Elisabeth Beskow
Wildvogel
Elisabeth Beskow

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4.

In Sund war Mittagsgesellschaft. Der Verkehr der Familie Hök umfaßte eine Anzahl Sommergäste, meist Jugend, denn eigentlich waren es Fabian und Ebba, die diese zufälligen Bekanntschaften pflegten.

Sonja Reis war lebhaft und unterhaltend, und niemand ahnte den Kummer in ihrem Innern, nicht einmal ihr Doktor Schwager, der doch die Ursache dazu war. Sie hatte ihn zum Tischherrn, und anscheinend unterhielten sie sich ungezwungen. Das hatten sie auch jedesmal getan, wenn sie sich nach der ersten unerwarteten Begegnung getroffen hatten. Sonja war jedoch äußerst empfänglich für unausgesprochene Eindrücke, und so empfand sie eine Feindseligkeit von Maxens Seite ebenso deutlich, als hätte er sie in Worte gekleidet. Und deshalb lag unter all ihrer fröhlichen Lebhaftigkeit doch ein dumpfer Schmerz, ein Grübeln darüber, was die Feindschaft bedeutete, und ob sie zu überwinden sein würde.

Einige der Herren saßen lange nach dem Essen über ihrem Glas, unter ihnen Max. Als er endlich in den Garten hinauskam, merkte Sonja ihm an, daß er stark getrunken hatte. Er ging geradeswegs auf sie zu. Sie wäre ihm gern aus dem Wege gegangen, wollte sich aber nicht unfreundlich zeigen, und ließ sich darum nichts merken. Seiner Haltung und Sprache merkte man nichts an, es war nichts Anstößiges in seinem Auftreten, das eine abweisende Haltung ihrerseits berechtigt hätte.

Wider Willen folgte sie ihm zu einer Bank, wo sie sich fern von den anderen niederließen. Er fing an, von vergangenen Zeiten zu sprechen, nicht eben von dem, was zwischen ihnen lag, sondern von gemeinsamen Erinnerungen. Er sprach in gefühlvollem Ton und umfaßte ihre ganze Gestalt mit seinen Blicken. War er vorher kalt gegen sie gewesen, so war er jetzt das Gegenteil, sie aber wünschte seine Kälte zurück. Alles war besser als diese Art Wärme. Mit seinem Takt und gewandten Antworten hielt sie ihn in den Grenzen, und wie unabsichtlich zog sie ihre Hand weg, wenn er danach tastete.

Ein unausgesprochenes Gefühl davon, daß sie gewissermaßen die Schuld an seinem jetzigen Zustand trug, machte sie duldsam und hielt sie an seiner Seite fest, obgleich ihre Blicke unruhig und ihre Wangen bleich wurden. Sie fragte sich verwundert, ob es ihm wohl bewußt sei, wie er sie behandelte. Hielt er sie vielleicht für eine, die sich mit dergleichen Gefühlen abspeisen ließ?

Als sie noch da saßen, kam Agnes Hök vorbei. Sie führte Wolf an der Hand, während Björn und ein anderer Knabe um sie her hüpften. Bei Gesellschaften in Sund war es selbstverständlich, daß Agnes sich der Gäste annahm, die man unterhalten mußte, ohne selbst etwas davon zu haben. Fabian und Ebba waren von ihren Altersgenossen in Anspruch genommen, der Fabrikherr und seine Frau teilten sich in die übrigen Gäste, beschäftigten sich aber doch am meisten mit denen, die sie interessierten. Daher fielen die Kinder Agnes zu, und alle fanden das ganz in der Ordnung.

Als Agnes jetzt auf die Bank zukam, wo die beiden saßen, ging eine Veränderung bei Max vor, sobald er ihrer ansichtig wurde. Das Sinnliche verschwand aus Haltung und Blick, er richtete sich auf und nahm einen anderen Ausdruck an. Als Agnes im Vorbeigehen sich ihnen zuwandte und ein paar Worte sagte, stand Max achtungsvoll auf und setzte sich erst wieder, als sie weitergegangen war. Er hatte nichts gesagt, denn Sonja antwortete ihr, aber seine ganze Art hatte gesprochen.

Dieser kleine Vorfall gab Sonja einen neuen Gedanken ein, und sie beschloß, Max unverkennbar zu zeigen, daß sie das geschwisterliche Verhältnis, und nur dieses, wieder zwischen ihnen herzustellen wünschte. Sie redete sich ein, daß sie natürlich nie etwas anderes gewollt hatte, als sie auf die Insel kam, vielleicht hatte er aber etwas anderes geglaubt.

Sie erhob sich.

»Wir sind unartig gegen die anderen, daß wir uns so absondern, wir als Geschwister dürfen das nicht!« sagte sie in einem leichten Ton, der aber gar nicht ihrer inneren Stimmung entsprach.

»Geschwister!« rief er mit verächtlichem Lachen aus. »Die Geschwisterschaft ist nicht näher, als daß wir uns heiraten könnten, wenn wir wollten.«

Sein Ton schnitt ihr ins Herz, und mit brennenden Wangen verließ sie ihn.

Im allgemeinen voller Rücksicht, konnte Sonja sehr eigennützig sein, wenn es ihr so paßte. So ließ sie jetzt alle gesellschaftlichen Pflichten im Stich und zog sich auf ihr Zimmer zurück. Ihr Herz war so schwer, daß sie es nicht länger aushielt, die Fröhliche zu spielen und über dies und jenes zu plaudern.

Frau Beata vermißte sie aber bald, suchte sie erfolglos unter den ungleichen Gruppen, beunruhigte sich und ging schließlich in die Dachstube hinauf, wo sie die Ausreißerin auf ihrem Lieblingsplatz im offenen Fenster fand, die Füße auf einem Stuhl, den Rücken gegen den Fensterrahmen gestützt, das Gesicht auf das Meer gerichtet.

»Warum sitzt du hier? Was du für eine bist! Läufst davon und suchst die Einsamkeit!« schalt Beata im Scherz, aber in ihren Augen lag eine ernste Frage.

»Verstehst du denn nicht, daß es geradezu unmöglich werden kann, unter Menschen zu sein und über gar nichts zu schwatzen? Man muß einmal weg in die Einsamkeit, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen.«

»Was hat dich denn aus dem Gleichgewicht gebracht, du liebe Kleine?«

Sonja schwieg zögernd, denn die Frage konnte ja nur durch völliges Vertrauen beantwortet werden, und dazu fühlte sie sich nicht imstande.

In Beatas Blick lag viel Zärtlichkeit und ein großes Verlangen, alles zu wissen, aber auch die Rücksicht, die sich nichts erzwingen will. Sie hatte Doktor Reis nach dem Essen mit Sonja fortgehen sehen. Vielleicht hatten sie sich von früheren Zeiten unterhalten, von den Verstorbenen, und vielleicht hatten die Erinnerungen Sonja aufgeregt, dachte sie.

»Das ist eine traurige Geschichte, vielleicht erzähle ich sie dir ein andermal, heute abend kann ich nicht,« sagte Wildvogel schließlich im Tone eines müden Kindes und schmiegte sich einen Augenblick innig an Beata, als fürchte sie, daß ihre Verschwiegenheit falsch aufgefaßt werden könne. Beata aber küßte sie und versicherte sie ihrer Teilnahme, selbst an dem, woran sie noch nicht teilhaben konnte.

»Es hilft mir, wenn ich auf das Meer blicke,« sagte Wildvogel und tat einen tiefen, bebenden Atemzug.

Sie sah hinaus, und Beata betrachtete sie. Das pikante Profil hatte heute abend etwas Erhabenes an sich. Des Meeres Unendlichkeit erweckte Verwandtes in der empfindsamen Frauenseele.

Plötzlich wandte Wildvogel ihren Blick von des Meeres Weite auf ihre Freundin.

»Als ich hier hinaufging, um einsam zu sein, hatte ich im Vorbeigehen eine kurze Unterredung mit Pastor Löwing, dem Einsiedler, wie man ihn nennt. Etwas in seiner Persönlichkeit zog mich unwiderstehlich an. Ist er immer so bereit, Rede zu stehen?«

»Er ist immer vorbereitet. Sogar mitten in der Gesellschaft lebt er wie in seinen vier Wänden. Was fragtest du ihn?«

»Ich fragte ihn, wer uns die Rätsel unseres Lebens deutet. Und er antwortete natürlich: Gott.«

»Warum fragtest du, wenn du die Antwort wußtest?« lachte Beata.

»Ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß etwas an ihm mein Inneres öffnete und mich zum Fragen zwang.« »Begnügtest du dich mit der Antwort, die du im voraus wußtest?«

»Nein, ich fuhr fort: ›Sich selbst deutet Gott gewiß unseres Lebens Rätsel, aber wird er sie auch uns einst deuten?‹«

»Und was antwortete Löwing?«

»Daß Gott sie uns oft deutet, ohne daß wir es fassen. Ich fragte, wie es käme, daß wir es nicht fassen. – Weil unsere Ohren auf andere als Gottes Stimme lauschen. – Da fragte ich, wie man lernt zu hören. – Auf dem Wege des Gehorsams. – Weiter fragte ich, wem man gehorchen soll, ehe man Gottes Stimme vernimmt, – denn er hatte ja gesagt, daß man durch Gehorsam hören lernt. Da schwieg er einen Augenblick, und ich fing schon an, mir zu schmeicheln, daß ich ihn durch die Folgerichtigkeit meiner Fragen in Verlegenheit gesetzt hätte. Aber dann erzählte er mir die Geschichte von einem Taubstummen, dessen Ohren Jesus öffnete. Er erzählte sie ohne Erläuterungen. Die habe ich mir selbst oben in der Einsamkeit gemacht. Und ich bin ihm dankbar, denn wenn ich einer Handreichung bedarf, will ich mich nicht durch andere dazu bringen lassen. Der Gedanke, selbst hinzugehen, gefällt mir. Mich wundert, daß er, der mich nicht kennt, das verstand.«

»Der Einsiedler ist ein Menschenkenner; er liest den Charakter in den Gesichtszügen, wie in einem offenen Buch.« »Es wirkt befreiend, einen solchen Menschen kennen zu lernen,« sagte Wildvogel leise. »Er könnte gewiß leicht nur durch seine Persönlichkeit einen elenden Menschen auf den rechten Weg bringen.«

»Hat er dir heute abend irgendwie geholfen?«

»Ich habe über den Taubstummen nachgedacht,« gab Sonja zur Antwort. »Als er kam, konnte er Jesu Stimme nicht hören, und auch nicht sagen, was er wollte. Er kam einfach – und wurde geheilt. Als er zu Jesus ging, konnte er doch nur seiner eigenen Not gehorchen. Ist denn die Not an sich schon Gottes Stimme?«

»Du liebe Kleine, wenn du dich wegen solchen Gedanken von uns entferntest, dann darf ich dich nicht schelten. Hast du die Lösung von des Lebens Rätsel gefunden?«

»Wie sollte ich, da ich noch nicht auf dem Weg des Gehorsams bin!« sagte Sonja, und blickte wieder auf das Meer hinaus.

In ihrem Innern fühlte sie aber ein so starkes Bedürfnis nach Hilfe, daß sie schließlich doch würde gehorchen müssen. War das Gottes Stimme, und wohin würde sie geführt werden, wenn sie gehorchte?

5.

Lebhaft und gesellig wie sie war, hatte Sonja Reis doch ein starkes Bedürfnis nach Einsamkeit, besonders seit sie hier in Sund war, wo sie unvermutet ein sehr verworrenes Garn entwirren sollte. Die Vergangenheit und die Zukunft vereinigten sich im Brennpunkt der Gegenwart und forderten von ihr, daß sie handelte. Was aber war die richtige Handlungsweise, und wie war sie durchzuführen?

Sonja liebte ihre Dachstube mit der Aussicht über das Meer, aber bisweilen fühlte sie sich dort beengt. Es genügte ihr nicht, die Natur aus der Ferne zu betrachten, sie wollte sich auch darin bewegen.

An der Brücke am Ende des Gartens lag ein kleines Ruderboot, das Sonja auf ihre Bitte während ihres Aufenthaltes in Sund zur Verfügung gestellt war. Das Boot war klein und eignete sich nur, um in den Meeresarmen und Buchten umherzurudern, aber Wildvogel, die das Unbegrenzte liebte, wagte sich auch mitunter in ihrer Nußschale auf die offene See.

Eines Nachmittags war sie allein draußen in ihrem kleinen Boot und ruderte planlos und ohne Ziel umher. So gelangte sie an eine kleine Insel, auf der eine Hütte durch die Bäume schimmerte. Sie lag so idyllisch, daß Sonja Lust zum Landen empfand, um zu sehen, wer da wohne.

Drinnen war es nichts weniger als idyllisch. Dort herrschten Krankheit, Alter und Armut!

Eine Greisin lag krank im Bett, und ihr alter Mann war keiner Hilfeleistung fähig. Ein kleines, graues, mageres Männchen mit wirrem Haar war der Greis, und seine Stimme klang alt und ergeben. –

Wildvogel mit ihrem warmen, impulsiven Herzen hätte ihn am liebsten in die Arme geschlossen, aber sie sah ein, daß ihm das wenig nützen würde. Die ausgemergelte Gestalt der alten Frau und der schmerzliche Ausdruck ihres Gesichtes rührten Sonja und sie fragte, ob sie nicht nach dem Doktor geschickt hätten.

»Ich war vorige Woche bei ihm und bekam Medizin für sie, das hat aber nichts geholfen,« antwortete der Greis.

»Der Doktor muß hierher kommen und sie sehen.«

»Ach, wir sind so alt und arm, das lohnt sich nicht, den Doktor zu bemühen,« sagte der Alte.

»Ich will ihn holen, und er soll unentgeltlich kommen,« versprach Wildvogel.

Sofort ruderte sie über die breite Wasserstraße zwischen den Inseln und mußte dann noch ein Stück Weges bis zum Doktorhaus gehen. Unterwegs traf sie Agnes und bat sie um ihre Begleitung. Gern willigte Agnes ein, da die Angelegenheit sie interessierte.

Als sie das Haus erreichten, begegnete ihnen eine alte Frau, die Agnes sofort in Anspruch nahm und ihr so viel zu erzählen hatte, daß Sonja nicht warten wollte, sondern allein eintrat. Niemand war zu sehen, doch standen die Türen offen, so daß sie plötzlich vor Max stand, der einsam über dem Glase sah.

Auf der Schwelle blieb Sonja stehen, und einige Augenblicke musterten sie einander schweigend. Max betrachtete sie mit spöttischen und herausfordernden Blicken. Es schien ihn zu freuen, daß sie gerade jetzt hierher gekommen war, und er wartete auf das, was sie sagen würde. Es war aber nicht, was er erwartet hatte.

»Ich wollte dich zu einer Kranken holen,« sagte sie.

»Ist jemand in Sund krank?« Er erhob sich schnell.

»Es ist niemand in Sund.«

»Niemand in Sund? Wer hat dich denn geschickt?«

»Eine arme, alte Frau auf der Skarpinsel liegt krank und in Schmerzen. Der Mann war vorige Woche bei dir und bekam Arznei, die aber nicht geholfen hat. Wenn du hinfährst und sie siehst, kannst du ihr vielleicht etwas Besseres geben?«

Sein Eifer ermattete sichtbar, und er machte eine Bewegung, als wolle er sich setzen, tat es aber doch nicht. »Der Alten ist nicht zu helfen.«

»Weißt du das gewiß?«

»So gut wie gewiß.«

»Hast du sie gesehen?«

»Die Beschreibung, die der alte Mann gab, genügte wohl.« »Kannst du auf die Beschreibung eines alten ungebildeten Mannes hin eine richtige Diagnose stellen?«

»Man braucht nicht gebildet zu sein, um zu erzählen, wo es einem alten Weibe weh tut.«

»Ich habe ihnen versprochen, dich zu holen.«

»Das war gewagt.«

»Ich dachte nicht, daß du dich weigern könntest, zu einem Kranken zu gehen, wäre er auch noch so arm.«

Das Wort traf ihn, seine Augen funkelten zornig.

»Du scheinst deine verhängnisvolle Neigung, das Gute in den Menschen zu überschätzen, behalten zu haben. Es ist an der Zeit, daß du sie ablegst, wenigstens mir gegenüber,« sagte er heftig.

»Du bist nicht so schlecht, wie du dich machst. Max.«

»Findest du das? Versuche doch, dem Schwein einzubilden, daß es sich nicht in seinem Kot wälzt, sondern fliegt,« sagte er mit steigender Erregung, und aus seinen Blicken sprach der jahrelang aufgespeicherte Groll.

»Was meinst du damit, Max?« fragte Sonja leise. Ihr Herz war schwer und wund.

»Eingreifen willst du jetzt wie früher und mich dazu zwingen, so zu handeln, als wäre ich besser, wie ich bin. Ich bin nicht gut, werde es nie werden und will mich auch nicht stellen, als wäre ich es. Nun weißt du, was ich meine.«

Es freute ihn, ihr die Worte zuzuschleudern, als wären es Dolche, und ihre Wirkung zu beobachten. Sie verharrte im Schweigen, und er konnte den Triumph der Schadenfreude feiern. Und er tat es gründlich, wenn auch kurz, denn bald sprach er wieder in einem ganz veränderten Ton.

»Wo hast du dein Boot?«

»Mein Boot?« fragte sie, und sah ihn wie geistesabwesend an.

»Du kommst ja von der Skarpinsel, da mußt du doch ein Boot haben.«

»Das Boot liegt in der östlichen Bucht.«

»Komm denn.«

»Willst du wirklich mit zu der Kranken fahren?« rief sie erstaunt aus.

»Du hast eine schöne Meinung von mir! Hältst du mich wirklich für einen so pflichtvergessenen Arzt, daß ich der Aufforderung, zu einem Kranken zu kommen, nicht Folge leistete?«

Sie sah ihn erstaunt über den plötzlichen Wechsel an, aber dann gab sie den Versuch des Verstehens auf und schlug auch einen anderen Ton an.

»Dann laß uns gehen,« sagte sie heiter.

Aber in der Tür stand sie still und sah zurück nach der Flasche auf dem Tisch. In ihren blauen Augen funkelte es, wie von Übermut und Entschlossenheit. »Du bist aber ungastlich, sitzt und pflegst dich selbst und bietest mir nicht einmal einen Tropfen an,« sagte sie.

Er ließ sich von der unerwarteten Forderung nicht verblüffen, sondern holte ein Glas.

»Bitte schön!«

»Das ist nicht nötig, ich trinke am liebsten aus der Flasche. Gibst du mir den ganzen Rest?« fragte sie lachend, und hielt die Flasche vor ihm in die Höhe.

»Psyche in der Rolle einer Bacchantin!« murmelte er halb belustigt, halb peinlich von dem Anblick berührt.

»Gibst du mir den ganzen Rest?« wiederholte sie.

Jetzt durchschaute er ihre Absicht.

»Es gibt noch mehr auf der Insel,« antwortete er spöttisch.

»Vielleicht gibt es aber für dich nicht mehr, Max!« sagte sie kühn.

Er errötete bei dieser direkten Andeutung.

»Wie lange soll die Kranke warten?« fragte er.

»Nicht mehr lange,« antwortete sie und warf die Flasche zur Erde, so daß sie zerbrach.

Dann sammelte sie die feuchten Glasscherben auf und legte sie auf einen kleine Tisch in der Ecke der von dem Platz aus, wo Max gesessen hatte, sichtbar war.

»Laß nur die Scherben ruhig liegen, sie werden doch nicht mehr gebraucht.« »Wenn es dir Vergnügen macht, in meiner Wohnung alles drüber und drunter zu werfen, so will ich dafür sorgen, daß niemand nach dir aufräumt.«

»Willst du sie ansehen und dich dadurch warnen lassen?«

Er lachte laut auf.

»Es ist ein höchst originelles Warnungszeichen, das du für gut findest, mir zu hinterlassen!«

Sie wandten sich der Tür zu, um zu gehen, und da stand Agnes plötzlich vor ihnen. Beide hatte der Auftritt so in Anspruch genommen, daß sie ihr Kommen nicht bemerkt hatten. Wie sie dastand im Abendschein, der zu Tür und Fenster hineinströmte, sah sie aus, als wäre sie in Gold gefaßt. Goldig schimmerte das braunlockige Haar, wo der Sonnenschein darauf fiel, wie Gold glänzten die schwarzbraunen Augen, Gold lag auf ihrer sonnengebräunten Haut, und daß ihr Herz und ihr Charakter von Gold waren, das wußte jeder, der sie kannte.

Wieviel hatte sie von dem Auftritt gesehen? Die Frage drängte sich sowohl Sonja wie Max schwer aufs Herz, aber er überwand seine Verlegenheit am schnellsten.

»Ist das nicht ein prachtvoller Schmuck, der mir da geworden ist?« fragte er und deutete auf die Scherben.

Agnes lachte und warf einen raschen, mitfühlenden Blick auf Sonja.

»Eine Gabe erhält Wert durch den, der sie uns gegeben hat, und warum sie uns gegeben wurde,« antwortete sie.

»Von dem Standpunkt betrachtet, habe ich in meinem Hause nichts Wertvolleres, als den Haufen Scherben,« versicherte der Doktor mit einer kleinen Verbeugung gegen Sonja und einer halbgutmütigen Schelmerei im Blick.

Alle drei machten sich jetzt auf den Weg nach der Skarpinsel und hatten eine angenehme Fahrt, ohne jeglichen Mißton. Der Doktor machte witzige und lustige Bemerkungen und war freundlich und weniger spöttisch wie gewöhnlich. Bei der Kranken war er umsichtig und sorglich, und man merkte deutlich, daß er sein Bestes tun wollte. Agnes half ihm bei der Untersuchung, und es wurde Sonja klar, daß sie die freiwillige Krankenpflegerin der Insel war und dem Doktor in seiner Praxis oft zur Hand ging.

»Ich allein habe sie angelernt, und ich habe alle Ursache, stolz auf den Erfolg zu sein,« sagte er.

Später begleitete er die Damen nach Sund und war den ganzen Abend angenehm und liebenswürdig.

»Es ist klar, daß es ihm gut getan hat, einmal sein Mütchen an mir zu kühlen,« dachte Wildvogel, von ihrem Tagewerk befriedigt.

6.

Der zum Gottesdienst bestimmte Raum liegt auf der großen, sturmumbrausten Insel nicht auf einer Anhöhe, sondern im Schutz am Fuße einer solchen. Und das ist auch nötig, denn die Kapelle ist baufällig und die Meeresstürme stark. Anspruchslos erheben sich die Mauern und werden von einem einfachen Dach überragt, das nicht einmal den Ansatz eines Turmes trägt. Alle Häuser der Insel sind niedrig, der Wind hat ihnen einen solchen Respekt eingeflößt, daß sie sich nicht zu erheben wagen. Nicht einmal der Tempel Gottes ist höher als die anderen Gebäude, deshalb darf er auch keinen Turm haben, sondern trägt seine Glocken an einem nebenan stehenden Gerüst. Das Gerüst ist alt, niedrig und breit und ähnelt eher einer runden Sturmhaube als einem Turm. Aber klangvoll sind die Glocken und senden ihre heilige Stimme in schöner Harmonie weit über Inseln und Wasser.

Der einzige äußere Schmuck der Kapelle besteht aus dem vergoldeten Holzkreuz am First über der Eingangstür. Es ist nur klein und niedrig, aber dauerhaft und gut befestigt. Ein unbekannter Arbeiter aus vergangenen Geschlechtern hat es verfertigt und festgeschmiedet und seine Sache gut gemacht. Er dachte wohl in dem zähen Glauben und der hartnäckigen Frömmigkeit alter Zeiten, daß kein Sturm vom Meere imstande sein würde, es der Wohnung Gottes unter den Menschen zu entreißen. Vor der Welt sieht es nicht nach viel aus mit seiner nachgedunkelten Vergoldung und schmucklosen Form, aber es steht fest.

Außen und innen ist die Kapelle einfach. Als Sonja sie das erstemal besuchte, betrachtete sie das Altarbild eingehend. Es ist kaum so alt, daß seine Häßlichkeit schön genannt werden könnte, und doch ist seine Häßlichkeit aus einem anderen Grunde schön. Sie grübelte lange darüber, warum wohl das häßliche Bild anziehend war. Schließlich betrachtete sie es so, wie man wohl den guten Willen in einem Werk ansieht, und da wurde ihr seine Schönheit klar. Glaube und Frömmigkeit hatten es gemalt.

Der erste Gottesdienst in der kleinen, dürftigen Kapelle versetzte sie in eine wunderbare Stimmung. Er hob sie zu Gott empor, und sie sah gewissermaßen von seinem Standpunkt die dürftigen Gebete der Menschen und ihre armseligen Versuche, sich ihm huldigend zu nähern.

Sie hatte schon viele stattliche Domkirchen gesehen, mit duftenden Weihrauchwolken im Dämmerlicht und mit hohen Chören, aber ihr schien, als müsse diese kleine Kapelle in Gottes Augen höher stehen. Was liegt Gott an der Höhe unserer Kirchtürme und Mauern, oder an der Vergoldung unserer Kreuze, was liegt ihm an der Kunst der Altargemälde, die unsere Tempel schmücken? Was ist das Schönste auf Erden dem, der in unnahbarem Lichte wohnt? Der gute Wille bei unseren Taten, der Glaube in unseren Gebeten, Aufrichtigkeit unseres Herzens – darin sieht er den Widerschein seines Wesens in uns.

Dieser Widerschein war hell und stark in der kleinen Kapelle, und in dem, der darin redete.

Das erstemal ging Sonja eigentlich nur zum Zeitvertreib dorthin, aber schon bei dieser ersten Bekanntschaft wurde ihr der Ort lieb, und die Predigt fesselte ihre Aufmerksamkeit so sehr, daß sie sich selbst darüber wunderte. Was sie hörte, drang in ihr Herz und blieb dort haften.

7.

In alten Zeiten geschah es wohl, daß ein greiser Kämpfer, der die Eitelkeit des Streites und die Größe des Friedens eingesehen hatte, sich zurückzog und seine Wohnung in einer einsamen Höhle aufschlug, um dort sinnend zu sitzen, das Gesicht auf das Meer gerichtet, dessen Wogen das Drachenschiff der Streitertage seines Wikingerlebens durchfurcht hatte.

Glorreich waren die Tage junger Kraft, als ein Kampf den anderen ablöste und Ehre und Beute errungen wurden. Wohl spannten sich die Muskeln seiner Arme noch kräftig und seine hochgewachsene Kriegergestalt war noch ungebeugt, aber nicht mehr nach Kampf, noch nach lärmenden Trinkgelagen stand sein Sinn. Er liebte nur noch die Einsamkeit, und wenn die Sterne in der Unendlichkeit über dem Meer glitzerten, dann blicke der Einsiedler in den ewigen Frieden.

Wohl zogen die Wikingerschiffe noch an seiner Höhle vorüber, und draußen auf dem Meere herrschte der Kampf wie früher. Der Lärm des Menschenlebens erreichte sein Ohr, aber nur wie ein Echo, und was er sah, stellte sich ihm dar wie lebende Bilder, deren Text er sich selber schuf. Er selbst stand jenseits des Treibens in seiner großen Einsamkeit.

Das geschah, als die Morgenröte des Christentums über dem Lande aufging, und das kann auch heute noch geschehen, obwohl die Zeiten zu nüchtern sind, um einen Einsiedler für heilig zu halten, und er selbst zu aufgeklärt, um sich von den Menschen zurückzuziehen. Sie erkennen ihn nicht als Einsiedler an, er ist ja mitten unter ihnen, aber nichtsdestoweniger lebt er sein Leben allein mit Gott.

Auch auf der Insel befand sich ein solcher Einsiedler, Birger Löwing. Vor sieben Jahren war er dorthin gekommen, niemand wußte woher, aber die, welche über ihn nachdachten, meinten, daß er aus einem stürmischen Leben und dem völligen Zusammenbruch heraus geflohen sein müsse. Vielgestaltig schienen die Erinnerungen, die in der Einsamkeit nachreiften. Kräftig und ungebrochen, hatte er doch etwas an sich, das darauf hindeutete, daß er des Lebens in der großen Stadt überdrüssig geworden sei und seinen Sinn ganz auf das Ewige gerichtet habe.

Vom ersten Augenblick an umfaßte Frau Beata Hök ihn mit ihrem großen, warmen und neugierigen Interesse. Gewohnt, daß sich ihr selbst die verschlossensten Menschen nach und nach erschlossen, zweifelte sie nicht daran, daß sie bald alles über den Sonderling erfahren würde.

Er fühlte sich auch zu ihr hingezogen, erwiderte ihre Freundlichkeit dankbar und fühlte sich in Sund wie zu Hause. Ihre Lebhaftigkeit verlockte ihn auch bisweilen zu angeregter Unterhaltung, wobei er große und tiefe Lebenserfahrung, klare Gedanken und warmes Gefühl verriet, aber weder etwas von seiner Vergangenheit, noch von seinen Verhältnissen.

Darüber erfuhr Frau Beata nur, daß er ein Geschäftsmann gewesen war, ehe er Geistlicher wurde, und daß er jetzt seine erste Predigerstelle inne hatte.

»Warum wurden Sie Prediger?« konnte sie sich nicht enthalten eines Tages zu fragen.

Er zögerte etwas mit der Antwort, und Frau Beata errötete, denn sie empfand die kleine Zögerung als Vorwurf wegen ihrer Aufdringlichkeit, obgleich nichts in seinem Verhalten oder seinem Aussehen verriet, daß er es so gemeint hatte.

»Ich hatte das Gefühl, daß ich des Vorrechts und der Heiligkeit des Amtes bedurfte, um den Menschen die Hilfe bringen zu können, die mir selbst zuteil geworden war,« antwortete er einfach.

Beata brannte vor Eifer, mehr zu fragen, aber etwas Zurückhaltendes in seinem Ton und seiner Haltung schien, ihm selbst unbewußt, weiterer Annäherung eine Grenze zu setzen. Nicht einmal sie wagte diese unsichtbare, aber fühlbare Grenze zu überschreiten.

Es war charakteristisch für Beata, daß sie trotz aller vergeblichen Versuche, ihre Niederlage nicht einmal sich selbst eingestand, sondern sich für die Vertraute des Einsiedlers hielt. Wahrscheinlich deshalb, weil er ihre Gesellschaft gern aufsuchte und mitunter lange Zeit schweigend bei ihr sitzen konnte; dies Schweigen sah sie für einen Beweis seines Vertrauens an.

Auch gewährte es ihr Befriedigung, daß man sie allgemein für seine Vertraute hielt. Man wunderte sich allerdings darüber, daß sie niemals etwas über ihn erzählte, als was alle Welt wußte, vermutete aber, daß sie sein Vertrauen gut bewahre. Aber gerade auch darüber wunderte man sich, denn Verschwiegenheit gehörte nicht gerade zu Frau Beatas Tugenden. Sie freute sich nämlich zu sehr über ihre Gabe, die Leute dahin zu bringen, ihr einen Einblick in ihr Innerstes zu gewähren, und war zu stolz darauf, um nicht damit zu glänzen. Als Beweis für diese Gabe deutete sie gern ein oder das andere an, in das man ihr Einblick gewährt hatte. Aber da ihr eine solche Andeutung in bezug auf Birger Löwing niemals entschlüpfte, so erfuhren die Leute nicht mehr durch sie, als durch ihn selbst.

Des Einsiedlers rotes Haus lag einsam und schön auf einem Felsen mit der Aussicht auf das offene Meer. Er liebte die körperliche Arbeit und hatte schon im ersten Jahre Erde herbeigeschafft, Blumenbeete angelegt und Sträucher und Bäume gepflanzt, so daß es im Sommer um seine Wohnung blühte und sang und summte.

Vor seiner Haustür hatte er einen überdachten Vorbau errichtet, getragen von zwei geschnitzten Säulen. Außerdem hatte er noch eine Bank an der Mauer neben dem Vorbau gezimmert, denn er liebte es, kein Dach über sich zu haben, sondern nur den hohen Himmel, wenn er, mit dem Blick auf das Meer gerichtet, sinnend, lesend, oder auf seiner Flöte blasend, da saß.

Hier bei ihm auf der Bank waren die Bekümmerten immer willkommen und konnten ihre Sorgen frei aussprechen, ohne Furcht, von Unberufenen gehört zu werden, denn Stina, die einzige, die das Häuschen mit ihm bewohnte, war beschränkt und schwerhörig und nicht imstande, etwas aus Gesprächen anderer aufzufangen. Was sie fassen sollte, mußte man ihr mühsam einprägen.

Niemand konnte begreifen, warum der Pastor Stina als Dienerin angenommen hatte, wenn nicht um ihres Elends willen. Sie hatte in einer elenden Baracke gewohnt und sich ihren Lebensunterhalt mit Besenbinden und anderen kleinen Arbeiten verdient, bis er sie fand und sie als Haushälterin bei sich anstellte. Alle prophezeiten, daß er seine Barmherzigkeit bald bereuen würde, aber man täuschte sich. Löwing besaß Menschenkenntnis und erblickte in der armen Stina Möglichkeiten, an die kein anderer auch nur im entferntesten dachte. Er bat eine tüchtige und willige Lotsenfrau, bei der er zu Anfang seines Aufenthaltes auf der Insel in Kost gewesen war, Stina anzulernen. Dazu war die Frau willig, und es zeigte sich, daß, wenn Stina einmal etwas erfaßt hatte, es für alle Zeiten festsaß. Und niemand konnte treuer in ihren Pflichten sein als Stina, nachdem sie begriffen hatte, was von ihr gefordert wurde. Eine aufopferndere Dienerin als sie es war, hätte der Pastor niemals bekommen können.

Das war zu Anfang von Löwings Aufenthalt auf der Insel. Die Leute merkten, daß der Sonderling ein gutes Herz habe. Es fehlte Stina nicht an Schicksalsgenossen, die versuchten, ob dies Herz groß genug sei, um auch ihnen Raum zu gewähren. Und siehe da, es war groß genug. Nach diesen Letzten der Insel, die im Hilfesuchen die Ersten gewesen waren, kamen andere, und bald hatte sich der Ruf bestätigt, das tatsächlich niemand ungehört von Birger Löwing fortgeschickt wurde.

Seine Geldmittel waren sehr beschränkt, aber seine Erfindungsgabe, wenn es galt, Rat zu schaffen, war unbegrenzt. Schon seine Art, die Not anderer auf sich zu nehmen, hatte die Kraft, den hoffnungslosesten wieder Mut zu machen.

Nicht nur die im Kampf um das tägliche Brot Erlahmten und Erlogenen wandten sich an ihn, obgleich es zuerst meist solche waren. Auch andere kamen mit ihren verschiedenen Sorgen, und für alle hatte er ein lebhaftes Interesse und ein reiches Verständnis. Man merkte deutlich, daß er in seinem Leben viel durchgemacht haben müsse, um sich so in die Erfahrungen und Sorgen verschiedenster Art versetzen zu können.

Die Verschwiegenheit, die man ihm zuerst verargt hatte, flößte nach und nach Vertrauen ein. Man sagte sich, daß derjenige, der über sich selbst schwieg, auch über die Angelegenheiten anderer schweigen würde. Und man täuschte sich nicht.

Sein nach innen gewandter kluger Blick vertiefte sich mit den Jahren infolge der vielen Lebensschicksale und verborgenen Kämpfe, in die er eingeweiht wurde und mit Rat und Tat und Fürbitte eingriff. So wurde seine Einsamkeit mit Gott mehr und mehr durch Fürsorge für alle die angefüllt, die er zu Gott wies oder auch mit vertrauensvoller Fürbitte um Hilfe vor Gott vertrat.

»Du hast mich gesandt, um von dir zu zeugen, und das habe ich getan. Zeige, daß du meinem Wort von dir mächtig beistehst, und laß dich von denen finden, die dich auf meine Ermahnung hin suchen. Laß nicht ihr, wenn auch schwaches, Vertrauen zuschanden werden. Bekenne dich zu deinem Werk durch mich, heiliger Vater!«

So lautete oft seine kühne Rede im Alleinsein mit Gott, wenn er dem Herrn bald des einen, bald des anderen Sache vorlegte, im Bewußtsein der eigenen Unvollkommenheit und überwältigt von der unübersehbaren Größe der Aufgabe.

Die, welche es nicht über sich bringen konnten, ihn persönlich aufzusuchen, hörten ihn in den Versammlungen.

Dorthin kam er aus seiner Einsamkeit mit Gott und gab die Gedanken wieder, die ihm dabei unter des gestirnten Himmels Glanz und Mannigfaltigkeit aufgegangen waren. Seinen Meister vor Augen, redete er, was dieser ihm eingab, und sein Streben ging dahin, in klarer und lebendiger Gemeinschaft mit Gottes Geist zu stehen, weil er nichts anderes sein wollte als seines Herrn Stimme.

Die Folge hiervon war, daß auch die geheimsten Anliegen, mit denen sich die Hörer mühten, nicht ohne Beistand blieben, selbst, wenn der Redner keine Ahnung von der Frage, die er beantwortete, oder der Not, der er abhalf, hatte. Nur das allsehende Auge sah, nur er, der durch seinen Diener gab, wußte, daß Kraft ausging. Nur er und noch einer – der, welcher mit scheuer Hand den Saum des Kleides berührte und die ausströmende Kraft empfand. Aber der Diener, der das vermittelnde Glied zwischen Gott und dem im geheimen Suchenden war, wußte nichts davon. Er forschte auch nie nach dem Erfolg seiner Arbeit. Wenn er ihn einmal erblickte, freute er sich und war dankbar, aber er hütete sich wohl, sich das anzurechnen, was er tun durfte. Die Arbeit war ihm Bedürfnis, er lebte nur dafür, sie treu auszuführen, den Fortgang und den Erfolg aber überließ er Gott. Er war nur das Werkzeug und die Stimme seines Herrn.

Diese Stimme erreichte Sonja Reis und drang so tief in ihr Inneres, wie sie es bisher nicht für möglich gehalten hatte.

Schon bei ihrem ersten Zusammentreffen mit dem Einsiedler hatte sie den Eindruck empfangen, daß er einer von denen sei, die ihr im Leben begegnen mußten, und dieser Eindruck gewann an Stärke, je mehr sie von ihm hörte und sah. Es war auch, als brauchte sie ihn, diesen Diener Gottes, der nichts anderes war und sein wollte, als seines Herrn Stimme, an dem Scheideweg ihres Lebens, den sie eben jetzt erreicht hatte. Gott selbst redete durch ihn sein umgestaltendes Wort zu ihr, und sie lauschte schweigend und demütig in ihrem Innern.

8.

Der Einsiedler hatte etwas von einem Dichter an sich, und daher wurde seine Predigt auch mitunter zu einer Schilderung, so farbenreich und lebendig, daß die Handlung des Textes, der vor vielen Jahrhunderten entstanden war, so hervortrat, als sei alles eben erst geschehen. Dann wurde er selbst beseelt von dem, was er erblickte, sein leuchtendes Auge schaute in weite Fernen und seine Stimme klang wohllautend und mächtig.

So stand er an einem sonnigen Sonntag und redete, wie es ihm eingegeben wurde, und der Geist schwebte schaffend über dem Wort.

Er sprach über die vier Männer, die den Gelähmten zu Jesus trugen, ihn aber hinter Mauern und Volksmengen nicht erreichen konnten. Ihre Unruhe und Mutlosigkeit über die großen Hindernisse nahm für den Hörer die Gestalt seiner eigenen Stellung vor dem Hindernis aus seinem eigenen Wege an, und die Angst des Lahmen wurde zu der eigenen Angst dessen, der sich irgend einem Erfordernis des Lebens gegenüber ohnmächtig fühlte.

Aber die vier ließen sich nicht abschrecken. Ihr Vorsatz, trotz allem durchzudringen, wuchs mit den Hindernissen. O, wie muß der Lahme sie dafür gesegnet haben! Sie ließen sich nicht abschrecken, sie hielten Rat, sie überlegten, sie konzentrierten ihr ganzes Denkvermögen auf die eine Frage: Wie können wir Jesus erreichen? Der Scharfsinnigste von ihnen fand einen Ausweg. Oder war es vielleicht der wenigst Scharfsinnige, der wenigst Begabte? Wer weiß es? War er es aber, so muß er auch am meisten geliebt haben, denn ist die Liebe nicht erfinderischer als der Verstand?

Dann vereinten die vier ihre Kräfte und drangen durch, denn es wurde ihnen geholfen, und sie besaßen den Glauben, der über Mauern springt und Dächer abdeckt und seine Bürde vor des Meisters Füße legt.

Sonja sah neben Agnes und hatte das Gefühl, als wäre jedes Wort an sie gerichtet, wenn auch nicht von dem, der sprach, so doch von dem, dessen Stimme er war.

Draußen auf dem Kirchhof wurde Agnes aufgehalten, und Sonja sah, wie die Blicke ihr entgegenstrahlten und wie ihre Hand gedrückt wurde, so wie nur die geliebte, warme Hand gedrückt wird.

»Ist der Pastor noch nicht herausgekommen?« fragte Agnes und blickte sich suchend um, als sie endlich freigelassen wurde.

»Ja, er ist herausgekommen und fortgegangen,« antwortete Sonja.

»Warum sagtest du mir das nicht? Mama hatte mir aufgetragen, ihn zum Mittagessen einzuladen.«

»Wie konnte ich das wissen, du hattest mir ja kein Wort davon gesagt.«

Agnes lachte verlegen, als wolle sie Sonja um Verzeihung bitten.

»Wie ärgerlich, daß ich nicht aufpaßte,« sagte sie.

»Wir können zu ihm gehen, er wohnt ja in der Nähe.« »Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig,« sagte Agnes zögernd, als suche sie einen anderen Ausweg.

Langsam ging sie den Weg entlang, aber als sie den kleinen roten Hof zu Gesicht bekamen, erhellten sich ihre Züge.

Die Fenster, die in der Sonne blitzten, sahen auf das spiegelglatte Meer hinaus. Die rote Farbe lachte im Sonnenlicht, und alles blühte und sang rings um des Einsiedlers Wohnung.

»Dort auf der Bank haben viele Bekümmerte gesessen, und vielen Ratlosen ist dort Rat erteilt worden,« sagte Agnes und deutete auf die kleine, viel benutzte Bank neben dem Eingang.

Sonja sah verlangend auf die Bank.

»Wenn ich mich nun versuchsweise dahin setzte, glaubst du, daß er dann kommen würde und mir Rat geben?« Der Ton war leicht, aber er verbarg eine tiefe Bewegung.

Agnes sah Sonja mit rücksichtsvoll fragendem Blick an.

»Bedarfst du des Rates, dann kannst du ihn am besten hier bekommen,« sagte sie.

Sonja setzte sich auf die Bank.

»Geh jetzt hinein und richte deinen Auftrag aus. Ich werde hier warten.«

An der Tür zögerte Agnes.

»Soll ich ihn bitten, zu dir herauszukommen?«

»Wenn er zufällig kommt – aber nein, tue es nicht.« Agnes ging hinein und ein tieferes Rot färbte ihre Wangen, aber niemand sah es.

Nach einem Weilchen kam sie wieder heraus in Begleitung Birger Löwings.

»Hast du es gewagt?« fragte Sonjas Blick vorwurfsvoll.

Aber als er Sonja auf der Bank erblickte, war ihm deutlich anzusehen, daß Agnes nichts gesagt hatte. Er hatte nicht erwartet, jemand hier zu finden, und zerstreut, wie er war, fiel es ihm gar nicht ein, daß die beiden zusammen gekommen sein könnten. Er verabschiedete sich von Agnes und ging grüßend auf Sonja zu, wie er es gewohnt war, wenn ein Besuchender ging und ein anderer kam.

Agnes tat, als wolle sie vorausgehen, um Sonja im Walde zu erwarten, aber die sprechenden Augen der letzteren sagten ihr, daß sie gern bleiben könne.

Ihr Blick sagte deutlich: »Was hätte ich ihm wohl zu sagen, was du nicht hören dürftest.« Und Agnes blieb daher auf der Schwelle des Hauses stehen.

Löwing setzte sich neben Sonja auf die Bank und wartete auf das, was sie ihm zu sagen hätte. Doch da bemerkte er, daß Agnes wartend dastand, und nun wurde ihm klar, daß die beiden zusammen gekommen waren. Schnell stand er auf.

»Setzen Sie sich, Fräulein Agnes!« Er wandte sich an Wildvogel: »Ich überlegte mir nicht, daß Sie zusammen gekommen wären und daß Sie hier draußen auf Ihre Freundin warteten, sondern glaubte, daß Sie mit mir sprechen wollten.«

»Das wollte ich auch, – wenn ich nur wüßte, wie ich anfangen soll?«

Er blickte sie aufmerksam an, und sie hatte das deutliche Gefühl, als wüßte er, was sie auf dem Herzen habe. In seinem Blick und Schweigen lag Ermunterung, und Sonja fuhr fort:

»Es waren vier Männer, denen durchgeholfen wurde, und der Gelähmte wollte zu Jesus. Wie soll man es anfangen, wenn man einsam und ohnmächtig ist und einen gelähmten Freund hat, dem selbst nichts daran liegt, geheilt zu werden?«

»Sind Sie so sicher, daß Sie einsam und ohnmächtig sind, und daß der Gelähmte nicht doch in seinem Herzen den Wunsch hegt, geheilt zu werden?«

»Sicher? Nein, sicher bin ich nicht.«

»Nicht einmal, was den Meister betrifft?«

»Er ist von hohen Mauern umgeben, und viele Leute versperren den Weg,« sagte Sonja unsicher.

»Es gibt einen Sieger, der überwindet: Der Glaube.«

»Wenn ich aber nun keinen habe?« flüsterte Sonja.

»Das Bedürfnis, Hilfe zu erlangen, wenn die eigene Kraft vor der Not versiegt, ist eine Fackel, die den Glauben entzündet,« sagte der Einsiedler mit der ruhigen Überzeugung derer, die das, was sie sagen, selbst durchlebt und erfahren haben. Alle drei schwiegen, aber es war ein fruchtbringendes Schweigen. Sonja fühlte, daß sie mit ihrer Sorge nicht mehr allein stände, die beiden anderen waren ihr zur Seite. Sie fühlte starke, helfende Hände, die ihre Bürde mit anfaßten, und ein gemeinschaftliches Vordringen zum Meister. Sonja blickte von der einen zum anderen. Die Sonne schien hell und warm auf sie, und fast wollte es ihr scheinen, als ginge auch von ihnen ein Licht aus. Sie war zu schüchtern, um den Wunsch auszusprechen, der sich in ihrem Herzen regte, daß sie für sie beten möchten. Sie waren ja so vertraut mit dem Gott, dessen Kraft sie bedurfte, dem gegenüber sie sich aber fremd fühlte.

Sie stand auf, um zu gehen und reichte Löwing mit dankbarem Blick die Hand. Er drückte sie herzlich und sah sie an, und wieder hatte sie die Empfindung, als wisse er mehr von ihr und ihrer Sorge, als sie ihm gesagt hatte. Aber wie war das möglich? War er in der Einsamkeit mit Gott hellsehend geworden?

Still legten Agnes und Sonja den Heimweg zurück. Sie waren einander nahe gekommen, aber noch war diese Annäherung so zart, daß ein Wort sie zerstört haben würde.


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