicht war.

Erst nach einigen Augenblicken sah er mich an. Es lag ein Schein von einem Lächeln um seine Lippen, sein Blick aber war durchdringend. Er wollte sehen, ob ich mich fürchtete.

»Was war das?« flüsterte ich. Mir war bange, von dem Geheimnisvollen zu sprechen. Es umgab uns noch.

»Die Bauern behaupten, daß ihre Wagen schwer werden, wenn sie an der Kirche von Sunnanfors vorbeifahren,« antwortete er.

»Aber was war es? Wie ist es zu erklären?«

»Es gibt vieles zwischen Himmel und Erde, was sich nicht erklären läßt,« sagte er.

»Ist es schon früher passiert?«

»Ja, den Bauern.«

»Den Bauern, ja – – aber – –«

»Mir meinst du? Ja, einmal.«

Er war scheinbar verstimmt. Das Geschehene hatte gewiß einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht, obschon er es nicht zeigen wollte. Es interessierte mich sehr, aber ich wagte nicht, ihn zu fragen. Der Doktor aber schien meinen stillen Wunsch erraten zu haben, bezwang sich und sagte:

»Es war kurz vor dem Tode meiner Frau.« Dann schwiegen wir beide wieder. Aber es war ein Schweigen, das das Verschlossene auftut und Vertrauen einflößt. Das Geheimnisvolle, das wir eben zusammen erlebt, hatte uns einander näher gebracht, und es war daher ganz natürlich, daß wir jetzt vertraulich miteinander sprachen.

»Ich habe noch gar nichts von der Mutter Viktors gehört. Er spricht nie von ihr, nur von seinem Vater,« sagte ich.

»Ganz natürlich, da er sie nie gekannt, antwortete der Doktor. Sie starb bei seiner Geburt. Er wurde ihr Benoni, aber er war auch ihr Benjamin.«

Da ich leider in der Bibel nicht sehr bewandert bin, fragte ich, was das bedeutete.

»Benoni heißt der Sohn meiner Schmerzen. Benjamin heißt Glückskind.«

Er sah sehr gedankenvoll aus, seine Stimme klang wehmütig, als er von der Gattin seiner Jugend sprach, und ich verstand, daß er sie sehr lieb gehabt haben mußte, da er noch mit so großer Zärtlichkeit von ihr sprach.

»Sie vererbte all ihr Bestes auf Viktor,« fuhr der Doktor fort. Es lag ihm scheinbar am Herzen, so von ihr zu reden, daß auch ich sie lieb gewinnen müßte. »Aber sie dachte es sich nicht gerade so. Sie dachte überhaupt sehr wenig an sich selbst. Aber alles, was sie an mir liebte, wollte sie in dem Kinde fortleben sehen.«

»Aber Max,« entfuhr es mir, »wollte sie ihren Geliebten nicht auch in ihm fortleben sehen?« Ich wollte die Gelegenheit beim Schopfe ergreifen, um Max und den Unterschied, der immer zwischen den Brüdern gemacht wurde, hervorzuheben.

Der Doktor sann einen Augenblick nach. Vielleicht trug er Bedenken, über dieses heikle Thema zu sprechen. Aber die Dämmerung und die vertrauliche Stimmung zwischen uns, die zusammen durch die geheimnisvolle Nacht zogen, besiegte sein Bedenken.

»Siehst du, Wildvogel, wenn die Liebe echt ist, dann vertieft sie sich beim Zusammensein. Man liebt das innerste Wesen des anderen mehr und mehr. Demzufolge hatten wir Grund, mehr von Viktor zu erwarten als von Max. Der Ursprung des Daseins ist dunkel, aber gründet sich nicht auf einen Zufall, wie viele glauben. Vater- und Mutterschaft bringt große Macht und Verantwortung mit sich.«

Ich schwieg. Sein Ernst und seine edlen Worte hatten mich ergriffen. Aber ich war sehr begierig, mehr von seiner Jugendliebe zu hören.

»Erzähle mir mehr von der Mutter Viktors!« bat ich.

Er sah mich an und lächelte. »Soll ich denn meinen verborgenen Reliquienschrein hervorholen,« sagte er, »und seine Schätze vor deinen Augen in der Dämmerung schimmern lassen?«

»Ja, bitte! Erzähle mehr von dir und deiner Frau und von dem, was Viktor vererbt werden sollte.«

Der Doktor saß vornübergebeugt und sah vor sich hin in die Walddämmerung. Aus dem Ausdruck seines Gesichtes aber sah ich, daß er das Vergangene lebendig vor sich erblickte.

»Ich beging einst eine Handlung,« sagte er, »zu der mich mehr mein Herz als mein Verstand trieb. Diese Handlung würden neun Frauen von zehn gemißbilligt haben, meine Frau aber entzückte sie. Durch die edle Weise, in der sie meine Handlung beurteilte, wurde unsere Liebe vertieft. Gerade zu der Zeit schwebte diese in Gefahr. Es gibt ja so vieles, das einer feinen und zartfühlenden Natur, wie der ihren, schwer vorkommen muß.« Er schwieg, ganz in seine Gedanken versunken.

»Und was war das für eine Handlung?« fragte ich. Ich war darauf sehr gespannt.

»Ach,« sagte der Doktor aufblickend und in einem Tone, als wäre es gar nichts gewesen, im Vergleich mit der Liebe, die sie vertiefte, »es war nur der Entschluß, hier zu bleiben und auf eine Anstellung in Stockholm zu verzichten. Welche andere junge Frau hätte nicht ihren Mann dazu gezwungen, ein solches Anerbieten wie das mir gemachte anzunehmen, und mit Fug und Recht. Sie aber war begeistert von meinem Entschluß, hier zu bleiben, und betrachtete mein Opfer als ein so großes, daß sie das ihrige darüber vergaß.«

»Es war also ein Opfer?«

»Ja, ich war ja jung, und die Stellung war äußerst vorteilhaft. Sie wurde mir von einem der bedeutendsten Chirurgen Stockholms angeboten. Und es lag ja etwas Verlockendes darin,« sagte der Doktor, als ob er sich entschuldigen wollte.

»Aber warum nahmst du sie denn nicht an? In einer so hervorragenden Stellung hättest du ja der Menschheit noch nützlicher sein können als hier, nicht wahr?«

Er lächelte.

»Nein, hätte ich die Stelle angenommen, hätte ich es nicht der Menschheit zuliebe getan, sondern nur, um meine eigene Sache zu fördern. Leute, die in unseren großen Kulturzentren leben und Geld haben, können sich immer an die besten Ärzte wenden. Sie brauchen mich nicht. Aber die Leute hier würden mich wahrscheinlich vermißt haben. Für sie ist es eine teure und beschwerliche Geschichte, nach Stockholm zu fahren, um einen Arzt zu Rate zu ziehen. Aber du darfst nicht glauben, daß mir dies mit einem Male klar war. Ich bedurfte eines Vorfalles, so deutlich wie ein geschriebenes Wort, um einzusehen, wie ich zu handeln hätte. Und da kam jemand aus dem benachbarten Bezirk und bat um ärztliche Hilfe. Der betreffende Bezirksarzt, ein alter, untauglicher Trunkenbold, lag und schlief seinen Rausch aus und konnte der Bitte nicht nachkommen, und daher hatte man nach mir geschickt. Es war ein Fall, wo ärztliche Hilfe unumgänglich notwendig ist, und es auch meistens hilft, wenn man den Arzt rechtzeitig holt. Da sah ich ein, wie wichtig eine Stellung wie die meine ist. Wenn ich sie verließ, würde sie freilich ein anderer übernehmen, aber wer bürgte mir dafür, daß nicht dieser andere auch ein Nichtsnutz sei, wie der benachbarte Bezirksarzt? Ich hatte das Volk hier kennen gelernt und liebte es wie Freunde. Es sind tüchtige, brave Leute, sage ich dir, Wildvögelchen, und der Gedanke tat mir leid, daß sie vielleicht einen Arzt bekommen würden, der sich nicht um sie kümmerte. Am Abend schrieb ich daher nach Stockholm und lehnte die mir angebotene Stelle ab. Und es hat mich nie gereut. Ich werde nie vergessen, wie ich nun dastand und in den dunkelnden Abend hinausblickte, während sie meine Absage las. Ich erwartete natürlich, daß sie mich mit Tränen und Bitten und Überredungskünsten überfallen würde, sobald sie meinen Brief zu Ende gelesen hatte. Sie hatte ja alle ihre Verwandten in Stockholm, und nichts war natürlicher, als daß sie gern dahin ziehen würde. Hätte sie es verlangt, so hätte ich auch nachgegeben, aber das tat sie nicht. Das Gegenteil traf ein. Ich werde nie die Zärtlichkeit ihres Blickes vergessen, als sie mir den Brief zurückgab, noch die Wärme ihrer Umarmung.«

Hier schwieg der Doktor, von seinen Erinnerungen überwältigt, und ich schwieg auch und verstand das Glück seiner jungen Frau.

»Heute abend bin ich wirklich sehr gesprächig gewesen. Aber die Dämmerung trägt gewiß die Schuld daran,« sagte er schließlich, als wir uns dem Doktorhaus näherten und den Wasserspiegel Vängans zwischen den Stämmen leuchten sahen.

»Es gereut mich aber nicht, wenn es dir einen Wink gibt, wie man lieben soll. Du wirst dich ja auch verheiraten, und der Liebe Kunst ist groß.«

»Man muß wohl ein geborener Künstler sein, um diese Kunst, wie jede andere, richtig ausüben zu können,« meinte ich.

»Ja, aber auch ein geborener Künstler muß studieren. Ich wünschte, daß jede junge Frau mit Bedacht ihre Gunst verschenkte, zum Beispiel nur aus Begeisterung für eine gute Tat, aus Liebe zu einem edlen Charakter oder aus Lust zum Helfen. Dann würden wir Männer gewiß besser werden.«

»Ich fürchte, sie würde dann nur sehr selten gegeben werden,« entfuhr es mir.

»Ja, aber das wäre besser, als daß sie wegen des Geldes verschenkt wird, oder für Schmeicheleien oder aus Zwang.«

Bei dem letzten Worte blitzten seine guten Augen vor Verdruß.

Ich kann mir gut denken, wie fein und rücksichtsvoll er gegen seine zartfühlende junge Frau gewesen sein muß. Und jetzt verstehe ich auch sein Mitgefühl für junge, fröhliche Bräutchen. Er beurteilt alle Frauen nach seiner Frau und weiß, daß nicht alle Männer so sind wie er.

14.

Wir befinden uns schon im Herbst, im Spätherbst sogar, aber ich bin noch in dem Paradies Viktors, obschon er selbst nach Stockholm zurückgekehrt ist, um seine Studien fortzusetzen. Ich bin hier, weil ich eine Bestellung bekommen habe. Ich male ein Porträt, nämlich das der jungen Baronin. Man wünschte, daß ich auf der Inselburg wohne, wo ich mein Modell habe, aber ich bleibe am liebsten bei meinem alten Doktor. Er sagt, er sei dankbar, so lange ich bei ihm bleibe. er nennt mich seine Tochter, und ich fange an, Vater zu ihm zu sagen.

Kleiner Viktor! Wie steht es jetzt mit unserem Spaß, oder richtiger, wohin führt er uns? Werden wir wohl jemals damit aufhören können? Ich glaube, wir müssen ihn unser ganzes Leben fortsetzen – wegen deines Vaters.

Aber ich wollte ja von der jungen Baronin sprechen. Sie heißt Helga. Und der Name paßt für sie, denn sie ist eine Heilige. Ich sehe einen Heiligenschein über ihrem goldglänzenden Haar. Aber trotz des Glanzes hat er die Form einer Dornenkrone. Ich möchte gern wissen, warum? – Vielleicht gehören der Heiligenschein und die Dornenkrone zusammen.

Die junge Baronin sitzt vor mir im blauen Kabinett der Inselburg. Der seidene Möbelstoff in diesem Zimmer ist wirklich blau, himmelblau, und harmoniert vorzüglich mit den blauen Augen der jungen Baronin.

Helga sitzt am Fenster in einem Lehnstuhl mit vergoldeten Sphinxköpfchen. Das Licht fällt von der Seite her auf sie. Es ist ein klares, kühles Herbstlicht, das den Heiligenschein über ihr erleuchtet. Ich meine den sichtbaren Schimmer vom luftigen, hellen Haar.

Die junge Baronin geht immer in Schwarz, das heißt nicht im Sommer. Dann ist sie weiß angezogen. Sie ist verwitwet. Als Modell sitzt sie in Weiß vor mir.

Sie ist eigentlich nicht mehr jung, sondern ein gutes Stück in den Dreißigern. Aber man nennt sie die junge Baronin, im Gegensatz zu der alten, ihrer Schwiegermutter.

Die junge Baronin hat eine ganz traurige Geschichte. Ich hörte diese Geschichte eines Tages von Elsa Valander, einem Fräulein von unbestimmbarem Alter und unbestimmbarer Anstellung. Sie ist auf Lebenszeit bei der Familie zu Gast, wie mir scheint. Sie ist mit allen befreundet und eine Altersgenossin sowohl der älteren, als der jüngeren Generation! Auf vielen Gütern gibt es solch ein weibliches Inventarstück. Sie ist vertraut mit den Familienverhältnissen. Man fühlt sich bei ihr heimisch. Sie ist fröhlich und gesprächig, voll Interesse und Zuvorkommenheit. Und außerdem ist sie einem nie im Wege und doch immer zur Hand. Ich verstehe sehr gut, daß man sich nicht damit begnügte, sie nur dann und wann zu haben. Wenn sie nicht da war, vermißte man sie sehr. Und da sie schließlich aus irgend einem Grunde allein im Leben stand oder die Stelle verloren, die sie vielleicht gehabt, haben sich ihre Besuche auf der Inselburg auf unbestimmte Zeit verlängert. Und nun ist sie beständig da, und alle mögen sie gern und sind damit einverstanden. Sie ist ein Überbleibsel der alten Jungfern, die ihre Zeit in den Häusern anderer Leute verlebten und das Interesse der Bewohner teilten. Aber sie ist ein modernisiertes Überbleibsel, freier und glücklicher als ihre Schwestern, denn ihr steht jederzeit der Weg zu selbständiger Arbeit offen. Und daher ist man sich gegenseitig dankbar für ihren Aufenthalt auf der Inselburg.

Ja, Elsa Valander ist solch ein Inventarstück. Und sie hat mir eines Abends die Geschichte der jungen Baronin erzählt, als ich in der Dämmerung nach Hause ging. Elsa Valander begleitete mich. Ich habe ihr einst etwas anvertraut, was ich jemand anders nicht gern anvertrauen möchte, mir ist bange, allein durch den Wald zu gehen, besonders an dem Kirchhof von Sunnanfors vorbei. Nicht einmal beim hellen Tage wage ich mich vorbei, sondern mache immer einen weiten Umweg durch den Wald. Und da ich an dem betreffenden Tage erst aufbrach, als es anfing zu dämmern, erklärte Elsa zu meiner großen Befriedigung, daß sie sich nach einem Spaziergang sehne und gern mit mir gehen wollte.

Man wird ganz vertraulich miteinander, wenn man so Arm in Arm zusammen geht, besonders im Walde und wenn es dämmert. Worüber man auch sprechen mag, so spricht man vertraulicher. Und nun wurde die junge Baronin der Gegenstand unseres Gesprächs. Ich glaube, ich war es, die zuerst anfing, von ihrem Heiligenschein und der Dornenkrone zu reden. Ich konnte mir nicht erklären, woher die Dornenkrone kam, aber Elsa Valander erklärte es mir. Der junge Baron Klaus hatte flott gelebt, ehe er mit Helga bekannt wurde und sich in sie verliebte. Sie war schon damals eine Heilige und hegte den heißen Wunsch, zu retten und zu helfen. Sie konnte sich keiner vornehmen Herkunft rühmen, besaß auch kein Vermögen, aber sie war schön und unschuldsvoll und hatte ein sehr liebenswürdiges Gemüt und feinen Takt. Und daher wurde sie mit offenen Armen von der Familie des jungen Barons empfangen. Gottes Willen in allem zu tun, war das Motto ihres Lebens, und um sich diesem Willen ganz zu fügen, war sie im Begriff, Krankenpflegerin zu werden. Da kam ihr aber der junge, wilde Baron in den Weg. Er verliebte sich in sie und gewann ihr Herz, als er erklärte, daß sie allein ihn retten könnte. Sie dachte, seine Rettung sei gewiß Gottes Wille, und gab sich der Liebe hin, die Gott ihr zu dem jungen Baron einflößte.

Der junge Baron Klaus liebte sie wirklich und entsagte seiner früheren Lebensweise. Aber es war zu spät. Die Folgen seines ausschweifenden Lebens schlichen ihnen in die Ehe nach und trafen die Anschuldigen. Helga wurde gleich nach ihrer Verheiratung krank und ist seitdem nicht wieder gesund geworden. Sie gebar ihm drei Kinder. Zwei starben gleich nach der Geburt, und das dritte, ein Junge, leidet an einer Augenkrankheit, die ihn mit der Zeit blind machen wird.

Als Baron Klaus Frau und Kinder vom Unheil betroffen sah, trübte sich sein Gemüt, er verfiel in tiefe Reue und gab sich der Schwermut und finsteren Gedanken hin.

Eines Tages, als er allein auf die Jagd gegangen war, fand man ihn, von seiner eigenen Flinte erschossen. Es konnte ja aus Versehen geschehen sein. Vor der Öffentlichkeit wurde die Sache auch so ausgelegt.

Das ist die Geschichte der jungen Baronin, so wie Elsa Valander sie mir erzählte. Und nun verstehe ich, warum ihr Heiligenschein an einen Dornenkranz erinnert.

15.

Ich habe noch nie eine Heilige gemalt. Und mir ist's, als müßte ich ein Kreuz über meinen weltlichen Pinsel schlagen, wenn ich ihn hervorhole, um an die Arbeit zu gehen.

Die junge Baronin meint, es sei sehr unnötig, sie zu malen. Sie lächelt entschuldigend und sieht verschämt aus, wenn sie sich auf den Stuhl setzt. Sie denkt gar nicht an ihr Aussehen. Sie weiß vielleicht nicht einmal, daß sie hübsch ist. Doch muß sie es wohl gewußt haben, als der junge Baron noch lebte. Er hat es ihr gewiß gesagt. Sie glaubt wohl, daß ihre Schönheit vergangen sei. Das ist aber nicht der Fall, sondern man denkt unwillkürlich an die Unvergänglichkeit, wenn man sie sieht.

Ihr größter Reiz ist die stille Harmonie ihres Wesens, die wunderbar gut zu dem wehmütigen, süßen Lächeln paßt.

Wenn mir das Malen mitunter nicht von der Hand geht, lasse ich den Pinsel ruhen, und statt des Malens plaudern wir. Heute war's ein solcher Tag. Draußen pfiff der Wind und riß die letzten Blätter von den großen Linden auf dem Hofe, und das Wasser Vängans schäumte weiß gegen das Ufer.

Wir sprachen von Italien, wo wir beide einst gewesen, und unter anderem auch von dem Kirchhof zu Genua.

»Ich liebe den italienischen Ausdruck für Kirchhof, Campo santo – heiliges Feld. Da wird gesät ...« sagte Helga, und sah gedankenvoll zum Fenster hinaus.

Ihr Gesicht trug einen Ausdruck, als sähe sie schon die Saat hervorsprießen.

Ich weiß nicht, woher es kommt, daß ich mir immer frommes Reden als Scheinheiligkeit vorgestellt habe. Es muß ein Irrtum meinerseits sein, wenigstens muß ich gestehen, daß es viele Ausnahmen von der Regel gibt. Die junge Baronin spricht gern von geistlichen Dingen, aber sie tut es in einer ganz natürlichen Weise, gerade wie wenn man von alltäglichen Sachen redet.

»Der Tod ist ein Rätsel,« sagte ich.

Wenn ich allein mit Helga bin, kommt es nämlich vor, daß ich ebenso natürlich, wie sie, von Dingen spreche, die ich sonst nicht nenne.

»Ja, und doch hat er so viele erläuternde Bilder im täglichen Leben. Das Körnchen zum Beispiel, das gesät wird. Es erstirbt – um in dem reicheren Leben der Pflanze hervorzusprießen. Und die Entwicklung des Schmetterlings! Die häßliche kleine Raupe, die kaum kriechen kann, und die nur lebt, um zu fressen, bis sie in der Puppe begraben wird und wie tot daliegt, schlüpft endlich als Schmetterling aus der Hülle und fliegt aufwärts.«

Ich habe bemerkt, daß Helga sehr viel an den Tod denkt. Und das ist ja auch natürlich, hat sie doch alle ihre Liebsten bis auf einen durch den Tod verloren. Zu meiner Verwunderung aber hat sie keine düstere Auffassung von dem Tod, sondern eine freundliche. Es kommt wohl daher, weil ihre Gedanken das suchen, was hinter dem Tode liegt.

Helga Sporre und ich sind Freundinnen geworden, und mitunter quält es mich, daß ich mehr von ihr gehört habe, als ich ihr eigentlich gestehen wollte. Aber ich kann ihr doch unmöglich sagen, was man mir von ihr erzählt hat. Ich möchte gern wissen, wieviel sie von ihrem Unglück versteht. Sie weiß vielleicht nicht, woher alles gekommen ist. Sie nimmt alles aus Gottes Hand: ihre eigene Krankheit, die Krankheit ihres Jungen und den Tod der anderen. Aber zuweilen entfallen ihr doch Worte, die darauf deuten, daß ihr das ganze Leben hienieden von der Wurzel aus wurmstichig zu sein scheint. Und so würde sie wohl kaum sprechen, wenn ihre Unschuld nur die der Unwissenheit wäre.

16.

Der Doktor interessiert sich für mein Werk und freut sich, daß Helga und ich miteinander befreundet sind.

»Heilige und Sonnenstrahlen passen gut zueinander,« sagt er in seiner lieben Weise.

»Warum müssen aber Heilige oft dunkle Wege gehen?« fragte ich.

»Es kommt wohl daher, weil sie das Licht in sich tragen und im Dunkeln von Nutzen sind.«

Ich denke viel an Helga und kann den Gedanken nicht los werden, daß es besser für sie gewesen wäre, wenn sie sich einer nützlichen Tätigkeit gewidmet hätte, statt in solch ein absterbendes Leben, wie sie es jetzt führt, hineingezogen zu sein. Sie selbst zweifelt nicht daran, daß sie dem Willen Gottes folgte, als sie sich verheiratete. Ich aber habe meine Zweifel und sage dem Doktor meine Meinung.

»Wir tragen den Grund von der Tragik unseres Lebens in uns selbst,« antwortete er. »Die Tragik Helgas war ihre Liebe. Ich glaube, sie ist eine von denen, die, wenn sie Liebe empfinden, sich ihr so völlig hingeben, daß alles andere daneben versinkt. Mit Klaus Sporre im Herzen hätte sie die Krankenpflege nicht ausgehalten.«

»Daß aber eine Frau wie sie zu einem verfehlten Leben verurteilt sein soll!« rief ich aus.

»Wie weißt du, daß ihr Leben verfehlt ist?«

Es klang beinahe streng.

»Ja, aber es ist ja – aus.« Und so kommt es mir wirklich vor, trotz ihrer Schönheit. Und nach der Antwort des Doktors zu urteilen, sieht er es ungefähr ebenso an.

»Aus! Wäre unser Erdenleben mehr als ein Ansatz zum Leben, dann wäre das Leben der allermeisten verfehlt.«

Daß er diese Ansicht vertritt, hätte ich nicht erwartet. Er ist ja selbst voller Lebenslust und interessiert sich für alles. Und außerdem lebt er ja, um andere am Leben zu erhalten. Es kommt mir vor, als ob diese Anschauungsweise sehr wenig zu seinem Leben und seiner Persönlichkeit paßt, aber es muß wohl schon so sein, denn er meint immer, was er sagt.

17.

Ich glaube, Helga versteht. Heute war sie sehr niedergeschlagen. Aber sie ist es auf ihre eigene Weise. Wenn sie in gedrückter Stimmung ist, so wird sie nicht dadurch verunziert, wie die meisten, sondern sie wächst in die Höhe. Die Augen ihres Jungen waren heute besonders schlecht.

»Er wird sein Augenlicht ganz verlieren,« sagte sie in ihrer ruhigen Weise.

»Und das sagst du so ergeben?« entfiel es mir.

Ihre Augenbrauen zogen sich vor Schmerz zusammen, und ich merkte schon, daß sie die Ergebung nicht ohne Kampf erlangt hatte. »Ich sehe lieber, daß er an den Folgen der Sünde leidet, als daß er selbst sündigt,« sagte sie sanft.

18.

Jetzt ist Helgas Porträt fertig, und nun male ich schon an dem ihres Mannes. Dies geschieht mit Hilfe alter Photographien und mündlicher Beschreibungen. Helga sitzt bei mir, wenn ich male, und spricht von ihrem Manne. Man hört es ihrem Ton an, daß sie ihn sehr lieb gehabt hat, aber sie sagt kein Wort von ihren Gefühlen. Was sie von ihm erzählt, ist so charakteristisch, daß ich ihn ganz lebhaft vor mir sehe. Er muß ein ganz reizender Mensch gewesen sein, nach dem zu urteilen, was nicht nur Helga von ihm erzählt, sondern auch seine alte Mutter und Elsa Valander und die alte Haushälterin. Alle schildern sie sein herzgewinnendes Wesen.

Ich male noch immer im blauen Kabinett. Helga sitzt im Sphinxenstuhl am Fenster mit dem Herbstlicht auf ihrem hellen Haar. Sie ist mit einer Handarbeit beschäftigt, und ihr kleiner Junge spielt auf dem Boden neben ihr.

Es ist ein blasses, sanftes Bübchen, gar zu sanft.

»Ich wünschte, er zerrisse seine Höschen und Strümpfe wie andere kleine Jungen,« sagte Helga und lächelte wehmütig, als ich einmal ihren Jungen lobte, weil er stets so sauber und ordentlich aussah.

Und das verstehe ich. Ihr kleiner Junge ist gar zu frühreif und schlägt seiner Mutter nach in ihrer Denkungsart. Er wird sich gewiß später sehr gut mit ihr verstehen, wenn sie ihn behalten darf.

»Er hat einen schwachen Blick für äußere Dinge,« sagt die Mutter, »aber die inneren sieht er desto klarer.«

Ich soll auch ihn malen, wenn ich mit dem Bild seines Vaters fertig bin. Und ich freue mich darauf. Es wird ein Engelsköpfchen werden, nein, etwas noch herrlicheres, ein Märtyrerkopf mit einem Dornenkranz.

Die drei Bilder, die ich male, sollen die Reihe der Familienporträts oben im Gesellschaftszimmer schließen. Nur um ihren Platz an der Seite des Baron Klaus einzunehmen, gab Helga zu, sich malen zu lassen. Und der alte Baron, der sich schon lange ihr Porträt wünschte, freut sich ungemein, daß es ihm endlich gelungen ist, ihren Widerstand zu besiegen. Es besteht ein sehr nettes Verhältnis zwischen Helga und ihren Schwiegereltern. Sie übt ihren stillen Einfluß in einer so sanften Weise auf sie aus, daß man es kaum merkt. Aber ihr Einfluß reicht weit über die Grenzen der Inselburg hinaus. Wie alle Heiligen, geht sie in der Gegend umher und besucht die Leute, sowohl die Armen wie die Wohlhabenderen. Obschon sie eine idealistische Auffassung von Personen und Dingen hat, fehlt ihr doch der Blick für Übelstände nicht. Und wenn sie einen solchen entdeckt, dem abzuhelfen ist, wendet sie sich an ihren Schwiegervater. Er geht auf alle ihre Wünsche ein. Der Baron ist ein gutmütiger, freigebiger Herr, der seinen Mitmenschen alles Gute wünscht, aber er gibt sich nicht die Mühe, ihre Bedürfnisse ausfindig zu machen. Wo man nicht klagt, bildet er sich ein, daß es keinen Grund zur Klage gibt, und wenn er eine Klage hört, hilft er nur, um den lästigen Laut loszuwerden. Da es aber vorkommt, daß die, denen es am schlechtesten geht, am wenigsten jammern, ist es um die Gerechtigkeit zuweilen recht schlecht bestellt. Aber Helga hat einen Blick für die wirkliche Not, und seit sie eingreift, ist Ordnung und Plan in seiner Hilfsbereitschaft.

Sie spricht niemals von ihrer Wohltätigkeit, aber andere Leute tun es um so mehr. Der Doktor sagt, daß er deren leuchtende Spuren oft in seiner Praxis bemerkt.

19.

Heute abend bin ich wie ein wild erregtes Meer. Im Geist will ich das eben Erlebte noch einmal durchgehen, das wird mich vielleicht beruhigen und mir Klarheit verschaffen.

Als ich beim Malen im blauen Kabinett saß, und Helga beim Nähen, traf etwas ganz Unerwartetes ein, das unser einförmiges, aber gemütliches Beisammensein störte. Ein junger Herr kam auf allen Vieren hereingestürzt. Natürlich nicht absichtlich. In der Tür war er mit Tasso zusammengestoßen. Tasso hat die schlechte Angewohnheit, sich vor allen anderen durch eine Tür zu drängen, und das mit einer solchen Gewalt, als gälte es das Leben, zuerst zu kommen. Tasso gab dem Jüngling einen so mächtigen Stoß von hinten, daß dieser das Gleichgewicht verlor und mit rasender Schnelligkeit bis zu Helga heranstolperte. Er wäre ihr beinahe in die Arme gefallen, wenn er nicht glücklicherweise vor ihr auf alle Viere gepurzelt wäre. Es geschah vielleicht aus Ritterlichkeit. Das sähe jedenfalls dem betreffenden Individuum nicht unähnlich.

Tasso dagegen, der immer auf allen Vieren geht, behielt das Gleichgewicht trotz des Zusammenstoßes, ohne zu wanken. Mit einem Sprunge war er bei mir, legte seine mächtigen Vordertatzen auf meine Schultern und sperrte seinen gewaltigen Rachen dicht vor meinem Gesicht auf. Vor Entzücken war er nahe daran, mich zu verschlingen. Ich bin freilich eine Hundefreundin, doch darf Tasso mir nicht das Gesicht lecken. Ich wehrte mich daher gegen seine stürmische Zärtlichkeit, und als er mir endlich Zeit gönnte, nachzusehen, wer so ohne weiteres seinen Eintritt gemacht, fand ich zu meiner großen Überraschung, daß es Viktor war.

Nicht alle hätten sich mit Anmut in eine solche Lage gefunden. Viktor aber verstand es. Er lachte laut auf, und damit war die Sache abgemacht. Keiner lacht so herzlich und so ansteckend wie er. Wir stimmten natürlich alle beide mit ein. Und zum ersten Male hörte ich Helga lachen. Viktor war stolz darauf, daß es ihm gelungen, ihr ein Lachen zu entlocken.

»Aber warum bist du hier?« war meine erste Frage, als ich mich wieder gefaßt hatte. »Du siehst ja, daß Tasso mich hereingestoßen hat.«

»Doch wohl nicht den ganzen Weg von Stockholm?«

»Der Stoß war kräftig genug dazu,« antwortete Viktor und zauste Tasso an den Ohren. Dieser heulte und knurrte vor lauter Entzücken und benahm sich im übrigen mit so stolzem Selbstgefallen, als sei es ausschließlich sein Verdienst gewesen, daß Viktor überhaupt zu uns gekommen war.

Viktor war scheinbar zu vergnügt, um ein vernünftiges Wort zu sprechen. Er konnte keinen Grund angeben, warum er gekommen sei, als daß er es für notwendig gehalten habe.

Das Malen ging gar nicht mehr; daher legte ich die Arbeit beiseite. Und nach einem gemütlichen Plauderstündchen im blauen Kabinett verabschiedeten wir uns, Viktor, Tasso und ich.

Wie vergnügt waren wir auf dem Heimwege! Wir waren wie zwei ausgelassene Kinder. Wir lachten und haschten einander im Walde, liefen über Stock und Stein, blieben am Gebüsch hängen und rissen uns los, ganz unbekümmert, wie's mit den Kleidern ging.

Als wir aber den Gipfel des hohen Felsens erreichten, wurden wir ganz still. Viktor sah sich um und umfaßte die ganze Gegend mit einem einzigen Blick. Er sog die frische, sonnige Luft in einem so tiefen Atemzuge ein, daß mir vorkam, es müsse weh tun. Ich weiß nicht, was in seinem Blick lag, aber ich wurde plötzlich verstimmt.

»Was ist dir? hast du dir weh getan?« entschlüpfte es mir.

»Man kann jemand so lieb haben, daß es weh tut,« antwortete er, und in seinem Blick und Ton lag etwas Unbeschreibliches. Im nächsten Augenblick aber war er wieder wie ein Knabe, der aus der Schule kommt und sich seiner Freiheit freut.

»Da! Du hast den Letzten!« Er versetzte mir einen leichten Schlag und stürmte fort. Ich stürzte augenblicklich nach. In sausendem Galopp ging es jetzt den großen Felsen hinunter. Wir rannten die Bäume an, stolperten über Baumwurzeln und Reisig, aber abwärts ging es mit Blitzesschnelle.

Plötzlich, als wir die Stelle erreichten, wo die hohen Fichten im Schutze des Berges stehen und sonnendurchleuchtete Dämmerung unter den Gipfeln der Kiefern herrscht, blieb Viktor stehen und wandte sich schnell um. Die Folge davon war, daß ich ihm in die Arme fiel. Er hob mich in die Höhe und drückte mich fest an sich. Ich sah sein Gesicht dicht an dem meinigen und hörte sein Herz heftig pochen.

»Wildvögelchen!«

So wie er das sagte, wurde mir klar, daß er den Spaß nicht länger durchführen konnte. Nach einem Augenblick stellte er mich wieder auf die Erde, aber mir kam es vor, als hätte ich furchtbar lange nicht dagestanden. Ein ganzes Leben kann sich in eine einzige Minute zusammendrängen.

Nun liefen wir nicht mehr, sondern setzten unseren Weg schweigend fort.

Es ist Mondschein, ein kalter, klarer Mondschein. Ich sitze in meinem Zimmer und schreibe beim Mondlicht. Wir können den Spaß nicht mehr fortführen. Wie wird es gehen? Müssen wir damit aufhören oder soll der Spaß in Ernst übergehen? hat Viktor Wildvogel schon gefangen? Sitzt Wildvogel vielleicht schon in dem Schloß seiner Gedanken? Frei sollte ich da, hineinziehen und frei da wohnen. Wohnt man wirklich irgendwo in Freiheit? Der Doktor sprach einmal von der Kunst der Liebe ...

Du lieber Viktor, morgen schon muß ich dir meine Entscheidung mitteilen.

Die Minute in deinen Armen dort unter den Bäumen im Walde umfaßte eine Lebenszeit. Noch einige solcher Minuten, nur eine Woche mit dir, würde mich so alt machen wie Methusalem.

Aber kann sich eine solche Minute denn wiederholen? Kann ein Menschenleben mehr als einen solchen Augenblick enthalten?

Lieber Viktor, was soll ich dir sagen?

Es geht ja nicht so weiter wie bisher, aber wir können unser Verhältnis auch nicht abbrechen. Es hat uns schon zuviel gegeben: Vater, heim, Gemeinschaft ... Paradies.

Wie können wir das alles aufgeben? Was bleibt uns anderes übrig, als Ernst aus dem Spaß zu machen? Aber was wird dann aus meiner Freiheit? Ach, du lieber Viktor, warum hast du Wildvogel gefangen?


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