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Karl Friedrich Zelter an Goethe

Du bist im Mutterleibe der Natur so hübsch zu Hause und ich höre Dich so gerne reden von Urkräften, die von Geschlechtern der Menschen ungesehn durch das Universum wirken, daß ich ein Gleiches ahnde, ja Dich im Tiefsten zu verstehen meine und doch zu alt und viel zu weit zurück bin, um ein Studium der Natur anzufangen.

Komme ich nun auf einsamen Reisen über Höhen, Bergspitzen, durch Schluchten und Thäler, so werden mir Deine Worte zu Gedanken, die ich mein nennen möchte. Aber es fehlt an allen Orten und nur mein eigenes kleines Talent kann mich retten, daß ich nicht versinke.

Da wir doch nun einmal zusammen sind wie wir sind, so dächte ich, Du ließest Dich herab, da ich Dich so gern verstehe, mir meinen Grundstein zu legen um mein innerstes Sehnen zu festen: wie Kunst und Natur, Geist und Körper überall zusammenhangen, ihre Trennung aber – Tod ist.

So habe ich auch diesmal wieder, indem ich wie ein Zwirnfaden das Thüringische Gebirge von Coburg bis hieher durchzogen bin, schmerzhaft an den Werther gedacht: daß ich nicht überall mit Fingern der Gedanken was unter und neben mir ist, befühlen, beschauen kann; was mir aber so natürlich vorkommt als Körper und Seele Ein Wesen sind.

Freilich hat es unserer vieljährigen Correspondenz nicht an Materie gefehlt; Du hast so redlich Theil genommen an meinem Stückwissen in musikalischen Dingen, wo wir Andern freilich noch immer umherschwanken; – wer hätte es uns denn sagen sollen? Aber ich möchte doch auch nicht gar zu bettelhaft gegen Andere vor Dir erscheinen. Nenne es Stolz – dieser Stolz wäre meine Lust. Von Jugend an habe mich hingezogen, hingezwungen gefühlt zu denen die mehr, die das Beste wissen und muthig, ja lustig mich bekämpft und ertragen, was mir an ihnen mißfiel – ich wußte wohl was ich wollte, wenn ich auch nicht weiß, was ich erfuhr. Du warst der Einzige, der mich trug und trägt, ich könnte von mir selber lassen, nur nicht von Dir.

Sage mir, zu welcher Stunde ich zu Dir komme; ich erwarte vorher unsern Doctor, weiß aber nicht, wann er kommen kann.

Weimar, Dienstag den 16. Octbr. 1827.

Z.


Dem historischen Rückblick enthält der folgende Brief mehr als eine Todesnachricht, und sei es die ganz Deutschland erschütternde vom Hinscheiden Hegels. Er ist ein Treugelöbnis an seiner Bahre, dessen Folgen die, die es ablegten, damals nicht ahnten. Strauß und Märklin, die sich in diesem Briefe so eng verbunden zeigen, gehörten dem gleichen Jahrgang der Klosterschule Blaubeuren an, auf der sie miteinander Freundschaft geschlossen hatten, und zwar der sogenannten »Geniepromotion«. So wenigstens nannte man diesen Jahrgang später auf dem Tübinger Stift, in welches, 1825, Strauß und Märklin als Studenten der Theologie hinübertraten. Unter den übrigen Figuren, die der Gruppe zu dem glanzvollen Namen verhalfen, hat heute freilich nur noch Friedrich Theodor Vischer ein Gesicht. In der schönen gemächlichen Biographie, die Strauß dem Adressaten nach dessen frühem Tod – er starb mit 42 Jahren 1848 – gewidmet hat, stellt er anmutig das Bild des berühmten Stifts hin, das im Laufe der Zeit »so viele bauliche Umwandlung erfahren, daß es kein klösterliches, ja kaum mehr ein altertümliches Ansehen hat. Mit der Hauptseite gegen Süden gewendet, sonnig und luftig, die höheren Stockwerke mit entzückender Aussicht auf die dunkelblaue Mauer der schwäbischen Alp, welche über dem theatralisch auseinandertretenden Vordergrunde des Steinlachtales sich als Hintergrund erhebt, ist das ganze Gebäude, die beiden Hörsäle und den Speisesaal ausgenommen, in Arbeits- und Schlafzimmer für je 6 bis 10 Bewohner in der Art abgeteilt, daß, ähnlich wie in Blaubeuren, allemal zwischen zwei Studierzimmern der Zöglinge ein Repetentencabinett sich befindet.« Wenn Strauß später das Stift verließ, um die unmittelbare Auseinandersetzung mit den Gedanken zu suchen, die von Berlin aus damals Deutschland bewegten, so waren die beiden Freunde doch 1833 von neuem als Repetenten im Stift vereinigt und zwei Jahre später erschien dann das »Leben Jesu«, das nicht nur für seinen Verfasser Strauß, sondern auch für Märklin Ursprung lang andauernder Kämpfe wurde, in denen die Theologie der Junghegelianer sich bildete. Ausgangspunkt der Hegelstudien für beide war die »Phänomenologie«. »Hegel, welcher einst mit Märklins Vater zu gleicher Zeit in das Tübinger Stift eingetreten war, hatte lange in seiner schwäbischen Heimat nur geringe Beachtung gefunden. Nun erwuchs ihm auf einmal in dem Sohne Märklins und dessen Freundeskreis ein Häuflein von begeisterten Anhängern; nur zogen sie in theologischen Dingen die Konsequenzen jenes Systems viel kühner als der Meister selbst.« Im »Leben Jesu« führen diese Konsequenzen zu einer Synthese der supranaturalistischen und der rationalen Auslegung des Neuen Testaments, dergestalt, daß, um mit Strauß zu reden, »als Subjekt der Prädikate, welche die Kirche Christo beilegt, statt eines Individuums eine Idee, aber eine reale, nicht Kantisch unwirkliche, gesetzt wird. In einem Individuum, einem Gottmenschen, gedacht, widersprechen sich die Eigenschaften und Funktionen, welche die Kirchenlehre Christo zuschreibt: in der Idee der Gattung stimmen sie zusammen.« Das waren Perspektiven der Hegeischen Lehre, die, so keimhaft sie im Jahre 1831 noch verschlossen lagen, die konventionelle Erbaulichkeit einer Totenfeier nicht gerade beförderten. Und es war nicht allein der werdende Verfasser des Lebens Jesu, der bei dieser Bestattung den Mißklang empfand, in dem eine umstürzende und unvorhergesehene Art des Fortlebens sich ankündigte. »Das Entsetzen«, schreibt sehr vermittelnd J.E.Erdmann, gleichfalls ein Hegelianer, »darüber, daß er, den man noch eben frisch und munter gesehen hatte, dahingerafft war, muß als ein Entschuldigungsgrund für manches an seinem Grabe gesprochene Wort gelten. Er war zu groß gewesen, als daß die Kleinen, denen er Halt gab, nicht außer Fassung und Haltung hätten kommen sollen.«


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