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Herr Baron, draußen ist ein reitender Bote, der Sie zu sprechen wünscht.« »Wer ist draußen?« Hans Heinrich von Sesenburg richtete sich aus seinem Klubsessel, in dem er ein beschauliches, von Zigarettenduft umwalltes Nichtstun genoß, erstaunt auf und sah den an der Tür stehenden Diener verständnislos an. Über dessen glattes Gesicht zuckte ein heimliches Lachen, das aber so schnell, wie es kam, auch wieder verschwand und einem tadellos unbeweglichen Bedientenernst Platz machte, als er wiederholte: »Ein reitender Bote, Herr Baron.«

Der junge Baron war nun auf die Füße gesprungen und trat dicht vor den berichtenden Diener. »Bob, du faselst! So etwas gibt es ja gar nicht mehr in unserem Zeitalter!« Nun lächelte Bob wirklich, verlor etwas von seiner tadellosen Dienerhaltung und berichtete mit einer gewissen Vertraulichkeit: »Er kommt nämlich von unserer alten gnädigen Frau aus Sesenburg. Da kann so etwas noch vorkommen.« »Ja, wahrhaftig, da hast du recht; du als Sesenburger Junge kannst das beurteilen. Aber, Mensch, es ist doch unmöglich! Von Sesenburg bis hierher ein reitender Bote? Da muß ja Pferd und Mann kaputt sein!«

Bob lächelte wieder. »Ja, das müßt' schon, wenn die Sesenburger Jungen nicht schlaue, zeitgemäße Kerle wären! Der Herr Baron wissen, Widerspruch gibt es in Sesenburg nicht; die gnädige Frau teilt ihre Befehle dem alten Johann mit und der steht, trotz seines Alters, wie ein Drache dahinter, daß alles buchstäblich befolgt und ohne Widerrede befolgt wird. Da hat die gnädige Frau befohlen, daß ein reitender Bote abgehen soll, und da ist er abgegangen. Aber der Fritz vom Stellmacher kennt das, und daher hat er sich auf den Gaul gesetzt, ist aber nur bis zur nächsten Bahnstation geritten und hat sich und sein Pferd mit Dampf hertragen lassen. Hier hat er das Pferd wieder bestiegen, und da ist er nun buchstäblich als reitender Bote angekommen.«

»Haha!« lachte Hans Heinrich, und Bob lachte leise mit. »So ein Schwerenöter! Das ist ja ein ganz geriebener Junge, der sich zu helfen weiß! Aber dabei habe ich vor Staunen ganz vergessen, zu fragen, was denn los ist, warum er als reitender Bote kommt? Geht es mit der Ahne zu Ende?« »Nein, Herr Baron. Der Fritz sagt, sie wär' noch ganz wie immer, hätt' der Johann gesagt, aber die Botschaft hätte doch Eile.« »Und dann schickt man einen reitenden Boten? Unglaublich! Wo die Telegraphenstation in zehn Minuten zu erreichen ist! Nun ja, die Ahne! Aber los, nun soll der reitende Bote berichten.« »Er hat ein Schreiben von der alten gnädigen Frau.« »Her damit! Schnell, Bob!« »Er soll es dem Herrn Baron eigenhändig übergeben!« »Himmel, der Umstand! Also her mit dem reitenden Boten!«

Wenige Augenblicke darauf stand der schlaue Sesenburger Junge vor dem Baron, machte seinen Kratzfuß und überbrachte einen wappengesiegelten, altmodisch gefalteten Brief. Der junge Baron drohte ihm lächelnd mit dem Finger. »Sie haben Ihr Amt als reitender Bote ja ganz eigenartig aufgefaßt!« Der in Stulpstiefeln und Dienerkleidung dastehende junge Mensch errötete verlegen: »Verzeihung, Herr Baron. Ich wußt' mir nicht anders zu helfen. Der Johann sagte, es hätte Eile, und widersprechen darf man nicht.«

»Schon gut, schon gut! Gehen Sie und lassen Sie sich eine Erfrischung geben nach dem anstrengenden Ritt«, winkte Hans Heinrich lachend. »Und dann kommen Sie und holen sich die Antwort, die doch wohl notwendig sein wird, und die Sie wohl auf demselben eiligen Reitweg heimbringen sollen.« »Ja, Herr Baron. Aber ich werde mich doch hier etwas aufhalten müssen; sonst schöpft der alte Johann Verdacht, und dann geht es mir an Kopf und Kragen. Ich möcht' daher auch den Herrn Baron gebeten haben, gütigst nichts verlauten zu lassen –« »Bewahre; nein, nein. Ich stehe ja auch nicht mit dem Johann in Briefwechsel. Gehen Sie nur und sagen Sie dem Bob, daß er Sie gut verpflegt.«

Mit einer gewissen Spannung, die aber nichts von Eile und zärtlicher Beunruhigung an sich hatte, brach er das Siegel und faltete, immer kopfschüttelnd, den amtlich großen vergilbten Bogen auseinander, und dabei dachte er: »Was die alte Frau noch für eine feste Handschrift hat! Sie muß doch beinahe an die Hundert sein. Sie ist ja so ein Stück Unsterblichkeit.« Dieselben steifen, großen Schriftzüge wie auf der Adresse:

Lieber Enkelsohn!

Ich lebe noch, aber ich fühle, daß Gott endlich meine Gebete erhören und mich zum Sterben kommen lassen will. Bevor ich aber heimgehe, muß ich Dich noch einmal sprechen. Ich habe seit dem Tode Deiner Mutter Dich nicht mehr zu sehen gewünscht. In meinem Alter hat man keine Berührungspunkte mehr mit der Jugend, ich möchte meine Einsamkeit nicht von ihrem Hauch beunruhigen lassen. Aber nun strecke ich noch einmal die Hand nach Dir aus, nach dem Einzigen und Letzten unseres Stammes, dem ich Mitteilungen zu machen habe. Komm so schnell die Entfernung es erlaubt. Ich werde leben, um auf Dich zu warten.

Deine Ahne Gertrude Sophie, Freifrau von Sesenburg,
geborene Gräfin Daltern.«

In das Gesicht des Lesenden war allmählich eine leise Unruhe getreten. Nun ließ er mit nachdenklich gefalteter Stirn den Brief sinken. Wie lange war es wohl her, daß er die alte Frau nicht mehr gesehen hatte?

Im Jahre vor dem Tode seiner Mutter war er zum letztenmal auf Schloß Sesenburg bei der Urahne gewesen. Acht Jahre war es her. Er zählte damals siebzehn Jahre, die Urgroßmutter, wenn er sich recht entsann, einundneunzig, und wie immer bei den seltenen Besuchen, die er ihr machen durfte, hatte sie wie ein aus seinem Rahmen getretenes Ahnenbild auf ihn gewirkt. Es war ihm nie wohl gewesen in den hohen, dunkeln Gemächern des alten Schlosses, bei der hohen, dunkeln Gestalt der Greisin, die keine Zärtlichkeit und Teilnahme verlangte, aber auch keine erwies.

Auf allem, was sie umgab, ruhte der Hauch der Vergangenheit wie eine Art Todesstarre. Das Schloß selbst in seinem altertümlichen Bau, mit dem einen aus dem siebzehnten Jahrhundert stammenden, verwitterten Flügel, den ein runder, schwerer Turm nur mühsam aufrechtzuerhalten schien, und mit dem weiten, verwilderten Park hatte zwar stets auf seine Phantasie gewirkt und eine mit leisem Grauen gemischte Entdeckungslust in ihm geweckt, aber da er dieser nie folgen durfte und auch stets nur zu ganz kurzen Besuchen auf Sesenburg weilte, war sie immer wieder schnell erloschen, sobald er sich von Sesenburg entfernte.

Seine Mutter hatte ihn außerdem in der Interesselosigkeit gegen den alten Stammsitz seiner Familie stark beeinflußt. Sie zwang sich selbst nur mit Überwindung zu den seltenen Besuchen bei der Urahne. »Nur weil ich es deinem Vater versprochen habe, und weil sie die einzige Verwandte ist, die du hast, Hans Heinrich, und weil das alte Eulennest doch einmal in deinen Besitz kommt; sonst brächte mich keine Macht der Welt zu der alten, eisernen Frau hin. Mich fröstelt, wenn ich in den düstern, kalten Zimmern bin, und ich bekomme Beängstigungen, wenn diese scharfen, blaßblauen Augen auf mir ruhen, als wenn sie mir das Innerste aus der Seele lesen wollten. Ich komme mir dann immer vor wie ein umgekehrter Handschuh, in dem man nach Firma und Größennummer sucht.«

Bei solchen Worten hatte die schöne, elegante Frau gelacht, und ihr Sohn lachte mit und küßte die feinen, weißen Hände, die so sanft liebkosen und so anmutig mit seinem blonden Haar tändeln konnten. Nein, seine schöne, zarte Mutter hatte nie in jene dumpfen, traurigen Räume gepaßt, sie war überhaupt keine Landfrau, und das große Gut, auf dem sein Vater, solange er lebte, gewirtschaftet hatte, war auch kaum der richtige Rahmen für sie gewesen. Sie brauchte Stadtluft, Anregung, reich flutendes Leben, das sie als Tochter eines Großindustriellen von Kindheit auf gewöhnt war; nach dem Tode ihres Gatten hatte sie deshalb Groß-Riedenhausen gleich einem erprobten Pächter übergeben und war mit Hans Heinrich, dem einzigen Kind ihrer kurzen Ehe, wieder in die Großstadt gezogen. Nun ruhte sie auch schon sieben Jahre in der kühlen Erde.

Hans Heinrich seufzte. Er hatte den Tod seiner leidenschaftlich geliebten Mutter schwer verwunden und sich seitdem immer als einsamer Mensch gefühlt – ohne Vater, ohne Mutter, ohne irgendwelche näherstehende Verwandte. Alles war ausgestorben, was seinen Namen trug. Nur die alte Frau aus dem Stammsitz lebte noch, und nun ging auch sie zu sterben.

Die Frauen der Sesenburgs schienen langlebiger zu sein als die Männer. Soweit er etwas von der Familiengeschichte wußte, hatten sie alle ihre Männer überlebt, deren Stammeseigentümlichkeit es zu sein schien, jung zu sterben. Hans Heinrich hatte außer seinem Vater – und diesen auch kaum, denn er war noch nicht drei Jahre alt, als der Vater starb – nie einen Sesenburg gekannt. Dagegen lebten in seinen Kindheitserinnerungen drei Frauen der Sesenburgs: die Urahne, die Großmutter und seine Mutter – die beiden ersten in versteinertem Ernst, die letzte wie ein bunter, köstlicher Schmetterling durch das Leben gaukelnd.

Diese letzte Frau hatte den Balken in das Wappenschild der Sesenburgs gebracht, aber es dafür reich vergoldet. Von ihr stammte Groß-Riedenhausen, denn sie hatte sich energisch geweigert, in das Gespensternest, wie sie Sesenburg gern nannte, einzuziehen. Das war denn als Witwensitz der beiden noch lebenden Freifrauen von Sesenburg geblieben und, seitdem die jüngere derselben auch das Zeitliche gesegnet hatte, allmählich zum Dornröschenschloß geworden, an dessen Tor die neue Zeit mit allem, was sie brachte und nahm, sich vergebens die Finger wund geklopft hatte, bis sie es aufgab, ihren Einzug darin zu halten.

Alle Jahre einmal, zum Geburtstag der Ahne, huschte aber doch ein Stückchen dieser neuen Zeit durch die dunklen Räume: das war die junge Gnädige, die mit dem Urenkelsohn zur Beglückwünschung eintraf. Aber sie huschte auch nur, denn diese Besuche dauerten nie länger als eine halbe Stunde und waren, wenn man nach dem Augenschein urteilen wollte, für beide Teile nichts weniger als eine Lust und Freude.

Hans Heinrich lächelte unwillkürlich, wenn er an sie zurückdachte, und dann besann er sich, daß er jetzt wieder vor solch einem Besuch stehe, und zwar vor einem letzten und anscheinend anderen als damals, wo die Ahne in fast regloser Schweigsamkeit vor ihnen saß und seine arme Mutter, die sonst einen Ruf als anmutige Plauderin besaß, sich vergebens bemühte, ein Thema zu finden, das in den Gedanken der weißhaarigen, starr Aufrechtsitzenden eine Art von Widerhall fände. Jedesmal hatte die Mutter sich hinterher erschöpft in die Kissen des Wagens fallen lassen, die Hände gerungen und mit voller Überzeugung ausgerufen: »Gott sei Dank, daß diese Folterung wieder hinter uns liegt! Es ist, als wenn man eine Tote vor sich hat! Mit demselben Erfolg könnte ich eine Elefantenherde vor ihr aufziehen lassen; sie würde dafür ebensowenig Teilnahme zeigen wie für ihren Urenkelsohn. Wenn ich es nicht deinem Vater versprochen hätte! Aber der hing merkwürdigerweise sehr an der alten Frau, fast mehr als an seiner Mutter. Er nannte sie die Norne der Familie!«

Die Norne! Ja, der Ausdruck paßte. Und nun ging sie zum Sterben. Wie schrieb sie doch? »Ich werde leben, um auf dich zu warten.« Hans Heinrich wurde plötzlich von einer heißen Unruhe geweckt. Wenn sie früher starb, als er kam! Sie hatte ihm Mitteilungen zu machen – vielleicht nur die wirren Trugbilder einer sterbenden Greisin?

Nein, nein, der Brief klang klar und sicher; der Brief klang nach einem festen Willen und einer bestimmten Absicht, nach viel mehr, als er jemals aus ihrem Munde gehört hatte. Diese Mitteilungen mußten eine gewisse Wichtigkeit haben, er mußte sie hören. Auf einmal war es ihm, als hätte stets etwas Ungelöstes, Geheimnisvolles um die Familie seines Vaters geschwebt, als hätte etwas neben der Gestalt der alten, schweigsamen Frau gestanden, das sie ihm sagen wollte, ihm allein, als letztem Sproß dieser Familie, was sie nie seiner Mutter gesagt und was diese auch nie verstanden hätte, das er aber wissen mußte und verstehen würde.

Ein starker Zug der Zugehörigkeit zu der Letzten, die außer ihm seinen Namen trug, sprang plötzlich mit zwingender Macht in ihm auf. Er und sie, die beiden einzigen noch lebenden Sesenburgs! Wie hatte er das je vergessen, wie hatte er der alten Frau so lange fernbleiben können? Es war ihr eigener Wunsch und Befehl gewesen, dem er nicht ungern Folge geleistet hatte; aber nun reute ihn sein Gehorsam, der weniger aus Achtung vor dem Befehl entsprungen war als aus Unlust, sich gegen ihn aufzulehnen. Wenn sie stürbe, bevor er bei ihr war! Das durfte nicht sein. Er mußte eilen, er mußte zu ihr, das fliehende Leben halten, ihre Mitteilungen hören!

Der Ton der elektrischen Glocke klang durch das Haus und Bob flog auf ihn in das Zimmer seines jungen Herrn. Fahrpläne wurden nachgesehen, ein kleiner Koffer im Handumdrehen gepackt, hastige Anordnungen getroffen und noch war keine Stunde verflossen, seitdem der reitende Bote zu Hans Heinrich von Sesenburg eingetreten war, als dieser schon im Zuge saß und dem letzten Wiedersehen mit der Urgroßmutter entgegenfuhr. Als er bei einbrechender Nacht auf der kleinen Station eintraf, von der aus die Straße nach Sesenburg führte, erwartete ihn dort das von Bob telegraphisch bestellte Gefährt, ein Wagen von vorsintflutlicher Bauart, bespannt mit einem Paar schweren, anscheinend auch schon in bedenklichem Alter stehenden Rappen und geführt von einem alten, stramm sitzenden Kutscher. Neben dem Wagenschlag stand Johann, der fünfundsiebzigjährige Diener der alten Freifrau, ein hagerer, verwitterter Mann, dessen aufrechte Haltung aber noch getrost neben dem jüngsten bestehen konnte.

Hans Heinrich hatte das Gefühl, als wäre die Zeit nicht einen Schritt vorwärts gegangen, seitdem er zum letztenmal hier neben der alten Kutsche, den alten Pferden und den beiden alten Bedienten gestanden hatte. Alles war noch genau wie vor acht Jahren. Nur seine schöne, lachende Mutter fehlte, und aus ihm, dem Knaben, war ein Mann geworden.

Johann zog den Hut. »Willkommen, Herr Baron!« Der winkte ihm mit der Hand. »Hut aufsetzen, Johann! Haben Sie mich denn gleich erkannt?« Die alten Züge zuckten, und die Hand am Wagenschlage zitterte. »Ach Gott, Herr Baron können sich nicht verleugnen, grad wie der selige Herr Vater, grad wie der selige Herr Großvater, der echte Sesenburg. Den erkennt der alte Johann unter Tausenden, wenn auch die Augen nicht mehr erster Güte sind.«

Hans Heinrich lächelte und nickte: »Ja, ja, Johann, der echte und der letzte Sesenburg, aber hoffentlich noch nicht der einzige des Namens. Wie geht es der alten, gnädigen Frau? Sie lebt doch noch?« Johann verneigte sich. »Frau Baronin sind aufrecht und klar wie immer und haben alles selbst geordnet für die Aufnahme des jungen Herrn. Frau Baronin haben zwar nichts gesagt – sie sagen ja überhaupt nicht oft etwas, aber ich glaube doch, Frau Baronin haben sich sehr gefreut, daß der junge Herr so schnell ihrem Ruf gefolgt ist – gefreut und wohl auch ein bißchen gewundert –« »Ja, Johann, auf reitende Boten konnte ich mich nicht einlassen, das dürft ihr euch erlauben«, lachte der Baron. »Unsereins hat jetzt andere Beförderungsmittel.«

Johann lächelte auch, nachsichtig und ein bißchen verlegen. »Hm, ja, ich weiß wohl, Herr Baron, aber die gnädige Frau hatten befohlen –« »Ganz richtig. Und sie ist nicht krank, nicht bettlägerig?«

Er wunderte sich nun doch. Ihm war der Brief wie der Ruf einer Sterbenden erschienen, und nun wanderte die alte Dame frisch und aufrecht wie immer umher. Das wollte sich nicht recht zusammenreimen. Johann wiegte den weißen Kopf. »Nein, Herr Baron, die gnädige Frau ist nicht krank, aber – hm, mit Verlaub zu sagen, sie ist doch anders als sonst – unruhig. Meine Frau, die, wie der Herr Baron vielleicht noch wissen, der Gnädigen fast so lange dient wie ich, sagt, sie schlafe fast gar nicht mehr, und essen und trinken tut sie auch kaum. Es ist, mit Verlaub zu sagen, als lebe sie nur noch durch ihren starken Willen. Wenn der zusammenbricht –«

Dem alten Mann standen Tränen in den Augen, als er mit gepreßter Stimme einhielt. Der Baron sah ihn nachdenklich an. Er entsann sich jetzt, daß seine Mutter erzählt hatte, Johann, sei der Milchbruder seines Großvaters gewesen, von der Baronin ganz erzogen worden und nach dem Tode ihres Sohnes, dessen vertrauter Diener er war, bei ihr in Dienst getreten. Er hatte immer eine Ausnahmestellung eingenommen und hing wohl mit seiner Herrin enger zusammen als das, was noch von deren Familie übriggeblieben war. Voraussichtlich würde ihm das Ableben der alten Dame auch nähergehen als ihm, dem Urenkel.

Er nickte mit dem Kopf und stieg schnell in die Kutsche. »Wir wollen uns eilen, Johann. Man weiß doch nicht, wie lange der stärkste Wille das Leben erhalten kann. Vorwärts! Die alten, fetten Gäule sollen sich mal ein bißchen anstrengen und beweisen, daß sie nicht ganz umsonst gefüttert werden.« Johann lächelte wieder nachsichtig, vom Bock her klang ein gedämpftes, mißfälliges Brummen, die Peitsche knallte anstandshalber ein paarmal über die glänzenden Rücken der beiden Rappen, und dann setzte sich die Rumpelkutsche langsam in Bewegung.

Ihrem Insassen blieb vollkommen Zeit, über die Ahnfrau, deren Leben, wie Johann sagte, nur noch durch ihren starken Willen aufrechterhalten wurde, nachzudenken, denn der behagliche Trab der Gäule änderte sich nicht um eines Atemzuges Länge, und als sie endlich mit hartem Hufschlag in den gepflasterten großen Schloßhof einfuhren, war die nervöse Ungeduld Hans Heinrichs gerade auf den Siedepunkt geraten und hätte ihn im nächsten Augenblick veranlaßt, in die Nachtluft hinauszuspringen und mit eigener Kraft seine Ankunft im Schloß etwas zu beschleunigen.

Die Nacht in dem fremden, dumpfigen Zimmer, dessen massive, kostbare Einrichtung zwar den Liebhaber alter Möbel in ihm entzückte, aber durch ihre Schwere und Dunkelheit und durch den eigentümlichen Hauch bedeutsamer Vergangenheit doch bedrückend auf ihn wirkte, war unruhig und von seltsamen Träumen gequält, die alle so schemenhaft durch seinen Schlummer zogen, daß er beim Erwachen nichts anderes von ihnen festhalten konnte, als einen Druck auf seiner Stimmung.

Der Baron war zeitiger als sonst aufgestanden, und da Johann, der ihm das Frühstück brachte, die Botschaft ausrichtete, daß die Ahne ihn nicht vor elf Uhr zu sprechen wünsche, dehnten sich mehrere Stunden beschäftigungslosen Wartens vor ihm. Mißmutig trat er an das große Bogenfenster seines Schlafzimmers. Es führte in den Park hinaus, der im ersten Schmuck jungen Frühlingsgrüns zu ihm heraufgrüßte. Hinter ihm, in blauem Dunst verschwimmend, sanft geschwungene Gebirgslinien. Wie lieblich das anmutete! Eigentlich lag das alte Eulennest viel schöner als Groß-Riedenhausen; es lockte geradezu, sich in die grüne Wildnis dort unten hineinzustürzen. Er sah nach der Uhr, nahm seinen Hut und begab sich auf den Weg nach dem Park.

Die alte Treppe ächzte dumpf unter seinem Tritt. War es die richtige, oder hätte er den langen Gang weiter verfolgen und eine andere benutzen sollen? Unglaublich! Er wußte im Hause seiner Väter weniger Bescheid, als in jeder beliebigen Großstadtmietskaserne. Es fiel ihm beinahe beschämend auf die Seele, daß er so wenig, nein, eigentlich nichts von diesem Stammsitz seiner Familie kannte, auch kaum von ihren Überlieferungen. Seine Mutter war jeder Frage danach, jeder Regung zu einem Studium seiner Familiengeschichte, das doch eigentlich sehr nahe gelegen hätte, schroff entgegengetreten.

»Laß die alten Geschichten, mein Junge! Du bist ein Kind der neuen Zeit; für dich gibt es tausenderlei andere und reicher lohnende Studien als diese. Was liegt daran, wie ein alter Sesenburger lebte, gegen die Türken zog oder seine Scholle bebaute? Es waren ehrenwerte, tüchtige Leute, deine Vorfahren, das glaube ich gerne, aber bodenlos uninteressant. Laß sie in ihren Gräbern ruhen, ohne über sie nachzudenken. Komm, hier habe ich ein gutes Buch, und nachher musizieren wir und plaudern, oder wir tun dies und das, was in die Gegenwart und in unser Leben paßt.«

Wenn er jetzt daran dachte, wollte es ihm fast scheinen, als hätte sie ihn absichtlich von jedem Interesse, jeder Forschung über seine Familie fernhalten wollen. Das war ihr auch sehr leicht gemacht worden, da sie die einzige war, die selbst Interesse dafür haben und sein Interesse daran pflegen konnte, und da sie das so gar nicht tat, war das seine allmählich auch erloschen. Er war wirklich ein Kind der neuen Zeit und von seiner Mutter ganz als solches erzogen worden. Auch als sie starb und er unter Vormundschaft und Obhut eines ihrer wenigen Verwandten kam, änderte sich das nicht. Der Onkel Kommerzienrat sorgte musterhaft für die Verwaltung seines Vermögens und für jede Notwendigkeit und Bequemlichkeit seines Lebens und Studiums, aber ihm ging ebenso, wie Hans Heinrichs Mutter jeder Sinn für Familienforschung und Familiengeschichte ab – wie Hans Heinrich in diesem Augenblick halb grollend, halb lächelnd dachte, weil er selbst sich aus kleinen Verhältnissen emporgearbeitet hatte und von seinen Vorfahren nichts wußte, was seiner jetzigen Lage irgendwie zum Nutzen und zur Hebung dienen konnte.

Das war ein anderes Ding mit ihm. Seine Vorfahren gehörten den ältesten Geschlechtern des Landes an, sie zählten seit Jahrhunderten zu denen, die da herrschten, die über dem allgemeinen Volk standen. Daß er daran bis jetzt so selten gedacht hatte! Höchstens, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse es ihm bewiesen, wenn sich ihm Pforten öffneten, die anderen verschlossen blieben, wenn seiner Eitelkeit damit geschmeichelt wurde.

Unglaublich, daß ihm das erst heute aufging, hier im Angesicht des alten Sitzes, den seine Ureltern erbaut, und auf dem die Schicksale seines Geschlechts sich abgespielt hatten. Vielleicht hatte die alte Frau dort oben, die heute zu ihm sprechen wollte, es immer gefühlt, daß seine Mutter und er von anderer Art waren, vielleicht deshalb sich so kalt und ablehnend gegen sie beide verhalten. Seine Mutter war das bürgerliche Reis gewesen, das dem adligen, alten Stamm aufgepfropft wurde.

Es war wie ein Zauber, der sich um sein sonstiges Empfinden legte und ihn umspann mit einem heimlichen Wohlgefühl und Stolz, hier auf einem Grund und Boden zu wandeln, auf dem vor ihm diejenigen wandelten und wirkten, deren Blut in seinen Adern floß. Ein altes, stolzes Geschlecht, und er ein Sprosse desselben, der letzte, vielleicht einer, der nicht mehr ganz in den Rahmen der Ahnen paßte, in dem manches lebte, was ihnen fremd und widerstrebend gewesen, aber doch einer der ihren, von ihren körperlichen und geistigen Überlieferungen abhängig, und verpflichtet, ihr Wappenschild hochzuhalten.

So wogten Gedanken und Gefühle, die er sonst nicht gekannt, durch seine Seele, während er langsam über die grasbewucherten, verwachsenen Gänge des Parkes schritt und die frische, duftige Morgenluft einatmete. Das Wandern durch diese heimliche Wildnis war von einem ganz besonderen Reiz. Ein Hauch von Poesie und Romantik lag über dem alten, vom Frühling mit tausend jungen Schönheiten geschmückten Stückchen Erde; der kleine, dunkle Teich war von einem Kranz gelbblühender Wasserlilien umsäumt, über ihm steckten die lichtgrünen Kastanien ihre stolzen Kerzen auf, und der blühende Fliederbusch dort am Wege legte seine duftigen Trauben schmeichelnd um den schlanken Körper einer kopflosen Göttin, auf deren ausgestrecktem Arm ein kleiner bunter Fink sorglos und selig sein Liebesliedchen in die Welt jubelte.

Mit Entzücken nahm Hans Heinrich all diese der Großstadt so fremden Reize in sich auf, dabei immer von dem Gedanken umsponnen, daß er in einer Umgebung wandere, aus der ihn überall das vergangene Leben seines Geschlechts grüße; denn außer seinem Vater hatten alle Sesenburgs hier gehaust, und ihre Schicksale waren hier über sie hingerollt. Ob sie wirklich Schicksale gehabt, oder nur hier geboren und gestorben waren, zwischen diesem Anfangs- und Endpunkt ein schlichtes, wie seine Mutter gemeint hatte, uninteressantes Alltagsleben führend? Er wußte von nichts, aber künftig würde er die Geschichte seines Geschlechts vornehmen und studieren. Sein Sinn dafür war erwacht, seitdem er die Scholle betreten hatte, auf der seine Vorfahren lebten, liebten und wahrscheinlich auch kämpften und litten.

Ohne auf die Richtung seines Weges zu achten, war Hans Heinrich langsam vorwärts geschritten und sah plötzlich, um ein Gebüsch biegend, den schweren grauen Turm des alten, unbewohnten Flügels vor sich. Der Efeu hatte diesen Teil des Schlosses vollkommen mit starken Armen umfangen und deckte mit seinem grünen Kleide liebevoll die Risse und Sprünge der dicken Mauern, deren müden, dunklen Ernst er zwar mildern, aber nicht ganz verwischen konnte.

Ein Eulennest, hatte seine Mutter gesagt, es ab und zu auch ein Gespensternest genannt, und er verstand in diesem Augenblick, daß die schöne, lebensfrohe Frau davor zurückgeschauert war, in der Nähe dieses dunklen häßlichen Baues zu wohnen. Sie hatte auch nie erlaubt, daß er, wie sein abenteuerlicher Jugendsinn das wünschte, jemals eine Entdeckungsreise in diesen Teil des Schlosses unternahm. Aber diesmal würde er es tun, gleich nach der Unterredung mit der Ahne. Es gab wohl dort noch alte Gemächer mit alten Bildern und vergilbter Einrichtung, vielleicht geheime Türen und Treppen, Verliese und Keller, in denen einst Gefangene gehalten wurden.

Und dann lachte er leise vor sich hin, lachte sich selbst aus, daß die Jugendträume noch immer Gewalt über ihn hatten und ihm Bilder vorgaukelten, die sicher längst nicht mehr bestanden. Trotzdem, kennenlernen wollte er das alte Gemäuer auch einmal von innen, wenn aus keinem anderen Grunde, so doch, um zu überlegen, ob späterhin etwas davon erhalten bleiben, oder ob man alles abreißen und die Neuzeit auf das alte Rittertum setzen solle. Denn er wollte zurückkehren zum alten Stammsitz, später, wenn er den Staatsdienst aufgab und eine eigene Familie gründete, was freilich noch lange Zeit hatte, lange – besonders die Familie, es eilte ihm nicht damit.

In lächelnden Gedanken zog er seine Uhr. Himmel, wie die Zeit hingeflogen war bei diesem träumenden Wandern! Jetzt galt es, schnell den alten Turm zu umkreisen und sich einen Weg nach dem sogenannten neuen Schloß, das auch schon ein alter Rumpelkasten war, zu suchen. Warten durfte er die alte Frau nicht lassen, er mußte auf die Minute pünktlich sein.

Eine Viertelstunde darauf führte ihn Johann den Weg zum Zimmer der Ahne. Lautlos schritt der alte Diener voran, lautlos folgte ihm der junge Herr, und lautlos war alles um sie herum, als wäre das Leben in diesen Räumen schon erstorben. Diese grauenhafte Stille legte sich ganz schwer auf Hans Heinrichs Nerven. Er hatte das Gefühl, als ginge er zu einem Begräbnis, als müsse hinter der Türe, die Johann jetzt weit vor ihm öffnete, eine Tote sitzen und ihm mit leeren Augenhöhlen entgegenstarren.

Aber durch den hohen, mit dunklen Möbeln und Teppichen ausgestatteten Raum huschte eben ein Sonnenstrahl, und in seinem Licht schritt langsam und ungebeugt in der Haltung der großen, hageren Gestalt die Ahne auf ihn zu. Der Sonnenstrahl flimmerte über ihr schneeweißes, glattgescheiteltes Haar, über dem sie eine schwarze Spitzenbarbe trug; er lief an ihrem langfließenden, vielfaltigen schwarzen Gewande nieder und sprang dann aufleuchtend über eine weiße, knöcherne Greisenhand, die sich langsam dem Eintretenden entgegenhob.

Hans Heinrich beugte sich über diese kalte, weiße Hand und drückte seine warmen Lippen auf ihre Fläche; dabei rieselte wieder ein Frösteln durch seinen Körper, und das Gefühl, als wenn er einer Toten gegenüberstände, wollte wieder Gewalt über ihn gewinnen. Aber als er sich jetzt vom Handkusse aufrichtete und in das Gesicht der Ahne sah, versank dieses Gefühl vor dem Blick der klaren, blaßblauen Augen, die sich in die seinen senkten. Diese Augen lebten, sie beherrschten das ganze, von unzähligen Fältchen durchzogene, fleischlose Gesicht, dessen eingefallener Mund sich jetzt öffnete zum Gruß an den Urenkelsohn.

»Es ist gut, daß du gekommen bist, Hans Heinrich von Sesenburg. Ich hätte nicht sterben können, ohne noch einmal den Letzten meines Geschlechts zu sehen und zu sprechen. Es ist gut, daß du kamst.«

»Ich wäre früher gekommen, aber du selbst –«

Sie unterbrach ihn durch eine abweisende Handbewegung. »Ich weiß, und ich mache dir keinen Vorwurf. Es war nie eine rechte Verbindung zwischen uns; wir hätten keine Freude aneinander gehabt. Ich bin kein Umgang mehr für die Jugend, und die Jugend ist keiner für mich. Mit deiner Mutter habe ich mich nie verstanden, sie war nie eine Sesenburg –«

»Meine Mutter –« fiel Hans Heinrich errötend hastig ein.

Aber die Ahne ließ ihn wieder nicht weitersprechen, die knöcherne Hand wehrte wieder ab. »Ich habe an ihr nichts zu tadeln; sie war deinem Vater eine Frau, die ihn glücklich machte, und sie war dir eine gute Mutter; aber eine Sesenburg ist sie nie geworden, und sie hat dich nicht im Sinne deines Geschlechts erzogen. Aber vielleicht ist das nicht mehr für die neue Zeit passend. Ich weiß es nicht, denn ich bin noch aus der alten, der ganz alten, ich wandere neunundneunzig Jahre über diese Erde, und ich bin müde geworden. Wir wollen uns setzen, Hans Heinrich, und dann will ich als letzte Sesenburgerin zum letzten Sesenburger sprechen.«

Ihre Stimme war leise, aber merkwürdig klar und durchdringend, ebenso wie der Blick der blauen Augen, die immer fest auf Hans Heinrichs Gesicht ruhten und ihm die Worte seiner Mutter ins Gedächtnis zurückriefen: »Als wenn sie mir das Innerste aus der Seele herauslesen wollten«. Ihm war ähnlich zumute, aber dabei nicht unangenehm, sondern eigentümlich ehrfurchtsvoll, interessiert und durchaus nicht antipathisch der alten Frau gegenüber. Im Gegenteil, er begriff nicht, daß der Gedanke an sie sich jemals in ihm hatte verwischen, daß er bei ihr hatte sein können, ohne von den gleichen Gefühlen bewegt zu werden wie jetzt. Sie ragte freilich schon über das Leben hinaus. Alles an ihr stammte aus einer anderen Welt und grüßte fremd und groß aus dieser hernieder.

Aufrecht in einem alten, hochlehnigen Stuhl sitzend, die Hände im Schoß gefaltet und jetzt mit den blassen, klaren Augen wie in weite Fernen blickend, sah sie wirklich aus wie eine Norne, eine dieser Welt entrückte Seherin. Schweigend hatte der Enkel vor ihr Platz genommen und wartete, daß sie anfangen sollte zu sprechen. Er selbst fand keine Worte; ihn ergriff die Schwere der Stunde dieses voraussichtlich letzten Zusammenseins mit der Letzten seines Geschlechts, der Einzigen, die berichten konnte und wollte von denen, die vor ihm waren, und deren geistiger und körperlicher Erbe zu sein er nie so gefühlt hatte wie heute, wie vor dieser alten, schweigenden Frau.

Jetzt wandte diese ihren Blick aus den Fernen ihres Sinnens fort, wieder zu ihm hinüber. »Blut ist schwerer als Wasser, und Blut verleugnet sich nicht«, sagte sie leise und nickte mit dem weißen Kopfe. »Du bist wenigstens äußerlich ein echter Sesenburg. So sahen sie alle aus, groß, schlank, blond und schön, ein gesundes, ein blühendes Geschlecht. Vier Geschlechter sah ich mit mir wandern, drei sah ich vor mir hinsterben, alle jung, alle« – ein leises Stöhnen kam aus der alten Brust – »alle hat ihr Schicksal gefaßt. Vielleicht ist es nicht gut, daß ich mit dir davon rede. Deine Mutter hat es nicht gewollt; sie nannte mich damals, als ich es ihr sagte, eine unheilkündende Kassandra, eine, die mit ihren wissenden Worten das Schicksal heraufzwänge, und sie verbot mir, deinen jungen, frohen Sinn damit zu beschweren. Daher kam es zwischen uns zu keinem Verständnis. Sie war eben nie eine echte Sesenburg, sie wußte nichts von Überlieferungen, nichts von Familien- und Stammesschicksalen. Ich habe ihren Willen geehrt, solange sie lebte und über ihren Tod hinaus. Ich ließ dich deshalb nicht mehr zu mir kommen, trotzdem mein altes Herz und Auge oft nach dem Anblick dessen gedarbt hat, der Erbe und Erhalter meines Geschlechts sein sollte.«

Ergriffen legte Hans Heinrich seine warmen Finger auf die kalte, weiße Greisenhaut. »Hättest du mir nur den kleinsten Wink gegeben, mit tausend Freuden wäre ich gekommen. Du bist ja die einzige, die noch von Vaters Seite zu mir gehört.« Sie nickte leise mit dem Kopf. »Ja, die einzige, die letzte. Die Frauen von Sesenburg waren immer langlebiger als ihre Männer. Seit zweihundert Jahren haben sie alle ihre Eheherren überlebt. Es ist das Schicksal der Manneslinie Sesenburg, jung zu sterben.«

In diese Worte hineinklingend wieder ein leiser Wehelaut, der sich beklemmend auf die Brust des Zuhörers legte. Er hatte heute noch dasselbe gedacht, aber die eben klar ausgesprochene Bestätigung dieses Gedankens erschreckte ihn nun doch. »Ja,« sagte er mechanisch, »alle jung –« »Und keiner eines natürlichen Todes.« Schwer und langsam fielen die Worte aus dem Munde der Greisin. Hans Heinrich fuhr entsetzt empor. »Keiner eines natürlichen Todes? Auch mein Vater –?«

Blitzschnell fuhren hundert Gedanken durch seinen Kopf. Hatte er jemals erfahren, woran sein Vater gestorben war? Nein, nie! Die Mutter hatte ihm gesagt, daß er jung starb, aber ob er jemals gefragt hatte, wie und warum, dessen konnte er sich nicht entsinnen. Auf keinen Fall war ihm eine Antwort geworden, wie die Worte der alten Frau sie jetzt ahnen ließen. »Mein Vater!« wiederholte er fassungslos.

Die blauen Augen ruhten ernst und still auf ihm. »Auch dein Vater nicht. Sie, deine Mutter, wollte nicht, daß du es erführst, solange du jung und verständnislos warst. Vielleicht hätte sie später mit dir darüber gesprochen; ich weiß es nicht. Aber ich meine, daß es nun Zeit ist –« »Ja, ja, es ist Zeit, ich muß es wissen. Wie traf meinen Vater der Tod?« Aufgeregt, in fiebernder Hast stieß er die Frage hervor.

Die Finger der Ahne legten sich fest um die seinen. »Ruhe, mein Kind! Ein Mann, ein Sesenburg muß stark sein, denn das Leben legt ihm Lasten auf, die er nur tragen kann, wenn seine Seele ihr Gleichgewicht zu bewahren weiß. Dein Vater fiel im Zweikampf. Still, frage nicht, ich antworte auch ohne dem. Ja, es war um deiner Mutter willen, aber sie steht schuldlos darüber. Ein hochmütiger Narr, ein unwürdiger Standesgenosse hatte im Rausch deines Vaters Gattin eine Krämerstochter genannt, die sich mit ihrem Golde den Weg in ein stolzes, unversehrtes Adelsgeschlecht gepflastert habe. Dein Vater liebte seine Frau, liebte sie um ihrer selbst willen. Ein Sesenburg hat nie um Gold gefreit, nie mit kalter Vernunft gewählt, sonst wäre vielleicht vieles anders geworden. Er konnte solch schmachvollen Vorwurf nicht auf sich ruhen, nicht die Familienehre seiner Frau beflecken lassen. Er fiel. Sein Gegner, der deine Mutter auch geliebt hatte, schoß sich später eine Kugel durch den Kopf. Zwei Opfer für eine Idee! Aber es ist oft nur eine Idee, für die man Opfer bringt und stirbt!«

Hans Heinrich atmete schwer. Ein Vorhang war vor seinen Augen gerissen; er verstand plötzlich seine Mutter in allem, was sie bei seiner Erziehung getan, weshalb sie den Sinn für seine Familie und den Stolz auf diese so wenig geweckt hatte, so vieles in ihm in andere Bahnen lenkte, als seine Geburt sie ihm wies. »Meine arme Mutter!«

Alles, was er fühlte, lag in diesem Ausruf. Er dachte nicht seines Vaters, der für eine Idee gestorben war; die Erinnerung an den Vater lag ihm zu fern. Er dachte nur seiner Mutter, die stolz und still über Leid und Schmach hingeschritten und sich gezwungen hatte, vor ihm ihren Schmerz zu verschließen, ihm mit gewiß oft nur schwer erkämpftem Frohsinn die Jugend zu vergolden und glücklich zu gestalten. »Meine arme Mutter!« »Sie hat gelitten, wie die Frauen der Sesenburg alle litten. Es war ihr Schicksal. Wer sich einem Sesenburg verbindet, muß leiden.«

Der Letzte der Sesenburg schauerte unwillkürlich zusammen. Seine Mutter hatte recht gehabt; eine unheilkündende Kassandra war diese alte Frau, die jetzt seine Finger losließ, sich noch gerader als vorher aufsetzte und mit ihrer leisen, durchdringenden Stimme fortfuhr: »Eine Frau hat den Fluch über unser Geschlecht gesprochen, eine Frau soll ihn, der Sage nach, wieder lösen. Aber bis jetzt fand sich die Frau noch nicht. Vielleicht ist es der, die du erwählst, vorbehalten, den alten Fluch zu lösen. Aber eine schwarze muß es sein, eine schwarze, und die Sesenburger haben das immer verlacht, haben immer die blonden geliebt und gewählt und unglücklich gemacht.«

Nun mußte Hans Heinrich trotz der ihn eben noch durchzitternden Ergriffenheit doch in sich hineinlächeln. Fluch und Sage – das deckte sich in seinem Empfinden, und das eine nahm dem andern das Schrecknis. Er glaubte nicht an unheilbringende Flüche; sie gab es nur noch in Romanen, fast mehr nur noch in Sagen oder in Schicksalstragödien; und die hatten sich auch überlebt.

Die bedrückende Spannung und Erwartung in ihm wollte sich lösen; aber da fuhr die Ahne fort: »Gott segnete die Frauen von Sesenburg, ihnen blühten schöne, gesunde Knaben. Aber sie starben alle, bevor sie in die Jahre der Mannbarkeit kamen – alle bis auf einen, der aufbewahrt blieb, um den Fluch zu tragen und zu vererben. Vier schöne stolze Knaben habe ich begraben; eine Seuche raffte zwei dahin, der dritte stürzte mit dem Pferde, den vierten traf der Blitz. Ich gab sie Gott zurück, weil er sie nahm. Der letzte, dein Großvater, hob gegen Gottes Willen den dunklen Vorhang zur Ewigkeit, er erschoß sich, fünfunddreißig Jahre alt; er liebte eines anderen Frau und ging mit dieser in den Tod.«

Hans Heinrichs flüchtiges Lächeln war erstorben. Er sah den Tod hinter den Männern seiner Familie schreiten, sah die Knochenhand, die in blühendes Leben griff, fühlte den Hauch sündiger Leidenschaft über sich hinweben und erbleichte.

Und die kleine, durchdringende Stimme neben ihm sprach weiter: »Sein Vater, mein Gatte, erlebte das nicht mehr, ihn zogen acht starre kleine Kinderhände in das Totenreich. Sein Geist umdüsterte sich. Vom alten grauen Turm, in dem das Unheil begann, stürzte er sich herab. Wir fanden ihn tot, den Kopf an einem Stein zerschellt. Es ist lange her, lange, meine Tränen sind versiegt. Damals sind sie geflossen, damals lernte ich glauben, was ich verlacht halte, als ich jung und froh eine Sesenburg wurde, und was die Großmutter meines Mannes mir warnend erzählte, ehe ich das Weib des letzten ihrer drei Söhne wurde. Sie hatte auch einst gelacht und es nicht glauben wollen, auch deine Mutter nicht, als ich vom Fluch der fremden Frau sprach; alle haben wir gelacht, und später dieses Lachen mit tausend Tränen bezahlen müssen. Keine von uns blonden Frauen der Sesenburg hat eine Tochter geboren, nur Söhne waren uns beschieden, dem frühen Tode geweihte Söhne, die trauernde Witwen hinterließen.«

Hans Heinrich sprang auf, es schnürte ihm die Kehle zu, und das Wort »Fluch« schwirrte mit Fledermausflügeln grauenhaft und doch unglaubhaft durch seine Gedanken. »Fluch? Du sprichst immer von Fluch, Ahne, und wenn nicht daneben so schreckenvolles Schicksal schritte, möchte auch ich lachen, wie ihr alle gelacht habt. Es gibt keinen Fluch; er wird nur dadurch, daß man ihn als solchen nimmt und fürchtet, wirksam und unheilvoll.«

»Das sagten wir alle, bis uns der Glaube mit tausend Schmerzen ins eigene Fleisch geschnitten wurde. Aber ich will darüber nicht mit dir streiten, ich ließ dich nur rufen, um als Letzte, die von dem Schicksal unserer Familie weiß und sagen kann, zu dir zu sprechen. Es gibt keine Aufzeichnungen für die Geschichte derer von Sesenburg. Die alte Chronik, die frühere Geschlechter geführt hatten, ist in den Franzosenjahren bei einem Brande, den sieges- und weintrunkene Kosaken im alten Schloß entzündeten, in den Flammen untergegangen. Was ich weiß, ist alles mündliche Überlieferung.« »Und voraussichtlich durch diese entstellt und ins Sagenhafte gewachsen, Ahne. Frühere Geschlechter ließen ihrer abergläubischen Phantasie ziemlich wild die Zügel schießen«, unterbrach der Hörer, unwillkürlich aufatmend, die langsam fließende Rede.

Die alte Frau lächelte schattenhaft. »Ich würde dir rechtgeben, wenn nicht greifbare Beweise vorlägen für das, was geschah, und wenn nicht die Erlebnisse ihr bestätigendes Siegel daraufgedrückt hätten. Aber du hast Rechte und Pflichten deines Geschlechtes, und beide verlangen, daß du seine Geschichte kennst. Vor langen Jahren, als ich noch jung war, und ehe das Leid mich selbst traf, habe ich nach den Erzählungen jener Ahne Sesenburg, die noch selbst alles in der Chronik gelesen hat, aufgeschrieben, was du jetzt erfahren sollst. Ich gebe dir die Blätter. Es ist nichts darin zu den Begebenheiten hinzugesetzt, nur das, was Pater Domenikus berichtete, in eine zeitgemäße Form gebracht; ich war immer im Schreiben geschickt. Lies, und wenn du fertig bist, habe ich dir nur noch kurze Ergänzungen und Bestätigungen zu geben.«

Gehorsam setzte Hans Heinrich sich wieder auf seinen Stuhl, die Greisin lehnte sich in den ihren zurück, und während durch das Zimmer die Frühlingssonnenstrahlen in lustigem Spiel huschten und vor dem halb offenen Fenster die Amsel ihren kurzen, trotzigen Ruf hören ließ, entfaltete der letzte Sesenburg die vergilbten Blätter und ließ die Schicksale seines Geschlechtes an seinen Augen und seinem Herzen vorüberziehen.

»Die Sesenburger waren seßhafte, ernste Rittersleute, die sich bis ins sechzehnte Jahrhundert, soweit sich ihre Lebensläufe verfolgen lassen, durch nichts von den Gewohnheiten und Eigenschaften ihrer ebenbürtigen Zeitgenossen unterschieden. Der erste, dessen Sinn über die ererbte Scholle hinausdrängte, war Hans Heinrich von Sesenburg, geboren im Jahre 1680. Von ihm meldet die Chronik, daß sein Gemüt unruhig und wild gewesen und er schon in jungen Jahren die Heimat verlassen habe, um in fremden, unchristlichen Ländern umherzuschweifen und Abenteuer zu suchen.

Im Jahre 1721 soll er endlich heimgekehrt sein und sein Erbe, um dessen Schicksal er sich ein Jahrzehnt lang nicht gekümmert hatte, angetreten haben. In diesen zehn Jahren waren die Eltern und seine einzige Schwester einer schrecklichen Seuche erlegen, und nur der jüngere Bruder war geblieben und hatte Herrenrechte über Land und Leute ausgeübt.

Hans Heinrichs Wiederkehr weckte in ihm Schreck und zugleich ein großes Verwundern; denn der älteste Sesenburg kam nicht allein, sondern brachte ein junges Weib und einen braunen, zu diesem Weibe gehörigen fremdländischen Diener mit. Das junge Weib trug einen Schleier um das Gesicht, aus dem ein Paar nachtdunkle Augen blickten, und sein Haar fiel in schweren, dunklen Locken über den schlanken Rücken. Ihre zierliche Gestalt war in weiße, faltige Gewänder gehüllt, und sie schritt leicht wie eine Gazelle. Sie war auch scheu wie diese und verschloß sich vor allen Blicken in ihre Gemächer, die Hans Heinrich ihr und ihrem Diener im großen, grauen Turm hatte einräumen lassen.

Mit starker, gewalttätiger Hand ergriff er gleich die Herrscherzügel, und Franz Bernhard, der jüngere Bruder, sah sich mit einem Schlage aller Befugnis und Macht beraubt. Da er aber sanft und stiller Gemütsart war und von großer, strenggläubiger Christlichkeit, räumte er ohne Widerstand den bisherigen Platz und begab sich in ein naheliegendes Kloster, sich dem geistlichen Stande widmend, zu dem sein Herz und Sinn ihn schon lange gezogen hatte.

Vorher aber hielt er es für seine Pflicht, den Bruder über sein Verhältnis zu dem fremden Weibe und über dessen Glauben und Sippschaft zu befragen. Da hat der älteste Sesenburger laut gelacht und geantwortet: ›;Brüderlein, Brüderlein, das geht dich nichts an. Das Weib ist meine Sache und was es glaubt, ist seine Sache. Es ist schön wie die Nacht und sein Blut edel wie das eines Araberrosses; das genügt mir und hat auch dir zu genügen.‹

Mehr ist von ihm nicht zu erfragen gewesen, und Franz Bernhard ist mit schwerer Sorge um das Seelenheil seines Bruders und dessen Genossin davongegangen. Ob das junge fremdländische Weib durch eine kirchliche Weihe mit Hans Heinrich verbunden gewesen, hat niemand erfahren. Er hat mit ihr gelebt, wie mit einem angetrauten Gemahl, und nach Jahresfrist ist im Turmgemach des alten Schlosses ein Mägdelein geboren worden. Als Bruder Domenikus, wie Franz Bernhard als Mönch genannt wurde, das erfahren hat, ist er zum ersten Male wieder auf das Schloß gekommen und hat verlangt, das Kindlein zu sehen.

Der Vater hat die Stirne gerunzelt, aber ihn doch in das Turmgemach geführt, und da ist ihm die dunkle Mutter entgegengetreten; sie war wirklich schön wie die Nacht, und hat ihm demütig die Hand geküßt und mit ihm in seiner Sprache gesprochen, zwar in fremdländischem Ton und wunderlicher Art, aber klar und verständlich, und ihn gebeten, an ihrem Töchterlein die heilige Taufe zu vollziehen und es zu segnen. So ist es geschehen, und Bruder Domenikus ist danach oft gekommen und hat sich liebevoll der jungen Mutter angenommen. Denn Hans Heinrich schien des schönen Weibes überdrüssig geworden zu sein, hat sich wenig mehr um sie und um das Kind gekümmert, ist viel zu Festen, Jagden und Gelagen auf benachbarte Burgen geritten, und allgemach ist das Gerücht aufgetaucht, daß er auf Freiersfüßen gehe, und daß die Wittib des alten Bodenheim, eine blonde, schöne und reiche Frau, seinem Werben nicht abgeneigt und bereit sei, ihm als Ehefrau zu folgen. Denn Hans Heinrich von Sesenburg ist wohl ein gar stattlicher und schöner Mann gewesen, dem die Frauen schnell und heiß zugetan waren, und sein wildes, sittenloses Leben ist in den damaligen Zeiten ihm nicht so schlimm angerechnet worden, sondern hat, wie es im Sinne mancher Frau liegt, ihm in den blauen Augen der stolzen Frau Berta vielleicht noch einen besonderen Reiz gegeben und sie angespornt, dem wilden Falken die unruhigen Flügel zu stutzen und ihn fest in die Hand zu nehmen. Als Bruder Domenikus die böse Mär gehört hat, ist ein großer Schreck und ein noch größerer Zorn in ihn gefahren, und er ist hin zur Burg geeilt und hat Rechenschaft und Wahrheit gefordert von deren Herrn. Der hat auch nicht lange gezaudert, sondern glatt zugestanden, daß alles wahr sei, daß sein Herz und Sinn an der schönen, blonden Bodenheimerin hänge, und daß sie sein Weib sein wolle, sobald Nuramaja – so hat die schwarze Frau geheißen – aus dem Hause geräumt wäre. Bruder Domenikus hat aufgeschrien und ihn gemahnt, daß er sein Weib und Kind nicht verstoßen könne; aber Hans Heinrich hat höhnisch gelacht: ›;Was Weib? Sie ist mir nie angetraut worden. Sie ist nicht meines Glaubens und meiner Art. Mitgenommen habe ich sie, als ihr Stamm zerstreut und vernichtet war, mitgenommen als Kriegsbeute, sie und den braunen Kerl. Der kann mit ihr wieder heimziehen, denn sie findet in ihrer Heimat noch Angehörige und Sippschaft.‹

Da ist Nuramaja ins Zimmer gestürzt, totenblaß und mit verzerrten Zügen. Sie hat wohl im Nebengemach gestanden und alles gehört, und ihre Angst und ihr Schmerz sind übergeflossen in beschwörende, wilde Worte und Anklagen. Zu seinen Füßen hat sie gelegen und ihn angefleht, sie nicht von sich zu stoßen, und hat ihn gemahnt an alles, was er ihr gelobt, und womit er sie zu seinem Eigen gemacht hat.

Aber alles ist vergebens gewesen. Roh und herzlos hat Hans Heinrich ihr erklärt, daß er ihrer und ihrer dunklen Schönheit überdrüssig sei. Sein Herz und Sinn verlange nach einem blonden, rosigen Weibe seiner Art, das ihm in Ehren und Sitten einen Erben deutschen Blutes schenke, damit sein Geschlecht reich und rein weiterblühe und gedeihe. Das schwarzhaarige Mägdlein, das sie ihm geboren habe, sei ihm fremd und mißächtlich, so wie sie selbst, mit der er sich nicht sein ganzes Leben, das noch weit und verheißungsvoll vor ihm läge, verderben wolle.

Unter solchen Worten hat Nuramaja sich wild aufgebäumt, ihr schönes, sanftes Auge hat geflammt, und ihr Gesicht ist verzerrt gewesen von brennendem Haß. Sie hat die Hand gehoben, auf den Reifen gewiesen, der ihr am Ringfinger der rechten Hand glühte, seine Hand ergriffen, an der ein gleicher, mit fremden Zeichen und einem blutroten Stein verzierter Ring saß, und ihn gemahnt, zu bedenken, was er bei diesem Ring geschworen, und wie er bereit gewesen sei, sich der Macht dieses Ringes zu fügen. Ob er vergessen habe, welch gewaltiger Zauber in diesen Ringen liege, und daß er Fluch und Verderben auf sich und alle seine Nachkommen lade, wenn er einen vom andern trennen wolle? Der Sesenburger hat zu ihren Worten nur gelacht und gerufen: ›;Ich trenne mich von dir. Den Ring behalte ich. Mir graut nicht vor ihm, nur vor dir!‹

Das dunkle Weib hat dabei gestanden mit finsteren, höhnenden Augen und dumpf gesprochen: ›;Behalte ihn meinetwegen. Ein Zauber haftet an ihm, bedenke das! Du bist mir verbunden, und an mir hängt dein Glück!‹ Der Sesenburger hat getobt und gewütet und geschworen, daß er sich vor keinem Zauber fürchte und sich zu nichts zwingen lasse. Er weise sie aus seinem Hause, denn er habe ein Grauen vor ihr und könne ihr braunes Angesicht nicht mehr sehen. Dazu hat er die Hand erhoben, und sie wäre in das Gesicht Nuramajas gefallen, wenn sich nicht Pater Domenikus dazwischen geworfen und versöhnende Worte zu sprechen versucht hätte, trotzdem ihm selbst gegraut hat vor dem Ring und vor der Frau, die seinen Zauber beschwor.

Es ist aber alles umsonst gewesen. Hans Heinrich hat geflucht und gewütet, und Nuramaja hat auch kein beschwichtigendes Wort hören wollen, sondern einen furchtbaren Fluch gegen den einst Geliebten und sein ganzes Geschlecht gesprochen, einen Fluch, der am schwersten auf dessen Frauen liegen solle, denn solange die Blonden hier herrschen würden, sollten sie Trauer und Leid tragen um ihre Männer und Söhne. Keine Tochter würde ihrem Schoß erblühen, und von den Söhnen stets nur einer übrig bleiben, um den Fluch weiterzuvererben und eines frühen, unnatürlichen Todes zu sterben.

Schauerlich haben ihre Worte durch die weite Halle geklungen und sind übergegangen in fremdländische, drohende Laute, vor denen dem Pater Domenikus, wenngleich er ihren Sinn nicht verstanden hat, doch das Blut in den Adern erstarrt ist. Dann hat sie sich gewendet, und niemand hat sie lebend wiedergesehen. Denn am folgenden Tage ist der braune Diener mit dem Kinde verschwunden gewesen, und seine Herrin hat man mit einem kleinen, spitzen Dolch im Herzen im Turmgemach gefunden, unter dem Bilde, das Hans Heinrich in der ersten Zeit ihres Verweilens auf Schloß Sesenburg durch einen fremden Maler von ihr hatte anfertigen lassen. All ihr kostbarer Schmuck hat gefehlt, und auch ihr Ring ist von ihrem Finger verschwunden gewesen. Oben im Walde ist sie verscharrt worden, und Pater Domenikus berichtet, daß ihn das Mitleid getrieben, einen Rosenstrauch zu pflanzen auf die Stätte, unter der sie lag.

Der Schloßherr von Sesenburg aber hat sich um nichts gegrämt und gekümmert, sondern ist auf die Freite gegangen zur schönen, blonden Bodenheimerin, und als auf Nuramajas Grabe die ersten blutroten Rosen blühten, ist drunten im Schloß eine junge Herrin eingezogen mit goldblondem Haar und hohem, prächtigem Wuchs, ein echtes deutsches, blühendes Weib, vor dessen blauen Augen und rotem, lachendem Munde der böse Fluch, dessen grausige Worte noch drohend durch die Gemächer zitterten, machtlos zu verfliegen schien, denn sie schenkte ihrem Herrn und Gemahl drei schöne, gesunde Knaben, denen sich goldene Löckchen um die weiße Stirn ringelten, und die aus blauen, stolzen Augen in die Welt schauten.

Hans Heinrich von Sesenburg konnte ein glücklicher Mann sein; aber Pater Domenikus erzählt in seinen Aufzeichnungen, daß eine seltsame Unrast über ihm gelegen und ihn zu allerlei Veränderungen und wunderlichen Dingen getrieben habe. Er mochte nicht mehr in dem alten Hause seiner Väter leben, sondern siedelte bald nach seiner Heirat über nach Bodenheim und ließ von dort aus an die alte Sesenburg einen neuen Flügel bauen, den er nach seiner Vollendung wieder mit Weib und Kindern bezog. Um das alte Schloß, und besonders um das Turmgemach, in dem die fremde, dunkle Frau gelebt hatte und gestorben war, zog sich Grauen und unheimliche Sagen. Das Volk wollte um Mitternacht viel Klagen und Weinen darin hören und oft an seinen Fenstern die ruhelose Gestalt der Selbstmörderin vorüberhuschen sehen, und solche Gerüchte wurden noch bestärkt dadurch, daß Hans Heinrich alle Zugänge zu dem alten Teil der Burg hatte vermauern lassen. Man sah darin seine eigene Angst vor dem Spuk, der dort sein Wesen trieb, und im Volke wuchs allerlei bösartiges Raunen und tückischer Verdacht gegen den Sesenburger auf, dessen Augen unter den finster gefalteten Brauen so unruhig flackerten, und immer in der Ferne etwas zu suchen schienen.

Nur Frau Berta, des Sesenburgers blondes Weib, merkte davon nichts. Sie lebte nur in ihren drei blühenden Kindern und wußte nichts vom Fluch, den der Mund einer tödlich verletzten Vorgängerin auf ihr und ihrer Knaben Haupt geladen – bis er eines Tages grausam über sie hereinbrach. Eine bösartige Krankheit, die unten im Dorf unter den Kindern wütete, flog über die schützenden Burgmauern hinüber, faßte zwei der schönen, fröhlichen Knaben an der blonden Stirnlocke und zog sie unbarmherzig in das dunkle Grab.

Von dem Tage an hielten Tränen und Klagen nicht mehr allein im alten Turm um Mitternacht ihren Schmerzenszug; im neuen Hause jammerte eine verzweifelte Mutter, und ein von Grauen geschüttelter Vater dachte an den Ring, dessen tückischer Zauber seine erste Wirkung tat.

Und dann war der Burgherr plötzlich über Nacht verschwunden, Pater Domenikus die Bitte hinterlassend, daß er seiner Frau berichten solle, was sich einst in seinem Beisein oben im alten Schlosse zugetragen habe, und wie der Fluch ihn hinaustreibe in die Welt, hin nach Rom zum Heiligen Vater, damit dieser den furchtbaren Zauber des Ringes löse und sein Geschlecht von ihm befreie. Der Pilger ist niemals wiedergekehrt. Drei Jahre, nachdem er Heimat und Familie verlassen, hat ein fahrender Scholar der im Witwenkleide trauernden Frau Berta von Sesenburg, die nun wieder auf Bodenheim lebte, einen letzten Gruß ihres Eheherrn gebracht und den Ring Nuramajas, den er dem Sterbenden, der von Räubern überfallen und tödlich verwundet am Wiesenrain gelegen, vom Finger gezogen und gelobt hatte, ihn nach Sesenburg zu tragen.

Er berichtete, daß Hans Heinrich von Sesenburg – ein grauer, alter Mann, wie er ihn schilderte – seine Frau beschwören lasse, den Ring aufzubewahren und dem Erben, sobald dieser in das Alter des Verständnisses träte, zu überliefern mit der Weisung, daß er ihn sorgsam hüte und halte, und ihn dereinst weitergebe an seine Nachkommen mit dem gleichen Befehl. Denn an dem Ringe hänge das Schicksal des Geschlechtes, das in Not zugrunde gehen und erlöschen würde, sobald der Ring verloren ginge. Der Fluch bliebe an ihm haften; aber einst würde eine dunkelhaarige Frau ihn lösen, eine Frau, die sich in Liebe einem Sesenburger verbinden und mit ihm sein Geschlecht wieder zu reicher Blüte und Kraft bringen würde.

Also hat Hans Heinrich von Sesenburgs letzte wunderliche Botschaft gelautet, die sein Weib, Frau Berta von Sesenburg, getreulich befolgt hat, trotzdem sie nur mit Grauen ihre Hand nach dem Vermächtnis gehoben hat und viel lieber gewillt gewesen wäre, es in den Burggraben zu schleudern, wo er am tiefsten war.

Hans Heinrichs einziger Sohn, Franz Bernhard von Sesenburg, hat vom Ring und von dem, was sich an ihn knüpfte, erst erfahren, als er fünfundzwanzig Jahre zählte und ein junges, blondes Weib, Ulrike von Ganderbach, freite. Da hat ihm die Mutter erzählt, was sie wußte, und ihm den Ring übergeben. Ulrike von Ganderbach hat daneben gestanden, und beide jungen, glückssicheren Menschenkinder haben darüber hingelächelt und gemeint, daß vor ihren reinen Herzen und ihrer starken Liebe kein böser Zauber standhalten könne, daß sie nicht an ihn glaubten, und wenn er sich doch an sie heranwagen wolle, sie ihm mit christlichem Glauben und Vertrauen auf alle guten Geister siegreich entgegentreten würden.

Ulrike von Sesenburg ist eine kühne, starkgeistige Frau gewesen, die keiner Sorge und Unruhe Raum gegeben hat, besonders nicht, nachdem zweimal der Storch vom Sesenburger Dach geklappert und zwei frische, blonde Knaben in die Wiege gelegt hat. Da trugen sie ihr eines Tages den von Wilderern erschossenen Gatten ins Haus; und als sein verzweifeltes Weib den Unglücksring von der Hand des Toten nahm, hat sie zu glauben und zu fürchten begonnen. Bald darauf ertrank der eine der Knaben im alten Ziehbrunnen.

So hatte sich der Fluch zum zweiten Male erfüllt und ist seitdem getreulich mit dem Geschlecht der Sesenburg gegangen, deren Frauen alle Leid tragen mußten, denen nie eine liebende Tochter zur Seite stand und deren Männer stets als einzige ihres Stammes standen und vom Tode getroffen wurden in der Blüte ihrer Jahre.«

* * *

 


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