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V

Ich mußte mich immer wieder daran erinnern, daß ich eigentlich eine sehr traurige Episode meines Lebens durchmachte, damit ich mich nicht sorglos fühlte, als ich auf der kleinen Station Herchis Blanche Chéron erwartete. Sie hatte ihre Verwandten zwei Stunden nach meiner Abreise verlassen. Endlich fuhr der Zug ein, und ich sah ihren Strohhut, ihre blonden Haare, ihr hübsches Gesicht am Fenster auftauchen.

Ich stieg in ihr Abteil und drückte ihr die Hand. Es war, als ob wir uns schon lange kannten.

Während der Fahrt nach Toul plauderten wir über alles mögliche. Wir sprachen über den kleinen Ort, in dem sie wohnte, über ihre Witwenschaft, über ihr Leben als junges Mädchen. Zuerst hatten wir wegen des Kummers über den gemeinsamen Freund eine traurige Miene angenommen. Aber nach und nach schwand diese Melancholie dahin. Jedoch als wir in Toul einfuhren, wurden wir wieder sehr ernst ... Dort hatte sich das Drama abgespielt, und wir mußten mit unseren Nachforschungen beginnen.

Ich beschloß, Blanche zuerst in das Hotel Lorraine zu bringen, und dann ging ich nach der Stätte des Verbrechens, um zu hören, ob der Untersuchungsrichter irgend etwas Neues entdeckt hätte.

In dem Hause Bonnels fand ich nur einen alten städtischen Wächter, der verschiedene Gegenstände, die als Beweismaterial dienen sollten, bewachte. Es war alles ins Eßzimmer getragen worden, damit man im gegebenen Falle die hauptsächlichen Szenen vor dem Untersuchungsrichter rekonstruieren könnte. Es war mir nicht möglich, von dem alten Wächter etwas zu erfahren, denn der Fall Bonnel schien ihn sehr wenig zu interessieren. Seine Aufmerksamkeit war anscheinend durch die Streiche einiger Straßenjungen in Anspruch genommen, die sich damit amüsierten, am Ende der Gasse eine Laterne zu beschädigen. Als ich das Haus verließ, um nach dem Hotel zurückzukehren, sprach mich eine alte schwarz gekleidete Frau an, die im Nachbarhause wohnte. Wahrscheinlich hatte sie mich am Tage vorher unter der Menge gesehen, die an der Stätte des Verbrechens gestanden hatte. Neugierig begann sie, mich über Larciers Leben auszufragen. Sie erzählte mir, daß sie ihn vorgestern gesehen hatte, als er in das Haus seines Vetters gegangen war, und daß der Greis am selben Tage von dem Schlächter Felix, mit dem er in geschäftlichen Beziehungen stand, Geld bekommen hatte.

Der alte Bonnel hatte in der Tat Geldgeschäfte gemacht und für kleine Geschäftsleute spekuliert.

Ich suchte den Schlächter auf, denn es durfte nichts vernachlässigt werden, was zur Aufklärung des Verbrechens dienen konnte. Dieser Mann, der am Ende des Städtchens wohnte, gab mir eifrig alle Auskünfte, um die ich ihn bat. Es war ein großer Bursche, der richtige Fleischertyp, unmenschlich dick mit krausem Haar und rotem Gesicht. Er schien sich zu freuen, daß er in die Angelegenheit verwickelt wurde. Sein Geld hielt er für verloren, doch waren es im ganzen nur dreihundert Frank, die er Herrn Bonnel gebracht hatte, damit dieser ihm einige kleine Aktien, fünfundzwanzig Frank das Stück, kaufen sollte. Herr Bonnel hatte ihm zu dieser kleinen Spekulation geraten, und er hatte ihm dreihundert Frank in drei Scheinen von hundert Frank gegeben ... »Vielleicht«, fügte er hinzu, »können diese drei Scheine dazu dienen, auf die Spur des Mörders zu kommen. Ich erinnere mich, daß sie Blutflecken hatten. Ich selbst habe sie in Schlachthäusern bekommen und wollte sie beinahe nicht nehmen, weil sie so beschmiert waren.«

Mit dieser Auskunft, die ein Anhaltspunkt für unsere Nachforschungen werden konnte, kehrte ich ins Hotel zurück. Frau Chéron erwartete mich zum Abendessen. Ihr Zimmer machte jetzt einen wohnlichen und reizenden Eindruck. Es glich nicht mehr einem Hotelzimmer, sondern es hatte etwas Persönliches bekommen.

Unverzüglich erzählte ich ihr das erste Ergebnis meiner Forschungen. Dann sagte ich ihr, welche Schlüsse ich daraus gezogen hatte. Jedenfalls hatte Larcier, als er entfloh, einen Zug in Toul oder von einer der benachbarten Stationen benutzt. Wir mußten also zuerst die Schalterbeamtinnen des Touler Bahnhofs und der Nachbarstationen fragen, ob sie einen mit Blut befleckten Hundertfrankschein zur Bezahlung einer Fahrkarte erhalten hatten.

Wir gingen abends auf den Bahnhof in Toul, freilich ohne große Hoffnung, eine befriedigende Auskunft zu erhalten, denn es war zweifelhaft, ob Larcier hier abgefahren war. Die Fahrkartenverkäuferin wußte bestimmt, daß sie keinen mit Blut befleckten Schein erhalten hatte.

Es war schon zu spät, um noch weitere Feststellungen zu machen. Wir kehrten also zum Abendessen ins Hotel zurück und setzten uns allein an einen kleinen Tisch im Speisesaal. Fremden Augen mochten wir als nettes Pärchen erscheinen, aber es war uns doch peinlich, zu denken, daß die anderen Gäste den Eindruck hatten, wir gehörten zusammen.

Nach dem Abendessen machten wir einen Spaziergang durch die Stadt, die Frau Chéron nicht kannte. Blanche hatte meinen Arm genommen, und wir dehnten unseren Spaziergang so lange wie möglich aus. Wir sprachen wenig. Der Reiz dieser Frühlingsnacht in einer fast unbekannten Stadt, die man aufs Geratewohl durchschlenderte mit der leichten Befürchtung, sich zu verirren, und der Gewißheit, daß man sich doch schnell wieder zurechtfinden würde, wirkte auf uns beide eigenartig.

Wir kehrten ins Hotel zurück. Blanche war ein wenig müde. Ich führte sie bis an die Tür ihres Zimmers und ging dann auch schlafen ... Wie mein Leben sich innerhalb zweier Tage verändert hatte! Was für neue Geschehnisse! Was für Zwischenfälle! Was für Unglücksfälle! Wie seltsam doch das Leben ist! ... Monatelang regt es sich nicht, dann plötzlich in zwei oder drei Tagen dreht sich das Rad mit einer unbegreiflichen Schnelligkeit. Es ist närrisch ... Die Ereignisse überstürzen sich ... Es bekommt ein ganz andres Gesicht, neue Sorgen tauchen auf. Es ist, als ob man durch eine plötzliche Wendung des Weges ganz unbekanntes Land sieht. Das Land, das ich vor mir erblickte, schien mir heiter und ruhig. Ich hatte zwar eine Menge Sorgen, doch wollte ich sie nicht sehen ... Ich wusste nicht, wohin ich ging, aber der Weg war angenehm.


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