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Neuntes Kapitel

Der große Schwurgerichtssaal des Landgerichtes in Greifswald war überfüllt. Die geräumigen Zuhörerbänke waren schon Stunden, ehe der große Sensationsprozeß gegen den Schriftsteller Gerhart Hellermann wegen Ermordung der Ada von Dahlen, einzigen Tochter des Verlagsbuchhändlers Theodor von Dahlen, Geheimer Kommerzienrat in Berlin, begann, überfüllt, und trotzdem standen die Einlaß Begehrenden noch bis weit auf die Straße hinaus, und die Gerichtsdiener hatten einen schweren Stand, ihnen den Zutritt zu verwehren.

Aber nicht nur aus Greifswald waren sie gekommen – die Hotels waren von Fremden überfüllt. Bekannte der Familie von Dahlen, sensationslustige Mitglieder der Berliner sogenannten »Gesellschaft«, Berichterstatter aller Blätter und juristische Interessenten.

Endlich wurde die immer größer werdende Ungeduld befriedigt, und der Gerichtshof versammelte sich langsam.

»Der alte Herr da mit dem ehrwürdigen weißen Bart ist der Vorsitzende, Landgerichtspräsident von Wickede.«

»Da kommt der Staatsanwalt Heinemann.«

Auch die Geschworenen nahmen auf den für sie bestimmten Bänken Platz.

»Der Angeklagte.«

Ein Murmeln flog durch den weiten Saal – der Präsident griff schon zur Klingel.

»Wie elend er aussieht! – eigentlich ein hübscher Mensch! Das verkörperte böse Gewissen! – Ach nee, er schämt sich man so. –«

Nun ertönte wirklich die Klingel.

»Wenn Sie sich nicht vollkommen ruhig verhalten, dann lasse ich den Saal räumen.«

»Der kriegt es fertig – der Wickede ist energisch.«

Das Flüstern legte sich – Gerhart, der ganz teilnahmslos vor sich hinschaute, hatte auf der Anklagebank Platz genommen.

Nun kam Dr. Rintel, bleich, nervös, hastig ging er gebückt zu seinem Pult in unmittelbarer Nähe des Angeklagten.

»Der Verteidiger. Ach Herrje – der schüchterne, junge Mensch!«

Rintel hätte keine Freude gehabt an den Urteilen, die auf den Zuhörerbänken über ihn gefällt wurden, und auch die Richter warfen mehr als einmal einen zweifelhaften Blick auf ihn – die Rechtsanwälte von Greifswald, die natürlich, soweit sie irgend Zeit hatten, auch zur Stelle waren, zumeist. Die Verteidigung in einem solchen Sensationsprozeß, der durch die ganze Welt ging, hätte jeder übernommen – umsonst, wenn es sein mußte, und dazu verschrieb man sich ausgerechnet so ein schüchternes junges Bürschchen aus Berlin?

Als ob es in Greifswald keine Menschen gäbe!

Die Zeugen traten ein.

»Der Vater der Ermordeten!«

Geheimrat von Dahlen, den breiten schwarzen Trauerflor um den Arm, ging langsam und würdevoll auf seinen Platz. Zur Seite seine Schwester, Frau von Dahlen, in gewaltiger, viel zu jugendlicher Trauertoilette, immer auf den Bruder einredend, als verstände sie gar nicht, was dieser Tag für den Vater bedeute, und betrachtete die ganze Sache gewissermaßen wie eine Theatervorstellung.

Lisa Fahren. Dunkel, sehr einfach, bleich und interessant.

»Det is gewiß die Braut von dem Mörder.«

»Still.«

Das junge Mädchen, das sich mit so tottraurigen Augen umsah, eroberte sofort aller Herzen. Nun suchten ihre Blicke Gerhart, aber er schaute gar nicht auf. Er wußte gar nicht, daß zwei Augen ihm so nahe waren, die mit so viel Liebe, mit so vieler wahrer Teilnahme, mit so viel Glauben und Zuversicht auf ihn schauten.

»Der berühmte Detektiv aus Berlin.«

Dr. Schlüter ging ernst auf seinen Platz, schickte einen prüfenden, scharfen Blick in die Runde und ließ sich nieder.

Er war schlecht gelaunt. Im Innern konnte er noch immer nicht an Gerharts Schuld glauben, und doch hatte er die Sache als hoffnungslos aufgeben müssen. Jetzt kamen die Zeugen aus Binz und Saßnitz. Der Hoteldirektor aus dem Kurhaus, die Wirtin aus Neumucran, der alte Fischer, der die beiden zusammen gesehen hatte, die Leute, die die Leiche aus dem Brunnen gehoben und der Besitzer und der Zimmerkellner aus dem Hotel in Saßnitz. Sogar Frau Gollnow aus Kolberg war geladen. Daß Kriminalkommissar Wolff aus Binz und Gendarm Eberlein nicht fehlten, war selbstverständlich.

Der Gerichtstag begann. Die Auslosung der Geschworenen mit dem ewig gleichmäßigen »angenommen«, das sowohl Staatsanwalt wie Verteidiger auszusprechen hatten –, es lag für beide Teile nirgend ein Grund zu einer Ablehnung vor – dauerte ziemlich lange, endlich saßen die zwölf Geschworenen bereit.

Die Zeugen verließen wieder das Gerichtslokal, und die Verhandlung begann.

Zuerst die allgemeinen Vorfragen über Namen und Alter, dann war auch das beendet.

»Angeklagter, die Anklage, die Ihnen zur Last gelegt wird, ist verlesen. Bekennen Sie sich schuldig?«

Gerhart war vollkommen ruhig geworden. Er richtete sein großes, braunes Auge fest auf den Vorsitzenden.

»Mit Willen, mit Absicht, mit Bewußtsein habe ich die schreckliche Tat nicht begangen. Hat meine Hand es doch getan, wie ich selbst fast fürchten muß –« ein Raunen flog durch den weiten Saal – »dann weiß ich selbst nichts davon, dann geschah es in einem Zustande der Unzurechnungsfähigkeit.«

Der Vorsitzende fuhr in seinen Fragen fort – der Staatsanwalt machte Notizen – Rechtsanwalt Dr. Rintel saß regungslos, fast ohne Teilnahme, mit übereinandergeschlagenen Armen.

Langsam mußte Gerhart den ganzen Vorgang noch einmal erzählen. Sein früheres Verhältnis zu der Familie von Dahlen – sein Zusammentreffen in Rügen und bis zu jenem Augenblicke, wo ihn das Gedächtnis nach seiner Angabe verließ.

»Haben Sie wirklich nichts mehr zu sagen?«

»Fühlen Sie wirklich keinen Drang, Ihr Gewissen durch ein Geständnis zu erleichtern?«

»Ich habe nichts mehr zu sagen als das eine: Ich bereue von ganzem Herzen, daß ich Fräulein von Dahlen beschuldigte, ich bereue jedes harte Wort und besonders, daß ich mich hinreißen ließ, sie anzupacken und brutal zu berühren. Ich tat es, weil ich sie für eine Diebin hielt, die mein Vertrauen mißbrauchte und verriet. Ich weiß nunmehr, daß Fräulein von Dahlen vollkommen unschuldig ist. Ich kann sie selbst nicht mehr um Verzeihung bitten, ich kann nichts mehr tun als bereuen. Sollte ich aber wirklich die furchtbare Tat begangen haben, dann ist es ein Schicksal, so grausig, wie es mit Worten nicht auszudenken ist, dann weiß ich nicht, wie ich das Leben noch weiter ertragen soll.«

Im Zuschauerraum knisterten die Taschentücher – er hatte so warm gesprochen, daß sogar die Richter für einen Augenblick bewegt wurden. Nur Staatsanwalt Heinemann runzelte die Stirn und hatte ein spöttisches Gesicht.

Dr. Rintel saß ruhig und ohne jedes Zeichen der Teilnahme und sah vor sich hin.

»Wir treten jetzt in die Beweisaufnahme ein und gehen zu den Zeugenvernehmungen über.«

Stunde um Stunde verging. Die Vernehmung des Gendarm Eberlein – der anderen Männer aus Rügen – von Dahlens und seiner Schwester – ein jedes Zeugnis war nur eine ewige Kette neuer Belastungen.

Da wurde Lisa Fahren aufgerufen.

»Was wissen Sie von der Sache?«

Sie richtete sich voll auf. Wie eine Jungfrau von Orleans auf der Bühne stand sie da.

»Sie sind die Braut des Angeklagten.«

Sie warf einen kurzen Blick zu Gerhart hinüber – der hatte sein Gesicht in der Hand verborgen.

»Ich frage Sie, weil Ihnen dies unter Umständen das Recht geben würde, Ihr Zeugnis zu verweigern.«

»Nein.«

»In welchem Verhältnis stehen Sie sonst zu dem Angeklagten?«

»Ich bin seit Jahren mit ihm befreundet und verehre ihn als den besten und edelsten Menschen, den ich kenne.«

Ihre geschulte, warme Stimme füllte den ganzen Saal.

»Was wissen Sie von der Tat?«

»Ich weiß, daß er unschuldig ist. Voll und ganz. Daß er nie imstande sein würde, eine solche Tat zu begehen, und ich habe die feste Überzeugung, daß sich seine Unschuld auch noch in letzter Stunde erweist.«

Gerharts Auge hob sich langsam und tauchte auf einen Augenblick in das ihre. Verwundert – staunend – fragend und auf einen Augenblick kam sogar ein Leuchten in seinen Blick, sie aber stand da wie eine junge, herrliche Prophetin. Wieder ging durch den Zuschauerraum ein Raunen – der Vorsitzende rührte die Glocke, er sprach fast väterlich.

»Sie haben hier kein Urteil abzugeben und keine Überzeugung. Ich bitte Sie nur, Tatsachen zu erzählen, die Ihnen bekannt sind.«

Ein schmerzlicher Zug flog über ihr Gesicht, und der Glanz in ihren Augen erlosch.

»Ich bitte, fragen Sie – ich werde antworten.«

Ihre Stimme war leise und schmerzlich geworden.

Es war schon Spätnachmittag, als nach einer Pause der Staatsanwalt seine Anklagerede begann.

Er war ein vorzüglicher Sprecher. Scharf, logisch zusammengefaßt kamen die Worte aus seinem Munde.

Er fing mit der frühen Jugend des Angeklagten an. Der Sohn, der aus der Art schlug, der anstatt das wohlvorbereitete Studium zu absolvieren, sich in der Gesellschaft leichtfertiger Künstler wohler fühlte. Lisa wollte auffahren – der Sohn, der den einzigen Wunsch seiner alten Mutter, die gedarbt hatte, um ihm das Studium zu ermöglichen, mißachtete, um lieber ein Bummelleben zu führen. Der sich wohler fühlte, als er an einem kleinen Winkelblatt niedrige Arbeiten verrichtete, wie im Hörsaal der Universität. Der degenerierte, verkommene Sproß einer anständigen Familie.

Er schilderte, wie er gastlich im Hause des Geheimrats von Dahlen aufgenommen wurde, wie aber Vater und Tochter ihm dann wieder das Haus verschlossen, sicher, weil sie ihn in seinem wahren Wert erkannt hatten.

Dann kam er zu der Begegnung in Binz – wie er in einem lächerlichen Triumphgefühl sich an die Damen herandrängte, die nichts von ihm wissen wollten. Und nun kam er auf die eigentliche Tat. Er schilderte in dramatisch bewegter Rede den ganzen Hergang, als sei er dabei gewesen. Von dem ersten Gespräch, das der Fischer belauschte bis zur eigentlichen Tat. Er ließ die Anklage auf vorbedachten Mord zwar fallen, aber er stellte dafür einen Totschlag im Affekt auf.

»Er riß sie am Arm zu Boden – das hat er ja selbst zugegeben. In sinnloser Wut stürzte er, der gebildete Mann, der sich zu beherrschen wissen mußte, auf sein Opfer. Vielleicht schrie sie um Hilfe – seine Hände preßten sich um ihren Hals – er nahm sein Taschentuch und würgte sie wehrlos vollends. Dann lag sie tot vor ihm. – Ein jäher Schreck ergriff ihn über seine Tat. Nun mußte er sie verbergen, oder er selbst war verloren.

Die Gegend war ihm von Kind auf vertraut. Er hat es ja selbst zugegeben, daß er oft dort gewesen. Er kannte das verfallene Gehöft und den Brunnen. Meine Herren, der kleine Edelstein, der in ihrem Haar gefunden wurde und der aus dem Ringe des Angeklagten stammt – das Taschentuch mit seinem Monogramm sprechen eine deutliche, nicht zu widerlegende Sprache.

Ich glaube nicht an Dämmerzustände, die meist nichts sind als Ausflüchte, hinter die sich der Schuldige zu verstecken hofft. Ich glaube nicht daran, daß der Angeklagte nichts von den Vorgängen am Brunnen weiß. Wir haben vorhin das Gutachten des Geheimrats Nieverding, des Direktors unserer Irrenanstalt, in der er sechs Wochen zur Beobachtung weilte, gehört. Auch der Herr Geheimrat hat nichts von einer Geistesgestörtheit beobachtet, er hält ihn wohl für einen seelisch minderwertigen, haltlosen Menschen, aber durchaus nicht für einen organisch Kranken.

Natürlich hält der Herr Geheimrat eine augenblickliche Sinnesverwirrung für möglich. Was ist nicht möglich? Wollen wir so weit gehen, dann würden wohl die meisten Kriminalvergehen ungesühnt bleiben. Ist es nicht überhaupt ein Wahnsinn, wenn ein Mensch seinen Mitmenschen tötet? Und endlich hat die Verteidigung noch geltend gemacht, daß einige Gegenstände, die der Toten fehlten, verschwunden sind.

Das sagt gar nichts. Zunächst wissen wir nicht, was sie bei sich geführt hat, denn Frau von Dahlen konnte darüber keine Auskunft geben, dann aber ist es leicht möglich, daß die Sachen, wie das später gefundene Portemonnaie, umhergeschleudert und gefunden wurden.

Was aber hauptsächlich und geradezu vernichtend spricht, ist das Verhalten des Angeklagten nach vollendeter Tat. Sein ruheloses, verstörtes Wesen, das die Wirtin aus Neumucran treffend als das verkörperte böse Gewissen bezeichnete, seine Ruhelosigkeit, die ihn die ganze Nacht umhertrieb, seine übereilte Flucht am anderen Morgen.

Meine Herren Geschworenen, wenn Sie sich alles das, was ich Ihnen noch einmal vor Augen führte, zu einem ganzen Bilde zusammenstellen, so werden Sie unweigerlich dazu kommen, Gerhart Hellermann schuldig zu sprechen.«

Der Staatsanwalt hatte geendet. Seine Rede, die noch dazu mit wohlklingender Stimme trefflich aufgebaut und mit hinreißender Beredsamkeit vorgetragen war, verfehlte ihren Eindruck nicht. Unter den Zuschauern, die bisher zum Teil noch Mitleid empfunden, galt Gerhart unweigerlich für schuldig, und auch die Geschworenen hatten ernste Gesichter.

»Der Herr Verteidiger hat das Wort.«

Dr. Rintel erhob sich etwas linkisch und trat vor. Er war bleich, und sein Auge umspielte ein leises Lächeln. Gleichsam als spräche er nur zu sich selbst, sagte er:

»Was der Herr Staatsanwalt gesprochen hat, ist selbstverständlich vom Anfang bis zum Ende falsch.«

Diese trocken und fast tonlos gesagten Worte erzielten einen seltsamen Eindruck. Ein leises Kichern ging durch den Saal. Die Greifswalder Anwälte kicherten, der Staatsanwalt selbst verzog seinen Mund zu einem leisen Lächeln, und durch den Zuschauerraum setzte es sich wie eine Welle fort.

Der Vorsitzende ergriff schon die Glocke, da richtete sich Dr. Rintel plötzlich auf und donnerte mit einer Stimme in den Saal, die seinem schmächtigen Körper niemand zugetraut hatte, und während sein Auge von heiligem Zorn leuchtete:

»Ich werde Ihnen beweisen, daß es falsch ist von Anfang bis zu Ende.«

Unwillkürlich wurden die Lacher still.

»Degeneriert, verkommen nennt der Herr Staatsanwalt den Angeklagten? Einen verlorenen Sohn? Ich nenne ihn einen Kämpfer! Einen idealen Jüngling, der die Brust voll hat von allem Guten und Schönen.

Denken Sie an Ihre Jugend! Dieses aufopfernde Studium, das ihn anwiderte und das er doch der Mutter zuliebe fortsetzte! Nur in den Abendstunden gönnte er sich die Gesellschaft gleichgesinnter junger Künstler, nicht wie der Herr Staatsanwalt zu sagen beliebte, leichtfertige Menschen. Und in den kurzen Mußestunden verfaßte er schon damals das Manuskript des Romanes, um den jetzt ein Kampf entbrannt ist, der auch diesem Prozeß zugrunde liegt.

Meine Herren, kennt einer von Ihnen den Roman ›Ein Werdender‹? Wahrscheinlich niemand, aber ich kenne ihn, und ich sage Ihnen, ein Mann, der in so jungen Jahren so etwas schreiben konnte, ein Mann, der ein ganzes Selbstbekenntnis einer edlen, hehren, charaktervollen und ernsten Lebensauffassung niederschrieb in diesem Werke, das wohl in vielen Teilen ein Widerspiegel eigenen Lebens ist – ein solcher Mann ist kein degenerierter, über den ein Staatsanwalt lächelnd hinwegschreitet, sondern ein Mann, der dem Volke noch vieles zu sagen hat, ein Werdender, Großer. Und wenn Sie meine Worte für schöne Ausreden eines Verteidigers halten – fragen Sie Direktor Eckart vom Freia-Verlag, der denn doch wohl maßgebend sein dürfte, was er von dem Verfasser des ›Werdenden‹ hält, fragen Sie die Zeitungen, die den Roman dieses Jünglings als eine Tat, als einen Markstein in der jungdeutschen Literatur bezeichnen. Fragen Sie den Geheimrat von Dahlen, der sich doch schon um den verwässerten Abklatsch des Horst Wehlerschen Plagiats gerissen hat. Und einen solchen Roman schreibt ein Verkommener? Ein Degenerierter? Und der Verfasser eines solchen Werkes ist eines Mordes fähig? Nein, verehrter Herr Staatsanwalt, das würden Sie selbst nicht mehr glauben, wenn Sie sich die Mühe gegeben hätten, den Roman zu lesen und ein wenig in das Seelenleben des Angeklagten einzugehen.

Und nun bitte ich Sie ganz unparteiisch, noch einmal die Tatsachen zu betrachten.«

Es war mäuschenstill im Saale geworden. Der unscheinbare, kleine, schüchterne Mann hielt sie alle in seinem Bann. Gerhart Hellermann saß da mit großen, warmen Augen – Lisa Fahren hatte ein Leuchten auf ihrem Gesicht. Und jetzt ging Rintel noch einmal die ganze Beweisführung durch.

»Jawohl, meine Herren, Gerhart Hellermann ist in größter Aufregung hinter Ada von Dahlen hergeeilt. Was mußte er in seinem Herzen fühlen. Er hatte von Dahlen einmal für seinen Gönner gehalten, und dieser nannte sich selbst den Freund seines Vaters. Und wie hatte er gehandelt? Auf einen Verdacht hin, den er als anständiger Mensch gar nicht für möglich halten konnte, läßt er durch den Justizrat Simon mit Staatsanwalt und Gefängnis drohen! Denken Sie sich doch einmal in des jungen Mannes Lage. Nach Jahren des Kampfes ein Sonnenblick. Ein Aufjauchzen aller der unterdrückten Lebenslust! Das Vertrauen der großen Firma – ich meine natürlich nicht die Firma von Dahlen – ein erster Erfolg! Ein erstes selbstverdientes Geld!

Glücklich eilt er zur Mutter, die ihn nicht verstand, und wirft ihr das Geld in den Schoß. Dann will er ein paar Tage des Lebens genießen. Wie ein Sonnenknabe eilt er hinaus in die schöne Welt – da trifft ihn wie Keulenschläge der furchtbare Verdacht!

Aber er weist ihn lächelnd von sich – er gleitet an ihm ab und er weiß, er braucht nur mit Ada von Dahlen zu sprechen, und alles ist klar und hell. Er sieht ja auch in ihr eine Idealgestalt, die ihn damals nur nicht verstanden. Da hört er von ihren Lippen, daß sie den Roman gar nicht gelesen. Er sieht Spott und Hohn, wo er Teilnahme, Hilfe erwarten mußte. Er steht vor einem Rätsel – jählings steigt der Verdacht vor seiner Seele auf. Nur Ada kennt den Roman, und ihr Vater ist der Mann, der ihm seinen Ruhm stehlen will – nur sie kann ihn verraten haben. Er stürzt sich auf sie, dann aber erschrickt er über sich selbst –

Erst nach Stunden findet er sich wieder. Er glaubt, daß er die ganze Zeit in jammervoller Entrüstung irgendwo am Strande gelegen hat.

Und nun beschuldigt man ihn des Mordes.

Nein, Herr Staatsanwalt, ein Mann, der so mutvoll seine Lebensanschauung äußert, der bekennt auch, wenn er unrecht getan. Und ebenso, wie er sich selbst die schwersten Vorwürfe macht, wie sein ästhetisches Gewissen darunter leidet, daß er sich der Dame gegenüber zu harten Worten, zu einem rauhen Handgriff hinreißen ließ – ebenso hätte er keinen Augenblick gezögert, sein Verbrechen zu gestehen, wenn er ein solches begangen.

Nein, meine Herren, mit Bewußtsein hat er die Tat nicht begangen, aber Sie haben auch gehört, was Herr Geheimrat sagte. Geisteskrank ist der Verfasser des ›Werdenden‹ erst recht nicht.

Entweder wir stehen hier vor einem noch vollkommen ungeklärten Fall und es hat überhaupt ein Dritter die Tat begangen. Auch das wäre ja möglich – warum soll nicht, wie Ada von Dahlen allein zurückging – irgendein Strolch in der Nähe gewesen sein, der einen Raubmord beging – auf den auch die fehlenden Gegenstände hindeuten, oder aber Gerhart Hellermann hatte in der Tat einen Augenblick der Umnachtung.

Sie haben recht, Herr Staatsanwalt, es ist gefährlich, solche Zustände in den Bereich eines gerichtlichen Urteils zu ziehen – es wäre ein Verbrechen an der Menschheit, sie zu verallgemeinern, aber darum können wir doch nicht umhin, in Ausnahmefällen ihr Vorhandensein zu berücksichtigen, und ein Ausnahmefall ist dieser, und gerade ein zartes, ein feines, ein kunstvolles Uhrwerk kann leicht einmal in Unordnung kommen, warum soll eine ideale, eine zartbesaitete, feinfühlige Dichterseele nicht auf Augenblicke zusammenbrechen, wenn derart mit Keulenschlägen auf sie eingehämmert wird.

Das habe ich Ihnen zu sagen, und nun bitte ich Sie um eines.

Sprechen Sie kein Urteil über einen Mann, den Sie nicht kennen.

Lesen Sie das Werk, das des Dichters Selbstbekenntnis ist. Blicken Sie in die klaren, reinen Tiefen seines schönen Charakters, seiner idealen Seele und dann urteilen Sie, ob Gerhart Hellermann eines Verbrechens fähig sein konnte.«

»Bravo!«

Irgendwo aus dem Zuhörerraume scholl eine laute Stimme. Der Präsident schwang die Glocke.

Und doch hatte der Mann nur der allgemeinen Stimmung Ausdruck gegeben. Es war eigentlich nicht die Rede eines Verteidigers. Es war ein warmer, tiefgefühlter Appell an die Menschheit, es war ein Aufruf, nicht nach dem kalten Buchstaben zu richten, sondern zu verstehen – in der Tiefe der Seele zu schürfen.

Dr. Rintel saß wieder auf seinem Platz. Klein, schmächtig, schüchtern in sich zusammengesunken, und ein verlegenes Lächeln spielte um seinen Mund.

Aber niemand hätte jetzt noch ein Wort des Spottes gewagt – eine tiefe Weihe ging durch das Haus.

»Hat der Herr Staatsanwalt noch etwas zu sagen?«

»Ich habe meine Ausführungen gemacht und überlasse es den Geschworenen, ihr Urteil zu fällen.«

Staatsanwalt Heinemann war ärgerlich – und doch fühlte er, daß seine trockenen Ausführungen jetzt nicht am Platze waren. Was sollte er antworten? Eigentlich hatte ihm Rintel gar keine Angriffspunkte gegeben. Er hatte als Ankläger nach den Buchstaben des Rechtes geredet – Dr. Rintel hatte wie ein Dichter gesprochen.

»Der Angeklagte hat das letzte Wort.«

Aller Augen hafteten auf Gerhart. Der aber war ein ganz anderer Mensch. Alles Gebrochene, Verzagte, Verzweifelte war von ihm abgefallen. Es schien, als hätte er ganz vergessen, wo er war, als hätte er vergessen, wessen man ihn beschuldigte. Die Worte Rintels klangen in seinen Ohren. Diese Worte des Verständnisses und der Würdigung.

Ihm war, als komme er aus einem erfrischenden Bade, als sei alle Schmach, alles Schmutzige und Häßliche von ihm geschwunden. Als sei ihm vor aller Welt Genugtuung erfahren.

Er hatte den Staatsanwalt und seine bösen Worte gänzlich vergessen.

»Ich habe nichts mehr zu sagen.«

Landgerichtspräsident von Wickede formulierte die Schuldfragen.

»Ich lege den Herren Geschworenen die Frage vor: Ist Gerhart Hellermann des Totschlages im Affekt schuldig, begangen an Ada von Dahlen mit den Nebenfragen: Sind dem Angeklagten mildernde Umstände zuzubilligen? Und der Hilfsfrage: Hat Hellermann die Tat in geistiger Umnachtung und ohne Verantwortungsmöglichkeit begangen?«

Der Vorsitzende erteilte die Rechtsbelehrung, dann zogen sich die Geschworenen in das Beratungszimmer zurück.

Ein Murmeln ging durch den Saal. Gerhart wurde in ein kleines Zimmer geführt und ihm eine Erfrischung angeboten. Er lehnte ab – er wäre jetzt nicht imstande gewesen, etwas zu genießen.

Lisa Fahren stand im Saal – jetzt trat sie auf Doktor Rintel zu.

»Herr Rechtsanwalt, ich habe Ihnen so viel abzubitten – ich danke Ihnen.«

Dr. Rintel schüttelte lächelnd den Kopf. Er war wieder verlegen, wie immer in Damengesellschaft.

»Sie haben mir nicht zu danken, ich habe nur meine Pflicht getan.«

Lisa war wieder etwas ernüchtert. War das wirklich derselbe Mann, der vorhin so hinreißend gesprochen? Sie trat zu Dr. Schlüter, der mit einem seiner rätselhaften Lächeln an einer Säule lehnte.

»Was meinen Sie, Herr Doktor?«

»Daß Doktor Rintel ein ganzer Kerl ist.«

»Sie glauben?«

»Ich glaube gar nichts. Jetzt beraten die Geschworenen.«

Auch Lisa war es schwer, sich wieder in den furchtbaren Ernst der Lage zu versetzen.

Die Rede Dr. Rintels war aber auch im ganzen Saal das einzige Gespräch.

Da öffnete sich die Tür zum Geschworenenzimmer.

Ruhe trat wieder ein – der Angeklagte wurde hereingeführt, der Vorsitzende trat auf seinen Platz. Der Obmann der Geschworenen trat vor. Es war ein einfacher, schlichter Handwerksmeister mit grauem Kopf.

»Ich stelle den Antrag, unseren Spruch bis zum Mittwoch aussetzen zu dürfen. Die Geschworenen halten es einstimmig für ihre Pflicht, zur besseren Beurteilung des Charakters des Angeklagten sich zuerst mit dessen Roman ›Der Werdende‹ bekannt zu machen.«

Dr. Rintel hob den Kopf – einen Augenblick schwebte ein glückliches Lächeln um seinen Mund, dann saß er wieder stumm wie zuvor.

Der Gerichtshof beriet, dann erhob sich der Vorsitzende.

»Durch Gerichtsbeschluß wird die Sitzung bis Mittwoch vormittag neun Uhr vertagt.«

Ein Murmeln erscholl im Saal, das von Sekunde zu Sekunde anschwoll.

Die Richter hatten sich zurückgezogen, das Publikum durfte nun frei seine Meinung äußern – Gerhart Hellermann war schon wieder in seiner Zelle.

Dr. Schlüter bot Lisa den Arm.

»Ich denke, wir können zufrieden sein.«

»Glauben Sie an einen Freispruch?«

»Lassen Sie mich darüber schweigen – aber ich denke, wir dürfen hoffen, daß die Geschworenen ihm milde Richter sind.«

Sie gingen langsam durch den Abend, Dr. Rintel, den sie gern mit sich genommen, war verschwunden. Schlüter lächelte.

»So ist er stets, wenn er einen Erfolg hatte, flieht er die Menschen. Ich denke, er und Hellermann müßten Freunde werden.«

Und langsam sank die Sonne in die Ostsee und vergoldete mit ihren Strahlen die Insel Rügen. Unwillkürlich stand Lisa still.

»Wie schön ist doch die Welt!«

Dr. Schlüter nickte lächelnd.

»Sie haben recht, Fräulein Fahren, aber nun bin ich ganz prosaisch. Sie haben den ganzen Tag noch nichts gegessen, und ich auch nicht.« Er führte sie den Strand entlang und der Stadt wieder zu.


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