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Zehntes Kapitel

Wieder war der Schwurgerichtssaal des Landgerichtes bis auf den letzten Platz besetzt, nein, heut war der Andrang noch ein viel größerer, und große Menschenmengen umlagerten das Gerichtsgebäude. Der Gang des Prozesses Hellermann, die Rede des Dr. Rintel und der noch nicht dagewesene Beschluß der Geschworenen war wie ein Lauffeuer hinausgegangen in die Welt, und nun schauten viele, denen Gerhart Hellermann trotz seines Romanes bisher eine unbekannte Größe gewesen, in Spannung auf den Ausgang dieser Verhandlung.

Auch die Zeugen waren noch vollzählig zusammen. Es war ja immerhin möglich, daß man ihrer noch bedurfte.

Lisa saß mit gesenktem Haupt. Wie zuversichtlich war sie am Abend der Verhandlung gewesen, als hätte sie Gerharts Freispruch schon sicher in der Hand, dann aber kam der Rückschlag, und wie sie jetzt wieder in dem hohen Saale saß – Gerhart bleich und mit gesenkten Blicken, auch in ihm war längst das Feuer erloschen, das Rintels Rede entzündet – in der Anklagebank.

Dort das ernste, harte Gesicht des Staatsanwaltes, da wurde ihr klar, daß doch jener Beschluß der Geschworenen nichts war, als ein weitgehendes Eingehen auf die Wünsche des Rechtsanwaltes – daß trotz allem Gerharts Schicksal in ihren Händen lag und – es waren ernste Männer, die vielleicht nicht so bewandert waren auf dem Gebiete der Literatur – die vielleicht die Schönheiten nicht voll würdigen konnten.

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als die Tür sich öffnete und feierlich die Geschworenen eintraten.

Ihr Herz stockte – jetzt kam die Entscheidung – sie wagte nicht, den Blick zu Gerhart hinüberzusenden – sie wagte auch nicht, in Dr. Schlüters Mienen zu lesen. Der Obmann der Geschworenen, der alte Tischlermeister Jonas stand da – in seinem altväterlichen schwarzen Gehrock, mit dem toternsten, sich seiner Verantwortung bewußten Gesicht sprach er langsam, feierlich, jedes Wort betonend:

»Auf Ehre und Gewissen bezeuge ich den Spruch der Geschworenen! Gerhart Hellermann ist des Totschlages an Ada von Dahlen nicht schuldig. Alle diese Geschworenen haben diese Frage einstimmig mit ›Nein‹ beantwortet.«

Ein donnerndes Bravorufen durchhallte den Saal, der Präsident schwang die Glocke – Lisa lag in die Bank zurückgelehnt und schluchzte krampfhaft – jetzt war die Spannkraft ihrer Nerven zu Ende.

Dr. Rintel saß mit untergeschlagenen Armen und nickte leise mit dem Kopf – Gerhart aber starrte dem Sprecher groß in das Gesicht.

Im Saal war wieder Ruhe, und der Obmann begründete seinen Spruch.

»Wir sind den Anregungen des Herrn Rechtsanwalts Dr. Rintel gefolgt und haben den Roman ›Der Werdende‹ unter uns zur Verlesung gebracht. Wir sind einstimmig zu der Überzeugung gekommen, daß ein Mann, der derartige Grundsätze ausspricht und selbst empfindet, eines niedrigen Verbrechens selbst im Affekt nicht fähig ist. Diese Überzeugung verbunden mit dem Umstande, daß immerhin nur ein Wahrscheinlichkeitsbeweis, der durchaus nicht lückenlos ist, erbracht wurde, dem das Leugnen des Angeklagten gegenübersteht, haben uns veranlaßt, einstimmig die Schuldfrage zu verneinen.

Sollten wir uns aber irren und der Angeklagte trotzdem die Tat begangen haben, so sind wir der festen Überzeugung, daß dieses nur in einem Augenblick der Unzurechnungsfähigkeit geschehen sein könnte, dem Angeklagten eine Verantwortung also nicht zur Last gelegt werden könnte.«

Der Obmann trat zurück – eine kurze Besprechung, dann verkündete der Vorsitzende:

»Der Angeklagte, Schriftsteller Gerhart Hellermann, ist freigesprochen, die sofortige Haftentlassung ist verfügt, die Kosten des Verfahrens sind der Staatskasse auferlegt.«

Gerhart Hellermann saß noch immer, als ginge ihn alles gar nichts an – als habe er gar nicht verstanden, da trat Dr. Rintel zu ihm.

»Ich gratuliere Ihnen von ganzem Herzen.«

Gerhart stand auf.

»Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Nicht, daß Sie meinen Freispruch erwirkt haben – ich wußte ja selbst, was mein Gewissen sagte, und ich weiß noch immer nicht, wie ich das Leben ertragen soll. Auf meiner Seele liegt nach wie vor der furchtbare Tod der Ada von Dahlen. Ich weiß nicht, ob mir in diesem Augenblicke nicht leichter um das Herz wäre, wenn ich mein Todesurteil gehört hätte. Was hat es für Ada für einen Wert, ob ich es mit Bewußtsein oder ohne solches getan habe, das macht sie nicht wieder lebendig!

Aber ich danke Ihnen von ganzem Herzen für Ihre Rede. Ich habe gefühlt, daß Sie nicht berufsmäßig als mein Verteidiger gesprochen haben, daß Sie in meiner Seele lesen, und diese Erkenntnis, daß Sie mich verstanden, die Überzeugung, daß mein Buch nicht umsonst geschrieben, ist mir wertvoller als mein Freispruch.«

Dr. Rintel drückte ihm die Hand.

»Ich weiß auch jetzt, was in Ihnen vorgeht zu verstehen, aber ich bitte Sie, gehen Sie nicht zu weit. Es ist doch in der Tat nicht erwiesen, daß nicht noch ein Dritter bei dem Drama mitgespielt hat und bedenken Sie eines: Das Schicksal hat ein Talent in Ihre Brust gelegt und Ihnen die Gabe des Wortes gegeben. Sie haben Pflichten gegen die Menschheit. Die Welt hat ein Recht auf Sie, das sollen und müssen Sie bedenken, und nun bitte ich Sie, kommen Sie mit mir. Nicht nur die Menschheit im allgemeinen, es gibt auch noch jemand anders, der ein Recht auf Sie hat.«

Lisa!

Erst jetzt dachte Gerhart an sie, und ein Gefühl aufquellenden Dankes durchströmte sein Herz.

Sie gingen durch den langen, jetzt menschenleeren Korridor – ihre Schritte hallten von den steinernen Fliesen.

Sie traten hinaus. Der Platz vor dem Gerichtsgebäude war ebenfalls einsam. Nur zwischen den Anlagen wandelte ein Herr und eine Dame.

Jetzt löste sich die Dame von ihrem Begleiter und kam auf ihn zu.

»Lisa!«

Sie hatte kein Wort, sie lehnte für einen Augenblick an seiner Brust – dann richtete sie sich auf.

»Komm.«

Sie hatte vor dieser Stunde gezittert, so sehr ihr Herz danach sehnte. Sie wußte es ja, sie hatte es in diesen Monaten gefühlt, daß sie ihn liebte – ihm war sie wohl nur eine Freundin – sie hatte mit Absicht das Wiedersehen auf den freien, öffentlichen Platz verlegt, um sich selbst in der Gewalt zu behalten, wenn ihre Empfindungen übermächtig werden sollten.

Sie gingen Hand in Hand – Freunde – nie hatte er einen Kuß von ihren Lippen geheischt – auch heute schritten sie Hand in Hand.

»Meinen herzlichen Glückwunsch.«

»Auch Herr Dr. Schlüter hat viel an dir getan.«

Er drückte dem Kommissar die Hand – jetzt sah er sich nach Dr. Rintel um – der war still seines Weges gegangen.

Sie wanderten durch die Anlagen, und plötzlich lag sonnenschimmernd und herrlich die Ostsee vor ihnen.

Gerhart erschrak, und sein Gesicht deckte Totenblässe. Lisa verstand.

»Komm.«

Gerhart sprach nicht, bis sie im Hotel saßen.

»Du mußt fort von hier, so schnell wie möglich.«

Dr. Schlüter nickte.

»Reisen Sie – gehen Sie ins Riesengebirge, in den Harz, suchen Sie neue Eindrücke, damit Ihre Nerven sich beruhigen.«

»Das will ich tun – heute noch. Lisa, und du?«

Sie lächelte etwas wehmütig.

»Ich? Ich suche mir eben ein neues Engagement zum Winter und so lange ...«

Der Kellner kam und redete Schlüter an.

»Können Sie mir sagen, wo ich Herrn Hellermann finde? Ich habe einen Brief.«

»Hier sitzt er. Sie können ihn gleich selbst abgeben.«

Gerhart hielt diesen Brief in der Hand, der als Absender die Firma des Verlages Freia trug.

»Öffnen Sie. Sie sehen, das Leben fordert wieder sein Recht.«

Gerhart erbrach das Kuvert.

»Sehr geehrter Herr Hellermann! Wir beglückwünschen Sie von Herzen zu Ihrem Freispruch, an dem wir nie gezweifelt haben. Und nun eine geschäftliche Mitteilung. Geheimrat von Dahlen ist, wie Sie ja wissen werden, verurteilt worden, den gesamten Verdienst, den er aus dem Verkauf des Horst Wehlerschen Romans ›Der Kämpfer‹ erzielt hat, an uns abzuführen. Obgleich wir von Ihnen das Werk mit allen Rechten erworben haben, halten wir uns nicht für berechtigt, Ihnen den Betrag vorzuenthalten, da ja der Diebstahl des Manuskriptes erfolgte, ehe Sie mit uns abschlossen. Wir überreichen Ihnen anliegend den streitigen Betrag in Höhe von zehntausendfünfhundertdreißig Mark und bitten um Empfangsbestätigung. Wir wünschen, daß der Betrag dazu beitragen möge, Ihnen die Gewißheit einer schnellen Erholung von den Leiden der letzten Monate zu bieten und hoffen recht bald auf eine neue Arbeit aus Ihrer Feder.«

Gerhart hielt den Scheck in der Hand – er wagte ihn kaum zu berühren. Im Verein mit dem anderen Gelde war das ja nun der Anfang eines kleinen Vermögens.

Lisa war glücklich.

»Das ist doch noch in Wahrheit ein anständiger Mensch. Hätte das Geld behalten können und gibt es dir.«

Jetzt war es ganz gut, daß sie nicht in Dr. Schlüters Gesicht sah, denn dieses war sarkastisch und hätte ihr vielleicht die Laune verdorben. Er aber dachte: Solange der Prozeß unentschieden war, haben sie hübsch geschwiegen, jetzt ist leicht klug reden. Und anständig? Nun ja, aber bei der Reklame, die der Prozeß für den ›Werdenden‹ gemacht hat, weiß der brave Eckart, daß er so viel verdient, daß es auf die paar Tausender nicht ankommt, und dabei verpflichtet er sich den Autor.

Aber er sagte nichts von seinen Gedanken – warum den jungen Menschen den neu aufkeimenden Glauben an die Menschheit erschüttern.

»Kellner, eine Flasche Sekt!«

Gerhart hatte es gerufen, und wie die perlende Flüssigkeit in den Gläsern schäumte, hob er das seine.

»Auf euer Wohl, ihr Guten – Lisa – schlägst du mir heute eine Bitte ab?«

»Wenn ich sie erfüllen kann, gewiß nicht.«

»Herr Dr. Schlüter hat recht, ich muß in die Berge – ich muß mich wieder in die Welt finden, aber ich darf nicht allein sein. Jetzt findest du doch kein Engagement für den Rest des Sommers. Komm mit mir.«

»Herr Hellermann hat recht – Sie müssen Ihr Werk vollenden – Sie müssen ihn der Menschheit wiedergeben.«

Lisa war dunkelrot geworden, und ihre Brust atmete stürmisch. Dann aber hob sie das Haupt. Jetzt lag wieder ruhige Festigkeit auf ihrem Gesicht, und um den Mund lag ein wehmütig entsagendes Lächeln:

»Gut, lieber Freund – ich begleite dich.«

Dr. Rintel schickte durch einen Boten die Sachen, die Hellermann noch im Untersuchungsgefängnis gehabt – er war mit dem Vormittagszuge abgereist – einige Stunden später folgten Gerhart, Lisa und Dr. Schlüter. Der Kommissar hatte sich von ihnen trennen wollen, aber Lisa hatte ihn gebeten – es war, als ob sie ein Alleinsein mit Gerhart scheute.

Bis Berlin fuhren sie zusammen, dann reisten die beiden nach Hirschberg weiter, um den Rest des Herbstes in den Bergen zu verleben.

Drei Wochen später saß der Kommissar in seinem Büro und hielt einen Privatbrief in der Hand. Eine Damenhandschrift. Er öffnete gleichgültig, dann aber lachte er vergnügt.

»Lieber Herr Doktor! Gerhart ist auf dem besten Wege, wieder ein völlig gesunder Mensch zu werden, aber er hat schon wieder eine Dummheit gemacht. Vielleicht ist's auch keine. Seit vierzehn Tagen sind wir verlobt, und in drei Wochen ist Hochzeit. Ich gebe meine Theaterkarriere auf – ich denke, das Theater wird den Verlust zu ertragen wissen. Doktor, wenn Sie wüßten, wie glücklich ich bin!«

Da lachte der Kommissar noch stärker, und ein gerührter weicher Zug huschte über sein Gesicht.

»Das gönn ich den beiden, und bald werdet ihr noch glücklicher sein, ihr guten Menschen.«

Er vertiefte sich wieder in seine Arbeit, und diese war auch in der Tat interessant. Es war ein Bericht, der von der Polizeidirektion in Stockholm zur Beantwortung überschickt war, und der folgenden Inhalt hatte:

»Am 20. August wurde hier der Seemann Bernd Siggel, gebürtig in Hamburg, wegen eines Mordes verhaftet. Bei seiner Leibesvisitation fand sich bei ihm unter anderen Dingen eine kleine goldene Taschenuhr, reich mit Juwelen besetzt und außerdem ein kleines silbernes Damen-Zigarettenetui mit dem Monogramm A. v. D., endlich eine beschmutzte Visitenkarte mit dem Namen Ada von Dahlen, die auf der Rückseite mit einer Menge Notizen von der Hand des Verbrechers versehen ist. Die hiesige Behörde vermutet, daß diese Dinge aus einem früheren Diebstahl herrühren und bittet um zweckdienliche Mitteilungen.«

Mittags saß er im Zuge, abends hatte er eine Besprechung mit Staatsanwalt Heinemann – am nächsten Morgen war er in Stockholm.

Er hatte überlegt, ob er Gerhart und Lisa eine Nachricht geben sollte, aber er hatte vorgezogen, es zu unterlassen. Erst sollten Tatsachen reden.

Bernd Siggel gestand. Er war an jenem Abend von Dagard herübergekommen und ein unbemerkter Zeuge von der Unterredung geworden, dann sah er Ada allein am Strand entlang gehen – am nächsten Morgen ging sein Schiff – er war nicht ganz nüchtern – er sah auch die Brillanten, die Ada am Finger trug – die lange Uhrkette, die frei vom Halse herabhing.

Blitzschnell entstand in seinem verbrecherischen Gehirn der Plan, und ebenso schnell war das Verbrechen begangen.

Er war ein Kerl, der schon viel auf dem Kerbholz hatte, und am Morgen war er schon auf hoher See. Jetzt gestand er mit zynischer Frechheit. Das neue Verbrechen, das er in Stockholm begangen, sicherte ihm mindestens lebenslängliches Zuchthaus – nun prahlte er fast mit seinen früheren Taten.

*

Es war wenige Tage vor der stillen Hochzeit, die Gerhart und Lisa in Schreiberhau feiern wollten, als ein Brief von Dr. Schlüter kam.

Eigentlich hatte Lisa ihm sehr gezürnt, weil er ihren Brief gar nicht beantwortet hatte. Nun machte sie den Umschlag auf – ein Zeitungsblatt fiel heraus und dabei ein Visitenkarte:

»Mit herzlichsten Glückwünschen und in aufrichtiger Freundschaft

Dr. Schlüter.«

Gerhart nahm das Zeitungsblatt und wurde totenblaß – eine dickgedruckte Überschrift leuchtete ihm entgegen.

»Mordprozeß Ada von Dahlen.«

Ihm flimmerte vor den Augen, seine Hand ließ das Blatt sinken, aber Lisa hob es auf:

»Der Mörder der Ada von Dahlen, der Seemann Bernd Siggel, wurde gestern durch den bekannten Berliner Kriminalkommissar Dr. Schlüter in das Gerichtsgefängnis zu Greifswald eingeliefert. Er ist in vollem Umfang geständig. Hierdurch wird der damals freigesprochene Schriftsteller Gerhart Hellermann noch nachträglich auch von den letzten Spuren eines Verdachtes gereinigt. Ein neuer Beweis, wie gefährlich es ist, eine Anklage nur auf Indizien zu stützen. Wie recht hatte damals der Verteidiger, Herr Dr. Rintel, der durch seine hervorragende Rede vielleicht das Gericht vor einem Justizirrtum bewahrte.«

Auch Lisas Stimme bebte, Gerhart schloß sie in seine Arme.

»Das ist wirklich das schönste Hochzeitsgeschenk, das wir bekommen konnten. Nun erst bin ich wieder ein glücklicher Mensch.«

Die Hochzeit fand ganz im stillen statt. Niemand wußte davon – niemand hatte eine Nachricht von ihnen erhalten.

Wie sie zurückkamen, lag eine Postkarte auf dem Tisch.

Nur ein einziges Wort – mit Bleistift geschrieben – kein Name darunter.

»Verzeiht!«

Gerhart erkannte die Handschrift und war tief bewegt.

Jetzt erst, nachdem Bernd Siggel verhaftet, hatte auch die Mutter wieder den Weg zu ihrem Sohne gefunden.

*

 

Paul Dünnhaupt.
Cöthen i. Anh.


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