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Marie Fourriere, wie sie genannt zu sein wünschte, saß mit ihrem kleinen Zögling am Strande des Mittelländischen Meeres und sah mit selig verträumten Augen auf die blauen, an den vereinzelten Felsklippen weiß aufbrandenden Wellen und den darüber hinflutenden Sonnenschein.

Wie war das märchenhaft schön und so beglückend, anders als in dem Hinterstübchen der kleinen Pension und als in den letzten Jahren, die sie fast unausgesetzt hinter verhangenen Fenstern im halbverdunkelten Gemach verlebt hatte! Manchmal war ihr damals der Gedanke gekommen, daß ihre Augen reines, unverhülltes Sonnenlicht gar nicht mehr würden ertragen können. Sie waren so an gründliche Dämmerung gewöhnt, so auf diese unzureichende Beleuchtung eingestellt gewesen, daß sie fast von Angst befallen wurde, wenn ein unvorsichtiger Sonnenstrahl sich durch eine Spalte der zugezogenen Vorhänge stahl. Freilich war diese Angst nicht ihretwegen gewesen, sondern hatte sich nur um den armen, geliebten Papa gedreht, dessen arme, liebe Augen kein helles Licht vertrugen und nicht davon getroffen werden durften.

Und wie hatte er selbst einst die Sonne geliebt, wie hatte er sie gelehrt, das köstliche, segnende Himmelslicht zu lieben! War doch die Sonne die Genossin seiner Kunst gewesen, und war sie doch von seinem Pinsel in all ihren Wirkungen und Wandlungen festgehalten worden! Marie konnte sich nicht entsinnen, je ein Bild ihres Vaters ohne Sonnenschein gesehen zu haben. Selbst das Bildnis ihrer schönen Mutter, das einzige Porträt, das ihr Vater jemals geschaffen hatte, war aus Sonnenglanz und Blumenfülle herausgewachsen. Dabei hatten seine Augen wohl zu viel und zu offen in die strahlende Glut geschaut. Armer, lieber Vater! Nur im Dämmerschein blieb ihm noch eine schwache Möglichkeit des Sehens. Die Welt, die ihm einst lauter Licht gewesen, mußte er jahrelang in künstlichem Halbdunkel durchwandern. Und sein junges, opfermutiges Kind war mit ihm durch diese graue Trübnis gewandert – graue Trübnis körperlich und seelisch. Denn Leid kommt nie allein, es zieht eine dunkle Schleppe nach sich, auf der sitzen die Sorge, die Angst, des Alltags quälende Lebensnot und viele, viele andere dunkle Jammergestalten.

Einst war alles anders gewesen, damals, als Marie ein Kind, ein heranwachsendes Mädchen war, und als ihre Mutter noch lebte, die feine, zarte Frau mit den wunderbar tiefen Augen und dem sonnigen Lächeln um den roten, blühenden Mund. Damals war auch Wohlstand und Schönheit in der kleinen Familie. Die Mutter stammte aus reichem Hause; aber sie hatte alles hingegeben, um ihrem Herzen zu folgen und den jungen Deutschen zu heiraten, den ihre Eltern haßten um seiner Nation willen, und den sie ihr wehrten mit allen zu Gebote stehenden Mitteln. Dem Großvater war im Deutsch-Französischen Kriege ein Bruder und der einzige Sohn aus erster Ehe gefallen. Das konnte er den Preußen nie vergeben, und als seine Tochter aus zweiter Ehe ihr Herz an einen aus dieser Nation verlor und, allen Widerstand brechend, mit ihm entfloh, hatte er sie verstoßen, enterbt und ihr nie verziehen.

Der Fleiß des damals tatkräftigen und talentvollen Ehemannes hatte aber nie die Not über die Schwelle des Haushaltes treten lassen, und die geschickte Hand der jungen Frau sorgte dafür, daß neben dem Wohlstand die Schönheit und Behaglichkeit im Hause blühten. Damals war immer Sonne in des einzigen Kindes Leben gewesen, bis die Mutter ganz plötzlich starb. Da war das goldene Licht erloschen.

Der Blick des jungen Mädchens hatte seine glückliche Verträumtheit verloren, sie seufzte. »Woran denken Sie, Fräulein?« fragte die kleine, schwache Stimme des neben ihr im Wägelchen sitzenden Knaben. Sie drehte sich hastig nach ihm um, in ihren Augen standen Tränen. »An meine Mutter«, sagte sie leise, mehr für sich als für ihn. »Und deshalb sind Sie traurig? Sie war wohl böse zu Ihnen?« Nun lächelte der rote Mund, der eben noch schmerzlich gezuckt hatte. »Böse? Nein, Mütter sind nie böse. Ich war traurig, weil sie so gut war und ich sie so liebte und weil sie nun tot ist.«

Alex sah sie nachdenklich an, der letzte Satz schien ihn wenig zu rühren, er ging über ihn fort, zum ersten. »Mütter sind nie böse? O doch, sie haben ihre Kinder manchmal gar nicht lieb, besonders eins nicht.« »Das ist nur so in häßlichen, unwahren Märchen, die man nicht lesen sollte; in Wirklichkeit haben Mütter alle ihre Kinder gleich lieb.« »Nein, das tun sie nicht«, beharrte Alex bei seiner Ansicht, und in sein blasses, krankes Gesicht trat ein finsterer, gequälter Zug. »Meine Mama hat ihre anderen gesunden, schönen Kinder auch lieb, aber mich nicht.«

Erschreckt legte Marie ihre Hand auf die mageren, leicht verkrümmten Finger des Knaben. »Wie kannst du so etwas sagen? So spricht ein gutes Kind nicht von seiner Mutter.« »Ich bin auch kein gutes Kind, sie sagen es alle; ich bin launisch, eigensinnig, tückisch, sagen sie, Mama auch. Pah, ich mache mir gar nichts daraus, was sie sagen. Ich weiß alles, auch weshalb sie doch alle um mich springen und mir immer den Willen tun; ich weiß alles! Die anderen Fräuleins haben es mir oft genug erzählt. Weil ich reich bin, weil alles mir gehört, und weil sie arm sind wie Bettler, wenn ich sterbe!«

Mit heiserer Stimme hatte er es hervorgestoßen, hämisch, Haß und Triumph um den schmalen Mund; nun schwieg er erschöpft. »O Alex, wie häßlich! Du armes, liebes Kind, wie haben sie dein junges Herz vergiftet!« In überströmendem Mitleid schlang sie den Arm um das dürftige Oberkörperchen und lehnte ihre weiche Wange an sein spitzknochiges Gesicht.

In dem arbeitete es erregt. Er biß die Zähne zusammen, er wollte nicht weinen, nicht weibisch und erbärmlich sein, wie sie ihm immer vorwarfen, vor ihr nicht! So fest, wie er konnte, preßte er die Hand, die noch auf der seinen lag. »Du bist gut, dich hab' ich lieb! Gleich beim ersten Blick habe ich dich liebgehabt, zu dir werde ich nie launisch, eigensinnig und tückisch sein, nie. Zu dir – nein, zu Ihnen möcht' ich du sagen, wenn – wenn Sie es erlauben würden.«

Eine liebenswürdige Schüchternheit, die das kranke, müde Kindergesicht mit ganz eigenem Reiz verklärte, lag über seinen letzten Worten, bei denen er, zärtlich bittend, zu dem jungen Mädchen aufsah. Das nickte mit warmem Blick. »Ja, das erlaube ich gerne, das gefällt mir selbst viel besser, als das häßliche ›;Fräulein‹. Sage nur du zu mir, das heißt, wenn deine Mama es erlaubt.« »O, die erlaubt alles, was ich tue.« Er verzog geringschätzig den Mund. »Die brauche ich gar nicht zu fragen.«

»Aber ich wünsche, daß du sie fragst, Alex. Du sollst dich richtig benehmen, wie ein Kind sich seiner Mutter gegenüber benehmen muß; dann wirst du allmählich auch sehen, daß deine Mutter dich ebenso lieb hat wie ihre anderen Kinder.« »Nein, das wird sie nie«, war die bittere Erwiderung. »Ich bin krank und häßlich, das mögen sie alle nicht leiden, die Gesunden und Schönen, das weiß ich schon. Nur du bist anders, du bist schön und doch gut, auch gegen die Häßlichen, und deshalb habe ich dich lieb. Nein, schilt nicht. Sieh mal, zu dir muß ich doch reden, wie ich denke, sonst wäre ich ein Lügner und Heuchler, und das will ich zu dir nicht sein.« »Auch nicht zu den andern, Alex.«

Marie ließ Alex los und sah ernst zu ihm nieder. Er machte ein verdrießliches Gesicht. »Du sollst mich nicht quälen, das greift mich an!« Nun entzog sie ihm auch die Hand und wandte sich von ihm ab, ohne ein Wort zu sagen. Sie starrte auf das Meer hinaus, und ihr Herz war schwer. Das arme Kind, dem schon so viel bittere Erkenntnis in sein junges Leben gefallen war, tat ihr grenzenlos leid; zugleich aber fühlte sie auch die Verantwortung, die sie übernommen, und für die sie ihre vollen Kräfte einsetzen mußte. Sie wollte nicht nur das übliche Fräulein sein, sondern wirklich eine Freundin und Behüterin dieses armen Kindes, und nicht nur seines Körpers, sondern auch seiner leidenden, verkrüppelten Seele, und dazu durfte sie seinen Unarten und Launen nicht nachgeben. Mit der Versicherung seiner Liebe war es nicht genug, er mußte sie auch durch die Tat beweisen.

Da klang es hinter ihr leise, gepreßt, man hörte, wie schwer es über die Lippen kam: »Du, Fräulein, – nein, nicht Fräulein, wie heißt du denn eigentlich?« »Ich heiße Marie.« »Und darf ich dich auch so nennen?« »Ja, das darfst du.« »Marie, ich bin ungezogen zu dir gewesen. Bitte, sei mir nicht böse. Ich kann es nicht aushalten, wenn du böse mit mir bist.«

Seine Stimme zitterte, und die Tränen, die er vorher so tapfer zurückgehalten hatte, hingen nun doch in den Wimpern. Marie wandte sich zu ihm herum, ihr Blick war umflort. »Ich bin nicht böse, nur traurig.« »Nein, nein, das sollst du nicht sein, gerade das nicht! Ich will versuchen, alles zu tun, was du willst, sei nur nicht traurig. Ich will ganz gut sein, nur glaub' mir, die andern verdienen das nicht, und sie werden bloß denken, ich wäre feig und schwächlich und sie werden mich noch mehr verachten.« »Nein, das werden sie nicht, denn ich werde immer neben dir stehen, und wir beide wollen ihnen beweisen, daß wir nicht feige und schwächlich sind, mein lieber Junge. So etwas mußt du gar nicht denken.«

Er lehnte seinen Kopf an ihre Schulter und seufzte. »Du weißt das noch alles nicht. Als mein Vater noch lebte, war es anders. Das heißt, sehr lieb hatte er mich auch nicht. Vielleicht früher, als ich noch gesund war und gehen konnte. Da war das Leben viel besser, viel! Warum muß ich denn krank sein und häßlich, wo alle anderen Kinder gesund und hübsch sind?«

Verzweifelt klang die Frage zu Marie auf. Sie drückte den wie in heimlichen Schmerzen zuckenden Kinderkörper fest an sich. »Nicht alle, Alex. Gar viele Menschen auf Erden sind krank und müssen leiden, und die meisten von ihnen können sich ihr Leben dabei nicht so leicht und bequem gestalten wie du. Weil sie arm sind, müssen sie hungern und frieren, in dunkeln, dumpfen Stuben liegen und sehen nie das schöne, goldene Himmelslicht und die grünen Bäume, und das blaue, köstliche Wasser, das hier so lustig auf dich zuspringt und dir lauter weiße Rosen und Perlen vor die Füße wirft.«

Sie wollte seine Gedanken ablenken von dem düsteren Thema, unter dem seine junge, grübelnde Seele litt, sie sah, wie es ihn aufregte, wie er zitterte und auf dem mageren Gesicht rote Flecken brannten. Aber es wäre ihr wohl kaum gelungen, wenn nicht gerade eben, schon ziemlich dicht in ihrer Nähe, die beiden Schwestern Klingenstur aufgetaucht wären. »Deine Schwestern kommen, Alex!« Sie zog den Arm von seinen Schullern, fühlte aber wohl, wie er zusammenzuckte, und sah in seinem Gesicht das hastige Bemühen, seine Erregung zu verbergen und gleichgültig auszusehen. Es gelang ihm auch, trotz der Frist, die er dafür hatte. Man sah, wie sehr er daran gewöhnt war, seine Empfindungen vor anderen zu verbergen.

»Sie hätten auch einen anderen Weg gehen können«, stieß er hastig und unfreundlich aus. Da standen sie schon neben seinem Wagen und Ebba rief fröhlich: »Morgen, Alexkind! Morgen, Fräulein! Nun, bist du froh, so fein in der Sonne zu sitzen und dem Spiel der Wellen und der Wasser zusehen zu können?« Sie strich dabei flüchtig über den Kopf des Knaben und sah ihn freundlich an. Es lag über ihrer ganzen Erscheinung ein Hauch köstlicher Frische und Jugend, fast wie ein Frühlingswind, belebend, anregend und hoffnungsfroh.

Auch das Gesicht des Knaben erhellte sich unwillkürlich; ein schwaches Lächeln huschte darüberhin, und die Gestalt der vor ihm Stehenden mit vollem Blick musternd, sagte er anerkennend: »Du siehst sehr gut aus, Ebba, so frühlingsmäßig. Du verstehst, dich sehr gut anzuziehen.«

Ebba lachte hell auf. »Bravo! Früh übt sich, wer ein Meister werden will, du wirst einstmals ein geschickter und verständnisvoller Kavalier werden. Deine Anerkennung ehrt mich, junger Mann, und stärkt mein schwaches Selbstbewußtsein, das neben Königin Karin sich sonst ganz duckt.« »Rede nicht wieder Dinge, die unpassend im allgemeinen und unpassend im besonderen für das Verständnis eines Kindes sind«, verwies Karin stirnrunzelnd, und wandte sich nun auch dem Bruder zu. »Du siehst erhitzt aus, Alex; die Nähe der Promenade ist zu aufregend für dich. Sie werden besser tun, Fräulein, künftig nicht auf Ihr Vergnügen zu sehen, sondern lieber weniger belebte Plätze aufzusuchen, mehr ins Land hinein.« »Nein, das werden wir nicht tun«, fiel Alex heftig ein. »Wir lieben das Meer, und wir werden fahren, wohin es uns beliebt, nicht wahr, Marie?«

Das junge Mädchen hatte sich beim Herantreten der Schwestern erhoben, sie stand neben dem Wagen des Knaben, sehr ungezwungen und unbefangen. »Vollkommen gleichberechtigt«, dachte Ebba bei sich. Marie hatte die Hand ihres Zöglings ergriffen, sie drückte sie beruhigend. »Vor allen Dingen werden wir uns nicht ungezogen und taktlos benehmen, Alex. Dein Fräulein Schwester meint es doch gut mit dir; warum sollen wir nicht ihrem Rat folgen und künftig eine weniger belebte Gegend aufsuchen? Wir haben doch beide die Einsamkeit lieber, nicht, mein Junge?« »Ja, wenn es dir recht ist, mir ist es auch lieber, wenn ich keine Menschen zu sehen brauche.« »Dann wäre ja die Sache erledigt, und wir können weitergehen, Ebba. Guten Morgen!« Karin nickte kühl über die Gruppe hin und wandte sich dann dem belebteren Teil der Promenade zu.

Ebba strich wieder mit der Hand über Alex' Kopf und nickte dem Fräulein lächelnd zu. »Da haben Sie sich einen tapferen Ritter erworben, Fräulein, ich gratuliere; mit dem können Sie des Lebens Unbill getrost entgegentreten. Auf Wiedersehen, mein Junge, auf Wiedersehen, Fräulein.«

Lachend sprang sie der Vorangeschrittenen nach. »Du, Karin, sie hat es dir sehr fein gegeben; aber gegeben hat sie's dir doch! Ich glaube, du tust klüger, wenn du dich in keinen Kleinkampf mit dem Mädchen einläßt, sie ist dir zum mindesten gewachsen.« »Welch eine Idee, ich mich in einen Kampf mit solch einer Person einlassen! Du träumst, Ebba!« Karins Lippen schürzten sich verächtlich. »Nein, zu solchen Kleinigkeiten lasse ich mich nicht herab; aber daß die Person mir unsympathisch ist, will ich dir ruhig zugeben.« »Aber, Karin, warum? Zurückhaltender und bescheidener als sie kann man nicht sein.« »Das ist alles Heuchelei! Dieses Mädchen hält sich für ganz dasselbe, was wir sind, stellt sich innerlich auf eine Stufe mit uns, und ihre Bescheidenheit und Zurückhaltung ist nichts als verkappter Hochmut und höchster Grad des Selbstbewußtseins. Das auf den richtigen Standpunkt herabzudrücken, halte ich für meine Pflicht.« »Glücklicherweise kommst du zu der nicht viel, denn Alex und sein Fräulein führen ihr Leben für sich und kreuzen nicht oft unseren Weg.« »Sie taten das heute doch, wahrscheinlich, weil Fräulein es wünschte. Ich finde übrigens das Duzen sehr unpassend.«

»Ach!« gähnte Ebba. »Wie langweilig es hier ist! Was tue ich mit der ganzen Riviera und den im dunkeln Laube glühenden Goldorangen, wenn ich keine interessanten Menschen kennen lerne, wenn wir in stolzer Unnahbarkeit thronen, wie der Adler auf seinem Horst.« »Da wirst du dich wohl noch etwas gedulden müssen. Mama hat den sehr richtigen Grundsatz, erst die Leute zu prüfen, ehe sie ihnen gestattet, sich uns zu nähern. Übrigens bin ich selbst überrascht, daß noch nichts von Bekannten hier ist.«

»Ach, Bekannte! Das sind doch alles schon abgebrauchte Leute, entweder alte Damen und alte Herren, oder irgendein Jüngling, der sich schon an deinem Glanz die Flügel verbrannt hat und von dir als ungeeignet beiseite geschoben wurde. Ich will neue, will geeignete Bekanntschaften machen, Bekanntschaften für mich!« »Ebba, du tobst wie ein Kind und – ich kann wirklich nur sagen – wie eine Abenteuerin, die auf Beute geht. Ich finde das sehr unpassend, ganz aus dem Rahmen unserer Verhältnisse fallend.« »Im Gegenteil, ganz da hinein passend. Schließlich sind wir beide doch nichts anderes als Mädchen, die sich gut unter die Haube bringen wollen, weil sie dadurch festen Boden unter die Füße bekommen.« »Du bist brutal, Ebba!« »Blitze mich nicht so verächtlich und zornig an, ich bin eben anders wie du, ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube, wenigstens nicht in der Familie. Und meinetwegen soll dieser Grund nicht einmal mitspielen, denn ich bin ja noch so jung, ich habe noch Zeit, günstige Gelegenheiten abzuwarten, aber ich will wenigstens Vergnügen haben, wenigstens darin meine Jugend genießen!«

Ebba verstummte mitten in ihrer wild hervorgesprudelten Rede. Was war denn das? Da stand vor Karin ein sehr hübscher, sehr elegant und vornehm aussehender junger Mann, hatte den Hut gezogen und sah sie erstaunt und entzückt an. »Mein gnädiges Fräulein, ist das Wirklichkeit?«

Wie bestrickend Karin lächelte, wie ihre Farbe sich gerade nur um den richtigen Ton vertiefte, und die Augen in goldenem Glanz aufleuchteten. Ach, sie war so wunderschön, daß es eben doch zu den Unmöglichkeiten gehörte, neben ihr eine Stellung zu behaupten. Jetzt geruhte Königin Karin, sich ihrer Aschenbrödelschwester zu erinnern. »Baron Sesenburg, ein Berliner Bekannter, ehemaliger Kamerad Kurt Veltins«, stellte sie vor.

Berliner? Aha, sollte das der »Gewünschte« sein? Sehr wahrscheinlich, denn diese Art von Liebenswürdigkeit, diese schelmische, entzückende Lieblichkeit pflegte Karin nicht für die Alltäglichkeit zu zeigen. Sie hatte sogar eine gewisse weiche Teilnahme in Ton und Blick, als sie sich nach seiner Krankheit erkundigte. »Bevor wir Berlin verließen, sagte mir Ihr Freund Mindgereit, daß Ihr Zustand hoffnungslos sei und Sie vielleicht schon nicht mehr unter den Lebenden weilten. Es hat mich damals wirklich erschüttert. Wenn man jemand so ganz frisch und lebensvoll in der Erinnerung hat und dann plötzlich hört, er sei tot oder stehe dem Tode ganz nahe – das ist furchtbar!«

Ganz blaß war sie dabei geworden. Sie war eben riesig talentvoll, sie hatte sogar ihren Farbenwechsel in der Gewalt, dachte Ebba, halb bewundernd, halb empört, und horchte dann wohlgefällig auf den Klang der angenehmen Männerstimme, die einen dunkleren Tonfall erhielt, als er sagte: »Ja, ich stand wohl damals dicht vor dem geheimnisvollen Tore, das in die Ewigkeit führt. Aber der Pförtner ließ mich noch nicht herein; meine Zeit war noch nicht gekommen, die Männer meines Geschlechts pflegen erst nach dem vierzigsten Jahre dort einzugehen.«

Der letzte Satz sollte scherzhaft klingen; aber gerade auf ihn legte es sich wie Schatten und Schwermut. »Ach,« lächelte Karin, »ist das ebenso eine Stammeseigentümlichkeit wie der Abscheu vor den blonden Frauen?« »Abscheu? Verzeihung, so sagte ich nie.« Sein blasses Gesicht, dem man die Spuren kaum überwundener Krankheit noch ziemlich deutlich ansah, rötete sich leicht. »Ich sprach damals nur von einer warnenden Prophezeiung. Gnädiges Fräulein haben ein gutes, aber nicht ganz getreues Gedächtnis.« »Das könnte stimmen«, nickte sie heiter. »Ich behalte den Kernpunkt, aber nicht die Nebensächlichkeiten. Ich entsinne mich nur, daß Sie eine Art abergläubischer Scheu vor den blonden Frauen feststellten, und daher wage ich kaum, mich über das Begegnen mit Ihnen zu freuen; denn voraussichtlich machen Sie, wenn wir uns trennen, drei Kreuze hinter meinem blonden Kopf und dampfen dann in geschütztere Gegenden, wo nur schwarzäugige Teufelinnen wohnen.«

Wie sie ihn dabei ansah! Ebba fiel aus einer Verwunderung in die andere. Wenn der arme, erholungsbedürftige Mensch davor seiner Sinne Meister blieb, dann konnte man auf die innerliche Kraft seiner Natur die besten Hoffnungen setzen. »Nein, gnädiges Fräulein, ich gedenke, der Gefahr zu trotzen. Ich bin sehr glücklich, Sie hier getroffen zu haben, denn für einen Genesenden gibt es nichts Böseres als Einsamkeit, die schwermütige Grübeleien weckt. Wenn Sie gestatten, stelle ich mich unter den Schutz Ihres blonden Heiligenscheines, unter dem so anregende kleine schwarze Teufeleien sitzen.«

Ebda sah nachdenklich in das hübsche, lachende Männergesicht. Vor blonden Frauen warnte ihn eine Prophezeiung? Der Warnung sollte er nur folgen! Aber Männer sind ja leider so grenzenlos eigensinnig und leichtsinnig; wovor sie gewarnt werden, das suchen sie am liebsten, und das reizt sie am meisten! Karin würde das wohl auch wissen, daher spielte sie so keck mit der Erinnerung an jene Prophezeiung. Es war wirklich kein Vergnügen, so als überflüssige Dritte neben den beiden einherzugehen. Wenn das immer ihr Los sein sollte!

Glücklicherweise kam eben Mama, und nun wurde die Bekanntschaft zwischen ihr und diesem Baron Sesenburg erneuert. »Ist das der Gewünschte, Karin?« fragte Ebba leise die Schwester. Karin runzelte die Stirn; es war ihr jetzt unangenehm, daß sie damals in ihrer Erregung mehr gesagt hatte, als sie wollte. »Der Gewünschte?« wiederholte sie gedehnt. »Darüber ändern sich die Ansichten mit der Umgebung, der Zeit, der Beleuchtung; ich kann das jetzt nicht mehr sagen. Er ist ein angenehmer junger Mann, wie andere auch, eine Abwechslung.« »Du hast also keine Absichten auf ihn?« »Aber, Ebba! Bitte, stelle dich doch lieber auf die Promenade und posaune solche Frage öffentlich aus. Ich habe nie gerne Knospen gewaltsam geöffnet, um in ihren Kelch zu sehen.« »Wie poetisch du sein kannst, wenn es gilt, deine Gedanken zu verschleiern! Von dir kann man lernen.« »Ja, bitte, tue das, es könnte dir in den meisten Hinsichten nichts schaden.« »Wer weiß, ob mein lauteres Gemüt nicht vielleicht doch von zu viel Wissenschaft getrübt würde. Du, er empfiehlt sich schon. Er fürchtet bei Mama anscheinend die blonden Frauen mehr als bei dir.«

Hans Heinrich empfahl sich wirklich, aber nicht aus dem Grunde, mit dem Ebba ihn heimlich verspottete, sondern weil er sich einem längeren Zusammensein mit Menschen körperlich und geistig noch nicht gewachsen fühlte. Er war doch erst vor kurzem aus der Krankenhaft entlassen. Die unerwartete Begegnung mit Karin hatte ihn außerdem aufgeregt. Das Bild des schönen Mädchens war in seinem Denken fast ausgelöscht gewesen, wie denn überhaupt bis vor kurzem über seinem Erinnern und Denken immer noch ein Schleier gelegen hatte. Sein Kopf war so müde gewesen, daß die Gedanken gar nicht zum Erwachen gekommen waren.

Richtiges, erwünschtes Genesungsstadium, hatte der Arzt zufrieden gemeint, jede Störung dieses Hindämmerns zu verhindern gewußt und ihn, sobald sein körperlicher Zustand es erlaubte, gleich nach dem Süden geschickt.

Da war dann freilich die Erholung, von seiner Jugendkraft unterstützt, mit großen Schritten vor sich gegangen; aber immerhin bedurfte er noch der Schonung, das hatte er eben peinlich empfunden. Ein gewisses Angstgefühl war über ihn gekommen und ein geistiges Ermüden. Die auf und ab wandelnden Menschen beengten ihn, das blendende Sonnenlicht über der weißen Promenade, das Glitzern des Wassers, all das tat ihm weh und beunruhigte ihn. Oder war es nur die Begegnung mit dem schönen, blonden Mädchen, die ihn seelisch so beeinflußte, daß auch sein körperliches Befinden darunter litt?

Er wußte es nicht und dachte auch nicht darüber nach; er fühlte nur das Bedürfnis nach Ruhe und Alleinsein, fort von den Menschen und fort von dem Zwange des geistigen Zusammenraffens und der Unterhaltung. Aufatmend, bog er nach der Verabschiedung von den Damen in einen schattigen Seitenweg, der ihn von den Menschen, dem Meere und der Sonne fortführte und jene stille, grüne Einsamkeit bot, nach der er sich körperlich und geistig sehnte.

Ah, das tat gut, nichts mehr zu sehen und zu hören! Die Anspannung seiner noch immer krankhaft empfindlichen Nerven ließ nach, und die Gedanken begannen nun, sich mit der eben genossenen wunderbaren Begegnung zu beschäftigen. Sie blühte jetzt erst in ihrem vollen Reiz auf. Ein köstlicher Zufall war es, der ihn hier mit der zusammenführte, die sein Empfinden vor der Krankheit schon so tief beeinflußt halte. Damals war all sein Sinnen und Denken gerade darauf gerichtet, ihr näherzutreten und dadurch ihrem Zauber entweder zu entrinnen oder ihm mit jubelnder Seele ganz zu erliegen. An beidem hatte ihn die tückische Krankheit, die ihm nach des Arztes Ansicht schon lange im Körper steckte, gehindert, hatte sogar den Eindruck, den er damals empfing, vollkommen verwischt. Wie sie ja überhaupt vieles verwischt hatte, was vordem sein Empfinden beeinflußte und was, wie er jetzt fest annahm, eigentlich schon in ihr wurzelte.

Die ganze unglaubliche Empfindlichkeit für und die Beeinflussung durch jenen abergläubischen und wunderlichen Bericht der Urahne war nur erklärlich durch den geistigen Niederdruck, den die im Körper sitzende Krankheit schon monatelang vorher auf ihn ausgeübt hatte; denn jetzt, nachdem der böse Stoff aus ihm herausgetrieben war, wirkte all das gar nicht mehr auf ihn, er dachte nicht einmal mehr daran. Das war überwunden, und der Ring, das einzige sichtbare Zeichen des Märchens, galt ihm nur noch als das interessante Kunstwerk, das er nun einmal vorstellte. Da klappte etwas ganz derb auf seinen Schuh, sprang ab und rollte weiter. Eine große Orange war im Fluge auf seinen Fuß gefallen, – schon kam die zweite und dritte, und dazu schrie eine dünne Kinderstimme, halb klagend, halb lachend auf: »Meine Apfelsinen! Meine Apfelsinen!«

Hans Heinrich, in seine Gedanken verloren, hatte nicht darauf geachtet, daß vor ihm ein kleiner Rollstuhl fuhr, von einer Dame gelenkt und geschoben; jetzt, auf den Ruf der Kinderstimme hin, wandte sich diese Dame hastig um, wollte den entfliehenden Orangen nacheilen, stolperte über die eine, die dicht vor ihren Füßen lag, schwankte, verlor das Gleichgewicht, taumelte haltlos vorwärts und fiel im nächsten Augenblick in seine unwillkürlich aufhaltend geöffneten Arme.

So leicht und zierlich das Persönchen auch schien, war der haltlose, heftige Anprall doch so kräftig, daß er auch ihn einen Augenblick zum Wanken brachte. Seine Arme schlossen sich fest um die an seiner Brust Ruhende, teils um sie, teils um sich aufrechtzuerhalten. Dabei durchströmte ihn plötzlich ein so wunderbares, entzückendes Gefühl, daß er in vollkommener Verwirrung vergaß, seine Arme gleich wieder zu öffnen, und erst durch den widerstrebenden Druck zweier kleinen Hände gegen seine Brust erschreckt zusammenfuhr und nun freilich augenblicklich seine Arme sinken ließ. »Verzeihung!« sagten er und sie wie aus einem Munde, und eine Sekunde lang sahen sie einander in die Augen, kaum lange genug, um einen Eindruck der gegenseitigen Gesichtszüge zu empfangen, aber doch genug, um Hans Heinrich empfinden zu lassen, daß in diesen dunkeln, sammetweichen Sternen ein unbeschreiblicher Reiz liege, ein Reiz, der irgendeine Erinnerung in ihm weckte, ein Gefühl auslöste, über dessen Ursprung und Eigenart er sich in der Geschwindigkeit nicht klar werden konnte, das aber so merkwürdig fesselnd war, daß es ihn vollkommen in seinen Bann schlug.

Dabei vergaß er das scherzende, entschuldigende Wort, das ihm auf der Zunge schwebte, und schon hatte sich die junge Dame gewandt und hob den Fuß zum Weitereilen, augenscheinlich getrieben von dem in gellenden Tönen aufklingenden Ruf: »Meine Apfelsinen! Meine Apfelsinen!« Aber kaum hatte sie einen Schritt getan, da brach sie, fast noch in gleicher Linie mit Hans Heinrich, der sich gleichfalls schnell gewandt hatte, um ihr beim Einholen der rollenden Orangen zu helfen, in ein helles, jugendlich frisches Lachen aus. »O, dieser Schlingel!« Im selben Augenblick sah Hans Heinrich, was ihr Lachen und Ausruf entlockt hatte, und unwillkürlich mußte auch er auflachen.

Einer der überall herumlungernden kleinen Straßenjungen war blitzschnell aus dem Gebüsch aufgetaucht, hatte ebenso blitzschnell und geschickt die drei lustig vom Fußweg in den Staub der Mittelstraße springenden Orangen aufgefangen, sie in sein loses, schmutziges Hemd geschoben, schlug mit grinsendem Gesicht einen Purzelbaum, und in lustiger Frechheit den Verfolgern eine lange, rote Zunge ausstreckend, verschwand er ebenso schnell, wie er gekommen war, im schützenden Laube des kleinen Gehölzes.

Das alles war so rasch und mit so verblüffender Komik vor sich gegangen, daß an eine Verfolgung des kühnen Räubers nicht zu denken war, besonders da das herzliche Lachen der jungen Dame weniger anspornend als billigend klang. »Es ist aber doch eine Spitzbüberei!« rief Hans Heinrich trotzdem, sich besinnend. »Ich jage sie ihm ab!« Und schon war er auf dem Wege dazu. Da fühlte er, wie eine leichte Hand sich auf seinen Arm legte. »Bitte, nein; bemühen Sie sich nicht! Sie holen ihn nicht ein, der ist leichtfüßiger als Sie, der kleine, drollige Spitzbube!«

Der Zurückgehaltene sah in ein reizendes, junges Gesicht mit einem vom Lachen eingedrückten Grübchen in der einen Wange. Wo hatte er dieses Gesicht nur schon einmal gesehen? Doch ehe er sich besinnen, ehe er ein Wort hervorbringen konnte, hatte die Dame schon kehrtgemacht und eilte zurück zu dem kleinen Wagen, aus dem jetzt in kreischenden Tönen eine Flut zorniger Worte in fremder Sprache ertönte. »Aber, Alex, Liebling, still! Wer wird so häßlich schreien«, hörte er die sanfte, beruhigende Stimme und dazwischen das Gezeter des erregten Knaben. »Er hat sie gestohlen, der Bengel! Ich will meine Apfelsinen haben!« »Wir kaufen neue!« »Nein, ich will meine!« Kreischend, in der Höhe sich überschlagend, klang die Kinderstimme. Hans Heinrich sah, wie die schmächtigen Arme unbehilflich um sich stießen, wie der Körper sich krampfhaft wand.

Erschreckt eilte er auf den Wagen zu. »Kann ich Ihnen irgendwie beistehen?« fragte er, hastig an den Wagen tretend. Sie winkte, ohne nach ihm hinzublicken, abwehrend mit der einen Hand, während die andere, unbekümmert um den wilden Widerstand des Knaben, leise über seine glühende Stirne strich. »Danke, nein«, flüsterte sie rückwärts, ohne den Kopf zu wenden. »Das arme Kind braucht nur Ruhe. Bitte, gehen Sie weiter, ohne uns zu beachten.«

Er verneigte sich. Es war ihm nicht ganz recht, er hätte gern noch einmal das reizende Gesicht und in die sanften, braunen Augen geschaut, vielleicht wäre ihm dann die schattenhafte Erinnerung klarer geworden; aber natürlich mußte er ihrer Aufforderung Folge leisten, besonders da er sah, wie sich unter der Berührung ihrer schlanken, auffallend schönen und ihn wieder seltsam bekannt anmutenden Hand die verzerrten Gesichtszüge des Knaben glätteten und die hochgezogenen Lider sich senkten.

Er wandte sich und setzte seinen Weg fort, und dabei war in und über ihm ein Gefühl von Kraft, Frische und Lebensfreude, wie er es noch nie empfunden zu haben meinte, auch vor seiner Krankheit nicht. War das die oft gerühmte Stimmung in der Genesung? Oder – er lächelte bei dem Gedanken vor sich hin – hatte diese schöne Hand auch auf ihn gewirkt und selbst mit ihrer flüchtigen Berührung einen so starken Einfluß auf ihn ausgeübt, daß darunter seine schlummernde Lebenskraft aufwachte und sich jubelnd emporreckte? So stark, so froh fühlte er sich, und war kurz vorher noch so müde und schwach gewesen! Konnten Genesungskräfte so urplötzlich erwachen? Kaum – es mußte doch wohl ein besonderer Einfluß gewesen sein, der so belebend auf ihn gewirkt hatte!

Unwillkürlich wandte er sich und spähte nach dem zurückgebliebenen Kinderwagen. Er war verschwunden, nirgends mehr eine Spur von ihm zu sehen, und nun stieg der Ärger in ihm auf, daß er so widerstandslos dem Wunsch der jungen Dame gefolgt war. Er hätte wenigstens langsamer gehen, sich eher umsehen und, ohne aufdringlich zu wirken, doch auf irgendeine Art versuchen können, die beiden im Auge zu behalten. Vielleicht hätte er ihr doch zur Seite stehen und ihr helfen, und wenn auch das nicht, so wenigstens ihre Spur verfolgen und sich die Möglichkeit eines Wiederfindens sichern können.

Es war da etwas an dieser ganz fremden jungen Person, das ihn beunruhigte und zugleich doch auch wieder beruhigte: ein ganz besonderer, unerklärlicher Einfluß, den er vielleicht gut tat, zu suchen, da er augenscheinlich erfrischend und belebend auf ihn wirkte. Und bei diesen seltsam auf ihn einstürmenden Gedanken machte er kehrt und eilte hastig rückwärts! Vielleicht holte er sie noch ein und konnte die eben angesponnene Beziehung auf zarte und taktvolle Weise weiterführen. Aber so angestrengt er auch nach rechts und nach links sah, von dem Wagen und seiner Führerin war nichts mehr zu bemerken. Statt dessen sah er in der Entfernung Karin von Klingenstur neben einem großen, dunkelhaarigen Mann schreiten, und da überfiel ihn seine vorherige Abspannung und Ermüdung plötzlich wieder mit solcher Gewalt, daß er rasch einen nach seinem Gasthause führenden Seitenweg einschlug und, in seinem Zimmer angelangt, vollkommen erschöpft auf das Ruhebett sank. – – –

Währenddessen hatte Ebbas mißmutige Stimmung eine kleine, hoffnungsvoll belebtere Schwenkung gemacht. Sie war dem dunkeläugigen Amerikaner Mister Macleton begegnet, dessen Bekanntschaft beide Schwestern vorgestern gemacht hatten. Dieser Herr hatte sich den beiden Schwestern mit gleicher nichtssagender und unbeeinflußter weltmännischer Höflichkeit gewidmet, soweit sich bei seinem schweigsamen und anscheinend etwas schwerfälligen Wesen überhaupt von Widmung reden ließ. Karin hatte sich daher auch sehr bald gelangweilt und heimlich verletzt von dem geringen Eindruck, den ihre Schönheit bei ihm zu machen schien, von ihm gewandt.

Ebba ging mit dem jungen Amerikaner, von dem sie erfahren hatte, daß er sehr reich und aus guter Familie sei. Da ihr Begleiter mit seiner Unterhaltung sich in den mäßigsten Grenzen hielt und jeder Anregung zu einem lebhafteren Meinungsaustausch kaum mehr als ein: »O ja« – »gewiß« – »so meine ich auch« entgegenbrachte, immer mit einer höflichen Kopfneigung, ohne sie anzusehen, verlor sie endlich die Geduld.

Gewiß, er sah tadellos aus, gut gewachsen, ein dunkles, leidlich hübsches Gesicht, auch nicht dumm, aber entschieden teilnahmslos und schwer beweglich. Natürlich, sonst wäre er ja auch gleich wieder von Karin hingerissen gewesen – das wollte sie ihm also nicht als Fehler anrechnen –, aber Leute, die überhaupt unbeweglich sind, mochte sie auch nicht. Sie sah drohend und mißvergnügt ihren Begleiter an. Eben streifte sie sein Blick, nicht einmal absichtlich, nur über sie hingleitend, uninteressiert, nebensächlich, und blieb dann vor dem empörten Gegenblick dieser strahlenden blauen Augen erstaunt an ihr hängen. »Nun?« fragte er ganz unwillkürlich. »Nun?« wiederholte sie stirnrunzelnd. »Ihre Redseligkeit ist wirklich erschöpfend.«

Nun erschrak sie doch über ihre übersprudelnde Aufrichtigkeit. »Ich bin nicht gern unhöflich, nur manchmal kommt der wahre Jakob bei mir heraus. Aber Sie können wohl nicht so viel Deutsch, um das zu verstehen, und es ist auch wirklich nicht salonmäßig gesagt – man kann sich anders ausdrücken«, setzte sie reumütig hinzu.

Nun lachte Mister Macleton belustigt auf. »Ja, man kann, aber bitte, machen Sie sich keine solche Mühe. Ich bin ganz in Deutschland erzogen worden, meine Mutter war eine Deutsche. Ich verstehe die kühnsten und schmeichelhaftesten Vergleiche und verstehe auch den wahren Jakob, ich fand ihn bis jetzt nur selten bei jungen Damen.« – »Ach, da können Sie bei mir aber was erleben!« fiel sie lebhaft ein und erschrak dann wieder und seufzte. Es war doch nichts mit der Nachtigall-Salonzunge, die sie noch vor wenigen Tagen vor der Mama gepriesen hatte. »Ich bin nämlich der Schrecken meiner Familie, mein Spatzenschnabel geht immer mit mir durch. Es ist wirklich schlimm; aber ich selbst erschrecke leider immer erst hinterher, wenn er schon durchgegangen ist.«

Er sah prüfend in ihr Gesicht. Diese jungen Damen der guten Gesellschaft hatten so viele geschickt ausgeklügelte Arten, um das Interesse der reichen Männerwelt zu erregen, daß man keiner von ihnen trauen konnte. Der muntere Spatzenschnabel neben ihm, der übrigens in einem ganz anziehenden, von jugendlicher Frische reizvoll geschmückten Gesicht saß, war möglicherweise auch nur ein künstlich angeklebter. »Im Verkehr mit mir brauchen Sie nicht zu erschrecken, weder vor- noch nachher: ich bin ganz wetterfest und kann auch die kecksten Spatzenschnäbel vertragen,« sagte er in einem halb väterlichen, halb kameradschaftlichen Ton.

Ebba runzelte die Stirn und zog den Mund etwas geringschätzend. »Das ist ja ganz nett von Ihnen, entschieden mehr, als man nach dem ersten Anschein erwarten durfte.« – »So?« unterbrach er sie belustigt. »Wie war denn der erste Anschein? Was ließ sich von dem erwarten?« – »Ah!« machte sie mit einer kleinen wegwerfenden Handbewegung. »Ich glaube, so etwas sagt man lieber doch nicht.« – »Das muß ja sehr anmutig sein, wenn Ihr Spatzenschnäbelchen davor wohlerzogen haltmacht.« – »Bitte, nutzen Sie meine unbesonnenen Selbstkenntnisse nicht so vertraulich aus.«

Ebba runzelte wieder die Stirn. »Ich bin achtzehn Jahre alt, und manchmal kann ich schon sehr besonnen und vernünftig sein. Der Spatzenschnabel, dessen Weitererwähnung ich nicht mehr wünsche, gibt nur Gastrollen, wenn ich stark gereizt werde.«

Mister Macletons Gesicht hatte jetzt vollkommen seine Interesselosigkeit verloren. Ebbas frisches, unbefangenes Geplauder belustigte ihn ungemein. Wenn die Kleine eine Rolle spielte, so spielte sie sie wenigstens allerliebst und anregend, und nebenbei war sie wirklich eine reizende Erscheinung. Er verbeugte sich lächelnd: »Wie Eure achtzehnjährige Hoheit befehlen. Ich werde nie mehr den anstößigen Ausdruck erwähnen. Gedanken sind freilich zollfrei! Aber bitte, nun seien Sie auch ehrlich wie bisher und sagen Sie, was Sie nach dem ersten Anschein von mir erwarten durften?«

Ebba sah mit spitzbübischem Lächeln zu ihm auf. »Das wäre vielleicht zu vertraulich; ich bleibe da lieber auch in den Grenzen der Gedanken, die zollfrei sind.« Dazu machte sie eine allerliebste kleine Schwenkung nach rückwärts zu ihrer mit der Mutter nachfolgenden Schwester.

Mister Macleton sah ihr lächelnd nach. Durch seine Gedanken flog es flüchtig: »Kleiner bunter Vogel, dir werde ich schon noch die Flügelchen stutzen.« Aber dann wandte er sich an Karin, und jetzt durfte diese sich nicht mehr über seine Langweiligkeit und den Mangel an Interesse beklagen.

Hans Heinrich von Sesenburg und Mister Macleton freundeten sich miteinander an. Wie Ebba boshaft sagte, schlossen sie eine Pferdefreundschaft, da sie beide an derselben Deichsel gingen, beide an der Leine – nun, wenn man es liebenswürdig ausdrücken wollte – der Schwestern Klingenstur, richtiger gesagt, wie Ebba es tat, an der Karins, die ihren Platz als siegende Schönheit und interessante Persönlichkeit beiden gegenüber in vollem Glanze eingenommen hatte.

Karin selbst war davon nicht ganz so überzeugt wie die Schwester. Sie hatte ein sehr feines Gefühl für die Macht, die sie über Männerherzen ausübte, und sie spürte bei den beiden, die augenblicklich ihren täglichen Umgang und eine gewisse Leibgarde ihrer Schönheit bildeten, heimliche Gegenströmungen, die ihr sonst nicht leicht in ihren Einfluß hineinkamen. Bei Macleton gingen diese Gegenströmungen wohl nur aus seinem Temperament hervor. Er war fischblütig, skeptisch und anscheinend sehr lebensklug und erfahren. Der Flirt mit den schönen Mädchen war ihm ein anregender Tagessport, aber er schien nicht die leiseste Neigung zu haben, ihn zu einer ernsten Lebensbeschäftigung auswachsen zu lassen. Karin, die sich mittlerweile überzeugt hatte, daß der junge Amerikaner eine durchaus standesgemäße Partie sei, erkannte auch bald die Geschicklichkeit, mit der Mister Macleton sich gegen Angriffe auf seine Freiheit zu verteidigen wußte, und hätte nach dieser Erkenntnis kaum mehr einen ihrer sehr fein berechneten und spärlichen Huldbeweise an ihn verschwendet, wenn sie – ja, wenn sie Hans Heinrichs Liebe vollkommen sicher gewesen wäre!

Aber trotzdem dieser viel fester im Banne ihrer Persönlichkeit zu liegen schien als der überlegende Amerikaner, so war doch irgendwo und irgendwie gerade in ihm ein Widerstand gegen ihre Macht, dessen Ursprung sie nicht entdecken konnte und der sich manchmal in einer Schärfe kundtat, die dann fast an Abneigung grenzte. Gerade das aber fesselte und belustigte Karin. Widerstand zu besiegen, reizte sie mehr als alles andere; es gab ihr die Lebenskraft, die sie brauchte, um den Gedanken an den Ernst einer festen Beziehung zur Ausführung zu bringen. Denn eigentlich graute ihr davor. Ihr Herz war so kalt, ihr Herz widerstrebte so heftig, es bäumte sich auf gegen diese Fessel, die von der Not des Lebens ihr auferlegt werden sollte.

Dann dachte sie, daß noch Zeit vor ihr läge, in der sie sich frei machen konnte von einem alten Schmerz, von einer Erinnerung, gegen die sie kämpfte Tag und Nacht und die doch neben ihr ging zu jeder Stunde und an jedem Ort.

Karin preßte die Hände zusammen und war schöner, verführerischer und siegender als je, und Ebba fühlte in solchen Augenblicken einen Zorn in sich, der riesenhoch aufloderte und sich merkwürdigerweise nicht gegen die sieghafte, rücksichtslose, schöne Schwester richtete, sondern geradezu gegen diesen langweiligen, unangenehmen Menschen, diesen Mister Macleton, mit dem sie, getreu ihrer ersten Begegnung, in einem steten, zwischen schelmischer Neckerei und ernsthafter Unzufriedenheit und Auflehnung schwankenden halben Kriegsverhältnis lebte, das von beiden Seiten dem bekannten »Neigen von Herzen zu Herzen« so wenig ähnlich sah wie ein kahler Dornbusch dem blühenden, duftigen Rosenstrauche.

Hans Heinrich erholte sich in diesen Tagen mit überraschender Schnelligkeit. Seine Jugendkraft kam endlich zum wirksamen Durchbruch, und das Gefühl ihres vollen Besitzes hätte ihn sehr glücklich machen sollen, wie denn überhaupt die ganzen augenblicklichen Verhältnisse ihn so recht begünstigten, wie er es sich nicht besser wünschen konnte. Aber trotzdem fühlte er sich durchaus nicht glücklich und zufrieden. Über und in ihm war eine stete Unruhe, eine Spannung und Unzufriedenheit, zu deren Erkenntnis er vielleicht selbst nicht einmal kam, die ihn aber so stark beeinflußte, daß aus ihr wohl auch der heimliche Widerstand gegen die Macht Karins entsprang. Er empfand diese oft wie einen quälenden Druck und konnte sich ihr doch nicht entziehen; wollte es wohl auch nicht, denn der Reiz, den das schöne, ihn geschickt anziehende und zurückweisende Mädchen über ihn ausübte, umspann ihn jetzt mit demselben Zauber, dem er schon beim ersten Begegnen mit ihr erlegen war.

Aber dabei das Unbefriedigtsein in ihm? Woher kam es? Er fühlte es oft fast körperlich, und dann kam ihm immer wieder die Erinnerung an ein Paar sanftblickende braune Augen, an ein schelmisches Grübchen in einem lachenden jungen Gesicht und an eine wunderbar schöne, zarte Frauenhand, von der Ströme des Glücks und körperlichen und seelischen Wohlgefühls ausgingen, eine Hand, die alle Unruhe bannen, alle Zwiespältigkeit lösen und Harmonie in jeden Mißklang bringen könne. In den ersten Tagen nach jenem Begegnen hatte er nach dessen Wiederholung mit Eifer und Ungeduld gesucht; er war den Weg, auf dem er damals den kleinen Wagen getroffen hatte, wieder und wieder gegangen, hatte alle Nebenpfade nach rechts und nach links verfolgt und sich die Augen fast blind geschaut, um den kranken Knaben und dessen Begleiterin zu finden. Aber es war alles vergebens gewesen; von dem schlanken, reizenden Mädchen schien jede Spur verloren, und unter dem Einfluß Karins und bei dem vielen Zusammensein mit ihr verwischte sich das flüchtige Bild, das er fast ohne greifbare Deutlichkeit, mehr nur in seinem Gefühl, von der dunkeln Fremden gehabt hatte, schneller, als er anfangs nach dessen damaliger Kraft geglaubt hatte.

Aber als Alex, der mehrere Tage nach jenem kleinen Abenteuer starkes Fieber gehabt und nur auf seinem Balkon in der Sonne gelegen hatte, dann wieder zur Ausfahrt wohl genug war und Marie mit ihm in das Freie konnte, suchte Hans Heinrich schon nicht mehr so eifrig nach ihr, und sie fuhr mit ihrem Schützling so weit ab von den Promenaden, daß ein zufälliges Zusammentreffen mit ihm kaum zu den Möglichkeiten gehörte. Und selbst wenn sie jetzt dort am Strande gesessen hätte, von wo das herrische Verlangen Karins sie damals vertrieb, und selbst wenn er dann an ihr vorübergekommen wäre, zusammen mit der schönen, hochmütigen Schwester ihres Zöglings, er hätte sie wohl kaum gesehen, denn er sah ja nur diese!

Marie wußte das, sie hatte den jungen Mann, dem eine dahinrollende Orange sie für eines Atemzuges Länge an das Herz warf, nicht vergessen, hatte ihn trotz der Flüchtigkeit jenes Augenblicks wiedererkannt, als er sich am folgenden Tage vor dem Gasthause von den Klingensturschen Damen verabschiedete. Der Klang seiner Stimme, der nur so kurz ihr Ohr berührt hatte, war doch in diesem haftengeblieben; er flog empor zu dem Balkon, auf dem sie neben Alex saß, und schreckte sie auf. Er hatte in ihrem Herzen nachgehallt – sie wußte selbst nicht warum. Oder wußte sie es?

Beschämt und herzklopfend bog sich Marie hastig wieder zurück hinter die blühenden Orangen, die den Blick auf den Balkon verwehrten. Sie hatte auch sein Gesicht erkannt, ein Gesicht, das sie nie wieder vergessen würde, das wie die Verwirklichung irgendeines fernen, köstlichen Traumes vor ihr aufgetaucht und seitdem nicht mehr aus ihren Gedanken gewichen war. In ihrem Leben hatte noch kein Mann eine Rolle gespielt, und ihr eigenes Herz war kühl und rein wie eine eben vom Himmel gefallene Schneeflocke gewesen, bis zu dem Augenblick, wo ein kleiner lächerlicher Zufall sie einem Fremden in die Arme warf.

Sie schämte sich, sie schalt sich, daß der Fremde, der wohl nie wieder an ihrem Weg stehen würde, der im Augenblick, da er seinen Schritt rückwärts von ihr wandte, sich wohl schon nicht mehr entsann, daß sie eben an seinem Herzen gelegen hatte, der sicher kaum wußte, wie sie aussah, daß der einen Eindruck in ihr hinterlassen hatte, der ihr das Blut zu Kopfe trieb und das Herz wild schlagen machte, wenn sie nur seine Stimme wieder hörte. Er mußte eine besondere Kraft an sich haben, eine, die nah und fern wundersam auf sie wirkte. Gestern, da sie in seinen Armen lag, waren Ahnungen des Glücks und des seligen Geborgenseins über sie gekommen. Und das Glück jenes Augenblicks hatte in ihr nachgezittert den ganzen Tag lang, und als seine Stimme zu ihr aufklang, erschrak sie tief. Konnte das die Liebe sein? Konnte Liebe so schnell, so blind über alles hinfluten?

Seitdem war ein Kampf und eine heiße Not in dem sonst so klaren, starken Sinn Maries. Sie stand vor einem Rätsel; sie war sich selber ein Rätsel, und sie rang mit sich und dem Ungeheuren, Unverständlichen, das so plötzlich und verwirrend über sie gekommen war. Was so schnell entstand, das mußte auch schnell zu überwinden sein; und was so stark war, dem mußte man ernsten Willen und volle Kraft entgegensetzen, ihm keinen Zollbreit Platz und Macht einräumen. Junge Pflanzen entwurzelt man leicht, und junge Torheit darf man nicht wachsen lassen!

Mit hundert klugen Worten und hundert streitbaren Gedanken zog Marie gegen ihr unruhiges, aufgeschrecktes Herz. Frauenstolz, Scham, Vernunft, alles stand in Waffen und kämpfte, und angstvoll floh sie die Möglichkeit, den fremden Mann, der all die Unruhe und Verwirrung über sie gebracht, wieder zu treffen. Sie suchte die entlegensten Wege auf, sie fuhr zu den einsamsten Stellen der Umgebung, sie merkte sich die Stunden, in denen er sich der Gesellschaft Karins widmete und sie sicher sein konnte, daß er ihre Pfade nicht kreuzen würde; sie tat alles, um ihn zu vergessen, und in dem steten Bemühen, nicht an ihn zu denken, dachte sie Tag und Nacht an ihn.

Auch ihm war es manchmal, als streife ihn ein weicher Luftzug, als lege sich eine feine, liebe Hand auf die seine, sekundenlang nur, schattenhaft, und kaum empfunden, auch schon wieder verweht, aber so hold und erquickend, daß wieder eine Ahnung jener unbeschreiblichen Seligkeit über ihn hinzog wie damals, als die dunkeläugige Fremde an seiner Brust lag, und mitten in einer lebhaften, reizvollen Unterhaltung mit der Zauberin Karin überfiel ihn eine starre Gedankenverlorenheit, ein Vergessen ihrer Gegenwart, und wenn sie ihn dann scherzend oder zürnend wieder zum Bewußtsein ihrer Gegenwart zurückrief, faßte ihn eine Art Haß und Widerstand gegen den Zwang, den dieses schöne, gefährliche Mädchen über ihn ausübte. Aber wenn dann Karin zu ihm hinlächelte und ihre goldenen Augen strahlten wie lauter Sonne, verbrannte in ihrem Feuer alles, was eben noch widerspenstig und unruhig durch seine Gedanken gezogen war.

Er seufzte im halb beglückenden, halb bedrückenden Gefühl seiner Hilflosigkeit. War sie doch sein Schicksal? »Welch ein lieblicher Gedanke beschäftigt Sie so vollkommen, daß Sie nichts von Ihrer Umgebung sehen und hören?« fragte Karin spöttisch in seine Gedanken hinein und runzelte verstimmt die dunkeln Brauen. »Das Lächeln sah kaum nach einem Schatten aus!« – »Und war doch aus einem solchen entstanden, aus einer Warnung.« – »Ah! Wieder die vor den blonden Frauen?« – »Ja und nein.« – »Wer wagt es, vor blonden Frauen zu warnen, hier, in unserer Gegenwart?« fiel Ebba, die sich eben wieder einmal mit Mister Macleton gründlich gezankt hatte und ihren brennenden Haß gegen diesen unverständigen Mann, der sie oft noch wie ein Kind behandelte, unter irgendeinem Vorwande unbeachtet herunterschlucken wollte, dringend ein.

»Meine Urahne tat es, gnädiges Fräulein.« – »Weiter nichts? Ich dachte doch wenigstens, daß die Prophezeiung einer Zigeunerin dahinterstecke, etwas wirklich Interessantes, wobei einem leises Gruseln über den Rücken läuft. Weißt du, Karin, wie damals das, was die Zigeunerin dir sagte!« – »Ach, der Unsinn!« Karin zuckte geringschätzend die Schultern, aber über ihr Gesicht fiel ein Schatten. – »Na ja, Unsinn. Nichts konnte weniger für dich passen, als was sie sagte, aber die Art, in der sie es vorbrachte, hatte doch etwas Packendes. Du bist damals auch ganz blaß geworden und hast dich geärgert.« – »Ich dachte nicht an Ärger, kaum hingehört habe ich.« – »O, Karin, leugne doch nicht; damals hat es dich sehr ergriffen! Mich auch! Ich weiß noch fast wörtlich, was sie sagte und wie sie es sagte!«

Ebba war aufgesprungen, vor Karin getreten, faßte deren Hand, und ihr jugendfrisches, weißes Gesicht wurde mit einem Schlage seltsam streng, ernst und fremd, als sie, die Widerstrebende festhaltend, auch mit fremdem, dumpfem Tone sprach: »Alles Glück, das du dir wünschest, o Herrin, wird in deine Hand gegeben werden, in diese schöne, unglückliche Hand –«, die zuckte und wollte sich aus der Ebbas befreien, während ihre Besitzerin mit zusammengezogenen Brauen und erblaßten Wangen saß; aber Ebba achtete nicht darauf, in demselben dumpfen, strengen Ton fuhr sie fort: »Und diese Hand wird all das Glück wieder von sich stoßen und es fallen lassen und wird den dürren Stab nehmen, der aber in ihr grünen und segensreiche Früchte tragen wird, da du ihn mit Tränen begießen und mit Buße und Reue düngen wirst.« – »Ebba, laß die Komödie!« Mit blitzenden Augen und erblaßten Wangen riß Karin nun gewaltsam ihre Hand aus der der Schwester. »Du fabelst, um deine schauspielerische Kunst zu zeigen!«

Im Nu hatte sich Ebbas Gesicht wieder zu dem gewandelt, was es sonst war; sie lachte hell auf und drehte sich auf dem Absatz herum. »Habe ich es nicht gut gemacht? Genau wie damals die düstere Person mit den abwesend blickenden Augen. Ja, wenn es mal nicht weiter geht, werde ich Schauspielerin. Aber, Karin, gefabelt habe ich nicht, genau so hat sie gesagt. So etwas vergißt man nicht. Du hast es auch nicht vergessen.« – »Ich bitte dich, Ebba,« fuhr Karin auf, »laß jetzt den Unsinn! Du machst gar keinen guten Eindruck, wenn du dich als tragische Prophetin vorführst; dein natürlicher Backfischübermut steht dir viel besser. Nicht wahr, Mister Macleton?«

Schon wieder eine Anspielung auf Ebbas junge Jahre, die doch schließlich mehr ein Vorzug als eine Veranlassung zu Spott und Entwertung ihrer Persönlichkeit waren! Und sie erwiderte ebenfalls erregt: »Was hast du Mister Macleton zu fragen, Karin? Du weißt doch, daß er nach meiner Ansicht kein Urteil über Frauen hat. Und augenblicklich ist von Frauen auch gar nicht die Rede, sondern von Prophezeiungen.« – »Nein, bitte, meine Ungnädige, das Gespräch ging gerade von einer Frauenfrage aus, von einer Frage nach blonden Frauen und einer Urahne, die vor ihnen gewarnt hat. Sie sind wieder einmal nicht ganz logisch und nicht ganz bei dem Kernpunkt der Sache.«

Mister Macleton sah neckend in Ebbas erzürntes Gesicht und freute sich schon im voraus ihrer geharnischten Antwort. Aber Karin ließ sie zu dieser nicht kommen. »Ja, richtig, die bösen blonden Frauen! Baron Sesenburg ist uns noch die bezügliche Zusammenstellung von der Urahne und den blonden Frauen schuldig.« – »Ach,« wehrte Hans Heinrich ab und sah nachdenklich aus, »das würde zu weit führen.« Er hatte das Bemühen, das Gespräch von diesem ihm peinlichen Thema abzulenken. »Übrigens entsinne ich mich jetzt, gnädiges Fräulein, daß Sie bei unserem ersten Gespräch über Prophezeiungen eine ganz andere Ansicht entwickelten als jetzt. Sie sagten damals: ›;Prophezeiungen sind vorausgeschicktes Schicksal.‹ Ich habe das Wort behalten, weil es mich damals so seltsam berührte.«

Karins Gesicht verdunkelte sich. »Sagte ich das? Hübsch, daß Sie meine Worte so gut im Gedächtnis tragen; aber ich glaube, besonders diese waren das nicht wert. Ich habe sie wohl nur in einer augenblicklichen Stimmung hingeworfen, ohne selbst an ihre Richtigkeit zu glauben. Freilich,« – sie hielt ein, ihre Augen hatten einen seltsam dunkeln, schmerzlichen Blick und ihre Wangen waren blaß –, »vielleicht kann man erst am Ende seines Lebens eine richtige Ansicht über das Leben und über Prophezeiungen haben. Vielleicht erfüllt mein Schicksal sich wirklich so tragisch, wie meine Schwester es eben anzudeuten geruhte.«

»Ach, Unsinn!« wehrte jetzt Ebba ab. »Ich pfeife auf alle Prophezeiungen! Das heißt,« verbesserte sie sich reuig, einen belustigten Blick Macletons auffangend, »ich gebe gar nichts auf sie. Sein Schicksal macht man sich selbst.« – »Der Ausspruch klingt sehr stark, sehr großgeistig und lebenserfahren,« lächelte Mister Macleton, und nach Ebbas Ansicht wieder mit ausgesuchter Bosheit, »ich zweifle auch nicht, daß Sie an seine Wahrheit glauben, gnädiges Fräulein, aber immerhin müssen Sie mir, dem älteren Mann, erlauben –«

»Älteren Mann?« unterbrach Ebba ihn, sehr rot, sehr ärgerlich und infolgedessen mit der schärfsten Färbung Spott, die sie auftreiben konnte. »Sie tun, als wenn Sie Ihr eigener Großvater wären!« – »Hm, augenblicklich fände ich es ganz angenehm, wenn ich der wäre, ich könnte dann Ihrem weisen Ausspruch Ehre machen und mein Schicksal selbst bestimmen, während jetzt gerade mein Großvater gegen Ihre Ansicht verstößt und mein Schicksal oder meinen Weg, wie man es nehmen will, nach seinen Wünschen lenkt. Ohne den Wunsch meines Großvaters hätte ich jetzt nicht das Glück, an Ihrer Seite zu sitzen und im Verkehr mit Ihnen meine geistigen Kräfte zu schärfen.«

»Der liebe, verständige Großvater!« dachte Ebba, heimlich in Dankbarkeit für diesen braven alten Herrn erglühend, setzte aber dabei eine durchaus geringschätzende Miene auf und sagte laut: »Also der ›;ältere Mann‹ läßt sich wie ein kleiner Junge am Gängelbande des Großvaters führen! Das sieht freilich nicht nach einem Charakter aus, der sich sein eigenes Schicksal schmiedet. Aber warum schickte Ihr Großvater Sie denn gerade hierher?« setzte sie in vollkommen natürlicher, ungemachter Neugier hinzu.

Mister Macleton sah Ebba scharf in die neugierig fragenden blaugrauen Augen und sagte langsam: »Mein Großvater wünscht, daß ich mich nach einer Frau umsehe.« Leuchtendes Rosenrot schoß in Ebbas blütenzartes Gesicht, die Lider sanken blitzschnell über die aufstrahlenden Augen und verwirrt wiederholte sie: »Nach einer Frau umsehen?«

»Ja«, nickte ihr Gegenüber und sah mit innigem Vergnügen in das rosig erglühte Gesicht. Eine gute Schauspielerin war sie doch nicht, trotz ihrer vorherigen eigenartigen Leistung. Ihre warmblütige, offene Natur ging immer mit ihr durch, und darin lag wohl gerade der große, herzgewinnende Reiz, der sie umschwebte. »Ja, nach einer Frau soll ich mich umsehen, und zwar, laut Vorschrift, nach einer mit dunkeln Augen und dunkeln Haaren.« – »Ah!« Ebbas Augen hatten sich wieder groß geöffnet. Es lag ein Gemisch von Zorn, Überraschung und Schmerz in ihnen, von dem sie selbst keine Ahnung hatte, sonst wären die Lider wohl gesenkt geblieben.

»Und das lassen Sie sich von Ihrem Großvater vorschreiben?« fragte Ebba. – »Warum nicht?« entgegnete Mister Macleton mit liebenswürdiger Gelassenheit. »Wenn der alte Herr nun gerade eine Bestimmte von dieser Art im Auge hat?«

»Aber Sie? Sie haben doch einen eigenen Geschmack, wenn Sie auch vielleicht keinen eigenen Charakter haben«, zürnte Ebba mit funkelndem Blick. – »Ich? O, mein Geschmack und mein Charakter – denn ich habe trotz Ihres Zweifels beides – spielen dabei gar keine Rolle; ich sehe mich ja nach der Dame nur für meinen Großvater um!« – »Für Ihren Großvater?« Befreiung von einem Druck und ungläubiges Staunen klangen gemischt aus ihrem Ton: »Will der denn noch heiraten?«

Richtig, da hatte dieses unbesonnene rasche Kind sich glatt hineingeritten! Halb amüsierte er sich, halb tat sie ihm leid; denn nun würde sie sich ärgern und schämen. Aber das Spatzenschnäbelchen mußte ihr klüger geschliffen werden; sie mußte durch Schaden klug werden und Vorsicht und Überlegung lernen. Er sah sie mit spöttisch lachenden Augen an. »Heiraten? Wer spricht denn von Heiraten? So wilde Möglichkeiten spuken nur noch in den Köpfen ganz junger Damen, die überall eine Liebes- und Heiratsgeschichte vermuten. Nein, mein gnädiges Fräulein, an Heiraten denken weder mein Großvater noch ich! Hier handelt es sich um ganz andere Dinge!«

In Ebbas Gesicht schoß alles Blut und strömte dann wieder zum Herzen zurück. Wie unbeschreiblich albern und unvorsichtig hatte sie sich benommen! Direkt herausgefordert! Karin, die sich heimlich auch ärgerte und zugleich sah, daß Ebbas sonstige Schlagfertigkeit versagte, kam ihr geschickt zu Hilfe. »Sie fordern Scherzfragen heraus, Mister Macleton, und Ebba tut Ihnen auch wirklich den Gefallen, sie anzubringen. Es handelt sich wohl um eine Gesellschaftsdame oder Pflegerin für den alten Herrn?« – »Nicht ganz, gnädiges Fräulein, nein, weder um so eine prosaische noch um so eine poetische Sache, wie Ihr Fräulein Schwester vermutete.«

Er sah dabei verwundert und etwas beunruhigt nach Ebba. Sie war nicht auf seine Neckerei eingegangen; das entsprach gar nicht ihrer Art. Vielleicht hatte er doch ihre Unbefangenheit und Unbesonnenheit diesmal etwas zu sehr ausgenutzt, sie zu sehr als Kind behandelt.

Karin fragte lächelnd: »Keine Gesellschaftsdame, keine Großmama in spe? Was bleibt da noch übrig, was so bestimmend auf die Wege eines Großsohnes einwirken kann, wie Sie es andeuteten?« – »Es ist eigentlich eine Geschichte«, antwortete er halb mechanisch, mit seinen Gedanken viel weniger bei seiner Antwort als bei Ebba, die noch immer keinen Blick für ihn hatte. »Das klingt ja sehr geheimnisvoll«, fiel Karin ein. »Mister Macleton, wollen Sie uns nicht den schlechten Nachmittag angenehm verbringen helfen mit der Erzählung der Geschichte von Ihrem Großvater und der Frau, die dieser sucht?«

»Wenn Sie alle es wünschen,« entgegnete er, »werde ich sie erzählen. Eigentlich ist es gar keine richtige Geschichte, denn sie hat keinen Schluß, und von Liebe, die doch als Kernpunkt in jede Geschichte gehört, ist bloß ein schwacher Rosenduft vergangener Tage darin; aber für einen Regennachmittag reicht der vielleicht doch noch aus. Die Angelegenheit hetzt mich seit ein paar Monaten in der Welt herum auf der Suche nach etwas Verlorengegangenem, das nach meiner Ansicht überhaupt nicht mehr vorhanden ist. Aber Sie werden ja hören. Vielleicht kann mir sogar einer von Ihnen auf die Spur helfen. Man weiß nie, wie und wo sich geheimnisvolle Schicksalsfäden spinnen. Wenigstens ist das die Ansicht meines Großvaters. Also: Mein Großvater, der jetzt ein Mann von achtundsiebzig Jahren ist, war auch einmal jung und hat ein schönes Mädchen geliebt –« – »Ah, da ist ja nun gleich zum Anfang von Liebe die Rede!«

»Ja, mein gnädiges Fräulein« – er verbeugte sich vor Karin, warf aber dabei einen schnellen Blick nach Ebba, die mit hartnäckig gesenkten Lidern still und anscheinend teilnahmslos für seine Worte langsam eine der Rosen entblätterte, die er ihr heute geschenkt und die sie so lange im Gürtel getragen hatte. »Auf Liebe ist eben doch alles im Leben gegründet, wenn es auch nicht immer danach aussieht – auch diese Geschichte, nur daß sie in ihr nie zu einem befriedigenden Ausklang kam; denn das Mädchen, dem meines Großvaters Liebe galt, erwiderte diese nicht, sondern heiratete einen anderen. Ich muß aber eigentlich die Geschichte anders anfangen, eine Generation früher, bei der Mutter der betreffenden jungen Dame. Diese Mutter war nämlich eine ältere Stiefschwester meines Großvaters, und ich glaube, seine Liebe hat schon bei ihr begonnen und ist dann bei der Tochter, die ihr getreues Ebenbild gewesen sein muß, erst zu voller Blüte gekommen. In dem Zimmer meines Großvaters hängen zwei Frauenbilder, von denen man beim flüchtigen Hinblick annimmt, daß sie eine und dieselbe Person darstellen, liebreizende, zarte Gestalten in weißen Gewändern, fremdartig in ihrer Schönheit, denn ihre dunkeln Haare und dunkeln Augen, die wunderbar weich, sehnsüchtig und zärtlich blicken, stechen von den blonden, blauäugigen Frauen, die Generationen lang durch unsere Familie gingen, seltsam ab. In ihren Adern soll das Blut eines fremden Volkes rinnen, vielfach vermischt, aber immer wieder durchbrechend. Eine Urahne von ihnen soll, der Sage nach, eine Inderin gewesen sein, und ihre fremdartige, dunkle Schönheit soll sich von Tochter auf Tochter in immer gleichbleibender Reinheit vererbt haben. Sie alle, seit jener sagenhaften Ältermutter, starben jung und hinterließen immer nur eine Tochter, und die letzte dieser Töchter, das Kind seiner Stiefschwester, liebte, wie gesagt, mein Großvater. Aber die schöne Maja – alle Töchter und Enkeltöchter der sagenhaften Inderin hießen Maja – liebte einen amerikanischen Großkaufmann, mit dem sie schon im ersten Jahre ihrer Ehe nach Indien, ihrem sagenhaften Stammlande, ging. Dort fand sie aber wenig Glück, denn nachdem sie das einzige Töchterchen geboren hatte, begann sie zu kränkeln, und mein Großvater, mit dem sie in steter brieflicher Verbindung stand, drang von da an mit Vorstellungen und Bitten in sie, das ungesunde tropische Klima zu verlassen. Natürlich wollte sich die junge Frau aber nicht von dem geliebten Manne trennen, und den band Beruf und Neigung an das Land, in dem er geboren war. Die Verhandlungen über Gehen und Bleiben schleppten sich ein paar Jahre hin, und dann kam plötzlich die Nachricht, daß Majas Mann gestorben sei, einem Fieber erlegen, und daß sie sich jetzt einschiffen wolle und mit ihrem Kinde und einer ergebenen Dienerin nach Amerika zurückkehre.

Als dieser Brief meinen Großvater traf, lag sein Vater auf dem Sterbelager. Der einzige Sohn konnte also nicht, wie es sein Wunsch und Wille war, der kranken Frau zu Hilfe eilen und sie selbst herüberholen. Von ihr kam dann ein Brief mit Angabe des Schiffes, das sie zur Reise benutzen wolle, und Angabe des ungefähren Zeitpunktes an dem sie diese antreten würde.

Das war das letzte, was mein Großvater von Maja hier auf Erden hörte, oder vielleicht drücke ich mich falsch aus, das letzte, was er von ihrem irdischen Leben erfuhr, denn das Schiff, mit dem sie ihre Fahrt nach Amerika anmeldete, mochte vielleicht fünf bis sechs Tage unterwegs sein, da hatte mein Großvater einen sonderbaren Traum. In dem erschien ihm die geliebte Frau in weißem, feuchtem Leichentuch, drei Nächte hintereinander, und winkte ihm traurig mir ihrer weißen, schönen Hand, an der – ja, da muß ich etwas nachholen, was ich noch nicht gesagt habe. Die Nachkommen jener sagenhaften Inderin hatten als Erbteil und als einzigen Beweis ihrer Abkunft von dieser geheimnisvollen Frau einen Ring geerbt, ein wunderbar schönes, seltsames Stück.«

Niemand achtete auf Hans Heinrich, der unwillkürlich erblaßt war: denn aller Augen hingen am Munde des Erzählers. »Mein Großvater schwor und schwört auf die geheimnisvolle Kraft dieses Ringes. Ich selbst habe ihn nur auf dem Bilde der beiden dunkeln Frauen gesehen, an ihren wunderbar schönen, schlanken Händen.« – »Bitte, wie sah der Ring aus?« fragte Hans Heinrich hastig.

»Ich sah ihn, wie gesagt, nur gemalt: ein breiter Reifen und darin ein großer, blutroter Stein, eigentlich zu schwer für diese schönen, zarten Frauenhände«, berichtete Macleton und fuhr dann, angeregt von den gespannt an ihm hängenden Blicken seiner Zuhörer, lebhaft fort: »Und dieser Ring fehlte an der Hand des Traumbildes, so daß mein Großvater von diesem Augenblick an bestimmt glaubt, daß Maja gestorben ist. Eine qualvolle Unruhe war nun über ihm, wie und wo der Tod die Geliebte ereilt habe, und ob ihr Kind gleichfalls von ihm betroffen sei. Er glaubte an letzteren Fall nicht, denn er nahm an, daß die Tote ihm sonst in Begleitung ihres Kindes erschienen wäre. Nachrichten darüber zu erhalten, war nicht eher möglich als bei Eintreffen des Schiffes, dem die junge Witwe sich laut Brief anvertraut hatte. So mußte mein Großvater warten, bis Nachricht über dieses einlaufen würde.

Sie blieb lange aus, länger als die ungünstigste Fahrt dauern konnte: dann mußte man annehmen, daß dem Schiff ein Unglück zugestoßen sei, und so ergab es sich denn auch. Das Schiff war an der spanischen Küste bei einem entsetzlichen Sturm gescheitert, und nur einige Leute der Besatzung hatten sich durch einen glücklichen Zufall gerettet. Von einem der Geretteten, den mein Großvater nach langen, mühsamen Nachforschungen erkundete, erfuhr er dann, daß Frau Maja schon sehr krank an Bord des Schiffes gekommen, nach wenigen Tagen verschieden und ihre Leiche ins Meer gesenkt worden war. Die alte Dienerin und das kleine Mädchen, dessen sich der Matrose mit besonderer Liebe entsann, und von dessen fremdartigem Aussehen und besonderem Liebreiz er begeistert erzählte, seien bei dem Schiffbruch im Rettungsboote geborgen worden, aber voraussichtlich nicht an Land gekommen, denn man habe von keinem der Insassen dieses Bootes wieder etwas gehört; es sei wohl im Sturme untergegangen.

Damit gab sich mein Großvater aber nicht zufrieden. In ihm war die feste Überzeugung, daß das Kind noch lebe, und daß es seine Pflicht sei, das seiner Obhut und Liebe unterstellte Vermächtnis zu suchen. Jahrelang hat er Aufrufe ergehen lassen in den gelesensten Zeitungen aller Länder, hat selbst Reisen unternommen nach jener Küstengegend Spaniens, in deren Nähe damals das Schiff gescheitert war, Belohnungen ausgesetzt für Nachrichten über das genau beschriebene Kind oder doch wenigstens über die alte Dienerin und deren Verbleib, aber nichts hat gefruchtet; die kleine Maja wurde nicht gefunden, sie blieb verschollen, und allgemach mußte mein Großvater sich darein finden, auch sie als Tote anzusehen.

Er hat dann geheiratet, hat sich einen Ruf als Gelehrter und Erfinder erworben und ist dabei alt und grau geworden, aber immer geistig sehr frisch, klar im Denken, liebevoll im Handeln, und von seinen Mitmenschen und besonders von seiner Familie als maßgebend in allen Lebenslagen angesehen.

Ich sage das, damit Sie nicht glauben, mein Großvater sei ein unklarer Träumer, altersschwach geworden und geistig nicht mehr ganz vollwertig. Er hat nebst vielen anderen Liebhabereien auch eine große für Gemälde. Sein Leben lang hat er gesammelt, und die Kunsthändler aller Länder wissen, daß er ein Kenner ist, und daß ihm für eine neue schöne Erwerbung selten ein Preis zu hoch ist. Er ist auch bis vor wenigen Jahren noch immer selbst herumgereist, wenn es galt, etwas ihm besonders Angezeigtes zu prüfen. Jetzt hat er Gicht und das Reisen ist nicht mehr seine Sache; deshalb werde ich jetzt damit betraut, mir die Sachen anzusehen und zu beurteilen, ob etwas für ihn geeignet sei. Ich habe einige ihn zufriedenstellende Treffer gemacht, und als vor fünf Monaten in Paris die Galerie eines bekannten Sammlers zum Verkauf kommen sollte, trat ich wieder eine Reise nach dort an.

Viele schöne Sachen gab es da, aber nichts für den besonderen Geschmack meines Großvaters. Auf einmal steht da vor mir ein Bildnis! Ich taumelte beinahe zurück – eine dritte Maja! Dasselbe Bild, das mein Großvater zweimal in seinem Arbeitszimmer und dessen Geschichte er mir einst in einer vertraulichen Stunde erzählt hat.

Nein, nicht ganz dasselbe! Frischer in der Farbe, leuchtender gemalt, ganz in Sonne getaucht, ein blühendes, lebensvolles Bild; aber aus dem zarten, schönen Frauengesicht blickten dieselben dunkeln Augen, lächelte derselbe schön geschwungene Mund, leuchtete in wunderbarer Schönheit, fast plastisch aus dem Bilde heraustretend, die schlanke, durchgeistigte Hand, an deren Ringfinger der schwere Goldreif mit dem blutroten Stein glänzt. Maja, die junge, schöne, glückliche Maja, wie sie die beiden mir bekannten Bilder zeigen, nur einer neueren Zeit angehörend, denn das weiße Kleid, das sie genau wie ihre Vorgängerinnen trägt, ist zwar künstlerisch vereinfacht und verschönt, aber doch der Mode erst kurz verflossener Jahre angepaßt, und um den nackten, weißen Hals trägt sie einen im Geschmack der neunziger Jahre geformten Goldschmuck. Eine junge Maja lebt, muß leben oder gelebt haben, denn sonst könnte sie nicht gemalt worden sein! Sie ist auch keine Nachahmung eines der Bilder, die mein Großvater besitzt, denn in fein geschwungenen, blutroten Lettern stehen unten in der einen Ecke des Gemäldes die Worte: ›;Mein Weib‹. Deutsche Worte. Also muß der Gatte und Maler ein Deutscher sein, und man kann ihn finden! Was wird mein Großvater sagen?«

Der Erzähler machte eine Pause und sah, ohne jede verständliche Beziehung, wieder nachdenklich nach Ebba hin, deren Augen diesmal auch voll selbstvergessener Spannung an ihm hingen. »Nun?« klang es in sein nachdenkliches Verstummen von allen Seiten hinein, und Frau von Lebanoff rief interessiert: »Hat er gar nichts davon geahnt oder geträumt?« – »Nein«, lächelte der Erzähler, jetzt wieder ganz bei der Sache. »Seit jenem damaligen Traum, der den Tod seiner Nichte – denn das war sie ja wohl – meldete, hat mein Großvater nie wieder ahnungsvolle Träume gehabt, wenigstens keine, von denen ich wüßte. Ich sagte es schon, er war Zeit seines Lebens ein sehr nüchterner, ganz im Zeichen der Wirklichkeit stehender Mann, der erst in der letzten Zeit eine Schwenkung in mystische Gebiete gemacht hat. Damals, als ich das Bild fand, ahnte und träumte mein Großvater nichts. Ich überraschte ihn vollkommen, als ich mit dem Vorkaufsrecht auf das Bild bei ihm eintraf und meine Mitteilung machte. Nie in meinem Leben habe ich den sonst sehr beherrschten, willensstarken alten Herrn so aufgeregt und fassungslos gesehen, wie bei meiner Erzählung. ›;Sie hat gelebt! Ihre Art, ihre Nachkommen leben vielleicht noch, und ich, dem sie anvertraut war, sah sie nie; ich konnte nichts für sie tun! Und ich habe doch immer heimlich gefühlt, daß da noch ein Stück von ihr auf Erden wandle, habe mich danach gesehnt mein Leben lang, und es nicht finden können. Und nun, schon am Rande des Grabes, trifft mich ein Zeichen, und es bietet sich mir die Möglichkeit, ein Ebenbild von ihr noch einmal hier auf Erden wiederzusehen!‹

Ich habe meinen Großvater kaum wiedererkannt: ein ganz anderer war er, plötzlich verjüngt und voll Unternehmungsgeist. Gleich wollte er hinüber nach Europa, um das Bild selbst zu holen und eigenhändig Nachforschungen nach seinem Schöpfer zu tun; denn – das war das Unangenehme an der Sache – ich hatte auf und an dem Bilde nirgendwo einen Namen oder ein Malerzeichen gefunden, eben nur jene besitzanzeigenden Worte: ›;Mein Weib‹. Und auch sonst hatte keine der bei dem Verkauf beteiligten Personen eine Ahnung oder einen Anhalt, von wem es stammen könnte. Der Besitzer der Sammlung mußte es anscheinend erst kurz vor seinem plötzlich eingetretenen Tode erstanden haben; aber wo und wie wußte niemand, da der betreffende Herr fast unausgesetzt auf Reisen lebte und bald hier, bald da seine Entdeckungen und Einkäufe machte.

Leider ließ die Spannkraft meines Großvaters ebenso schnell nach, wie sie gekommen war: seine Gicht machte sich gerade durch die Aufregung verdoppelt streng bemerkbar, und der Kauf des Bildes, sowie alle Forschungen darüber fielen auf meine Schultern. Ich bin dann wochenlang in allen Hauptstädten Europas und bei allen Kunsthändlern von Ruf mit einer künstlerisch genau übermalten Photographie des Bildes herumgereist, überall nachhörend, ob man dieses Bild oder nach der Art seiner Auffassung und Technik seinen Maler kenne. Das Bild kannte niemand; über den Maler gingen die Ansichten auseinander, ließen sich aber durch die Nationalität doch einigermaßen einschränken, denn die Worte ›;Mein Weib‹ deuteten so bestimmt auf einen Deutschen hin, daß andere in Betracht kommende ausländische Maler zurückgewiesen wurden.

Zuletzt blieben zwei, ein Paul Fettmann und ein Freiherr Kurt von Münchenhausen-Waldeneck, ersterer Bildnismaler, zweiter Landschafter. Von beiden konnte der Nachweis nicht geführt werden, daß sie gerade dieses Bild gemalt hätten; nichts ihm Ähnliches war von ihnen bekannt, aber beide waren in Malart und Auffassung des Bildes sehr ähnlich und beide seit Jahren von der Bildfläche des Kunstlebens spurlos verschwunden.

Von dem Freiherrn, dem man in Künstlerkreisen den Beinamen ›;der Sonnenmaler‹ gegeben, ging die Sage, daß er erblindet sei und sich irgendwo in einem abgelegenen Winkel der Welt verkrochen habe, von dem andern, daß er eine Fahrt nach Indien unternommen und dabei verschollen sei. Ob einer von beiden Frau und Kind besessen, konnte ich nicht erfahren, aber aller Vermutung nach kam Paul Fettmann als Bildnismaler und Indienreisender, der sich für das Stammland seiner Frau interessieren konnte, mehr in Betracht. Mein Großvater aber hatte eine seltene Vorliebe für den erblindeten Landschaftsmaler und behauptete, sein Gefühl weise ihn zu diesem hin. Es lag hier ein geheimnisvoller Zug vor, der sich denn auch später – hm – man könnte sagen, bewahrheitet hat. Denn während ich mit allen Mitteln moderner Technik und landläufiger Findigkeit die hoffnungslos scheinende Sache verfolgte, hatte mein Großvater einen anderen Weg eingeschlagen, einen, um dessentwillen ich immer wieder betonen muß, daß er zeitlebens ein sehr klar denkender Mann war und von Alters- und Geistesschwäche nicht das geringste an ihm zu merken ist.

Mein Großvater hatte, aus welchem Antriebe weiß ich nicht, aber er hatte begonnen, sich mit Spiritismus zu beschäftigen, vielleicht im Anfange nur oberflächlich interessiert, lächelnd der Mode des Tages folgend, vielleicht auch vom wissenschaftlichen Standpunkte, soweit das darin möglich ist. Urplötzlich aber erklärte er mit voller Bestimmtheit, genau zu wissen, daß der Maler des Bildes wirklich der besagte Freiherr von Münchenhausen-Waldeneck sei, und nun begannen die Nachforschungen nach diesem Verschollenen und seinem Familienzusammenhang. Denn trotz des Ursprungs seiner Annahme schien mein Großvater von normalen Nachforschungen und Bestätigungen immer noch mehr zu halten, als von übersinnlichen.

Wir fanden denn auch die in Norddeutschland ansässige Familie Münchenhausen-Waldeneck, erfuhren aber nichts, was uns auf die Spur des Gesuchten bringen konnte. Er gehörte zu einem mit ihm erlöschenden Nebenzweig, war seinerzeit Offizier gewesen, hatte um seines Talentes willen den Abschied genommen und später eine bürgerliche Französin geheiratet, welche Heirat ihn anscheinend um jede Sympathie seiner streng aristokratischen Familie gebracht und ihn vollkommen von ihr getrennt hatte.

Das war alles, der Tropfen verlief im Sande. Voraussichtlich war der Mann tot und die Frau auch, und Nachkommenschaft hatten sie wahrscheinlich nicht hinterlassen, denn sonst hätte sich diese doch wieder einmal an die Familie des Vaters gewendet und mit ihr Beziehungen angeknüpft. Aber mein Großvater war wieder anderer Ansicht als ich. Er ist der unerschütterlichen Überzeugung, daß hier auf Erden noch ein Kind zurückgeblieben sei, eine junge Tochter, Maja, – nun, und damit schließt meine Geschichte, die eben, wie ich gleich sagte, eigentlich gar keine Geschichte ist, denn die Heldin fehlt noch immer, und ich bin nach wie vor auf der Suche nach ihr.«

»Und nun suchen Sie sie hier? Warum denn nun gerade hier? Den Kernpunkt Ihrer Geschichte bleiben Sie uns schuldig.« – »Richtig, gnädiges Fräulein, davon ging ja meine Mitteilung aus!« Er wandte sich erfreut zu Ebba, die sich etwas vorgebeugt hatte und diese Frage tat. Sie sprach wieder mit ihm, sie zürnte nicht mehr! Das heißt, ganz so unbefangen und kindlich wie sonst war ihr Blick nicht, es lag ein Schleier über ihm. Wenn er nur wüßte, was sie so plötzlich verwandelt hatte! – »Nun?« fragte von der andern Seite Karin ungeduldig in sein Zögern hinein. »Müssen Sie erst darüber nachdenken, wie Sie Ihr hübsches Nachmittagsmärchen begründen sollen?«

»O, gnädiges Fräulein,« schrak er auf, »von Märchen ist wirklich nicht die Rede, ich habe ganz wahrheitsgetreu erzählt, was war und ist. Warum ich gerade hier bin? Ich will es Ihnen sagen. Plötzlich, ich war gerade in Paris, wohin meine letzte Forschung mich geführt hatte, da kommt die dringende Aufforderung meines Großvaters, mich hierher zu begeben; er habe Anhaltspunkte dafür, daß Maja von Münchenhausen-Waldeneck sich hier aufhalte. Ich solle nur suchen, schreibt mein Großvater immer wieder.« – »Wie machen Sie das denn?« – »O, ich sehe jeder Dame, die mir in den Weg kommt, so angelegentlich ins Gesicht, daß nächstens mein guter Ruf als gesitteter und anständig erzogener Mann völlig verloren sein wird.«

Sie lachten alle, bis auf Ebba und Hans Heinrich, die beide mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt waren und sich auch nicht mitbeteiligten an den praktischen Ratschlägen, mit denen sich die andern Zuhörer jetzt bemühten, Mister Macletons Nachforschungen in neue und erfolgreiche Bahnen zu lenken.

»Haben Sie denn nicht das Bild der gesuchten Dame wieder bei sich?« fragte plötzlich Ebba, und Macleton schien es, daß ihre Augen, die sich dabei auf ihn richteten, fast so dunkel aussahen, wie die der mystischen Maja, nur nicht so weich und zärtlich, ganz fremde Augen, die gar nicht zu dem sonstigen fröhlichen Blick Ebbas paßten, Augen voll ernster Tiefen und dunkler Gedanken, Augen, die ihn unruhig machten und verwirrten. – »Nein,« sagte er zögernd, »diesmal nicht; es war nicht nötig. Ich kenne das Gesicht so genau. Etwas, woran man monatelang Tag und Nacht gedacht hat, dafür braucht man kein Bild mehr.« – »Sie muß ja auch am Ring zu erkennen sein«, überlegte Frau von Lebanoff, und Karin sagte dazwischen: »Ja, wenn sie ihn trägt und keine Handschuhe benutzt. Außerdem sind breite Goldreifen mit roten Steinen nicht besonders selten.«

»Nein«, fiel Macleton ein. »So bloß Goldreifen und Stein ist der Ring eben nicht. Wenn man den sieht, fällt er einem schon auf. Der Reifen ist viel breiter, als Damenringe sonst sind, und ganz mit seltsamen Hieroglyphen gezeichnet, und der Stein ist ganz auffallend schön. Außerdem soll sich um ihn, was man auf dem Bilde nicht so genau sieht, was aber mein Großvater als Besonderes bezeichnet, eine kleine weiße Perlenschlange ringeln, die fast lebendig wirken soll.«

»Ah!« stieß Karin hervor, »halt, wo sah ich doch solchen Ring?« – »Bei mir, gnädiges Fräulein«, fiel Hans Heinrich ein, etwas schwer und belegt, aber ganz ruhig und anscheinend unbefangen. Er hob die Hand. »Er ist's, er ist's«, rief Mister Macleton erregt aus. »Nun haben wir die Maja, nun –« »Aber der Baron ist doch nicht die gesuchte Dame!« unterbrach ihn Ebba.

»Nein – ja, nein! Aber woher haben Sie den Ring? Das rückt ja die Sache in ein ganz anderes Licht!« Er war jetzt ebenso erregt, wie seinerzeit sein Großvater, als er die erste Spur der Verlorenen gefunden hatte. »Gibt es vielleicht gar keine Maja? Sind Sie statt der in der Familie herkömmlichen Tochter ein Sohn?« – »Nein, das bin ich nicht«, erwiderte Hans Heinrich und mußte doch unwillkürlich lächeln. »Es werden anscheinend mehrere solche Ringe vorhanden sein.« – »Aber eine Beziehung besteht doch entschieden zwischen den beiden Ringen«, meinte Karin, und Mister Macleton rief: »Selbstverständlich, eine Beziehung, die zu einer Lösung, zum Schluß, zur Vereinigung drängt, zu der gesuchten Maja führt; überlegen Sie, Baron!«

Der war selbst in einer tiefen Erregung, viel mehr, als irgend jemand ahnte und er merken ließ. Wenn sie sich fände! Sie wäre die Frau, von der die Prophezeiung seiner Urahne sprach, sein Schicksal, das ihm bestimmte Weib! Ein Schauer lief über seinen Rücken. »Sie wäre mein Schicksal«, sagte er unwillkürlich halblaut, nur für sich, und keiner von denen, die heftig durcheinander sprachen, hatte ihn gehört, außer Karin, die dicht neben ihm saß und ihn gespannt beobachtete. Sie fing fast unwillkürlich die halb gedachten, halb gesprochenen Worte auf, und ebenso unwillkürlich, mit blitzartiger Schnelligkeit erfaßte sie ihre Tragweite.

»So reden Sie doch, Baron, was wissen Sie von Maja!« drängte Macleton ungeduldig zum zweitenmal. »Nichts, ich sagte es schon. Ich habe heute zum erstenmal gehört, daß es möglicherweise eine solche geben kann. Ich kenne nur durch alte Überlieferungen die erste Maja, die Besitzerin dieses Ringes.« – »Aber Sie müssen sich nun doch auch für sie interessieren«, ereiferte sich der noch immer sehr aufgeregte Mister Macleton. »Sie stehen ihr vielleicht näher als mein Großvater. Die Beziehungen zwischen ihr und Ihnen sind entschieden verwandtschaftlich; die Namen stimmen doch schon überein!« – »Nur die Vornamen, von den Münchenhausen-Waldenecks weiß ich gar nicht.«

Karin sah, wie Hans Heinrichs Gesicht sich immer tiefer verschattete. »Vielleicht heißt sie auch gar nicht mehr so, vielleicht hat sie sich mittlerweile verheiratet und ist nur so unhöflich gewesen, den prophezeienden Geistern keine Vermählungsanzeige zu schicken«, lachte sie spöttisch. »Das wäre eigentlich die nächstliegende Lösung Ihres unfruchtbaren Suchens, Mister Macleton.«

Über Hans Heinrichs Gesicht ging ein befreites Aufleuchten: »Wahrhaftig, so könnte es sein!« – »Ja, das könnte sein«, gab Macleton nachdenklich zu. »Ihr Spott, gnädiges Fräulein, trifft vielleicht ins Schwarze. Nur glaube ich nicht, daß mein Großvater zu solcher Annahme neigen wird. Aber erzählen Sie doch ausführlich, Baron!«

Hans Heinrich sprang auf. Hier und jetzt die Geschichte seiner Familie zur Unterhaltung fremder Leute vorzutragen, wäre ihm unmöglich gewesen. Er fühlte überhaupt ein heftiges Verlangen, allein zu sein, Ordnung in seine Gedanken zu bringen, Ruhe und Zusammenfassen in sein Empfinden. Es trieb ihn in die Natur; der Sturm, der eben draußen tobte, paßte in seine Stimmung, und der Regen, der kalt und windverweht niedersprühte, würde die heiße Unruhe in ihm kühlen und niederschlagen. »Ein andermal, Mister Macleton. Jetzt muß ich meiner Kopfschmerzen wegen einen Spaziergang machen. Verzeihung, meine Herrschaften, für die Fahnenflucht.«

Er verbeugte sich und verließ eilig das Zimmer. Dann atmete er befreit auf. Die mit hundert Rätseln gefüllte Luft, die er nun hinter sich ließ, hätte ihn erstickt, wenn er noch länger geblieben wäre. Seine Nerven waren wohl noch immer nicht widerstandsfähig gegen Aufregungen. Es lag ein Druck auf ihnen, den er abwerfen mußte. Luft, Bewegung, ein gewaltsames Abziehen von den ihn bestürmenden Gedanken! Gar nicht mehr denken, am wenigsten an die alte fabelhafte und ebenso neu und wahrheitsberechtigt aufgetauchte Geschichte des mystischen Ringes, den er an seiner Hand brennen fühlte wie Feuer. Wie wohltuend der herbe Seewind über seine heiße Stirn strich! Vorwärts, weiter, immer weiter, am Strande entlang, wo die Wellen mächtiger antobten, sich an einigen vorgelagerten Felsstücken aufsprühend brachen und den weißen Gischt empört weit auf das Land hinauswarfen.

Einsam war es ja bei diesem Wetter überall, denn die eleganten Kurgäste scheuten den Wind und Regen; aber dort, wohin sein Fuß ihn trug, würde es noch einsamer sein; denn dort hinter der Ecke tobte der Sturm sicher am wildesten. Eben bog er um die felsige Rundung. Hui! fuhr ihm der Wind entgegen, riß ihm im ungestümen Spiel die Kappe vom Haupt, wirbelte sie hoch in der Luft herum, warf sie in der nächsten Sekunde nieder und jagte sie in tollem Übermut jetzt den Wellen zu, dicht vor die Füße einer dort stehenden einsamen Frauengestalt, die, vom Sturmgebrause taub gegen den Schritt des Nahenden, den Rücken gegen das Land gekehrt, regungslos vor dem tobenden Element stand.

Energisch schlug der Wind jetzt auf den Boden, die flüchtige Kappe für einen Augenblick auf diesem festhaltend, gerade lange genug, daß der ihr nachstürmende Besitzer sie einholen und, im Sprunge sich bückend, sie erfassen konnte. Dabei glitt Hans Heinrichs Fuß auf dem schlüpfrigen Boden aus, und mit gebeugtem Knie lag er plötzlich zu den Füßen der erschreckt zurücktaumelnden Dame. Zwei Augenpaare blickten in sprachloser Überraschung und Verwirrung ineinander; ein erkennendes Aufleuchten in beiden, dann goß sich über Maria Fourrieres blasses Gesicht eine heiße Röte, und ohne Überlegung, nur ihrem augenblicklichen Impulse folgend, wandte sie sich und wollte fortstürzen.

Aber schon stand Hans Heinrich wieder auf seinen Füßen. »Verzeihung! Nein, bitte, fliehen Sie nicht! Habe ich Sie so erschreckt? Es war nicht mein Wille. Ich folgte nur dem Beispiel meiner Kappe, die ich Ihnen demütig zu Füßen legte. Höflicher kann man doch nicht sein!« Er lächelte bittend zu ihr nieder und legte, nur ganz leise und zart, um sie nicht noch mehr zu erschrecken, seine Finger auf ihre herabgesunkenen, bänglich ineinander gefalteten Hände, und dabei überkam ihn wieder jenes wunderbare, köstliche Glücks- und Wohlgefühl, das er damals empfunden, als dieses fremde, zarte, junge Geschöpf an seinem Herzen gelegen hatte.

Aber plötzlich sah er, daß ihr Gesicht feucht von Tränen war. Sie hingen noch in den langen, dunkeln Wimpern, die sich jetzt verwirrt auf die nun wieder erblaßten Wangen legten. »Um Himmels willen, Sie weinen? Sie leiden? Wollen Sie mir nicht sagen, was Ihnen fehlt? Kann ich Ihnen nicht helfen? Denken Sie, ich sei ein alter Freund! Mir ist, als wäre ich es. Vertrauen Sie mir!«

Er hatte unwillkürlich ihre Hände fester gefaßt, und sprach beschwörend, mit innigem Ton, auf sie ein; seine Augen blickten angstvoll, zärtlich und doch voll Ehrerbietung und zarter Rücksicht auf sie nieder. Sie sah es durch die gesenkten Lider, sie hörte den Klang seiner Stimme über dem Sturm- und Wellengetobe, und sie fühlte dasselbe berauschende, tiefe Glücksempfinden, das sie damals überflutet hatte, als sie in seinen Armen lag. In nie gekannter Willensschwäche fand sie keine Kraft, von ihm zu gehen und ihm ihre Hände zu entziehen. Langsam stieg wieder der warme Rosenschimmer in ihr weißes Gesicht, und sie hob die gesenkten Lider: ein schüchternes, unbeschreiblich liebliches Lächeln teilte die weichen, roten Lippen und drückte in die Rundung der Wange ein tiefes, schelmisches Grübchen.

»Ich weinte, weil ich so glücklich war«, sagte sie mit ihrer jungen, klingenden Stimme, die wie Glockenton zu seinem Ohr zog. »Ich liebe das Meer unbeschreiblich und den Sturm, und wenn die beiden wild und jubelnd miteinander ringen, beide so voll Kraft und Übermut und Seligkeit, dann wird mein Herz weit und stark, dann fällt alles von ihm ab, was es sonst bedrückt; dann meine ich, all das auch in mir zu fühlen, was da durch das Spiel der Elemente klingt, Mut, Hoffnung, Kraft, eine ganze Fülle von stolzen Seligkeiten, und dann muß ich weinen, weinen vor Glück, vielleicht auch vor Schmerz und Sehnsucht – ich weiß nicht recht.«

Sie hatte fast unbewußt gesprochen, ganz im Banne der augenblicklichen Empfindung, so tief und schleierlos aus dieser heraus, wie sie früher zu ihrer Mutter und dann zu ihrem Vater gesprochen hatte, zu diesen beiden ihr Teuersten auf Erden, und sonst nie zu einem Menschen. Es mußte wohl der Zauber dieser Stunde sein, der sie fortriß zu solchem Enthüllen ihres geheimsten Empfindens.

Aber nun, auf einmal, wurde sich Maria dessen bewußt, und sie erschrak. Der fremde Mann! Das Blut schoß ihr von neuem in die Wangen, und sie wollte ihm ihre Hände entziehen. »Aber das kann Sie doch nicht interessieren!« – »Ganz gewiß interessiert mich das.« Er hielt ihre Hände fest. »Sagte ich Ihnen nicht schon, daß mir zumute ist, als wäre ich ein alter Freund von Ihnen? Es gibt wohl Sympathien, die, vom ersten Sehen an, zwei Menschen in gegenseitigem Verstehen und in Einklang verbinden. Fühlen Sie das nicht auch?« Das Glücksgefühl, das betörende, verwirrte ihren sonst so klaren Sinn. »Ja«, sagte sie, ohne zu wissen, daß, sie es sagte. Es klang und sang aus ihrer Seele heraus in jubelnden Melodien.

Seine Augen leuchteten auf. »Sehen Sie! Mir können Sie alles sagen; ich verstehe Sie und möchte Ihnen helfen. Sie wissen selbst nicht, ob es Glück war oder Schmerz und Sehnsucht, was Sie weinen machte. Ich aber glaube, es ist kein Glück, von dem man nicht genau weiß, daß es Glück ist; es war Schmerz und Sehnsucht! Wollen Sie mir nicht sagen, worin beide wurzelten?« – »Wenn man allein steht in der Welt, ohne irgendeine Seele, zu der man gehört, niemand hat, von dem man gebraucht wird –« »Der kranke Knabe gehört nicht verwandtschaftlich zu Ihnen?«

Sie schrak zusammen. Das Märchenland, in dem sie eben, losgelöst vom Alltag des Lebens, geweilt hatte, versank mit einem Schlage vor seiner in die Wirklichkeit hineingreifenden Frage. Sie war sofort wieder Maria Fourriere, die Pflegerin und Erzieherin von Alex Lebanoff, dem Bruder der schönen, blonden Karin, und der vor ihr stehende Mann, der noch immer ihre Hände hielt, und dem ihre Seele mit den starken Flügeln der Liebe und Sehnsucht zuflog, war der reiche Kavalier, von dem die Zofe lachend gesagt hatte: »Den wird die stolze Hoheit wohl endlich erhören. Der hat ja alles, was sie haben will. Geld und Namen, und so 'n lieber, schöner Mensch ist er nebenbei. Er kann einem ordentlich leid tun, daß er der zum Opfer fällt. Aber er sitzt ja schon halb in der Falle, er will's wohl nicht anders!«

Sie hatte es nicht hören wollen, das Dienstbotengeschwätz, auf das sie sonst nicht achtete; aber es war ihr doch wie ein vergifteter Pfeil ins Herz gefahren und hatte sie hinausgetrieben in Sturm und Regen, hatte ihr Tränen erpreßt, jene Tränen, die sich im Ausblick auf den Kampf der Elemente so seltsam stolz gewandelt hatten, daß sie sich und ihr Leid vergaß und es wie eine Prophezeiung von Glück und Hoffnung auf sie herniedersank – sinnlos, ohne Grund und Berechtigung, aber wundersam tröstend und erhebend. Und mitten in diesem köstlichen, seelenerquickenden Empfinden stand er vor ihr, faßte ihre Hände und fragte, warum sie weine? Da hatte sie in voller Wahrheit gesagt: »Ich weine, weil ich glücklich bin!« All das war wie ein Traum über sie hingezogen, wie etwas außerhalb ihrer selbst Stehendes, ein Wunder, eine Offenbarung! Und nun erlosch der süße Traum von der Glückseligkeit; nun stand sie auf einmal wieder nackt und arm in der Welt und sah sich selbst und ihr Leben in all seiner Verlassenheit und Erniedrigung.

Der ganze Wandel währte eines Atemzuges Länge. Mit kurzem Ruck entzog sie ihm ihre Hand und richtete sich stolz auf. »Nein, ich bin nur die Pflegerin jenes kleinen Knaben; und nun muß ich meiner Pflicht folgen und wieder zu ihm gehen.«

Dabei zuckten die Lippen des roten Mundes so herb, und der Ton der Stimme war so abweisend, daß er erschreckt einen Schritt zurücktrat. Ihm galt es ja ganz gleich, ob sie die Schwester oder die Pflegerin des kranken Knaben war. An solche Nebensächlichkeiten hatte er kaum gedacht. Die Frage war ganz belanglos von seinen Lippen gefallen, und er verstand nicht einmal, daß von ihr eine Wirkung auf sie ausgehen konnte. Er verstand nur, daß die liebliche, beglückende Vertraulichkeit, die sie ihm eben so selbstverständlich geschenkt hatte, plötzlich von ihr gewichen war, daß sie ihn verlassen wollte, daß er sie, kaum gefunden, wieder verlieren sollte.

Unwillkürlich vertrat der Baron dem jungen Mädchen den Weg, und aus seinem Ideengange heraus rief er: »Nein, nein, warum wollen Sie gehen? Warum sind Sie plötzlich so schroff und abweisend zu mir? Ich dachte, Sie fühlten wie ich, daß wir Freunde sein wollten?« Der seltsame Blick, der ihn aus ihren Augen traf, aus diesen wunderbaren, sehnsüchtigen, dunkeln Augen – wo hatte er ihn doch schon früher einmal gesehen? Aber seit seiner Erkrankung in Sesenburg lag es über seiner Erinnerung an das, was er dort gehört und gesehen hatte, wie ein verhüllender Schleier. Das Suchen nach einer Erinnerung, die mit diesen Augen, mit diesem ganzen lieblichen Gesicht zusammenhing, marterte ihn geradezu, es nahm ihn so gefangen, daß er kaum hörte, wie sie in mattem Tone seine Worte wiederholte: »Freunde sein wollen? Es gibt Unmöglichkeiten –«

Die Lippen preßten sich hart aufeinander. Der Erwählte Karins, der Mann, der dieses Mädchen liebte, der sollte ihr Freund sein? Beinahe hätte sie lachen mögen und dabei weinen, bitter weinen, keine Tränen des Glücks, wie sie einen Augenblick lang, in einer Art Seligkeit, gemeint hatte, sondern Tränen heißen Wehs und tiefster Enttäuschung. Was war nun über sie gekommen, als sie plötzlich, weit über die harte, grausame Wirklichkeit hinausgehoben, sich so unbeschreiblich, so wunschlos glücklich gefühlt hatte? Noch bevor er vor ihr stand, noch ehe der Druck seiner Hand, der Blick seiner Augen sie wieder in jenen Rausch der Seligkeit versetzte, der sie rettungslos in seiner Gegenwart erfaßte? Wirkte er allein durch seine Nähe so stark auf sie? Trug er ihr Glück so ganz in seinen Händen, daß es sie schon überflutete, bevor sie noch seine körperliche Nähe fühlte – ihr Glück und ihr tiefstes Weh, so gewaltig, so zwingend, daß davor kein Wille bestand, keine Wirklichkeit und Erkenntnis? Sie mußte ihn fliehen, sie durfte gar keine Vertraulichkeit zwischen sich und ihm aufkommen lassen. Wie wäre das überhaupt möglich, Freundschaft zwischen ihnen beiden, dem Freunde ihrer Brotherrin und ihr, der bezahlten, mit Hochmut übersehenen Dienerin? Sie war ja hinausgestoßen aus der Gleichberechtigung, aus dem Kreise, zu dem sie ihre Geburt und Erziehung berechtigte. Die Not des Lebens hatte sie in Ketten gelegt, und diese schnitten nun hart und mahnend in ihr Herz. Es waren Vorurteile, sie hatte sie bis jetzt als solche erkannt, hatte mutig mit ihnen gebrochen, sogar ohne Kampf, trotzdem sie wohl wußte, wie wenig sie damit im Sinne ihres stolzen, standesbewußten Vaters handelte. Sie mußte ja den Forderungen des Alltags folgen, mußte, und war stark und frei genug gewesen, dieses »Muß« zum Willen zu gestalten, aber nun bauten die Folgen ihres tapferen Handelns eine unübersteigliche Mauer auf zwischen ihr und dem Mann, dem sich ihr Herz zuneigte.

Nur diese Folgen? Nein, er liebte ja auch eine andere, er wollte nur ihr Freund sein! Wie das alles in wildem Wirbel durch ihre Gedanken flog und darüber das eine klare, zwingende Erkennen, daß sie ihn meiden, daß sie jedes Band zwischen ihnen zerreißen müsse! »Meine Pflicht ruft«, endete sie unvermittelt, in hartem Ton den schwankend begonnenen Satz, neigte hastig den Kopf und schritt an ihm vorüber. »Aber so bleiben Sie doch, mein Fräulein! Verstehen Sie mich doch! Ich fühle es so bestimmt, so zwingend, daß zwischen uns eine seelische Verbindung besteht, die uns aufeinander anweist, auf gegenseitige Freundschaft. Es mag seltsam klingen, ja, ich gebe es zu, aber sagten Sie nicht selbst, daß Sie auch an dergleichen glauben?«

Er hatte wieder die Hand nach ihr ausgestreckt; da fuhr sie zurück, und ihre Augen starrten wie gebannt auf diese ausgestreckte Hand. »Der Ring!« stammelte sie entsetzt und stieß seine Hand zurück. »Das greuliche Ding, es erschreckt jeden«, rief er zornig. »Ich hasse den Ring; er ist mein Fluch!« stieß er heiser hervor. »Sehen Sie ihn nicht an, sein Anblick ist Grauen!« – »Aber –« – »Nein, nein, bitte, kümmern Sie sich nicht um ihn; sehen Sie nicht ihn, sehen Sie mich an, sagen Sie, daß Sie mir glauben!«

Maria starrte trotzdem mit großen, erschreckten Augen noch immer auf den Ring. »Die Schlange –« – »Ich bitte Sie, lassen Sie den verhaßten Ring! Sagen Sie mir lieber, wo Sie sich so lange versteckt hielten? Ich habe Sie immer gesucht.«

Jetzt schoß wieder eine heiße Röte in ihr Gesicht. Er hatte sie gesucht, und sie war ihm oft so nah gewesen, wenn er von Karin vor dem Gasthaus Abschied nahm, dicht unter dem Balkon, auf dem sie mit Alex saß. Karin! Darüber vergaß sie alles andere, auch den Ring, dessen Anblick sie so seltsam berührt hatte. Die Mauer, die sie von dem neben ihr Stehenden trennte, wuchs bei diesem Namen wieder riesenhoch in ihrem Erkennen auf. »Es ist gut, wenn Sie mich nicht finden; unsere Wege laufen weit auseinander«, sagte sie hart. »Ich gehe jetzt den meinen, leben Sie wohl!« – »Das ist nicht möglich! Sie müssen mir sagen, wo ich Sie wiederfinden und sprechen kann!« – »Nein, ich wünsche das nicht.« Sie hatte sich jetzt wieder ganz in der Gewalt. »Ich bin in abhängiger Stellung, und es wäre sehr nachteilig für diese, wenn man mich im Verkehr mit einem Herrn der Gesellschaft sähe.« – »Ah! Aber – .«

Er stockte, ihm kam erst jetzt, durch ihre Worte heraufbeschworen, das Seltsame ihres Begegnens und seines Verlangens zum Bewußtsein. Er fand nicht gleich eine Antwort, die ihren Einwurf entwaffnen konnte, und sie benutzte seine augenblickliche Verwirrung, sein zauderndes Überlegen und Bemühen, sich in die Lage zu finden, um rasch vorwärtszuschreiten.

Er stand wie gelähmt da. Ja, sie hatte recht, es war – es konnte sein –! Nein – das war alles Kleinlichkeit und Vorurteil, an das man sich nicht kehren mußte. Es würde einen Ausweg geben. Er war doch kein Wüstling, der auf ein lockeres Abenteuer ausging, er meinte es aufrichtig! Was denn? Was meinte er aufrichtig? Gleichviel, jetzt durfte er nicht nachdenken, jetzt mußte er handeln, ihr nacheilen, ihr erklären, ihr versichern –! Schnell! Sie war schon dicht vor dem Felsenstück, das dieses Plätzchen so günstig von der übrigen Welt abschloß!

Ah! Sein Fuß blieb an der Stelle haften, auf der er stand. Um diesen Vorsprung bog eben eine schlanke, jugendliche Männergestalt: die beiden prallten fast aneinander, seine Unbekannte mit dem Unbekannten, und die zwei schienen einander gar nicht unbekannt zu sein. Sie stutzten nur einen Augenblick, dann streckten sich vier Hände einander entgegen: der Sturm trug Laute freudiger Begrüßung zu ihm herüber, die Hände ruhten noch immer ineinander. Jetzt zog der Unbekannte den Arm der Unbekannten in den seinen, und sie ließ es ruhig geschehen.

Hans Heinrichs Herz hämmerte. Wie ein schneidendes Weh durchfuhr es ihn, seine Augen sahen nicht mehr klar; er wollte vorwärts stürzen, den beiden, die eben um den Felsvorsprung bogen, nach, und dann schlug er sich mit der Hand vor der Stirn und lachte hart und heiser auf. Das war der Schluß einer ihm jetzt unbegreiflichen Narrheit. Was hatte ihn nur gepackt, daß er auf einmal einem fremden Mädchen mit heißer Dringlichkeit seine Freundschaft angeboten? Aber da fiel eine große, müde Enttäuschung über all sein Denken und Empfinden. Nein, er konnte diesem fremden Mädchen keinen Vorwurf machen, nicht den leisesten. Sie war auch kein kleines, alltägliches Kinderfräulein! Über ihr lag ein geheimnisvolles Etwas, das zu ihm in einer noch rätselhaften Beziehung stand, das auf ihn bestimmend und unbeschreiblich wohltuend und beglückend wirkte. Vielleicht war es eine Heilkraft, eine rein körperliche Beeinflussung. Aber dieses Glücksgefühl, dieses über alles Alltagsdenken und alle Formen hinausgehende Empfinden des Verstehens und Zusammengehörens – sollte das nur körperlich sein? Unmöglich, das war auch seelische Heilkraft, das war – seine Gedanken stockten – ein wundersames Wort sprang in ihm auf: Liebe? Nein, niemals! Solch einen Gedanken durfte er gar nicht in sich erwachen lassen. Die da von ihm gegangen war mit dem herben Wunsch, ihn nicht wiederzusehen, gehörte ja schon einem andern, hatte sich zu diesem geflüchtet, vor seinem kühnen Verlangen, ihm Freundin zu sein und ihm Glück und Leid ihres Lebens zu offenbaren.

Müde, wie zerschlagen von den Aufregungen, die ihm der heutige Nachmittag gebracht hatte, ließ er sich auf einem der großen Steine nieder und starrte auf das Meer hinaus. Der Sturm hatte plötzlich nachgelassen; aber die Wellen wollten sich noch nicht beruhigen, sie schäumten und rasten noch in vollem Zorn gegen den Strand. Ja, das, was uns bis ins Innerste erschüttert, gibt sich nicht so leicht wieder zur Ruh', selbst wenn die Erlebnisse schon vergangen sind; und wenn der Sturm der Empfindungen in sich zusammensinkt, wühlt es von unten herauf und quält es weiter.

Seine Nerven hatten ihm diesen unbegreiflichen Streich gespielt. Die alte, törichte Geschichte, die er in seiner Krankheit halb vergessen, und deren drückenden Einfluß er fast überwunden hatte, hielt ihn nun wieder in ihrem Bann und riß an diesen noch kaum wieder erstarkten, empfindlichen Nerven. Er wurde vielleicht noch irrsinnig über all dem mystischen Zeug! Jetzt durfte nur noch die gesuchte Maja auftauchen, dann war er ganz fertig.

Vielleicht war es das beste, wenn er sich schnell mit Karin verlobte. Karin paßte zu ihm, sie hatte eine gewisse kühle Stärke, die ihm wohltun, die ihm Halt geben würde. Er brauchte eine Frau. Seit der Mutter Tod hatte er den weiblichen Einfluß immer entbehrt, er war mit ihm erzogen worden, und er war ihm eine Notwendigkeit. Wenn Karin nur nicht zwischendurch so abstoßend auf ihn wirken möchte!

Zerrissen in seinem Denken und Empfinden, in tausend Widersprüche verwickelt, unzufrieden mit sich und der ganzen Welt, sprang Hans Heinrich auf und eilte den Weg zurück, den er vor kurzem gekommen war, – vielleicht sah er auf ihm das fremde Mädchen noch einmal, vielleicht – . Er wußte nicht was, aber wohin er seine Gedanken auch zwingen wollte, sie flogen alle wieder jenen braunen, sehnsüchtigen Augen nach. Sie gingen alle unter in dem Grübeln: »Wo sah ich sie doch schon einmal? Wo kannte ich früher diesen roten Mund und sein bezauberndes Lächeln? War es ein Traum? War es eine Erinnerung aus einem vergangenen Leben?«

Und keiner dieser grübelnden, suchenden Gedanken flog hinüber zu dem alten Bilde im alten Stammhause, zu den Träumen, in denen es sich ihm schleierlos und lächelnd gezeigt hatte! Davor hing es wie ein dunkler, schwerer Vorhang, den seine Erinnerung nicht zu lüften vermochte, vor dem sie ahnungslos kehrtmachte, um blind und verzweifelt an andere Türen zu klopfen und hinter keiner zu finden, wonach ihn verlangte.

Am folgenden Tage war herrliches Wetter; die Sonne lachte über dem blühenden, blumendurchwirkten Lande und tanzte in Goldfunken auf dem blauen, durchsichtigen Wasser, das still und friedlich dalag, als wenn nie ein Sturm darüber hingetobt und es zu zornigem, weißem Gischt aufgepeitscht hätte.

Auch Hans Heinrichs gestrige stürmische Erregung hatte sich gelegt und zitterte nur noch ganz heimlich in ihm nach. Er hielt sich ziemlich still zurück von der lebhaften Unterhaltung der Gesellschaft. Er und Ebba, sie waren beide nicht so angeregt und frisch wie sonst, sie hatten beide etwas in sich zu verarbeiten, litten beide am gestrigen Tage. Unwillkürlich hatten sie sich zusammengefunden und schützten sich gegenseitig mit übereinstimmendem Schweigen und gelegentlichen gleichgültigen Bemerkungen, denen sie eine trügerische, interessierte Lebendigkeit gaben.

Mister Macleton unterhielt sich sehr angeregt, er schien Ebbas verändertes Wesen, ihre Schweigsamkeit und den Mangel ihrer sonstigen kecken Streitlust gar nicht zu vermissen, aber innerlich war er unruhig und ärgerlich und fühlte sich so durchaus unbehaglich, daß er am liebsten gleich abgereist wäre. Denn was sollte er eigentlich in diesem Nest, wenn die einzige Anregung, die es bis jetzt geboten, auf einmal launenhaft versagte?

»Haben Sie auch heute schon fleißig Umschau gehalten nach den dunkeln Augen der Gesuchten?« fragte neben ihm lächelnd Karin. »Es ist heute bei dem herrlichen Wetter so richtig eine Gelegenheit dazu. Heute zeigt sich auf der Promenade, was sich in den schlechten Tagen vorher in den Hotelräumen verkroch. Vielleicht ist Ihre mystische Schönheit erst kürzlich eingetroffen und taucht erst jetzt aus dem Dunkel auf.« – »Das könnte stimmen«, fuhr Macleton angeregt auf. »Das wäre eine Lösung.« Er schielte nach Ebba, die sich eben mit heißen Wangen zu Sesenburg hinüberbeugte.

»Der Kuckuck soll sie holen!« vollendete er grimmig seine Antwort auf Karins lachende Neckerei, dachte dabei aber weniger an die holde Unbekannte, als an die unholde Bekannte. »Wie unhöflich!« entrüstete sich Karin belustigt. »Das wird sich alles ändern, wenn Sie erst einmal in die dunkeln, geheimnisvollen Augen geblickt haben.« – »Ja, das könnte schon sein«, änderte Macleton plötzlich seine vorherige Abwehr. »Dem Zauber dieser Augen wird in Wirklichkeit wohl noch schwerer zu widerstehen sein, als ihren gemalten Ebenbildern. Vielleicht hängt mein Glück doch an dieser mystischen Dame.«

Mit Genugtuung fing Macleton den hastigen, unbeherrschten Blick Ebbas auf, in dem Angst und Zorn sich so köstlich mischten, daß er auf einmal eine große Erfrischung all seiner Lebensgeister spürte und es ihm warm und froh durch die Glieder floß. Übermütig und glücklich fühlte er sich auf einmal, und in dieser Stimmung sagte er lustig: »Ich bitte, daß sämtliche Anwesende aus allgemeiner Freundschaft für mich jetzt ein bißchen nach dunkeln, geheimnisvoll schönen Augen ausschauen. Beim Zeus,« unterbrach er sich und sprang auf, »das ist ja – nein, nicht Maja, die Unsichtbare, sondern ein lieber Bekannter von mir! Dem muß ich nach. Entschuldigen die Herrschaften, er geht mir sonst verloren!«

Mit hastigen Schritten stürzte er sich in die Menge der Vorübergehenden, hatte aber vorher doch noch schnell und mit erneuter Freude erfaßt, wie Ebbas Blick der Richtung des seinen gefolgt war, und wie ihr Gesicht dabei Schreck und Spannung zeigte. Recht so, sie sollte sich nur etwas quälen, die kleine, eigensinnige Hexe, sie hatte ihn auch genug gequält!

Aber Ebbas Blicke und Gedanken galten nicht mehr ihm; so viel sie sich auch bis jetzt mit seiner Person und seinen Interessen beschäftigt haben mochte, im Augenblick war das alles vergessen. Sie hatte auf der Promenade Tibor Revoscsény erkannt. Er war es, unverkennbar! So stolz trug kein anderer die hohe Gestalt, und solch schönes Gesicht fand man unter Tausenden nicht wieder.

Unwillkürlich wandte sie sich jetzt hastig nach Karin; Tibors Name schwebte schon auf ihren Lippen, um sie aufmerksam zu machen, aber er erstarb darauf. Karin hatte ihn schon gesehen. Um Himmels willen, wie sah Karin aus! Nur gut, daß niemand auf sie achtete, daß aller Augen dem Davoneilenden folgten. Leichenblaß saß sie da, bleich bis in die Lippen, und in den Augen einen Blick, so voll Leidenschaft, so voll Schmerz, Angst und Schrecken, daß die goldenen Augen fast schwarz schimmerten. Karin, die Kühle, Beherrschte, so ganz aus allen Fugen gehoben, daß ihr Empfinden dalag wie ein offenes Blatt.

Vor wenigen Wochen noch hatte Ebba mit dem gespannten Interesse des Jägers, der ein scheues Wild belauert, durch List die verschlossene Tür zu Karins geheimstem Empfinden gesprengt und mit einem Gemisch von spöttischem Staunen und Neugierde einen Blick durch die unverwahrte getan; heute empfand sie nur Schreck und heißes Mitgefühl, nur das Bestreben, die wehrlos Überraschte zu schützen, ihr zu helfen, daß sie sich zurechtfand, ehe ein anderer Blick sie traf.

»Da, sieh nur, Mama, wie er sich durchwindet zwischen Sonnenschirmen und Hüten«, lachte sie gezwungen unbefangen. »Ich wette, er ist doch auf der Suche nach seiner Unbekannten; er hat es nur nicht gestehen wollen. Passen Sie auf, Baron – ah!« Ihre Rede stockte, – da war er neben Tibor angelangt, da legte er dem die Hand auf die Schulter – Tibor – sein Freund! »Nicht möglich!« fiel es unwillkürlich von Ebbas Lippen, »das ist ja –«

Frau von Lebanoff hatte die Lorgnette an die Augen gehoben. »Ist das nicht der junge Maler? Wie hieß er doch, Karin, der dich damals gemalt hat, der Ungar?« Ebba wagte nicht, nach Karin zu sehen; sie zitterte innerlich vor Angst und Mitgefühl. Aber da klang Karins Stimme schon ganz ruhig und gleichgültig herüber, nur ein feines, geschärftes Ohr, wie das Ebbas, hörte, daß sie klangloser und schwerer als sonst war. »Der Ungar? Revoscény? Ich meine, so hieß er. Ja, es scheint, als wenn er es ist. Aber vielleicht täuscht auch nur eine Ähnlichkeit. Man behält nicht jedes Gesicht so fest im Gedächtnis, daß man es gleich wiedererkennt.«

Sie bog ihren Sonnenschirm etwas tiefer, um ihre Augen mehr vor dem blendenden Sonnenlicht zu schützen. Er sollte nicht denken, daß sie vor ihm fliehe. Es war auch schon zu spät dazu, und einmal mußte es unter diesen Verhältnissen doch sein. »Aufrecht, aufrecht!« ermahnte sie sich. »Es muß durchgekämpft werden und es ist gut so; dann werde ich endlich Ruhe bekommen und einsehen, daß es nur eine Einbildung ist, die man überwinden kann.«

Aber sie glaubte selbst nicht an das, was sie sich vorhielt. Sie wußte wohl, was in zwei Jahren nicht gelungen war, das würde sie auch jetzt nicht erkämpfen, jetzt vor dem Blick auf dieses nie vergessene, qualvoll ihr Empfinden beherrschende, schöne, dunkle Männergesicht. Da stand er am Tisch, da flog sein flammender, leuchtender Blick zu ihr herüber, blitzartig schnell, nur wie der Schatten eines Grußes, eines leidenschaftlichen Aufjubelns, während er sich vor den Anwesenden mit leichter Eleganz verbeugte, und dann auf Frau von Lebanoff zutrat, um sich ihr als Bekannter ins Gedächtnis zurückzurufen und ihr die Hand zu küssen.

Sie begrüßte ihn mit vollkommener Unbefangenheit und Liebenswürdigkeit, in die sich eine gewisse Herablassung nur so zart mischte, daß ein Unbeteiligter sie kaum erkennen konnte. Ebba freilich erkannte sie, und sie wollte darauf wetten, daß Tibor sie auch erkannte. Mama verstand das wie selten jemand, nicht verletzend, nein, dazu war Mama viel zu geschickt, aber gleich den gewünschten Standpunkt feststellend, – nur keine Vertraulichkeit! Daß seine Eltern arme ungarische Bauern waren, spielte bei einer vernünftigen Anschauung doch gar keine Rolle! Mama war wirklich, trotz all ihrer Klugheit, doch ein bißchen rückständig. Ebba dachte viel moderner und großgeistiger; sie würde ohne alle Bedenken einen Bürgerlichen heiraten.

Bei dem Gedanken schoß ein warmes Rot in Ebbas Gesicht, sie sah erschreckt nach Mister Macleton hin; hoffentlich konnte er nicht ihre Gedanken lesen. Er hatte die Stirn gerunzelt, denn Ebbas gespanntes Interesse an dem neuen Ankömmling war ihm nicht entgangen, und jetzt das aufflackernde Rot, und wie sie sich ihm zur Begrüßung zuwandte! Gar nicht abwarten konnte sie es; sie, die Jüngste, drängte sich vor die Ältere, um ihm die Hand hinzustrecken, ihn anzulächeln und anzublicken und von der schönen Zeit vor zwei Jahren zu sprechen.

Bravo! Der gute Tibor schien sich wenig daraus zu machen, fast könnte man sagen, wenn das bei seiner eleganten, höflichen Art möglich wäre, er ließ sie abfallen und wandte sich über sie fort der schönen Schwester zu. Nun wurde sie noch röter und sah ganz bestürzt aus. Geschah ihr schon recht! Wenn solch kleine Mädchen sich unpassend benehmen, müssen sie rücksichtslos erzogen werden; darin konnte man gar nicht grundsätzlich genug sein. Trotzdem er eigentlich diesen Tibor nicht recht begriff, denn vor solch einem herzlichen Empfang mußte einem gleich das Herz aufgehen. Immer war alles an ihr Wärme und Frische und Ehrlichkeit! Sie war das ehrlichste, liebste, kleine Ding, das er je kennen gelernt hatte! Bloß ein bißchen launisch, und das auch erst seit gestern. Lange hielt er das übrigens nicht mehr aus. Ihm fehlte der Inhalt seiner Tage; ohne die kleinen Neckereien mit ihr war das Leben gänzlich reizlos.

Drüben auf der anderen Seite hatte Tibor sich mittlerweile tief vor Karin verneigt und mit einem leisen Zittern der dunkeln, klangvollen Stimme gefragt: »Entsinnen sich gnädiges Fräulein noch meiner?« Sie lächelte mit kühler Freundlichkeit, wie sie jedem zugelächelt hätte, der ihr gegenüber eine alte Bekanntschaft erneuerte; kein Zug ihres immer noch etwas blassen Gesichts verriet die leiseste Erregung, nur ihre feinen Nasenflügel bebten leicht, und ihre Finger umfaßten den Stiel ihres Sonnenschirms mit hartem Druck, während die andere Hand sich heimlich in die Falten ihres Seidenmantels krallte, um sie ihm nicht entgegenzustrecken und sie in seine in stummer Bitte halbgehobene zu legen. »Aber selbstverständlich. So lange Zeit ist doch nicht vergangen, daß man jemand vergessen sollte, dem man wochenlang zum Malen gesessen hat.«

Beinahe scherzend fiel es von ihren Lippen, so meisterhaft unbefangen, daß selbst Ebba hätte irre werden können, wenn sie nicht vorher die Wirkung des Wiedersehens beobachtet hätte. Es war doch Karin, die Starke, Unbewegte, die sich wieder ganz in der Gewalt hatte. »Ja«, sagte Tibor und beugte sich ein wenig vor, nur ein wenig, aber genug, um ihr in die vom Sonnenschirm halb verdeckten goldenen Augen sehen zu können. Es war nicht möglich, seinem Blick auszuweichen, sie mußte ihm stillhalten. »Ja, das ist wahr, solch wochenlanges, tägliches Zusammensein gräbt sich in das Gedächtnis.«

Nur Ebba ahnte, welch große Überwindung und welch einen Aufwand von geistiger Kraft es Karin kostete, diese Nachmittagsstunde in lächelnder Unbefangenheit durchzukämpfen, und sie tat ihr Möglichstes, um der Schwester das Schwere zu erleichtern. All ihre eigenen Empfindungen, mit denen sie seit gestern nachmittag mehr zu tun hatte, als es ihr früher jemals möglich erschienen wäre, ganz beiseite schiebend, wußte sie geschickt das Gespräch an sich zu ziehen und Tibor äußerlich mit ihrer lebensprühenden, fröhlichen und eigenwilligen kleinen Person in Anspruch zu nehmen. Sie hatte unzählige gemeinsame Erinnerungen an jene Zeit, die sie damals, während er Karin malte, miteinander verlebten; sie wußte noch genau, was er damals erzählte, wie sie sich gestritten, was sie miteinander unternommen hatten und wie lustig sie zusammen waren. Ganz in Beschlag nahm sie ihn. Die arme Karin! Sie konnte jetzt nachempfinden, wie der zumute war, sie konnte es; seit gestern war sie kein Kind mehr.

Und gerade jetzt dachte Frau von Lebanoff mit heimlichem Ärger, daß Ebba doch noch schrecklich kindisch und unbesonnen sei. Das Auge einer Mutter sieht scharf; dieser Macleton war doch auf dem besten Wege, seine Fischblütigkeit zu verlieren und sich an Ebbas schalkhaftem Mutwillen ernsthaft zu erwärmen. Und das setzte dieses unbesonnene Kind plötzlich aufs Spiel, um einer Laune willen. Denn der Himmel wollte es verhüten, daß dahinter etwas Ernsthaftes steckte! Sie hatte schon einmal diesen schönen, leidenschaftlichen Bauernsohn gefürchtet, schon einmal Unmögliches heranschleichen sehen. Gott sei Dank, Karin hatte Charakter, hatte Hochmut und Ehrgeiz, an der war es vorübergegangen. Die wußte, was sie wollte. Aber Ebba, das leichtsinnige Kind! Sie war wie ein offenes Buch, dessen Lettern selbst ein Halbblinder entziffern konnte.

Das dachte auch Macleton, dachte es mit Kopfschütteln, mit Empörung und schließlich mit einer erbitterten Mißstimmung. Wütend war er! Nein, nicht wütend, beunruhigt! Warum eigentlich? Was ging es ihn an, wenn eins dieser flattrigen, kleinen Mädchen sein Herz verschenkte? Aber es war ganz unnütz, sich zu belügen; er tat es sonst auch nie, aber – ja, so lange hatte er es als Scherz, als angenehme Unterhaltung genommen, jetzt auf einmal wußte er es: das ging über den Scherz, das konnte ein Schmerz werden! Ganz, ohne es zu merken, hatte er sich in Ketten und Banden legen lassen, von so einem jungen, unbesonnenen, kecken Kinde! Er war so überrascht von dieser ihn plötzlich überfallenden Erkenntnis, daß er ganz still wurde und selbst die vorher empfundene bittere Mißstimmung belanglos von ihm abfiel. Er war verliebt; nein, das wäre nicht schlimm, aber er liebte! Es war ihm unmöglich, sich sein Leben künftig ohne Ebba vorzustellen.

Macleton stand in lichterlohen Flammen! Aufspringen hätte er mögen, auf sie zustürzen, sie an sich reißen! Kein Wort, keinen Blick gönnte er noch diesem Maler! Nicht zu ertragen, wenn sie sich wirklich in den schönen Menschen verliebt hätte! Ein Wunder wäre es nicht, er war ja selbst immer in den Prachtkerl vernarrt gewesen. Aber jetzt – und Ebba? Er konnte jetzt nicht hier bleiben, er tat sonst irgend etwas, das aus dem Rahmen alles Herkömmlichen fiel. Er wußte zwar nicht was, aber wenn es mal über ihn kam, dann war er ebenso unbesonnen und ungebärdig, wie dies kleine, kokette, heißgeliebte Geschöpf, dessen graublaue, köstliche Augen sich eben bei seinem jähen Aufspringen so erschreckt und fragend auf ihn richteten. Ja, erschrick nur, sieh mich nur so ängstlich an! Ich strecke meine Hand nach dir aus, und da hilft dir kein Sträuben und keine Abwehr, dann zerdrücke ich dich und all deine Mucken, aus Liebe, aus Liebe! »Ich muß mich von den Herrschaften verabschieden, ich habe noch einen wichtigen Gang zu machen«, sagte er laut, seinen plötzlichen Aufbruch entschuldigend. »Ich muß etwas ins klare bringen, was mir eben erst eingefallen ist.«

Alle waren erstaunt über diesen plötzlichen Aufbruch und sprachen durcheinander, nur Ebba war plötzlich ganz still geworden. Ihr Herz hämmerte in harten Schlägen, alle Farbe war aus ihren Wangen gewichen; es war, als wenn alles um sie bräche und versinke, Hoffen und Glück! Sie liebte ihn ja, liebte ihn ohne jede Berechnung, ohne Besinnung, nur ihn. Es war ein so großer Wandel über sie gekommen; erst die Erkenntnis ihrer Liebe, dann die heiße Scham, daß sie überhaupt jemals die Ehe als ein Geschäft, eine Spekulation hatte ansehen können. Das jungfräulich reine und vornehme Empfinden, das trotz all dessen, was man sie lehrte und was sie um sich sah, doch in ihrem tiefsten Innern lebte, hatte sich hoch und stolz aufgerichtet, und zerknirscht war sie vor ihm niedergesunken.

Frau von Lebanoff sah, während sie sich lebhaft an den Erwägungen über Macletons hastigen Aufbruch beteiligte, unruhig nach Ebba. Wie blaß das Kind war, und wie teilnahmslos es plötzlich in sich versank! Da war irgend etwas nicht in Ordnung. Man mußte sie der Beobachtung entziehen. Darum erhob sie sich mit der Aufforderung, ein wenig spazieren zu gehen.

Karin und Sesenburg gingen voran, beide schweigsam, beide so mit sich beschäftigt, daß einer nicht die Interessenlosigkeit des anderen empfand. Karin hatte nur den einen Wunsch, allein zu sein, und Hans Heinrich empfand fast ebenso. Ebba hatte so viel mit sich und ihren Gedanken zu tun, daß sie gar nicht merkte, wie Mama sie beobachtete und wie still Mama war.

Plötzlich, als die vier um die Straßenecke bogen, stockten die beiden Vorangehenden im Schritt, so daß sie jetzt fast in eine Linie mit den Nachfolgenden kamen, und daß diese nun auch sahen, was Karin und Sesenburg zurückhielt. Dicht vor ihnen kam Alex mit seinem Fräulein angefahren. Eine Begegnung war unvermeidlich, trotzdem sie anscheinend von beiden Seiten nicht erwünscht war. Karin zog die Brauen hochmütig zusammen, und Sesenburg starrte wie geistesabwesend und gelähmt auf das junge Mädchen, das sich eben noch lächelnd zu seinem Zögling herabgebeugt und aus dem großen Strauß gelber Tulpen, den er auf seinen Knien hielt, eine Blume herausgezogen hatte, wohl in der Absicht, sie als Schmuck im Gürtel zu befestigen.

Jetzt war die Hand mit der leuchtenden Blume schlaff herabgesunken; erschreckt blickten die großen, dunkeln Augen aus einem tief erblaßten Gesicht, irrten angstvoll von Karins hochmütig abweisender Miene über Hans Heinrich, vor dessen seltsam eindringlichem, grüblerischem und zwingendem Blick eine brennende Röte in die eben erst erblaßten Wangen stieg.

Sie machte eine unsichere Bewegung, wie umzukehren; dabei kippte der Wagen; nur eine Kleinigkeit, ohne irgendwelche Gefahr für das Kind, aber genug, um Alex einen kleinen Schrei zu entreißen, bei dem Frau Lebanoff zusammenfuhr und hastig zusprang. Sie hatte in Marias Blick das erschreckte Erkennen nach Hans Heinrich hinübergesehen, ihr Erblassen und Erröten und hatte zu gleicher Zeit sein unbewußt leidenschaftlich interessiertes Hinstarren erfaßt.

Bei Frau von Lebanoff stand es sofort unverrückbar fest: Hans Heinrich von Sesenburg und Maria Fourriere kannten sich, zwischen ihnen bestand eine Beziehung, eine, die sie eben verleugneten: denn Sesenburgs Hand, die, wie sie wohl bemerkt hatte, unwillkürlich nach dem Hut hatte greifen wollen, war wie gelähmt herabgesunken, während sein Blick sich, blind für alles andere, in das erblaßte Gesicht bohrte.

»Um Gottes willen, seien Sie doch vorsichtig!« fuhr sie unbeherrscht heftig, wie ihre Klugheit es sonst nie zuließ, auf das junge Mädchen los. »Halten Sie Ihre Augen auf die Pflichten gerichtet, für die Sie angestellt sind, anstatt sie herumschweifen zu lassen. Sie bringen mit Ihrer Unachtsamkeit das Kind in Lebensgefahr! Hast du dich sehr erschreckt, Alex?« Der wehrte ungeduldig ihre Hand ab. »Laß doch! Du sollst Maria nicht so anschreien. Es ist ja nichts geschehen; geht doch weiter, laßt uns in Ruhe! Maria, bitte, sei nicht böse!«

Durch deren Körper lief ein Zittern: Röte und Blässe wechselten auf ihrem Gesicht. Wie eine Magd behandelt vor ihm, der ihr Freund hatte sein wollen, entwürdigt vor ihm, und er regte sich nicht zu ihrem Schutz!

Es hatte ja Hans Heinrich gepackt mit einer Gewalt, die ihn taub und besinnungslos machte. Wie sie da plötzlich vor ihm stand in dem weißen Kleide, mit dem verwirrten Blick der wunderbaren Augen, in der Hand die gelbe Blume, da hatte er es gehabt! Nein, nicht ganz, – nur noch eine Sekunde Überlegung und Nachdenken, dann würde er es gewußt haben, wo er sie schon einmal so sah, genau so –! Und gerade in dem Augenblick kippte der Wagen, und die harte, scheltende Stimme Frau von Lebanoffs fuhr in seine Gedanken wie ein scharfes Schwert, das alles zerschnitt und verjagte, was sich eben festigen und klären wollte. Zerflattert war die Erinnerung, zurückgedrängt in die geheime Gedächtniskammer und hinter ihr die schwere Pforte der Vergessenheit wieder so fest zugefallen, daß kein Anklopfen und Rütteln sie öffnen konnte. Qualvoll war das. Da lag etwas, das in sein tiefstes Leben eingriff, die Lösung eines Rätsels: dicht, ganz dicht hatte sie vor ihm gelegen, und nun war sie wieder verweht und dahingeschwunden, und das peinigende Grübeln fiel wieder über ihn her und zermarterte ihn.

Was Frau von Lebanoff gesagt, war nur als Laut an sein Ohr gedrungen, ohne Aufnahme der Worte. Die ganze Außenwelt war ja für ihn versunken gewesen, nur der Name, mit dem Alex sie nannte, fiel in sein Bewußtsein – Maria! Mechanisch trat er einen Schritt vor und hob die Hand nach ihr – da hatte Frau von Lebanoff ihre Selbstbeherrschung und Überlegung wiedergewonnen. Mit einer schnellen, geschickten Bewegung schob sie sich zwischen ihn und das wortlose, zitternde Mädchen. »Fahren Sie weiter, Fräulein, aber nicht auf die Promenade. Das ist nichts für Alex, er braucht Ruhe. Bleiben Sie nicht zu lange aus! Sie sind überhaupt viel zu spät ausgefahren!« – »Das ist meine Schuld, Mama: Maria –« »Schon gut, fahren Sie nur weiter. Vorwärts!«

Sie gab selbst dem Wagen einen kräftigen Stoß, der unter Umständen hätte gefährlicher werden können, als das vorherige schwache Kippen, und der Maria zwang, ihm rasch nachzueilen. Sie tat es ohne Gruß, ohne Wort und Blick, nur in dem Bestreben, aus der Sehweite dieses Mannes zu kommen, vor dem sie ebenso tief gedemütigt wurde. Fort – nichts mehr sehen, nichts hören!

Dabei war die gelbe Tulpe ihrer Hand entglitten und vor seine Füße gefallen. Er bückte sich hastig, er wollte sie aufheben und sie ihr nachbringen, ihr ein Wort sagen – aber schon stand Frau Lebanoffs Fuß auf der Blume. Er trat so energisch auf die glänzenden Blätter, daß diese ganz in den feuchten Boden gedrückt wurden. »Sie wollten doch die fortgeworfene Blume nicht aufheben?« fragte sie erstaunt und ungläubig. »Alex hat ja ein ganzes Bündel davon. Mein armer, kleiner Junge! Kannten Sie ihn schon?« – »Ja«, sagte er mechanisch und zog die Stirn kraus, wie in schmerzlichem Nachdenken. »Ich traf ihn einmal, tiefer in den Anlagen, ganz flüchtig.«

»Und haben ihn gleich in der Erinnerung behalten? Das spricht für ein großartiges Gedächtnis«, lächelte sie mit leise spöttisch gefärbtem Ton und sah mit einem Gemisch von Genugtuung und Zorn, wie ihm das Blut in die Wangen stieg und er verwirrt den Blick niederschlug. »Aber Sie wußten nicht, daß er zu uns gehört? Eigentlich sonderbar, daß wir ihn nie trafen, wenn wir zusammen waren«, lenkte sie liebenswürdig ab. »Mein Sohn aus zweiter Ehe hat leider nicht den kräftigen Körper und die Gesundheit seiner Stiefgeschwister; er ist gelähmt, sehr nervös und krankhaft reizbar, er muß sehr geschont werden, und ich halte ihn deshalb auch gern von lebhaftem Menschenverkehr fern. Es regt ihn alles auf, und natürlich muß seine Wärterin doppelt sorgsam und vorsichtig sein. Leider wurde die erprobte alte Person, die ich seit Jahren bei ihm hatte, unterwegs abberufen, und ich mußte in aller Eile dieses junge Ding engagieren. Das hat nun ein so hübsches Gesichtchen und eine so gewisse Art, daß ihm alle Kellner und Hotelbedienstete nachlaufen, und da komme ich aus der Sorge um das Wohl meines Jungen nicht heraus. Denn natürlich hat Jugend keine Tugend, und sie ist gegen Huldigungen nicht unempfindlich.«

Sie lächelte dazu sehr vielsagend, sehr verständnisvoll und entschuldigend, und sah mit Befriedigung, daß sie ihren Zweck erreicht und ein vielleicht vorhandenes gefährliches Interesse des neben ihr Gehenden durch tiefe Enttäuschung niedergedrückt hatte. Er war ganz blaß geworden und preßte die Lippen hart aufeinander, während sich seine Stirn wie in unterdrückter Pein furchte. Doch Frau von Lebanoff hatte nicht mit ihrer Tochter Ebba gerechnet. »Aber, Mama, das kannst du doch nicht von Fräulein Maria sagen; die ist doch wie eine kleine Prinzessin! Weißt du, die Prinzessin auf der Erbse, wie die Zofe sie nennt. Die sieht so etwas gar nicht, und ich glaube auch nicht –«

Weiter ließ Frau von Lebanoff sie nicht kommen. »Liebling, das sind Sachen, die sich deiner Beurteilung entziehen. Frauen unseres Standes können sich in die Gefühle und Verhältnisse solcher Mädchen nicht gut versetzen. Die Kleine hat da wirklich ein sehr geschicktes Benehmen und gute Formen, sonst hätte ich sie doch auch nicht angestellt; aber selbstverständlich fühlt sie sich zu dem Kreise, in den sie durch Geburt gehört, hingezogen. In ihren Mußestunden geht sie Arm in Arm mit einem jungen Mann spazieren, und daher habe ich auch wohl Berechtigung für eine gewisse Besorgnis. Verliebte Zofen und Fräuleins sind nicht mehr einwandfrei zuverlässig. Entschuldigen Sie das Thema, Baron; ich kümmere mich sonst nicht um Dienstbotengeschichten; aber solange dem Mädchen das Wohl meines Sohnes anvertraut ist, liegt mir so etwas doch am Herzen und regt mich auf. Man ist leider von seinen Dienstboten so sehr abhängig.«

Und sie führte das Wort »Dienstboten« immer wieder an, denn es schien ihr das wirksamste Mittel gegen ein etwaiges Interesse, das entschieden vorhanden war. Oben in ihrem Zimmer brach Frau von Lebanoffs Zorn über Ebba in Worten aus. »Wenn ich etwas tue oder sage, so schickt es sich nicht, daß du mir widersprichst und Partei ergreifst für diejenige, die ich verurteile!« – »Aber, Mama, ich begreife dich überhaupt nicht –!« – »Das ist auch nicht nötig, du hast nur stillzuschweigen; überhaupt tätest du besser, diese Kunst zu üben. Wie du dich heute wieder benommen hast! Was soll dieses Getändel und Getue mit dem Maler bedeuten, den man nur duldet, weil er ein Künstler ist.«

Die Tür nach Karins Zimmer klappte, sie hatte den Salon verlassen. Ebba zuckte zusammen. »Mama, du bist wirklich rückständig! Nimm's mir nicht übel, aber anders kann ich's gar nicht nennen. Er ist ein wirklicher Künstler, und dabei spielt seine Geburt gar keine Rolle.« »Schweig! Ich bin nicht vorurteilsvoll und verschließe mich nicht modernen Anschauungen, ich sehe einen Bürgerlichen aus guter, alter Familie als uns gleichberechtigt an. Mister Macleton ist durchaus in unsere Kreise gehörig, und es ist sehr töricht von dir, ihn durch dein albernes Benehmen mit dem Ungarn so vor den Kopf zu stoßen.«

»Was geht Mister Macleton mein Verhalten zu Tibor Revoscény an?« fiel auf diesen Vorhalt hin Ebba mit heißen Wangen und blitzenden Augen ein. »Es ist mir völlig gleichgültig, was er darüber denkt, wie der ganze unausstehliche Mensch mit seinem verrückten Märchen von der unsichtbaren Indierin!«

Als sich die Mutter von ihrem Entsetzen so weit erholt hatte, um zu einer niederschmetternden Strafpredigt anzusetzen, schlug die Tür zu Ebbas Zimmer zu; die Sünderin war hinter ihr verschwunden, und man hörte den Riegel klappen. Wenn Ebba so wütend und ungebärdig war, konnte man doch nichts mit ihr ausrichten, nicht mit Strenge, nicht mit Güte, das war immer so gewesen, von Kindheit an. Man mußte sie dann austoben lassen und warten, bis sie von selber kam und liebkosend und reuig um die Zürnenden herumging.

Dieses Kind; dieses entsetzliche! Und ihre Mutter täuschte sie doch nicht. Gerade jetzt hatte die erkannt, daß ihr Sorgenkind den Amerikaner liebte! So zornig ist man nur, wenn die Eifersucht brennt und die Liebe weint und zweifelt, wenigstens wenn man Ebbas leidenschaftliches Temperament hat und sein Herz wie ein aufgeschlagenes Buch in der Hand trägt.

Bei Karin würde man kaum ein Zucken der Wimpern merken. Aber freilich, Karin hatte auch kein heißes, zorniges Herz, kannte nicht Eifersucht und nicht brennende, quälende Liebe, Karins Gott war der kalte, berechnende Verstand; um sie dürfte man nicht bange sein. Aber Edda, das arme, geliebte, schreckliche Kind! Sie war imstande, ihr Glück mit eigenen Füßen totzutreten aus reinem unbegreiflichen törichten Eigensinn und kindischem Trotz! – – –

Das »schreckliche Kind« hatte drüben in seinem Zimmer erst einmal in wildem Zorn mit den Füßen gestampft und die Fäuste geballt und war dann aufschluchzend vor dem Bett in die Knie gesunken, den Kopf tief in die Kissen drückend. Sie war so unglücklich, so schrecklich unglücklich! Die Mama hatte ja recht, natürlich hatte sie sich unglaublich albern und töricht benommen, natürlich hatte sie Macleton vor den Kopf gestoßen, aber es war doch nur Karin zuliebe geschehen! Das konnte er nun freilich nicht wissen, und überhaupt, wenn er es auch wüßte, ihn kümmerte es nicht, denn er dachte gar nicht daran, ein so unliebenswürdiges Kind, wie sie, zu lieben, ein Mädchen, dem er mit kaltem Spott vorgehalten hatte, daß es nur an Heiraten denke, an eine Sache, die ein Mann in seinen Jahren und mit seiner Weltkenntnis gar nicht mehr beachtenswert fand. Wie sie sich schämte, wie kleinlich sie sich vorkam, jetzt, da sie liebte, da sie wußte, was Liebe war, und wie unmöglich es ihr sei, einen Mann zu heiraten, den man nicht liebt, bloß um sich ein bequemes Leben zu schaffen.

Auf einmal sprang Ebba auf, riß den langen, dunkeln Wettermantel aus dem Kleiderschrank, die kleine, dunkle Reisekappe vom Haken, verwandelte sich im Nu aus einem lichten, bunten Schmetterling in eine dunkle, unscheinbare Raupe und öffnete vorsichtig ihre Zimmertür. Flink huschte sie über den Flur an Mamas und Karins Zimmer vorüber, die Treppen hinunter und am Pförtner vorbei. Sie hatte Luft haben müssen, freie Luft und wilde Bewegung, sonst erstickte sie an ihren Gedanken und Schmerzen. Unten am Strande sich austoben, laut weinen und schreien, mit den Möwen um die Wette! Das würde ihr gut tun, das brauchte sie!

O, daß der Sturm nicht tobte und der Regen nicht fiel wie gestern, dann würde der Strand einsamer sein, und sie könnte gleich anfangen, mitzutoben! Aber heute, bei dem klaren Himmel, war überall noch ein Einsamer zu finden!

Im Sturmschritt jagte sie vorwärts; sie sah nicht rechts, sie sah nicht links, sie wühlte nur in ihrem heißen, zornigen Gedanken und bemerkte dabei nicht, wie von einer der im dunkeln Gebüsch halb versteckten Bänke sich eine Männergestalt aufreckte, ihre schlanke Gestalt mit zweifelndem, überraschtem und dann erkennendem Blick erfaßte und sich rasch erhob, um ihr in einiger Entfernung vorsichtig zu folgen.

Nun wurde der Strand schon leer, keine Menschenseele mehr vor ihr! So weit war sie erst einmal gekommen, vor wenigen Tagen mit ihm. Da war der Felsenvorsprung – sie erkannte ihn wieder, hinter dem die anschlagenden Wellen auch bei stillem Wasser immer ein bißchen zornig um die sich ihnen entgegenstellenden Steinblöcke herumknurrten. Ach, sie war so unglücklich! Da lagen die Steine, da knurrten und zischten die Wellen leise auf und sonst war es still und einsam um sie.

Nun konnte sie ihren Schmerz und Zorn ganz ungestört austoben. Er überfiel sie auch wieder mit wilder Gewalt, so daß sie nur noch gerade auf einen der großen Steine klettern konnte. Dann breitete sie beide Arme aus, so daß sie in ihrem weiten, dunkeln Wettermantel wie eine große, zum Fluge bereite Fledermaus aussah, und schrie los. Keine Worte, nur Töne, wilde, unartikulierte Töne, die wie der Schlachtgesang wilder Völker klangen, oder wie Gefühlsausbrüche kleiner Kinder, von denen man, wenn man dabei nicht ihre Tränen fließen sieht, kaum unterscheiden kann, ob sie Schmerz oder eine Art von Jubel ausdrücken sollen.

Aber auf jeden Fall klangen sie schrecklich durch die Luft, und Mister Macleton, der jetzt auch um den Felsvorsprung bog und nun den vollen Anblick und die volle Wucht des Ebbaschen Schmerzensausbruches in sich aufnehmen konnte, sprang mit einem Schreckenssatz auf den Stein zu, auf dem Ebba sich eben mit ausgebreiteten Fledermausflügeln so weit vorbog, daß es aussah, als wolle sie entweder dem Meere eine besonders höfliche Verbeugung machen, oder sich in seine Fluten stürzen.

Das wäre an dieser Stelle keineswegs gefährlich gewesen; aber Macleton packte es doch mit einer so grenzenlosen Angst, daß er all seine sonstige kühle Überlegung verlor, mit dem Ton äußerster Verzweiflung und leidenschaftlicher Zärtlichkeit »Ebba!« ausrief und mit beiden Armen wild in den sich leise blähenden Wettermantel hineingriff. Ebba ließ erschreckt ihre ausgebreiteten Arme niederfallen, machte eine hastige Wendung nach rückwärts, sah in das Gesicht des Untenstehenden und sprang ohne Besinnen und Zögern mit einem wilden Satz an diesem vorbei, sich zur Flucht wendend.

Aber sie hatte nicht mit dem Wettermantel und nicht mit Mister Macleton gerechnet, der dessen Falten und mit ihnen ihre Trägerin fest in den Händen hielt und nach rückwärts zog. In seiner Aufregung merkte er gar nicht, daß er selbst das Hindernis war, unter dessen Zwang die Fliehende zurücktaumelte. Er sah nur, daß sie schwankte. Um Gottes willen, sie wurde ohnmächtig! Hastig ließ er den Mantel los, um sie zu halten, aber gerade dadurch kam Ebba, die angestrengt vorwärtszog, vollkommen aus dem Gleichgewicht, machte eine noch tiefere Verbeugung, als die vorher dem Meer gewidmete, und fiel dann auf die Knie, mit beiden Händen in den Sand greifend. So blieb sie regungslos liegen. Sie kam sich so hilflos, so unglücklich und zugleich so lächerlich vor. Es war zu furchtbar. Aber nun war auch alles gleich, nun kam es auf nichts mehr an! Aufschluchzend riß sie ihre Hände aus dem Sande und schlug sie vor das Gesicht.

Da kniete er auch schon neben ihr. »Ebba!« Nur ein leises Schluchzen und Stöhnen, unter dem der ganze Körper bebte, aber keine Antwort und auch keine Bewegung, um sich zu erheben. Sicher hatte sie sich verletzt, bei dem unüberlegten Sprung vom Stein vielleicht den Fuß gebrochen! In seiner Angst schlang er den Arm um sie und zog sie an sich. »Sprechen Sie doch, befreien Sie mich von der Angst! Können Sie nicht aufstehen?«

Sie schluchzte nur stärker und schüttelte den Kopf und machte einen schüchternen Versuch, sich aus seinem Arm zu winden, aber nur so schüchtern, daß er sich dadurch veranlaßt fühlte, sie fester an sich zu ziehen. »Haben Sie sich verletzt? Tut Ihnen etwas weh?«

Wieder wortloses Kopfschütteln, wobei die krausen, unter der Kappe lustig hervorspringenden Locken ihm so neckisch und verführerisch um die Wangen flatterten, daß er der Versuchung nicht widerstehen konnte, und sie mit leisem Kuß zärtlich streifte. Aber so leise auch die Berührung war, sie hatte sie doch gefühlt; ein Zittern lief durch ihren ganzen Körper, und wie in augenblicklicher Schwäche sank ihr Kopf ganz an seine Brust.

Darüber vergaß er die Angst um ihre möglicherweise gebrochenen Gliedmaßen, vergaß die ganze Welt, küßte noch einmal und jetzt nicht mehr leise und zage die gefährlichen, flatternden Härchen und flüsterte dazu leidenschaftlich zärtlich: »Ebba, kleines, süßes Mädchen, hast du mich lieb? Willst du mir angehören fürs ganze Leben?«

Über Ebba flutete ein ganzes Meer der Glückseligkeit hin, sie wußte nicht, ob sie ihren Ohren trauen sollte. Es überwältigte sie, sprechen konnte sie nicht, sie grub nur ihr Gesicht ganz tief in seinen Rock hinein, zitterte noch mehr und schwieg beharrlich weiter. Mit sanfter Gewalt hob er ihr Gesicht zu sich empor. »War ich zu keck? Durfte ich nicht sagen, daß ich dich liebe?«

Sie hielt die Augen geschlossen; die Tränen lagen noch auf den flaumigweichen Wangen und hingen in den langen, dunkeln Wimpern. Nun hoben sie sich langsam, und ein Strahl so heißer, leidenschaftlicher Liebe brach aus ihren leuchtenden Tiefen, daß es Mister Macleton schien, als läge kein nächtliches Dunkel über der Erde, sondern die ganze Welt wäre in Sonne und Licht getaucht. »Ebba!« Aufflammend drückte er sie jäh an sich und bedeckte ihr junges, glühendes Gesicht mit heißen Küssen, und dann ließ er sie los, und nur ihre Hände in den seinen haltend, während er ihr rief in die Augen sah, fragte er in lachender Seligkeit: »Ist das Spatzenschnäbelchen jetzt verstummt? Hat es kein einziges kleines Wort für mich?«

Sie schmiegte sich an ihn. »Den Spatzenschnabel hast du fortgeküßt, jetzt – jetzt singt Frau Nachtigall; sie singt von lauter Liebe.«

»Mein süßes, geliebtes Mädchen!« Hingerissen zog er sie wieder an sich. »Ich hab' es wohl gewußt, daß die Nachtigallseele hinter dem losen Spatzenschnäbelchen steckte. Aber –«, jetzt erst kam es ihm zum Bewußtsein, daß man sich eine unbequemere Stellung für eine Verlobung eigentlich nicht aussuchen konnte. Warum knieten sie nur noch immer beide im feuchten Seesand?

Hastig sprang er auf, streckte ihr die Hand hin und fragte neckend: »Willst du aber nicht endlich aufhören, vor mir zu knien?« Empört stieß sie seine Hand zurück. »Vor dir knien? Na warte, wenn ich nur erst wieder auf meinen Füßen stehe, sollst du den Übermut büßen!«

Und dazu machte sie heftige Anstrengungen, um sich allein auf die Füße zu stellen. Aber es gelang nicht; hilflos sank sie in sich zusammen und seufzte kläglich: »Ich kann nicht!« Schon hatte er sie mit starkem Arm aufgehoben. Sie legte die Arme um seinen Hals und sah ihn ernst an. »Charles, hast du mich wirklich lieb?« »Hm, nach diesem Kopfsprung in den Bräutigamstand sollte man es fast annehmen!« »Nein, scherze nicht; mir ist es so ernst. Ich liebe dich so sehr, so mit der ganzen Seele! Charles, ich glaube, ich bin deiner nicht wert.« »Nanu! Ebba, du wirst doch nicht plötzlich sentimental werden?« »Nein, es ist mir ernst. Ich habe keine Ruhe, bist du weißt, wie ich wirklich bin. Wenn du mich dann noch liebst –?« Sie war von ihm zurückgetreten, drückte die Hände gegen die Brust und sah ihn mit angstvollen Augen an, so daß er erschrak. »Sieh, ich bin in die Welt getreten mit dem Willen, unter allen Umständen eine gute Partie zu machen. Ja, so oberflächlich habe ich gedacht, ohne zu empfinden, daß es so sei. Man hat es mir so gesagt, als wenn das etwas Natürliches wäre. Siehst du, und seit ich dich liebe, bin ich mir bewußt geworden, daß das meiner nicht würdig ist – nein, war, denn meine Liebe, die dir gehören würde, auch wenn du der Ärmste der Menschen wärst, hat das ausgelöscht. Aber es war doch einmal so, und – und wenn du mich nun verachtest und von dir stößest –«

Sie konnte nicht weiter sprechen, die Tränen stürzten ihr aus den Augen und erstickten ihre Stimme. Angstvoll, mit gefalteten Händen, wie eine arme Sünderin, die das Urteil über Tod oder Leben erwartet, stand sie vor ihm. In seine Stirne hatte sich eine tiefe Falte gegraben, und seine eben noch glücklich lachenden Augen blickten ernst.

Dann stand er neben ihr, nahm ihre gefalteten kalten Hände zwischen die seinen und zog sie sanft an sich. Tief sah er ihr in die Augen. »Mein ehrliches, kleines Mädchen! Das halte fest: lieber wahrhaft bis zur Unklugheit, als daß du mich jemals täuschen wolltest. Fortan mußt du deinen Sinn und dein Herz rein halten von jedem Flecken. Alles, was hinter diesem Augenblick liegt, ist ausgelöscht. Es soll immer zwischen uns klar und ehrlich sein, wie es auch komme. Versprichst du mir das?« »Ich verspreche es, Charles. Ich glaube, anders könnte ich auch gar nicht, nur mußt du mich festhalten und führen, denn ich bin unsicher im Wege. Ich glaube, mein Gefühl ist von manchem, was man mich lehrte, irregeleitet worden, aber mir ist, als wäre nun alles klar, weil ich so glücklich bin, und weil ich dich so sehr, so innig liebe!«

Er lächelte leise vor sich hin, während er auf ihre Worte hörte. Immer war es der schreckliche Gedanke für ihn gewesen, einer Partienjägerin in die Hände zu fallen, immer hatte er sich vor allem, was danach aussah, besonders gehütet und sich heimlich gelobt, aus diesem Grunde nie ein armes Mädchen zu heiraten! Ironie des Schicksals! Aber er wußte wohl – und sein Lächeln wurde warm und zärtlich –, daß die arme kleine Kirchenmaus ihn liebte um seiner selbst willen, sonst hätte sie ihm nicht diese Beichte abgelegt. Er war glücklich. – – –

Frau von Lebanoff hatte inzwischen eine kleine Beruhigung erlebt. Der Himmel hatte ihr eine unerwartete und hochwillkommene Hilfe geschickt. Auf ihrem Zimmer fand sie einen Brief von Alexens vorhergehender Pflegerin, in dem diese ihr mitteilte, daß ihre Schwester vollkommen genesen sei und die Sorge für die Mutter wieder allein übernehmen könne, daß sie infolgedessen frei sei und sich erlaube, anzufragen, ob Frau Baronin sie vielleicht noch gebrauchen könne.

Das war nach den Entdeckungen des heutigen Tages doch wirklich ein Himmelswink und eine Himmelsschickung. Nun konnte diese gefährliche Person ohne Schaden beiseite geschafft werden. Es war Grund genug, wenn sie ihr sagte, daß die alte, bewährte und zuverlässige Pflegerin ihr für das Wohl des kranken Kindes geeigneter scheine; dann war es nicht einmal nötig, ihr zu verstehen zu geben, daß man sie mit einem Mann Arm in Arm gesehen habe. Sie hatte schon daran gedacht, darauf eine Kündigung zu stützen, aber besser war es so. Man tat besser, auf die Privatbeziehungen seiner Angestellten nicht einzugehen. So ließ sich alles ruhig und würdig ordnen. Sie würde ihr die Reise bezahlen und ein Vierteljahresgehalt, und dann war es gut und vornehm abgemacht. Widerspruch von Fräuleins Seite stand nicht zu befürchten, höchstens bei Alex.

Da ließ sich Maria Fourriere melden. Sehr ernst, sehr blaß und stolz aufgerichtet stand sie vor Frau Lebanoff, beinahe peinlich stolz und gleichberechtigt. »Ich möchte um meine Entlassung bitten, Frau Baronin. Nach der mir heute zuteil gewordenen Zurechtweisung ist es wohl für Sie ebenso wie für mich angenehmer, wenn unser Verhältnis gelöst wird«, sagte sie ruhig und wiederum vollkommen in der Art einer Dame der guten Gesellschaft.

Frau von Lebanoff war überrascht und nur halb angenehm überrascht. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn sie gekündigt hätte; die Art des Auftretens und der stolze, strenge Blick des jungen Mädchens waren ihr unangenehm. Wie sie es verstand, sich ins Recht zu setzen! Frau von Lebanoff neigte kühl den Kopf. »Sie kommen mir entgegen, ich hatte dasselbe Gefühl. Ich stelle nur die Bedingung, daß Sie Alex nicht eher verlassen, als bis ich Ersatz für Sie habe. Das Kind kann nicht ohne Pflegerin bleiben.« »Ich bin dazu bereit, weil ich Alex liebe; aber ich bitte, daß der Ersatz für mich so schnell wie möglich beschafft wird.« »Das liegt wohl in meinem Ermessen, denn ich habe nicht nötig, Sie früher Ihrer Pflichten zu entbinden, als es mir paßt«, war die hochmütige Entgegnung.

Aber als sie sah, wie Maria zusammenzuckte und sich zum stolzen Widerspruch aufraffte, fuhr sie hastig fort: »Es liegt mir aber selbst daran, diesen Ersatz schnell zu schaffen; ich telegraphiere noch heute an die frühere Wärterin meines Sohnes. In drei Tagen kann sie hier sein und dann sind Sie frei, den Ort zu verlassen, denn das würde ich als Bedingung stellen, damit Alex durch ein Wiedersehen mit Ihnen nicht in seelischen Zwiespalt und in Aufregung gerät.« »Das liegt sowieso in meiner Absicht.«

Damit war diese unerquickliche Angelegenheit sozusagen aus der Welt geschafft. In den paar letzten Tagen würde sich schon die Möglichkeit finden, dieses Mädchen so zu bewachen, daß sie dem Baron nicht mehr unter die Augen käme. An eine Liebelei von seiten Marias glaubte Frau von Lebanoff überhaupt nicht, sie war eine viel zu gute Menschenkennerin, um nicht zu erfassen, daß die Vornehmheit Marias auf echtem, sittlichem Grund ruhe, und daß diesem stolzen, jungen Geschöpf Koketterie und Leichtsinn vollkommen fern lägen. Die Gefahr ging mehr von Sesenburgs Seite aus und lag tiefer als eine Liebelei. Gerade deshalb war sie eine Gefahr, die aus dem Wege geräumt werden mußte. Sie wollte auch Karin einen Wink geben, wenn diese mit ihrem scharfen Blick nicht alles ebenso genau wie sie bemerkt haben sollte.

Ach, das Leben einer Mutter, die zwei arme Töchter zu verheiraten hat, ist kein leichtes! Aber schon im nächsten Augenblick änderte sich ihre Ansicht darüber. Der Himmel geriet bei ihr wieder einmal in das beste Ansehen, da er so zur rechten Zeit Einsehen gehabt und sich ihres Sorgenkindes so liebevoll angenommen hatte. Ebba führte ihr den erwünschten Schwiegersohn zu, und trotzdem die Schwiegermutter sich anstandshalber entsetzte, wie und wo Ebba es in abendlicher Stunde und, gehüllt in den häßlichsten aller Wettermäntel, zustande gebracht hatte, sich zu verloben, ganz gegen allen Anstand und gute Sitte, so überwog die Freude an der Tatsache doch alle Bedenken, besonders da der Bräutigam mit strahlendem Blick erklärte, gerade so wäre es das Richtige gewesen; und gerade so, wie Ebba sei, so unbesonnen und so frei von jeder Unnatur einer »tadellosen« Erziehung, wäre sie für ihn die Richtige, und so sollte sie bleiben.

Karin hatte nur ein schattenhaftes Lächeln für die Verlobung, aber eine ungeahnte Wärme und Weichheit, als sie die ihr stürmisch um den Hals fallende Schwester leise küßte. »Du wirst glücklich werden, Wildfang! Du hast das Glück beim ersten Fluge erhascht, genau wie du es einst selbst prophezeitest. Ich sagte es immer, um dich sollte Mama sich nicht sorgen, du hast die Natur, um glücklich zu werden.« »Ich liebe ihn aber, Karin!« »Ja, das ist eben das Glück.« Der Schatten eines Seufzers zitterte durch diese Worte. »Wille und Wunsch vereinen sich.« »Nein, Karin, daran habe ich nicht gedacht, Gott sei Dank, daran nicht mehr. Nur, daß ich ihn liebe und mit ihm gehen würde, auch wenn es in die einfachsten Verhältnisse wäre.« »Schwärmerin, das träumt man wohl, das sagt man wohl, aber die Wirklichkeit ist anders. Sei froh, daß dir solcher Widerspruch erspart blieb.«

»Ja, das bin ich,« erwiderte Ebba, »aber ich hätte ihn überwunden und wäre meinem Herzen gefolgt. Karin, man soll seinem Herzen folgen, es ist das richtigste.« Da hatte Karin sich abgewandt, die Lippen hart zusammengepreßt und im Blick eine kalte Abwehr.

Karin hatte eine schlaflose Nacht. Aber sie war nicht die einzige, die sich ruhelos auf ihrem Lager wälzte, die Hände rang und nicht fertig werden konnte mit all dem Denken und Fühlen, das sie beherrschte und marterte.

Nur wenige Zimmer weiter starrte Maria Fourriere mit Augen, die von vergossenen Tränen brannten, in die dunkle Nacht und betete mit zuckenden Lippen: »Lieber Gott, hilf mir, daß ich ihn vergesse, daß ich mit diesem Unbegreiflichen, Quälenden fertig werde, und daß ich fortkomme, bald, bald, und mich nicht mehr unter den Hochmut dieser Leute beugen und ihn nicht mehr neben diesem Mädchen sehen muß! Hilf mir, Vater, daß ich mit Ehren selbst bestehen kann, stolz und aufrecht, und daß ich ihn vergesse, ihn vergesse!«

Und daneben gingen die quälenden Gedanken um die Sorgen des Alltags. Was sollte nun wieder aus ihr werden? Wie würde sie ihr Leben fristen? Sie war so glücklich gewesen hier in der blauen Luft, unter dem weichen und dabei stärkenden Seewind, umgeben von all den kleinen Annehmlichkeiten des Lebens, an die man sich so leicht gewöhnt, und die man so schwer entbehrt, wenn man sie wieder hergeben muß!

Das waren freilich nur Nebensächlichkeiten, die niemals bestimmend auftreten konnten gegen etwas, das sie als recht und notwendig erkannte; aber sie fielen doch mit in die Wagschale, in der das Verlassen des ihr lieben, kranken Knaben schon so schwer und gewichtig lag und ihr hart auf das weiche Herz fiel. Alex würde sie entbehren, sie ihn auch. Ihre Liebe hatte sich an das hilfsbedürftige Kind gehängt, ihr Herz brauchte jemand, den es umsorgen und lieben konnte.

Ach, aber ihr Herz war nicht mehr zufrieden mit diesem zagen Liebhaben, mit diesen stillen, sanften Pflichten. Neue Gewalten waren in ihr erwacht, Wünsche und Sehnsuchten darin aufgeschossen, wie wilde, purpurne Blumen. Ein eigenwillig trotziges und verzagtes Ding war ihr Herz geworden, und sie mußte es fest in beide Hände nehmen, mit ihm fliehen und stark und hart alles totdrücken, was so quälend und verzweifelt und dabei doch so wundervoll beglückend in ihm aufgewachsen war.

Und Hans Heinrich von Sesenburg wanderte in seinem Zimmer auf und ab und rang auch mit schweren Gedanken und schweren Entschlüssen und dem sich immer wieder in all seine Überlegungen hineinschiebenden peinigenden Grübeln: Wo sah ich sie doch schon, gerade so wie heute, nur nicht mit den erschreckten Augen, sondern lächelnd und fröhlich wie damals, als ich sie zuerst traf? Ist es ein Bild aus einem früheren Leben? Aber das ist alles Einbildung! Was soll mir die Sehnsucht nach diesem Mädchen, das Arm in Arm mit irgendeinem Diener spazieren geht und mich mit stolzen Worten von sich weist? – Ich glaube es nicht, es ist alles Verleumdung, Neid und Haß. Karins Schwester glaubte es auch nicht. Karin! – Ich werde mich mit ihr verloben; es ist das beste. Dann wird es klar und ruhig in mir werden, dann komme ich los von diesem tollen Gedanken, von dieser blinden Sehnsucht, die mir wie eine Krankheit im Blute sitzt. Ich muß irgend etwas Energisches dagegen tun, entweder abreisen oder mich mit Karin verloben, damit Pflichten vor mir stehen, feste Verhältnisse, damit ich weiß, was zu mir gehört, und zu wem ich gehöre. Oder vielleicht ist es doch besser, abzureisen! Man kann so etwas vergessen, man kann viel vergessen! Wenn ich nur wüßte, woher die peinigende Erinnerung an dieses fremde Mädchen, woher dieser Einfluß kommt, den es auf mich ausübt, dieser übernatürliche, wunderbar beglückende? Wo sah ich sie nur schon?

Und keinem dieser quälenden, so oft an der Offenbarung vorüberhuschenden Gedanken gelang es, den dünnen Schleier zu zerreißen, hinter dem sich die angstvoll gesuchte Wahrheit barg. Dicht vor ihr stockten immer wieder der wandernde Fuß und die tastende, unsichere Hand.

Als der Morgen tagte, erhob sich Karin von ihrem zerwühlten Lager, das der Schlaf so energisch gemieden hatte. Es war eine so fieberhafte Unruhe in ihr, daß sie fast vor sich selbst erschrak. Sie wußte es ja anders als alle anderen, die sie für kühl und gleichmäßig beherrscht hielten; sie wußte, welche Gluten in ihr brannten, und wie strenger Zucht es bedurfte, um diese gleichmäßige Kühle und Ruhe, die sie für ihren Lebensweg als beste Maske gewählt hatte, immer aufrechtzuerhalten.

Sie war auch einmal anders gewesen; Ebbas heißblütige, leidenschaftliche Art hatte auch in ihr gelegen. Aber als damals der Zusammenbruch der Verhältnisse kam, als der von ihr fast vergötterte geliebte Vater so schamvoll endete und die Armut mit all ihren Demütigungen und Entwürdigungen von allen Seiten die Arme ausstreckte, um sie zu umklammern und zu erwürgen, da hatte sie, die als die älteste der Geschwister in alles hineinschaute und Seite an Seite mit der keine Offenbarung scheuenden Mutter alles verstehen und durchkämpfen lernte, sich vollkommen geändert. Ihr weiches Gemüt war unter den Hammerschlägen des Schicksals hart geworden, ihre jungen, heißen Augen alt und scharf und kalt, sie war im Joch gegangen, auch später noch, als die Mutter durch eine reiche Heirat die Ketten wieder brach, unter denen sie seufzte und jammerte.

Karins Ketten waren nicht zerbrochen worden, sie hatten fast noch schwerer gelastet, als äußerer Glanz sie vergoldete. Der unbändige Stolz, das Blutserbteil einer längst vermoderten Stammutter, hatte sie knirschend getragen und mit täglicher Empörung den einen, alles andere in ihr ertötenden Gedanken großgezogen, aus eigener Kraft sie zu zerbrechen, aus der Erniedrigung aufzusteigen in Freiheit, Macht und Reichtum, koste es Opfer, welche es wolle.

Der einzige Weg, der nach ihrer Erziehung und ihren Verhältnissen dafür offenstand, war eine glänzende Heirat, das einzige Ziel, der einzige Zweck, der ihr vorschwebte und für den sie sich erzog. Und vor diesen hatte sich Tibor Revoscény gestellt, mit der Gewalt und Kraft einer leidenschaftlichen Liebe. So hatte er sie, so hatte sie ihn geliebt. Den Bauernsohn, den aussichtslosen jungen Maler, eine Unmöglichkeit, eine Lächerlichkeit in ihren Augen, und dabei der einzige Mann auf der Welt, dem ihr stolzes Herz sich in besinnungsloser Liebe zuneigte.

Nein, nicht besinnungslos! Der Stolz einer Karin Klingenstur ließ keine Besinnungslosigkeit zu, er hatte diese unselige Liebe nicht brechen, nicht überwinden können; aber er war stark genug, ihr den Weg in die Außenwelt zu vertreten, sie hart und unerbittlich gegen den Zauber seiner Liebe, gegen sein Werben und Flehen zu machen. Mit Spott und eisiger Kälte hatte sie sich gewappnet gegen ihn und sich, hatte den geliebten Mann erbarmungslos, und ohne ihm die geringste Hoffnung zu lassen, von sich gestoßen und dann – gelitten, qualvoll gelitten und gerungen, zwei Jahre lang! Immer wieder hatte sie sich gesagt, daß er tot für sie sein müsse, dabei doch jeden anderen Mann an ihm gemessen und es nicht zustande gebracht, sich zu einem anderen zu zwingen, weil er daneben stand, immer er!

Und nun stand er da als Lebender, als Fordernder, – sie wußte es, stolzer, willensbewußter und stärker als einst, und der Kampf würde von neuem beginnen, der Kampf mit ihm, denn mit sich selber hatte er ja nie aufgehört, das wußte sie am besten. Aber sie würde sich treu bleiben; jetzt, gerade jetzt würde sie den Mut finden, die letzte und unübersteiglichste Schranke gegen sein Werben aufzurichten.

Nicht umsonst hatte er mit so stolzer, hoffnungsfroher Miene erzählt, daß er die goldene Staatsmedaille für sein letztes Bild erhalten, daß er sozusagen direkt auf dem Wege sei, sich einen großen Namen zu machen, und, wie er lachend sagte, – mit jenem köstlichen goldenen Lachen, das damals vielleicht zuerst ihr Herz erobert hatte, – nächstens mit Bestellungen überhäuft sein und im Golde wühlen würde.

Dieses »Wühlen im Golde« hatte die Brücke sein sollen, die Revoscény von sich zu Karin Klingenstur herüberschlug, das Vorwort für das, was er ihr in die Hoffnung hineingemalt, als festen Grund bieten wollte für eine Zukunft, die ihrer würdig sein solle. Nein, und tausendmal nein! Sie wollte nichts in die Hoffnung hineingemalt haben, sie hatte schon einmal zusammenbrechen sehen, was viel fester gegründet schien, hatte schon einmal den Fluch der Armut, den Kampf um das tägliche Brot kennengelernt – nie wieder!

Nein, sie konnte nicht! Keiner kann über seinen Schatten springen, keiner aus seiner Natur heraus; sie konnte nicht! Ungestüm riß sie die Fenster auf und atmete mit durstigen Zügen die kühl vom Meer herüberwehende Morgenluft ein. Es war noch ganz still auf den Straßen. Da klangen die Glocken der naheliegenden katholischen Kirche zu ihr herüber, voll, weich, beruhigend. Wenigstens schien es ihr so. Kirchenglocken! Gebet! Wie lange schon war ihr beides fremd geworden. Heute fiel es ihr wie etwas lange Gesuchtes ins Herz. Sie wollte in die Kirche gehen, sie wollte beten, inbrünstig, gläubig, verzweifelt wollte sie beten und um Ruhe und Kraft flehen. Dem schnell gefaßten Entschluß folgte die schnelle Tat. In wenigen Minuten war Karin auf dem Wege zur Kirche.

Der hastige Gang durch die Morgenluft hatte schon etwas von dem Beruhigenden und Stärkenden, das sie suchte; ihr wurde leichter und freier zumute. Aber im Augenblick, da sie in die dunkle, nur matt erleuchtete Kirche trat und Weihrauchduft sie umwehte, überfiel sie wieder die ganze Wucht ihres Leides, und wie unter dieser zusammenbrechend, sank auch sie vor einem sanft blickenden Madonnenbild in die Knie und faltete die Hände zum Gebet. Aber sie fand keine Worte, sie wußte plötzlich nicht, warum sie hatte beten wollen, was sie hertrieb, woher ihr gerade hier Kraft und Ruhe kommen sollte.

Plötzlich klang in ihrer Erinnerung ein kleiner, einmal gelesener Vers auf:

Da sprach zum Geier ich: »Reiß aus dem Herzen
Den Namen, der darin gegraben steht, –
Vergessen will ich lernen und verschmerzen!«
Der Geier sprach: »Es ist zu spät!«

In brennender Schrift stand er in ihrem Gedächtnis, wie hingezaubert, alles beherrschend, jeden anderen Gedanken auslöschend. »Es ist zu spät!« War das ein Gebet? Nein, nur ein Erkennen, über das ihr kein Gebet forthelfen konnte. »Es ist zu spät!« Die Worte erstarrten fast in ihrem Gehirn. Regungslos blieb sie auf ihren Knien liegen, wie lange, wußte sie selbst nicht.

Plötzlich richtete sie sich kurz und energisch auf. Sie hatte sich wiedergefunden, die Schwäche dieser Stunde fiel von ihr ab, sie war wieder Karin Klingenstur, die sich ihren Lebensweg mit festem Willen vorgezeichnet hatte, sich selber und ihren Erfahrungen und Auffassungen treu, und wenn sie daran zugrunde ging, so ging sie wie eine Klingenstur zugrunde, im Sinne ihrer Ahnen. Die waren alle nicht schwach gewesen, alle nicht, bis auf ihren Vater, der feige die Flucht ergriffen! Das war einst ihr herbster Schmerz gewesen, der Schmerz, der sie für das Leben hart machte und stählte. Sie würde nicht fliehen, sondern sich selbst überwinden und besiegen.

Als sie aus der Kirche trat, stand wie hingezaubert Tibor Revoscény vor ihr. Im ersten Schreck taumelte sie zurück; aber schon in der nächsten Sekunde strafften sich ihr Körper und ihre Seele. Da war der Kampf, den sie bestehen mußte; er kam schneller, als sie gedacht hatte, aber ob heute, ob morgen, er mußte durchgefochten werden. Sie war gewappnet und gestählt, vielleicht jetzt besser als später. »Ich habe Sie erwartet«, sagte er, und seine Blicke brannten in die ihren, die kühl und streng sich auf ihn richteten. »Ich sah Sie in der Kirche, und ich dankte der Madonna, die Sie mir so unbeobachtet und frei in den Weg führte. Sie wissen, daß ich Sie sprechen mußte, wissen, was ich Ihnen zu sagen habe.« – »Ich weiß gar nichts, Herr Revoscény, als daß zwischen uns schon vor zwei Jahren alles gesagt wurde, was wir uns zu sagen haben.«

Ganz fest und kalt fielen die Worte von Karins Lippen, und ihr war auch, als wenn sie aus einem festen, kalten Herzen kämen, aus einem, das erstarkt war in bewußtem Willen und eisiger Kälte. »Ja, ich weiß noch alles, was Sie damals sagten, und ich habe seitdem vollkommen erkannt, daß es richtig war, was Sie meiner unbesonnenen Werbung damals entgegensetzten, sehr hart, sehr unbarmherzig, aber richtig. Sie konnten nicht anders, Karin; es war eine Vermessenheit, die nur meine unsinnige Liebe entschuldigen kann, Ihre goldene, herrliche Schönheit in die Kleinheit meiner damaligen Verhältnisse ziehen zu wollen. Aber ich liebte Sie, Karin, und Sie liebten mich –«

»Still, kein Wort mehr davon! Haben Sie noch immer nicht einsehen gelernt, daß ein Mädchen, das liebt, nicht so handelt, wie ich es damals tat?« fragte sie atemlos und herrisch. Er lächelte. »Nein, Karin, verleugnen Sie nicht sich selbst; damals haben Sie mich geliebt.« – »So rühren Sie nicht an Vergessenem!« – »Es ist nicht vergessen, Karin, Sie lieben mich noch!« – »Ich verbiete Ihnen, mich so vertraulich anzureden, Herr Revoscény; und ich verbiete Ihnen, Behauptungen aufzustellen, die jeder Grundlage entbehren. Ich denke, wir enden dieses unerquickliche und nutzlose Gespräch.«

Mit kurzem Kopfneigen wollte sie an ihm vorüberschreiten, aber er blieb an ihrer Seite; die mühsam aufrechterhaltene Ruhe fiel von ihm ab. »Sie entgehen mir nicht, Karin; es ist alles anders geworden, ich habe gearbeitet und gerungen in diesen zwei Jahren, immer mit dem Gedanken an Sie, immer nur für Sie, um Sie zu erringen, um Ihrer würdig zu werden, denn meine Liebe ist so grenzenlos! Nein, lassen Sie mich ausreden, Königin, stolze, grausame, geliebte, zu deren Füßen meine Seele kniet, die in ihren Händen Leben und Tod für mich trägt. Es muß Klarheit zwischen uns werden!« Ihre abwehrend gehobene Hand hielt er mit leidenschaftlichem Druck in der seinen, die Augen flammten und blitzten, und seine Worte fielen wie heiße Tropfen in ihr Herz. Sie atmete schwer, aber sie war ganz bleich und kühl. »Lassen Sie meine Hand los, und dann sprechen Sie, damit es zu Ende kommt.«

Augenblicklich ließ er ihre Hand fallen, und auch er atmete schwer. »Verzeihen Sie, wenn meine Aufregung mich fortriß! Karin, ich bin ja nicht mehr Herr meiner Gedanken und Taten, seit ich Sie wiedersah! Es ist ja wieder in mir aufgebrannt mit einer Macht und Stärke, aus der ich entweder als der Phönix des Glücks emporsteige, oder in ihr untergehen muß. Hören Sie mich an, Sie müssen mich anhören! Ich habe damals, als Sie mich so grausam von sich stießen, trotzdem Sie mich liebten – ich habe alles versucht, um Sie zu vergessen, alles, das Gute und das Schlechte, und ich wäre in letzterem versunken, wenn meine Liebe nicht so gewaltig, so alles beherrschend, so leben- und todbezwingend gewesen wäre! Der Gedanke, Sie trotz aller Schwierigkeiten, trotz ihres eigenen Widerstandes, doch zu meinem eigen zu machen, hat mich emporgerissen aus der Tiefe, hat meine Kräfte gestählt, mein Talent beflügelt und mir den Weg gebahnt und die Stelle geschaffen, von der aus ich die Hand selbst nach Ihrer goldenen, königlichen Schönheit ausstrecken darf. Noch bin ich nicht ganz auf der Höhe, aber ich werde sie erreichen! Die Sterne vom Himmel würde ich holen, Karin, um dich zu erringen, um sie dir als Diadem in das goldene Haar zu flechten! Geliebte, einzig Geliebte, nur eine kleine Hoffnung!«

Wie Flammen schlugen seine Worte zu ihr empor, und seine Augen glühten im dunkeln Purpurschein. Aber in ihr war alles erstarrt; wie tot ruhte ihr Herz in der Brust, erdrückt von der Gewalt ihres eisernen Willens. »Nein, ich kann Ihnen keine Hoffnung geben, denn ich liebe Sie nicht.« Automatenhaft fiel es von ihren Lippen.

Er sah sie lächelnd an, ganz unbeirrt und unerschreckt. »Es ist nicht wahr, das können Sie nicht. Karin, können Sie es beschwören?« – »Ich verweigere jede fernere Antwort, Herr Revoscény, und erinnere Sie nur daran, daß ich Herrin meines Willens bin, und daß ich wünsche, meinen Weg jetzt allein fortzusetzen.« – »Wie Sie befehlen. Ich kann Ihren Willen nicht zwingen; aber ich rechne auf Ihr eigenes Herz, das ihn zwingen wird. Ich bin zu diesem Zweck hergekommen, und ich werde Gelegenheit haben, öfters mit Ihnen zusammen zu sein. Ich werde um Sie dienen und werben. Meine Liebe ist riesenstark! Solange Sie keinem anderen angehören, gebe ich die Hoffnung nicht auf, daß meine Liebe den Sieg über Ihr Vorurteil davontragen wird. Leben Sie wohl, Fräulein von Klingenstur. Karin, einzig Geliebte!«

Er hatte einen heißen Kuß auf ihre hastig ergriffene Hand gedrückt, einen Kuß, unter dem sie, trotz aller Selbstbeherrschung, erbebte und errötete, und da lächelte er, zärtlich, stolz und ernst, ließ ihre Hand sinken und verbeugte sich wortlos, ihr den Weg freigebend.

Wie gehetzt eilte sie ihrer Wohnung zu. In ihren Ohren klangen nur immer die Worte: »Solange Sie keinem anderen angehören!« Gut, er hatte selbst den Zeitpunkt angegeben, ihr selbst das Mittel gezeigt, an das sich ihre Gedanken auch schon als letzte Rettung vor dieser unseligen Liebe geklammert hatten. Sie mußte und würde einem anderen angehören, es war der einzige Schutz, der ihr vor sich selbst blieb.

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