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VI

Am Morgen darauf traf ich wieder mit Blanche zusammen, als sie im Speisesaal des Hotels frühstückte. Ich hatte einen Wagen für uns beide bestellt, weil ich es für praktischer hielt, als mit der Eisenbahn zu fahren. Man mußte auf allen Stationen anhalten oder mindestens auf den drei oder vier ersten der Strecke Toul-Bar-le-Duc. Bei einer Fahrt mit dem Zuge wäre es nicht möglich gewesen, auf den Stationen auszusteigen, an den Billettschalter zu gehen und den Beamten auszufragen. Häufig ist sogar auf diesen kleinen Bahnhöfen kein besonderer Beamter für den Billettverkauf, sondern er wird von dem Stationsvorsteher besorgt. Fährt nun gerade ein Zug ein, so ist der Beamte zu sehr durch seinen Dienst in Anspruch genommen. Deshalb war es besser, diese Stationen aufzusuchen, wenn keine Züge durchkamen, und ein Wagen war aus diesem Grunde viel bequemer. Übrigens waren wir höchstens zwanzig Kilometer von Toul entfernt. Ich hatte einen Plan der Umgegend gekauft, damit wir dem Kutscher, wenn er nicht Bescheid wissen sollte, Anweisungen geben konnten.

Wir nahmen in der Viktoria, die vor dem Hotel stand, Platz. Ich sah, daß Blanche das Kostüm, das sie gestern angezogen hatte, nicht mehr trug, sondern ein hellblaues Leinenkleid, dazu einen Frühlingshut.

Unsere erste Etappe war ziemlich lang, fast die ganze Zeit stieg der Weg an. Er führte durch einen Wald, in dem es kühl war, und Blanche war so unvorsichtig gewesen, ihren Mantel nicht mitzunehmen. Ich sah, daß sie fror, und ich schlug vor, mein Jackett auszuziehen und es ihr über die Schultern zu legen. Aber sie lehnte energisch ab. So nahm ich mir denn die Freiheit, meinen Arm um sie herumzulegen, so daß ich sie ein wenig schützte. Harmlos wie gute Kameraden fuhren wir so dahin.

Einige Zeit war ich etwas zerstreut, weil ich die närrische Idee hatte, daß Larcier sich in dieses Wäldchen geflüchtet hatte und wir ihn plötzlich hinter einem Gebüsch elend und abgemagert würden auftauchen sehen. Aber das war nur ein lächerlicher Einfall.

Als wir aus dem Wäldchen heraus waren, kam die Sonne wieder hervor und wärmte uns. Zuerst verharrten wir in derselben Stellung, und erst nach einem Weilchen sagte Blanche, daß die Temperatur meine schützende Geste nicht mehr berechtigte. Ganz sanft machte sie sich los und rückte ein wenig von mir fort. Ich wagte nicht, sie zurückzuhalten.

Auf der ersten Station führten unsere Nachforschungen zu keinem Ergebnis: nicht nur, daß die Schalterbeamtin seit einigen Tagen keine mit Blut beschmierte Banknote erhalten hatte, sie hatte überhaupt keinen Geldschein bekommen, so daß jede weitere Frage sich dadurch erübrigte.

Wir fuhren also weiter, und der Wagen rollte eine gute Weile dahin, hier und da warfen wir einen zerstreuten Blick auf die Landschaft. Wir sprachen von allen möglichen Dingen, von einer Reise, die Frau Chéron nach Deutschland gemacht hatte, von meinem Leben im Regiment ... Die Zeit verging sehr schnell. Als wir auf der betreffenden Station angelangt waren, plauderten wir noch weiter im Wagen, als er schon einige Augenblicke angehalten hatte. Dann sprang ich heraus, um weitere Nachforschungen anzustellen.

Auf dem völlig vereinsamten Bahnhof traf ich niemand. Als ich den Bahnsteig entlang ging, um den Stationsvorsteher zu suchen, bemerkte ich plötzlich ganz weit entfernt einen Bauern, der auf dem Felde arbeitete. Er blieb stehen, um nach mir herüberzublicken. Einige Minuten beobachtete ich ihn, wie er langsam auf mich zukam. Endlich war er auf dem Bahnhof, öffnete einen kleinen Verschlag, nahm eine Mütze heraus, und mit diesem offiziellen Abzeichen versehen, fragte er mich, was ich wünschte.

Es war ein etwa fünfundvierzigjähriger Mann. Wie die Stacheln eines Igels standen borstige, weißgelbe Haare auf seinem Kopf und den Wangen und über den Augen. Er überlegte lange, nachdem er meine Frage gehört hatte; darauf schüttelte er den Kopf und erwiderte: »Nein, nein.« Dann standen wir noch einige Augenblicke, ohne etwas zu sagen, nebeneinander, und nachdem ich ihn gegrüßt hatte, entfernte ich mich. Ich sah, wie er zu seiner Feldarbeit zurückkehrte.

Derselbe Mißerfolg erwartete uns auf dem nächsten Bahnhof, wo eine alte Frau die Freundlichkeit so weit trieb, die einzige Banknote, die sie in ihrer Kasse hatte, zu holen; der Schein war ganz neu, ohne einen Fleck.

Die nächste Station war siebenundzwanzig Kilometer von Toul entfernt und zehn Kilometer von dem Bahnhof, auf dem wir uns augenblicklich befanden. Es schien uns zweifelhaft, daß Larcier so weit gegangen sein sollte, ehe er den Zug bestieg. So beschlossen wir denn, nach Toul zurückzukehren, und wir baten den Kutscher, einen anderen Weg einzuschlagen. Innerlich hoffte ich, daß wir wieder durch einen Wald fahren würden, damit ich den Arm um meine Gefährtin legen könnte. Aber es bot sich keine Gelegenheit mehr; der Kutscher fuhr auf der Chaussee zurück.

Während der Heimfahrt plauderten wir lebhaft und ununterbrochen. Die zwanzig Jahre unseres Lebens, die wir verbracht hatten, ehe wir uns kannten, mußten eingeholt werden. Um ein Uhr nachmittags hielten wir in einem kleinen Dorf, wo es ziemlich schwierig war, etwas zu Mittag zu bekommen, ein Omelette mit Speck und etwas Schinken, das war alles. Am Orte wurde ein Bier gebraut, das ziemlich stark alkoholhaltig war und meine junge Begleiterin in Stimmung brachte. Als wir gegen vier Uhr nachmittags nach Toul zurückkehrten, war sie nach der Spazierfahrt so müde, daß sie sich in ihr Zimmer begab und sich hinlegte. Unterdessen ging ich wieder nach Bonnels Haus, aber mehr von Langeweile als von der Hoffnung getrieben, eine neue Spur zu entdecken.

Ich fand dort den städtischen Wächter immer in derselben Haltung vor der Gittertür. Ich wagte ihn kaum zu fragen, ob sich etwas Neues ereignet hatte, so sehr merkte ich ihm die Gleichgültigkeit an für alle jene Ereignisse, die ihn seit zwei Tagen seinem gewohnten Leben entrissen hatten. Da ich nicht wusste, was ich anfangen sollte, ging ich weiter die Landstraße entlang und ließ Toul hinter mir. Nach fünfzehnhundert Metern kam ich in ein kleines Café, das einem Bahnhof gegenüberlag.


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