Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIV

Am nächsten Tag, als ich aufstand, war Herr Galoin schon fortgegangen. Er hatte mir ein paar Zeilen hinterlassen, in denen er mir mitteilte, daß er wahrscheinlich erst abends wiederkehren würde. Ich fand Blanche in der Hoteldiele und erzählte ihr, was der Inspektor mir über seine Reise nach Toul und seine Forschungen in London mitgeteilt hatte.

Blanche hörte mir gespannt zu, endlich hatte sie einen Detektiv kennengelernt, wie er ihr immer vorgeschwebt hatte. Von jenem Teil der Unterhaltung, der sie persönlich anging, erzählte ich ihr aber nichts. Es ist wohl verständlich, daß es mir peinlich war, mit ihr darüber zu sprechen.

Wir gingen zusammen aus und besuchten den Zoologischen Garten. Unendliches Wohlbehagen ergriff mich, so im gleichen Schritt neben Blanche zu gehen. Ging sie ein wenig langsamer, so hatte ich einen Vorwand, um sanft ihren Arm zu nehmen und näher an sie heranzugehen.

Ich wollte nicht daran denken, was geschehen würde, wenn wir Larcier träfen; ich wollte mir nicht vorstellen, daß ich Blanche einmal würde verlassen müssen und nicht mehr jede Stunde des Tages mit ihr verbringen konnte, wie es seit unserer Reise der Fall war. Als wir durch eine einsame Allee nebeneinander hergingen, blickte ich sie an. Sie sah auf. Unsere Blicke begegneten sich. Es war wie ein physischer Kontakt. Geniert, fast verletzt sahen wir aneinander vorbei und gingen schweigend dahin. Bald kamen wir an eine Wendung der Allee, wo einige Spaziergänger auftauchten. Es war eine Erleichterung und eine Enttäuschung zugleich, nicht mehr allein zu sein, aber ich fühlte sehr gut, und sie mußte es auch empfinden, daß bei der nächsten Gelegenheit diese Befangenheit noch größer werden würde.

Wir verließen jetzt den Zoologischen Garten und nahmen ein Auto. Aber wenn wir auch allein waren, so war es doch keine völlige Abgeschiedenheit, denn wir fuhren andauernd an Leuten vorbei, und unser Wagen war offen.

Wir ließen in der Regent-Street halten und stiegen aus, um die Läden zu betrachten, Blanche blieb vor jedem einzelnen gefesselt stehen.

Wiederum machte ich mir klar, daß wir eines Tages Larcier finden würden ... War auch zwischen Blanche und mir nichts Ernsteres vorgefallen, so fühlte ich doch etwas wie Gewissensbisse. Vielleicht würden wir sogar unsern Freund persönlich treffen ... London ist groß, aber das Viertel, das die Franzosen besuchen, ist sehr klein, und trotz der Vorsichtsmaßregeln, die Larcier hatte treffen müssen, wäre es also nichts Erstaunliches gewesen, wenn er von diesem Winkel der Stadt sich angezogen gefühlt hätte, in dem natürlich alle Landsleute zusammenströmen.

Der Gedanke, daß wir jeden Augenblick vor Larcier stehen könnten, beherrschte mich dermaßen, daß ich zusammenfuhr, als ich meinen Namen rufen hörte.

Vor mir stand ein junger blonder eleganter Herr, den ich erst nach einem Moment wiedererkannte. Es war Herr de Simond, ein Leutnant aus meinem Regiment, der fleißig Wettrennen besuchte und sich in London aufhielt, um dem Rennen in Epsom beizuwohnen.

»Was wollen Sie denn hier, mein guter Freund?« sagte er, nachdem er Blanche Chéron mit einer Verbeugung außerordentlich höflich begrüßt hatte.

Etwas verlegen setzte ich ihm den Zweck meiner Reise auseinander. Er sagte, daß es vielleicht nicht richtig von mir sei, soviel Mühe für diese Angelegenheit zu verschwenden, und ich besser täte, in das Regiment zu meinen Kameraden zurückzukehren, mein gewohntes Leben wieder aufzunehmen, damit nach und nach Gras über diese bedauerliche Geschichte wüchse.

»Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß man im Regiment auf das äußerste empört gegen Larcier ist, aber auch auf Sie ist man ärgerlich. Ich weiß nicht genau, wie sich die Unteroffiziere darüber äußern, aber an unserer Offizierstafel klingt das Echo davon wider. Sie wissen, daß die Offiziere in den Ställen mit ihren Feldwebeln plaudern und wir uns dann gegenseitig über die Stimmung der Leute berichten ...

Daß man Larcier dort am liebsten aufhängen möchte, erscheint mir ganz verständlich. Ich weiß wohl, daß man geneigt ist, über einen Menschen herzufallen, der von der Gesellschaft in den Bann getan ist, aber er ist ja ein Verbrecher, ein großer Verbrecher, und was man auch von ihm sagt, ist nicht ganz ungerechtfertigt. Doch was mir und noch einigen anderen von uns wirklich sehr leid tut, ist, daß man Sie mit ihm in einen Topf wirft. Ich nehme kein Blatt vor den Mund, wie Sie sehen ... Ich habe Sie im guten Andenken behalten, Sie sind zum Teil von mir ausgebildet worden, ich hatte Sie zwei Monate unter meiner Fuchtel, als ich Ihre Schwadron kommandierte. Ich will Ihnen keine Schmeicheleien sagen, aber ich habe Sie immer als einen netten Kerl betrachtet, aus dem ein ausgezeichneter Unteroffizier und noch mehr werden könnte, wenn Sie die Absicht gehabt hätten, nach Saumur zu gehen ... So kann ich mir denn erlauben, Ihnen zu sagen, daß ich durchaus nicht sehr beglückt bin über die Gerüchte, die über Sie zirkulieren, natürlich sagt man nichts Bestimmtes ... Man behauptet nicht, daß Sie Larciers Spießgeselle gewesen sind ... Aber man hat eine Art, von Ihnen zu sprechen, die nicht sehr freundlich ist, und der Ton, in dem man es sagt, genügt schon. Wären Sie beim Regiment, mein Freund, so bin ich überzeugt, daß die Dinge sich ändern würden. Aber Sie sind abwesend, man erzählt immer wieder, daß Sie umherreisen, wo, weiß man nicht, um Larcier zu suchen ... Ich habe sogar den Verdacht aussprechen hören, daß Sie überhaupt wissen, wo er steckt, und ihm ganz einfach nachgereist sind ... Man sagt nicht geradeheraus, daß Sie die Beute seines Verbrechens mit ihm teilen, aber wenn man das auch nicht behauptet, so sagt man nicht das Gegenteil.

Die junge Dame ist sehr niedlich«, fuhr er leise fort und zeigte auf Blanche, die, um uns nicht zu stören, sich einige Schritte entfernt vor ein Schaufenster gestellt hatte, das sie sehr aufmerksam studierte.

Ich nickte, ohne zu antworten, mit dem Kopf. Es paßte mir nicht, ihm genauere Auskunft über Blanche zu geben.

»In allem Ernst,« fuhr Herr de Simond fort, »wissen Sie nicht, wo Larcier steckt?«

»Nein, Herr Leutnant, wirklich nicht.«

»Dann, lieber Freund, gebe ich Ihnen den Rat, kehren Sie recht schnell zum Regiment zurück. Man muß der öffentlichen Meinung Rechnung tragen. Hat man erst einmal schlecht über einen Menschen gesprochen und sich eine ungünstige Ansicht über ihn gebildet, so ist es für seine Freunde sehr schwer, die Menschen vom Gegenteil zu überzeugen. Also kehren Sie nach Nancy zurück.«

Ich hörte dem Leutnant zu. Er drückte sich wie ein Mann der Gesellschaft aus, der nicht sonderlich klug ist, sich gern sprechen hört und auch gern sentenziöse Phrasen äußert. Durch diese Rede, in der er seine Autorität nach Herzenslust hervorkehren konnte, füllte er die kurze Zeit aus, die er bis zu Tisch totschlagen mußte, um dann zum Rennen zu fahren.

Er fragte mich, ob ich nachmittags nicht nach Epsom möchte. Dort habe er gestern zweihundert Pfund verloren. Er sprach mit mir von der Vorstellung im Empire und in der Alhambra und forderte mich auf, ihn im Hotel Carlton zu besuchen, wenn ich noch einige Tage in London bliebe.

Ich sah, daß die Ratschläge und Anweisungen, die er mir gegeben hatte, ihn nicht allzusehr beschäftigten, und ich wußte ihm Dank. Aber trotzdem war ich, als wir uns trennten, gegen die Unteroffiziere meines Regiments sehr aufgebracht. Es schien mir schon sehr weit zurückzuliegen, daß ich Nancy verlassen hatte, und dieses Zusammentreffen mit Herrn de Simond hatte wieder Erinnerungen in mir erweckt.

Offengestanden machte ich mir nichts daraus, was man von mir sagte, aber diese boshafte Schadenfreude und dieser Haß gegen Larcier flößte mir eine heftige Abneigung gegen alle diese Menschen ein. Mehr denn je lag mir daran, Larcier wiederzufinden, um die von mir erhoffte Aufklärung seines Verbrechens zu erhalten. Aber würde es mir auch gelingen, alle diese Übelgesinnten zu überzeugen?

In einem sehr lebhaften und originellen Restaurant in der Strandstraße aßen Blanche und ich Mittag, und es machte uns großen Spaß, zu sehen, was die Engländer sich für Mühe gaben, uns zufriedenzustellen.

Dann verbrachten wir einen Teil des Tages in der Nationalgalerie, und da es Mittwoch war, gingen wir zu einer Nachmittagsvorstellung ins Theater.

London spannte uns etwas ab, und so fuhren wir nach der Vorstellung, anstatt in der Regent-Street und Piccadilly zu bummeln, ins Hotel zurück, um zu hören, ob sich etwas Neues ereignet hatte.

Als wir dort angelangt waren, entschloß ich mich, einen Brief an meine Familie zu schreiben. Da ich kein Briefpapier hatte, forderte mich Blanche auf, in ihr Zimmer zu kommen, um mir dort etwas von ihr zu holen.

Es war ein großes, helles Zimmer mit zwei Fenstern, einer großen Messingbettstelle, einem englischen Schrank aus poliertem Nußbaum und mehreren Stühlen und Sesseln in nachgeahmtem Empirestil.

Anstatt zu schreiben, nahmen wir auf diesen Sesseln Platz. Als unsere Abspannung ein wenig nachgelassen hatte, merkten wir, daß wir allein waren, und wir wurden aufs neue befangen. Blanche stand auf und ging an einen kleinen Schreibtisch. Ich erhob mich ebenfalls, näherte mich ihr, und ohne ein Wort zu sagen, blieb ich neben ihr stehen. Dann plötzlich, indem ich eine Hand hinter ihren Kopf legte, drückte ich meine Lippen auf ihre Schläfe und ihre feinen blonden Haare.

Kaum hatte ich ihr diesen flüchtigen Kuß gegeben, als wir dastanden und uns wie zwei Missetäter betrachteten. Ich war vor Erregung wie erschöpft und setzte mich auf einen Sessel. Sie nahm auf dem anderen Platz. Ich blickte sie an und sagte:

»Verzeihen Sie mir! Ich konnte einfach nicht mehr. Es kam, wie es kommen mußte. Man kann nicht ungestraft so lange mit einer Frau, wie Sie es sind, zusammensein. Durch unser beständiges Zusammensein habe ich Sie liebgewonnen, das heißt, ich weiß es jetzt, aber ich fühle es schon lange.«

»Es ist sehr schlimm! Ja, es ist sehr schlimm!«

Ich hatte das Gefühl, ich müßte sehr unglücklich und sehr gequält sein, aber ich war es eigentlich nicht, denn ich fühlte, daß Blanche mir lauschte. Ich hatte auch den Eindruck, gegen den ich mich wehrte, daß ich sehr glücklich war. Ich liebte Blanche, es schien mir, daß sie mich ebenfalls liebte. Aber was bedeutet eine Freude, deren man sich nicht bewußt werden darf? Und im Augenblick, wo man sich einbildet, gequält und unglücklich zu sein, ist man es wirklich.

Ich stand nach einem Augenblick auf, drückte Blanche die Hand, ohne es zu wagen, die Lippen darauf zu drücken, und fragte sie um die Erlaubnis, sie verlassen zu dürfen, denn ich war zu verstört.

Ich ging die Treppe hinunter, zum Hotel hinaus und war am Trafalgar-Square fast ohne zu wissen, wie ich dahingelangt war. Noch einmal überlegte ich das soeben Vorgefallene, und ich kam mir gemein vor, wenn ich daran dachte, daß ich diesen unglücklichen Larcier verraten hatte. Es wurde mir klar, daß Blanche und ich uns trennen und im tiefsten Herzen das Geheimnis unserer Schwäche verbergen mußten.

Ich war noch jung genug, um mich bei dem Gedanken an dieses Opfer begeistern zu können. Aber ich wußte sehr gut, daß die moralische Freude an einem selbst so verdienstvollen Opfer nur von kurzer Dauer ist, und ich sah bereits im voraus mein düsteres, verzweifeltes Leben, sobald ich gezwungen sein würde, Blanche zu verlassen. Das Regiment war mir verhasst, aber wiederum was sollte ich tun, wenn ich den Abschied genommen hatte? Noch nie war ich so lange hintereinander mit einer Frau beisammen gewesen. Außerdem war mir noch niemand begegnet, dessen Charakter mir in jeder Beziehung so zusagte. Ich hatte dies alles bisher nicht entbehrt, weil ich es noch nicht gekannt hatte. Ich glich jenen Unglücklichen, die sehr gut die Kälte ertragen können, weil sie sich dem Feuer noch nicht genähert haben.

Aber nun, wo Blanche in mein Leben getreten war, hatte ich den Zauber kennengelernt, eine Gefährtin neben mir zu haben, und was für eine Gefährtin! Es erschien mir unmöglich, mein einstiges Leben wieder aufzunehmen.

Blanche und ich sahen uns im Speisesaal des Hotels wieder. Ich streckte ihr die Hand entgegen, und sie legte ihre eisig kalte hinein. Ohne etwas zu sagen, nahmen wir an verschiedenen Seiten des Tisches Platz und warteten auf Herrn Galoin.

Man brachte uns einen Brief von ihm, in dem er uns mitteilte, dass er nicht zum Abendessen käme, und er bat uns, nicht auf ihn zu warten, weil er anderswo speisen würde und nicht vor neun Uhr im Hotel sein konnte. Er fügte noch hinzu: »Es ist alles auf dem besten Wege.«

»Wenn er das schreibt,« sagte ich erregt, »muss er nahe am Ziel sein.«

»Ja,« erwiderte Blanche, »wenn er noch Zweifel hegte, würde er sich nicht so ausdrücken.«

Beide versuchten wir, in gleichgültigem Ton zu sprechen, aber unsere Stimmen klangen ganz verändert. Wir tauschten kaum noch ein Wort bis zur Ankunft von Herrn Galoin aus. Kurz vor neun Uhr, als ich zum Fenster hinausblickte, sah ich ihn im Hofe des Hotels, er kam auf den Speisesaal zu. Er trat ein, und der zufriedene Ausdruck seines Gesichts flößte Blanche und mir Bangigkeit ein. Larcier war gefunden; der gefürchtete Tag war gekommen und der Augenblick, unserer Pflicht zu gehorchen ...

Herr Galoin setzte sich und sagte zu mir:

»Es ist möglich, daß ich Ihrer heute abend noch für eine Gegenüberstellung bedarf. Ich habe nach Paris telegraphiert. Aus Paris hat man an den Untersuchungsrichter nach Toul depeschiert, und ich erwarte jeden Augenblick den Haftbefehl. Man wird den Mörder nach dem englischen Gesetz verhaften, das heißt, man wird ihn in Sicherheit bringen, bis die hiesigen Richter über seinen Fall Bestimmungen getroffen haben und die Gültigkeit der Verhaftung bestätigt ist. Die Hauptsache ist, daß er hinter Schloß und Riegel kommt.«

Blanche und ich waren bei diesen Worten sprachlos. Wie? Hatten wir uns diesen Beamten aus Paris geholt, damit er unseren Freund verhaftete? ... Hatten wir die Rolle der Polizei übernommen, um Larcier für sein Verbrechen büßen zu lassen? ... Ich sah Herrn Galoin verständnislos an ...

Er wußte doch, weshalb wir uns auf die Suche nach Larcier begeben hatten ... Ich hatte es Rocheton, meinem Freund im Innenministerium, deutlich auseinandergesetzt, daß ich einen Detektiv haben wollte, der mir bei meinen Forschungen half, aber dieser Detektiv sollte mit dem Gericht nichts zu tun haben ...

Ich konnte nichts anderes hervorbringen als:

»Larcier darf nicht verhaftet werden!«

Da sah Herr Galoin mich an – diese Sekunde werde ich nie vergessen – und sagte nur:

»Es handelt sich nicht darum, Ihren Freund Larcier zu verhaften. Es handelt sich darum, einen Mörder zu verhaften, und zwar Bonnel ...«

»Bonnel?«

»Ja, Bonnel ... den Mörder von Larcier ...«


 << zurück weiter >>