Freiherr von Schlicht (Wolf Graf von Baudissin)
Die Kriegsurlauber
Freiherr von Schlicht (Wolf Graf von Baudissin)

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI.

Dem Gewitter, das für alle völlig überraschend kam, war ein Regen gefolgt, der auch heute nach zwei Tagen noch anhielt und der jeden veranlaßte, zu Hause zu bleiben, der nicht unbedingt die Nase vor die Tür stecken mußte. Es war gestern und vorgestern gar nicht daran zu denken gewesen, auf den Tennisplatz zu gehen, aber morgen sollte es nun wieder gut Wetter werden. Wenigstens hofften das alle, und das Barometer schien diese Hoffnungen auch erfüllen zu wollen, wenigstens tat das so, als ob es steigen würde, aber allzu viel Mühe gab das sich damit nicht, es ließ sich sogar damit Zeit.

Aber es sollte steigen, der Regen mußte aufhören und deshalb sah man am Abend voller Ungeduld dem Erscheinen des Lokalblattes entgegen, das stets für den nächsten Tag eine Wettervoraussage brachte, die sich unter hundert Fällen neunundneunzigmal als richtig erwies. So wartete man denn sehnsüchtiger als sonst auf das Blättchen, aber als die Botenfrauen das dann in die verschiedenen Häuser gebracht hatten, da suchten die jungen Damen doch nicht gleich den Wetterbericht, sondern erst lasen sie auf der vierten und letzten Seite die Todesanzeigen unter der Rubrik: »Opfer 212 des Krieges.« Das interessierte sie natürlich am allermeisten zu erfahren, ob vielleicht wieder einer hier aus der Stadt vor dem Feinde gefallen sei. Aber glücklicherweise befand sich unter den Toten auch heute keiner, der den Kreisen der Gesellschaft angehörte. Und nach den Trauernachrichten suchte man nach den Verlobungsanzeigen. Das war ja eigentlich ein Unsinn, denn wer sollte sich hier wohl verlobt haben? Wäre etwas derartiges auch nur in weitester Vorbereitung, dann hätte man das sicher schon längst gewußt. Umso größer war daher das allgemeine Erstaunen, die Verwunderung, aber auch die Empörung, als alle nun die dritte Seite des Blattes, die stets die Familiennachrichten enthielt, aufschlugen und als die jungen Damen des Flirtklubs fettgedruckt lasen, daß Fräulein Lilly Westphal sich mit dem augenblicklichen Kriegsurlauber, dem Infanterieleutnant Wolfgang von Wachwitz verlobt habe. Die Eltern des Brautpaares zeigten die Verlobung an, und darunter stand ebenfalls fettgedruckt auch noch die Anzeige des Offiziers: »Meine Verlobung mit Fräulein Lilly Westphal, einzigen Tochter des früheren Fabrikbesitzers Herrn Carl Westphal und seiner Gemahlin Emma, geborenen Kleinschmidt, beehre ich mich ganz ergebenst anzuzeigen.

Wolfgang von Wachwitz,
Leutnant in einem Reserve-Infanterie-Regiment,
zur Zeit Kriegsurlauber.

Nur ein Glück, daß die Annonce da zweimal stand, sonst hätten die jungen Leserinnen der gar nicht geglaubt, sondern hätten angenommen, es handele sich nur um einen verspäteten oder sehr verfrühten Faschingsscherz, denn sie alle 213 hatten nicht das Geringste davon geahnt, daß die Verlobung bevorstand. Ja, sie alle waren nie auf den Gedanken gekommen, daß die beiden anders als nur in der harmlosesten Weise miteinander flirteten. Aber trotzdem, der Lilly konnte man das zutrauen, die war schon in der Schule manchmal verschlossen und geheimnisvoll gewesen. Die hatte es schon damals zuweilen faustdick hinter den Ohren, aber daß sie es dort auch jetzt noch so dick sitzen hatte, das hätten alle ihr eigentlich gar nicht zugetraut. Immer wieder lasen sie die Anzeige, es wurde ihnen schwer, an die Wahrheit zu glauben, schon weil sie die glückliche Braut beneideten, denn wenn der Flirt auf dem Tennisplatz ja auch nur ein harmloser Zeitvertreib bleiben sollte, ganz im stillen hoffte doch eine jede, auch für sie möge aus dem Spiel Ernst werden, denn einen besonderen Schwarm hatte im stillen doch eine jede.

Und die Lilly hatte sich nun mit ihrem Schwarm verlobt, ohne vorher auch nur einer von ihnen zu verraten, wer dieser Schwarm sei.

In jedem Hause schlug die Nachricht wie eine Bombe ein, in keinem aber wirkte sie derartig, wie in der Villa, die der Garnisonälteste, der Oberst z. D. von Aschenbach, mit seiner Frau und seiner Tochter Viki bewohnte. Viki selbst nahm die Verlobung lustig und fröhlich auf, umso ergrimmter aber war ihr Vater, ein noch immer stattlicher Sechziger. Der schalt nicht schlecht vor sich hin: »Da sieht man mal wieder, wie diese Kriegsurlauber hier ihre Zeit ausnutzen. Anstatt alles zu tun, was sie könnten, damit sie schnell wieder an den Feind herankommen, oder anstatt 214 sich wenigstens wissenschaftlich zu beschäftigen, verloben die sich hier. Ist die Möglichkeit! Na überhaupt diese Kriegsurlauber! Das ist auch solche Erfindung der Neuzeit. Das kannten wir damals im Kriege 70/71 denn doch nicht.«

»Aber Vater,« meinte Viki belustigt, »das war 70/71 doch etwas ganz anderes. Die Anstrengungen dieses Krieges waren mit denen des jetzigen gar nicht zu vergleichen, das hast du oft genug selbst erzählt. Damals hatten wir doch auch nicht annähernd soviel Soldaten zur Verfügung wie jetzt. Und im übrigen, Vater, weiß ich es am allerbesten, warum du heute mal wieder auf die Kriegsurlauber schlecht zu sprechen bist.«

Wieder knurrte der Oberst vor sich hin: »Schön, und wenn du das zu wissen glaubst, habe ich da nicht recht?« Und sich immer mehr in Zorn hineinredend, fuhr er erregt fort: »Ein Skandal ist es, einfach ein Skandal, denn wenn diese Kriegsurlauber sich schon verloben, warum denkt da keiner daran, sich mit dir zu verloben? Du bist so hübsch wie keine andere, wenigstens ist das meine Ansicht. Du bist auch finanziell eine gute Partie, wenn auch keine so gute wie Lilly Westphal, na, auf den Geldbeutel allein kommt es schließlich auch nicht an, aber mit dem Zuschuß, den ich dir später gebe, könntest du mit deinem Manne sehr anständig leben.«

Und wie immer, wenn der Herr Oberst mit dem Schelten auf die Kriegsurlauber angefangen hatte, hörte er auch jetzt noch lange nicht damit auf. Im Zimmer auf und ab gehend schalt und knurrte er vor sich hin, bis er plötzlich mitten im Satze inne hielt und verwundert auf seine Tochter 215 blickte, denn obgleich diese nach seiner Ansicht alle Ursache hatte, auch ihrerseits traurig zu sein, daß sich immer noch keiner in sie verliebt hätte, lachte Viki erst stillvergnügt vor sich hin, dann immer lauter und lauter, bis sie plötzlich hell auflachte, um gleich darauf ihrem Vater um den Hals zu fallen und um diesem zuzurufen: »Gott, Vater bist du dumm, aber du kannst ja nichts dafür, das haben Väter in solchem Falle nun einmal so an sich!«

»Na, erlaube mal,« verteidigte der Herr Oberst sich, »wie kommst du dazu, so zu mir zu sprechen? Ich dumm? Wieso, warum, weshalb und inwiefern?«

Aber im Gegensatz zu dem Vater hatte die Mutter ihr Kind verstanden und breitete die Arme sehnsüchtig aus: »Viki, komm an das Herz deiner Mutter, vertraue dich mir an.«

»Aber warum denn so elegisch, Mutter?« rief Viki belustigt, »Zu einem feierlichen Geständnis an der berühmten Mutterbrust liegt gar keine Veranlassung vor, denn wenn man verliebt ist, braucht man deswegen doch nicht gleich zu weinen, da muß man vielmehr vor Glück und vor Freude fortwährend lachen.«

Der Herr Oberst hatte seiner Tochter mit allen Anzeichen der höchsten Verwunderung zugehört. Zuerst war er völlig starr, denn auf dieses Geständnis aus dem Munde seines Kindes war er nicht vorbereitet gewesen. Nun aber freute er sich namenlos mit ihr, bis er ihr zurief: »Du bist verliebt, Viki, und das sagst du erst jetzt? Wer ist der Glückliche, dem du deine Liebe schenktest? Ist es einer von den Kriegsurlaubern?«

216 Viki nickte ihm glückstrahlend zu: »Natürlich ist es einer von denen, Vater, wozu wären die sonst wohl da?«

»Das ist auch 'ne Auffassung,« meinte der Oberst heiter, »aber trotzdem, erst muß ich wissen, wer es ist.«

Und auch die Mutter, die von Vikis Worten ebenso überrascht war wie der Vater, bat nun: »Ja, Viki, vertraue dich uns an, wer ist es?«

Wieder lachte Viki fröhlich auf, bis sie ganz ernsthaft werdend mit trauriger Stimme erklärte: »Das weiß ich selber nicht.«

»Nanu?« rief der Vater verwundert. »Du wirst doch wohl wissen, wie der, den du liebst, heißt?«

Aber Viki schüttelte den Kopf: »Natürlich weiß ich das, aber manchmal weiß ich es auch nicht. Manchmal glaube ich, er heißt Natzel, und dann glaube ich wieder, er heißt Ratzel.«

»Du kannst doch aber nicht beide lieben,« warf die Mutter ein.

»Wenigstens kannst du nicht beide heiraten, Viki,« rief der Vater. »Im übrigen habe ich weder gegen den Natzel noch gegen den Ratzel etwas einzuwenden. Beide gefallen mir sehr gut und beide haben sich vor dem Feinde als tüchtige und tapfere Offiziere gezeigt. Daß dir die Wahl nicht leicht fällt, zumal die beiden sich ja auch in ihrem Äußeren und in ihrem Wesen sehr gleichen, fühle ich dir schließlich nach, aber trotzdem, für einen von den beiden kannst du dich doch nur entscheiden.«

»Aber für welchen?« seufzte Viki schwer auf. »Wenn ich mich mit Leutnant Natzel unterhalte, denke ich, eigentlich 217 ist Ratzel doch noch netter, und wenn ich mit dem allein bin, dann denke ich: nein, ich habe dem Natzel bitter Unrecht getan, er ist der nettere. Wenn einer von den beiden fehlt, sehne ich mich nach dem, der nicht da ist, und wenn beide vor mir stehen, dann wünsche ich einen von ihnen weit fort, aber ich weiß nicht welchen.«

»Das ist ja eine ganz komplizierte Geschichte, Viki,« meinte der Vater nachdenklich, »wie findet man sich da nur zurecht?«

»Es kommt ja aber nicht nur darauf an, wie du über die beiden Herren denkst,« warf die Mutter ein, »es handelt sich doch hauptsächlich darum, welcher der beiden Offiziere dir bisher am deutlichsten gezeigt hat, daß er dich auch seinerseits liebt.«

»Das tun sie ja beide fortwährend in derselben Weise,« antwortete Viki halb lachend, halb verzagt, »jeder von ihnen legt es darauf an, den anderen in Liebesbeteuerungen zu überbieten, so daß ich weder mir selbst, noch aus den beiden klar werde.«

»Da gibt es nur eins,« entschied der Vater nach kurzem Besinnen, »du mußt sie auf die Probe stellen. Du mußt irgendein Opfer von ihnen verlangen, das sie dir zum Beweise ihrer Liebe bringen sollen, und derjenige, der diese Probe am leichtesten besteht, der liebt dich sicher auch am meisten, und den erhörst du dann.«

»Daran habe ich natürlich auch schon oft gedacht,« stimmte Viki bei, »aber auf welche Probe könnte ich die stellen?«

»Da weiß ich Rat,« meinte die Mutter, »denn eine schlechte Eigenschaft hat jeder Mann an sich.«

218 »Nu, erlaube mal,« knurrte der Oberst vor sich hin.

Aber seine Frau ließ sich nicht beirren: »Sei du nur ganz still, Alex, du hast sogar so viele schlechte Eigenschaften, daß ich die alle gar nicht aufzählen kann. Selbstverständlich hast du ja aber auch deine guten Seiten,« und sich an Viki wendend fuhr sie fort: »Nun höre mal zu, mein liebes Kind, du mußt herauszubekommen versuchen, welche schlechten Angewohnheiten deine beiden Verehrer haben. Vielleicht trinken sie gern, oder sie spielen, oder sie sind sehr starke Raucher –«

»Das sind sie beide,« fiel Viki der Mutter in das Wort. »Leutnant Natzel hat mir einmal erzählt, er rauche am Tage mindestens seine vierzig Zigaretten, die noch dazu alle durch die Lunge, und Leutnant Ratzel raucht, wie ich weiß, am Tage wenigstens seine fünfzehn Zigarren.«

»Da hätten wir ja schon, was wir suchen,« erklärte die Mutter, »da mußt du ganz einfach von den beiden verlangen, daß sie dir ihre Liebe dadurch beweisen, daß sie sich das Rauchen vollständig abgewöhnen. Natürlich nicht für immer, sondern vorläufig erst mal auf einen Monat. Du wirst ja sehen, was die beiden dazu sagen, und wer dir von ihnen dieses Opfer am leichtesten bringt.«

»Ach herrjeses, die armen Kerle,« meinte der Herr Oberst, der selbst ein leidenschaftlicher Raucher war, »in deren Haut möchte ich nicht stecken, denn wenn ich die Wahl zwischen dem Leben und der Zigarre hätte, ich würde mich für den Tabak entscheiden.«

Und auch Viki empfand Mitleid mit den beiden jungen Offizieren, aber sie ging dennoch auf den Rat der Mutter 219 ein, schon weil sie das übermäßige Rauchen der beiden Leutnants für ungesund hielt und weil sie doch schließlich keinen Mann heiraten wollte, der sich über kurz oder lang krank rauchte.

So nahm sie sich denn vor, gleich morgen nachmittag mit den beiden zu sprechen. Aber als sie sich dann am nächsten Tage auf dem Tennisplatz einfand, kam sie nicht gleich dazu, ihren Vorsatz auszuführen. Das mehr als schöne Wetter, das prophezeit und auch wirklich eingetroffen war, hatte alle Mitglieder des Flirtklubs herbeigelockt. Hauptsächlich aber fehlte natürlich niemand, weil die unerwartete Verlobung von allen in allen Einzelheiten besprochen werden mußte. Auch das Brautpaar war zur Stelle und brachte noch eine große Neuigkeit mit. Da nach den ungeschriebenen Statuten des Klubs kein Flirt in eine Verlobung ausarten durfte, hatte der Vater der Braut sich entschlossen, als Strafgeld für sein Kind, weil es so unartig gewesen sei, sich doch zu verloben, der Vereinskasse den Betrag von fünfhundert Mark für das Rote Kreuz zu überweisen. Eine Gabe, die mit vielem Dank angenommen wurde und die Hans Arnim Veranlassung gab, in halb ernsthafter, halb humoristischer Weise es den anderen Flirtpaaren nahezulegen, dem schlechten Beispiel, das die Jungverlobten gegeben hätten, sobald wie möglich zu folgen.

Dann aber umringten alle jungen Mädchen die junge Braut, um ihr abermals zu gratulieren und um ihr zu zeigen, wie herzlich sie sich mit ihr freuten. Und je weniger die sich im stillen wirklich freuten, je weniger sie der das Glück gönnten, je mehr sie sich selbst 220 einen Verlobten wünschten, desto fröhlicher und heiterer waren sie.

Aber nur eine war wirklich lustiger und fröhlicher als sonst, weil sie ja nun bald erfahren würde, welcher ihrer beiden Verehrer es mit seinen Liebesbeteuerungen ernst meinte. Das war Viki. Die zog sich, obgleich in dieser Woche eigentlich nur Leutnant Ratzel ihr Flirtpartner war, dennoch mit ihren beiden Verehrern, sobald sich dazu Gelegenheit bot, zurück, und als Ratzel ihr nun den Hof machte, während Natzel den fortwährend daran zu verhindern suchte, rief sie beiden plötzlich lachend zu: »Aber, meine Herren, so geht das doch auf die Dauer nicht weiter. Sie haben mir schon längst zu verstehen gegeben, daß auch Sie bereit wären, gegen die Statuten des Vereins zu verstoßen und sich ernstlich um mich zu bewerben. Da werden Sie aber niemals zu einem Resultat kommen, wenn Sie sich beide fortwährend Konkurrenz machen. Da machen Sie es doch auch mir ganz unmöglich, mir darüber einig zu werden, ob mir einer von Ihnen besser gefällt als der andere. Vorläufig ist das natürlich noch nicht der Fall,« fuhr sie anscheinend ganz ernsthaft fort, »aber was nicht ist, könnte vielleicht doch werden.«

»Da dürfen Sie sich aber nur für mich entscheiden, gnädiges Fräulein,« riefen beide wie aus einem Munde.

Viki lachte fröhlich auf, dann meinte sie: »Ja, das geht doch aber nicht, daß ich Sie beide erhöre,« um gleich darauf fortzufahren: »Ich habe es mir gleich gedacht, als Herr von Kühnhausen vorhin namentlich die Herren aufforderte, dem Beispiel des glücklichen Bräutigams zu folgen, 221 daß Sie beide mir heute und in Zukunft noch mehr wie bisher den Hof machen würden, und deshalb habe ich mir vorgenommen, Sie auf die Probe zu stellen, ob es Ihnen mit Ihrem Flirt auch nur halbwegs so ernst sei, wie Sie es stets behaupten. Nun bin ich nur begierig, wer diese Probe bestehen wird.«

»Ich ganz bestimmt,« riefen beide wie aus einem Munde.

»Dann wäre ich ja später wieder ebenso klug wie heute,« gab Viki zur Antwort, »deshalb habe ich mir etwas ausgedacht, das einem von Ihnen ganz sicher schwer fallen wird.«

»Und das wäre?« fragten beide erneut gleichzeitig.

Viki machte absichtlich eine kleine Pause, dann sagte sie, die beiden scharf und prüfend ansehend: »Wer von Ihnen beiden wäre imstande, sich mir zuliebe, wenn auch nur für die Dauer von vier Wochen, das Rauchen abzugewöhnen?«

»Ich, gnädiges Fräulein!« riefen beide wie auf Kommando, dann aber sahen Natzel und Ratzel sich gegenseitig mit derartig entsetzten Augen an, daß Viki unwillkürlich hell auflachen mußte, bis Natzel etwas kleinlaut fragte: »Und wann soll diese Probe beginnen?«

»Jetzt, sofort auf der Stelle,« rief Viki.

»Und Sie erlauben uns auch nicht eine einzige Zigarette oder Zigarre zum Abgewöhnen?« bat Ratzel.

»Nicht mal das,« meinte Viki energisch.

Wieder tauschten die beiden einen stummen, entsetzten Blick, bis Natzel plötzlich den Kameraden anfuhr: »An der ganzen Geschichte bist du schuld, Ratzel, denn wenn du mir nicht immer in die Quere gekommen wärest, wenn ich 222 dem gnädigen Fräulein den Hof machte, dann hätte die sich schon längst für mich entschieden.«

»Oder das gnädige Fräulein hätte schon längst ihre Wahl auf mich fallen lassen, wenn du – mir nicht immer in den Weg gelaufen wärest,« verteidigte Ratzel sich. »Nicht wahr, gnädiges Fräulein, das hätten Sie doch schon längst getan?«

»Das ist eine Gewissensfrage, auf die ich die Antwort schuldig bleiben möchte, weil ich die selbst nicht weiß,« warf Viki ein. »Im übrigen, meine Herren, trösten Sie sich mit dem alten Wort: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Übrigens hätte ich nicht geglaubt, daß es Ihnen so schwer fallen würde –«

»Von Schwerfallen ist doch gar nicht die Rede,« fiel Natzel ihr in das Wort.

»Sie wollten wohl sagen, gnädiges Fräulein, Sie hätten nicht geglaubt, daß es uns so leicht fallen würde,« rief Ratzel, »mir wenigstens wird es spielend leicht, denn seitdem Sie uns das Rauchen verboten, habe ich noch nicht die allerleiseste Sehnsucht nach meiner Zigarre empfunden.«

»Und ich erst recht nicht nach meiner Zigarette,« stimmte Natzel dem Kameraden bei.

Natürlich glaubte Viki den beiden keine Silbe, denn sie sah ganz deutlich, wie die fortwährend mit dem Munde die Rauchbewegung machten, bis sie ihnen nun zurief: »Na, ich bin nur begierig, wer von Ihnen beiden zuerst der Versuchung unterliegen wird. Nun aber, meine Herren, machen Sie mir bitte den Hof, und ich denke, da werden 223 Sie sich heute ganz besonders anstrengen, schon weil Sie durch das Rauchen nicht abgelenkt werden.«

»Selbstverständlich!« riefen beide abermals gleichzeitig, und unmittelbar darauf rief Natzel: »Na, warten Sie es nur ab, gnädiges Fräulein, heute sollen Sie mich erst in voller Form kennen lernen, wie man das bei den Rennen so nennt, wenn die Gäule ›hast du, was kannst du, wer bist du und wie heißt du‹, über die Hindernisse dahin flutschen, daß es nur so flutscht.«

»Dasselbe wollte auch ich Ihnen sagen, gnädiges Fräulein, sogar mit denselben Worten,« rief nun auch Ratzel, »aber da Natzel mir zuvorkam, kann ich mir die Worte sparen. Nur eins möchte ich für meine Person noch ganz besonders betonen: Ich bin heute zum Flirten in einer Form wie nie zuvor. Sie werden an mir Ihr grünseidenes Wunder erleben.«

Und ein Wunder erlebte Viki denn auch wirklich, als gleich darauf die beiden Herren mit ihr zu flirten begannen, denn sie hätte es nie für möglich gehalten, daß auch nur einer von ihnen so langweilig sein könne, wie sie es nun beide zusammen waren, trotzdem sie sich sichtlich die größte Mühe gaben, gerade heute besonders liebenswürdig zu sein. Das waren sie ja auch immerhin, aber es fehlte dem Gespräch die Würze und der Witz. Die beiden Offiziere vermißten zu offenkundig die Zigarre und die Zigarette.

Auch die anderen Flirtpaare unterhielten sich heute nachmittag nicht annähernd so gut wie sonst. Daran war Hans Arnim schuld, der die Klubmitglieder aufgefordert hatte, dem Beispiel des Brautpaares zu folgen. Gewiß, 224 das war zum größten Teil wohl nur scherzhaft gemeint gewesen, aber trotzdem nahm es den meisten die Unbefangenheit. Der harmlose Frohsinn, mit dem sie sich sonst den Hof machten und sich den Hof machen ließen, fehlte. Die jungen Damen waren etwas still und verlegen, und die Herren wagten nicht recht, aus sich herauszugehen.

Besonders traf das auf den schönen Hugo zu, der sich auch heute wieder Maria Elisabeth genähert hatte, dessen Unterhaltung aber eigentlich nur darin bestand, daß er sie fortwährend mit traurigen und verzagten Augen ansah. Maria Elisabeth wußte ja nun auch, ohne daß er sich ihr anvertraute, was ihn bedrückte. Ihn hatte die Nachricht von dieser Verlobung sicher am meisten berührt. Er neidete dem Bräutigam vor allen anderen sein Glück, weil er sich im stillen fortwährend sagen mußte: »Alle anderen finden mit der Zeit ihre Braut, nur du nicht.« Er tat ihr wirklich aufrichtig leid, aber sie konnte ihn ja nicht trösten, durfte auch nicht verraten, daß sie seine Geschichte kannte, und so meinte sie denn nun ausweichend, als er jetzt besonders tief und schwer aufseufzte: »Geht es Ihnen so schlecht, Herr von Hohenebra? Sie seufzen ja, als hätten Sie das Leid der ganzen Welt zu tragen. So schlimm wird es wohl nicht sein. Sie teilen eben das Schicksal aller Erfinder, denen die Arbeit nicht so schnell vorwärts geht, wie sie es wohl möchten. Aber machen Sie sich nur keine unnützen Sorgen, eines Tages wird Ihnen die Erfindung mit dem neuen Sattel doch gelingen.«

Völlig überrascht und sogar ganz verlegen sah er sie an, bis er ihr zurief: »Das Märchen ist also auch zu Ihnen 225 gedrungen, gnädiges Fräulein, und das haben Sie geglaubt? Das ist nicht hübsch von Ihnen, gerade Ihnen hätte ich das nicht zugetraut, denn daß Sie mich für so dumm halten –«

Maria Elisabeth mußte über seinen Gesichtsausdruck nun fröhlich auflachen, bis sie fragte: »Ich verstehe Sie wirklich nicht, Herr von Hohenebra. Eine Erfindung machen zu wollen, ist doch kein Beweis von Dummheit, sondern unter Umständen von großer Klugheit. Ich erinnere Sie nur an den Grafen Zeppelin. Was hätten wir wohl in diesem Kriege ohne seine Luftschiffe machen wollen.«

»Das schon, gnädiges Fräulein,« stimmte er ihr bei, »aber trotzdem, dem Grafen Zeppelin ist die Sache geglückt und er hat den Triumph erleben dürfen, sein Werk von Erfolg gekrönt zu sehen. Das ist eine Ausnahme mit Eichenlaub und Schwertern, aber den anderen Erfindern geht es, mit Respekt zu sagen, doch meistens verdammt dreckig. Die setzen ihr ganzes Geld zu und sterben in der größten Armut.« Und nach einer kleinen Pause fragte er: »Ich weiß nicht, gnädiges Fräulein, ob ich Ihnen bereits einmal erzählte, daß ich einen Großvater hatte?«

»Das nicht, aber ich kann mir ungefähr denken, daß auch Sie einen solchen Vorfahren besaßen,« meinte Maria Elisabeth belustigt, während sie zugleich bei dem Wort »Großvater« hell aufhorchte.

»Ich hatte sogar einen sehr klugen Großvater,« pflichtete er ihr bei, »der mir tausend gute Ratschläge für mein späteres Leben mit auf den Weg gab und der sich jedesmal von mir schwören ließ, seine Ermahnung zu befolgen. Der 226 sagte eines Tages zu mir: »Mein lieber Hugo, wenn ich mal tot bin, wirst du viel reicher sein, als du glaubst, aber doch nicht so reich, daß du dir jemals drei Dinge erlauben könntest: in Monte Carlo zu spielen, dich mit deinem Gelde an der Gründung eines neuen Zeitungsunternehmens zu beteiligen und schließlich, eine Erfindung machen zu wollen. Das kann höchstens ein Rothschild und selbst der setzt sich dabei der Gefahr aus, ein armer Mann zu werden.« Darum habe ich ihm auch schwören müssen, meine Hände davon zu lassen.«

»Ihr seliger Herr Großvater scheint Ihnen wirklich sehr gute Lehren mit auf den Weg gegeben zu haben,« warf Maria Elisabeth ein, bis sie in der Erinnerung an das Gespräch, das Hans Arnim mit ihr führte, fragte: »Und Sie haben das alles tatsächlich beschwören müssen?«

»Warum nicht?« fragte er ganz verwundert. »Offen gestanden, es wurde mir nicht immer ganz leicht, den verlangten Eid abzulegen, ganz besonders einer fiel mir sehr schwer, aber es mußte sein, schon weil der Großvater es so gut mit mir meinte wie kein anderer Mensch.«

Wenn Maria Elisabeth in den letzten Tagen doch zuweilen noch daran gezweifelt hatte, daß alles, was Hans Arnim ihr erzählte, auf Wahrheit beruhe, wenn es ihr in Erinnerung an den Abend zuweilen vorkam, als habe er ihr nur einen Bären aufgebunden, jetzt wußte sie, daß der doch die Wahrheit sprach, denn worauf konnten sich die Worte des Kürassiers, er leide unter einem Schwur ganz besonders, wohl anders beziehen, wenn nicht darauf, daß er keiner jungen Dame jemals einen Antrag machen 227 und daß er sich deshalb auch wohl kaum jemals verheiraten dürfe.

In Wahrheit aber litt der schöne Hugo unter einem ganz anderen Eid, sich niemals ein kleines Verhältnis anschaffen zu dürfen, wenigstens keines, das länger als vier Wochen dauerte. Auch hier war diese Versuchung schon an ihn herangetreten, denn es widersprach seinem Empfinden, heute die zu küssen und morgen die, aber ihm blieb ja nichts weiter übrig, und wenn er sich das Küssen in der letzten Zeit auch ganz bedeutend abgewöhnt hatte, schon weil seinem Gedanken fortwährend bei Maria Elisabeth weilten, so sah er doch voraus, daß die Zeit kommen würde, in der er sich wieder nach einem kleinen Verhältnis sehnte, wenn es ihm inzwischen nicht gelungen war, Maria Elisabeth dahin zu bringen, daß sie ihm ihre Liebe gestand.

Und in der Furcht des Herrn, daß ihm das am Ende doch nicht gelingen werde, seufzte er plötzlich abermals schwer auf. Aber Maria Elisabeth tat diesesmal, obgleich oder gerade weil sie den Grund seines Kummers kannte, so, als ob sie den Seufzer gar nicht vernommen hätte, sondern fragte wirklich verwundert: »Wenn Sie sich aber mit gar keiner Erfindung beschäftigen, Herr von Hohenebra, warum haben Sie dieses Märchen dann allen erzählt?«

Der schöne Hugo bekam vor Verlegenheit einen dunkelroten Kopf, als sei er auf einer Sünde ertappt, dann meinte er: »Ich will Ihnen auch das erklären, gnädiges Fräulein – nein doch nicht, denn gerade Ihnen möchte ich das nicht sagen, wenigstens noch nicht heute. Vielleicht kommt später einmal die Stunde,« und dabei sah er sie mit seinen hübschen 228 Augen so unglücklich, aber zugleich auch so schmachtend an, daß sie seine geheimsten Gedanken erriet und daß sie sich Mühe geben mußte, völlig unbefangen zu bleiben, als sie ihm nun anscheinend ganz gleichgültig zur Antwort gab: »Verzeihen Sie bitte meine indiskrete Frage, ich weiß selbst nicht, wie ich zu der kam, nichts lag mir ferner, als neugierig sein zu wollen.«

War es wirklich nur Neugierde? wollte der schöne Hugo fragen, aber er kam nicht mehr dazu, denn jetzt traten ein paar andere Kriegsurlauber hinzu, um ihm zuzurufen: »Das geht aber wirklich nicht, verehrter Freund, daß Sie Fräulein von Greusen ganz allein derartig mit Beschlag belegen. Dazu haben Sie als außerordentliches Mitglied unseres Klubs nicht das leiseste Recht, nun wollen wir auch etwas davon haben, daß Fräulein von Greusen heute herausgekommen ist.«

Maria Elisabeth atmete erleichtert auf, als die anderen Herren sie nun bald in ein harmloses, lustiges Gespräch verwickelten. Das Alleinsein mit dem Kürassier hatte gedroht, eine Wendung anzunehmen, der sie unter allen Umständen aus dem Wege gehen mußte, und sie hatte es schon bereut, heute den Tennisplatz aufgesucht zu haben. Sie hatte auch nicht kommen wollen, schon weil sie sich, nachdem Hans Arnim sie über alles aufklärte, vornahm, dem schönen Hugo fortan nach Möglichkeit aus dem Wege zu gehen. Aber Hans Arnim hatte sie so gebeten, ihn zu begleiten, daß sie nicht gut nein sagen konnte, zumal auch die liebenswürdige Frau Konsul ihr sehr zuredete, nach den beiden langweiligen Regentagen den schönen 229 Nachmittag mit der fröhlichen Jugend zusammen draußen auf dem Tennisplatz zu verbringen. Und es wurde jetzt wirklich lustig, so daß Maria Elisabeth sich nun darüber freute, daß sie nicht zu Hause geblieben war.

Und wie es Maria Elisabeth ging, so ging es auch Kitty. Auch die freute sich nun, doch gekommen zu sein, obgleich sie sich zuerst sämtliche Eide der Welt geschworen hatte, heute dem Tennisplatz fernzubleiben, denn die Verlobung ihrer Freundin Lilly hatte sie mehr als verstimmt, weil sie immer daran denken mußte: wann wird der schöne Hugo sich nun endlich mit dir verloben, wann wird er dir wenigstens endlich klar und deutlich zu verstehen geben, daß er dich liebt? Und sie sah es voraus, daß der Tag noch in weiter Ferne lag, denn seitdem der Reitunterricht ins Wasser gefallen war, hielt er sich sichtlich von ihr zurück. Warum? Hatte auch er gehofft, daß die Stunden in der Reitbahn sie einander näher bringen würden? Sicher, denn sonst hätte er ihr seine Dienste nicht angeboten. Aber wenn sie selbst auch immer noch darunter litt, daß ihr Wunsch nicht in Erfüllung gegangen war, so brauchte ihn das doch nicht derartig zu bekümmern, daß er ihr deshalb förmlich aus dem Wege ging. Und schließlich, wenn er ihr ernstlich den Hof machen wollte, dann konnte er das auf dem Tennisplatz ebenso gut tun, wie sonst irgendwo. Warum tat er das nicht? Sollte er sie nicht mehr lieben? Und wenn das der Fall war, was hatte sie getan, um seine Liebe, die er ihr doch von Anfang an deutlich genug durch seine Blicke verraten hatte, zu verscherzen? Darauf suchte sie vergebens nach einer Antwort und darauf durfte es auch keine 230 geben, denn sie liebte ihn immer noch. Ja, sie liebte ihn erst recht, seitdem dieser maßlos kecke Hans Arnim ihr in einer Weise den Hof machte, für die es eigentlich gar keine Worte gab. Und sogar gefußelt hatte er mit ihr! Aber das nicht allein, sie hatte ja deutlich gesehen, wie diese leichte Berührung genügt hatte, um sein Blut in Wallung zu bringen. Der war einfach zu frech! Aber es war nur ein Glück, daß er ihr glaubte, es sei wirklich nur ein Zufall gewesen, als gleich darauf auch ihr Fuß den seinen berührte. Es war eigentlich auch ein Zufall, dem sie nur ein ganz kleines bißchen nachgeholfen hatte, weil sie an sich erproben wollte, ob sie etwas dabei empfände, wenn ihr Fuß den seinen berührte. Aber das war nicht der Fall gewesen, es hatte sie so kalt, so eisigkalt gelassen, daß sogar ein leichtes Schauern ihren Körper durchlief.

Ja, sie wollte und sie würde den schönen Hugo heiraten, aber trotzdem war sie fest entschlossen gewesen, heute nachmittag nicht auf den Tennisplatz zu gehen, denn der kecke Hans Arnim war imstande, ihr zuzurufen: »Na, Verehrteste, wie ist es denn nun mit Ihnen und dem Anderen? Fräulein Westphal ist Ihnen allen gestern mit einem guten Beispiel vorangegangen, wollen Sie dem nun nicht errötend folgen?« Und dann konnte sie diesem Frechdachs doch nicht erklären, warum sie mit ihrer Verlobung noch zögerte, daß sie das nur tat, weil er seine Strafe noch nicht verbüßte und weil sie es auch Fräulein von Greusen nicht antun wollte, dem harmlosen Flirt, der sich zwischen der und dem Kürassier entwickelt hatte, so bald ein jähes Ende zu bereiten.

231 Aber dann entschloß sie sich, erst recht auf den Tennisplatz zu gehen, sie würde Hans Arnims spöttische und neckende Fragen schon zu beantworten wissen und sie durfte in ihm auch gar nicht den Verdacht aufkommen lassen, als fürchte sie seine indiskrete Fragen.

Und als sie dann auf dem Tennisplatz war, brauchte sie es nicht zu bereuen, daß sie gekommen war. Hans Arnim dachte anscheinend gar nicht daran, sie mit diesem Anderen, wie er den sonst stets nannte, zu necken, sondern er machte ihr lediglich den Hof. Er hatte heute anscheinend einmal wieder seinen guten Tag, er sprudelte über von Humor. Ein Witz und ein Scherzwort nach dem anderen kam über seine Lippen, so daß sie sich köstlich amüsierte, bis er plötzlich anfing, ihr ein poetisches, stimmungsvolles Märchen zu erzählen, das in den Gefilden der Seligen spielte und das natürlich von ihnen beiden handelte.

Kitty saß mit geschlossenen Augen neben ihm, und Hans Arnim, der keinen Blick von ihr abwandte, bemerkte voller Freude und Genugtuung, daß er nicht umsonst auf sie einsprach, bis er sich plötzlich im stillen fragte: was Kitty wohl für ein Gesicht machen wird, wenn du ihr nun ganz unerwartet erzählst, daß deine Tage hier bald zu Ende sind und daß du abreisen mußt? Bisher hatte er ihr das verschwiegen, hatte auch der Frau Konsul und Fräulein von Greusen nichts davon gesagt, damit die es nicht etwa hinter seinem Rücken an Kitty weitererzählten. Das wollte er ihr selber sagen und sie bei seinen Worten scharf beobachten. Vielleicht, nein sicher, daß sie sich doch verriet, wenn sie auch nur das Geringste für ihn empfand.

232 Als aber er es ihr nun, mitten in dem Märchen innehaltend, zurief, da zuckte in ihrem Gesicht keine Miene, ihre Gesichtsfarbe veränderte sich nicht im Geringsten, sie wurde weder blaß noch rot, sie öffnete nicht einmal die Augen, um ihn verwundert oder erschrocken anzusehen, ja, sie hielt es gar nicht einmal der Mühe wert, aus seine Mitteilung etwas zu erwidern, sondern sie bat nur: »Erzählen Sie doch bitte weiter, ich bin mehr als begierig, wie das Märchen endet.«

Ihm aber war die Lust an dem Weitererzählen vergangen. Daß seine bevorstehende Abreise Kitty derartig kalt ließ, verletzte und kränkte ihn, nahm ihm vor allen Dingen abermals jede Hoffnung, sie doch noch zu gewinnen, und so meinte er denn jetzt mehr als verstimmt: »Das Märchen endet wie jedes andere mit den Worten: ›Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute‹. Was gibt es da noch weiter zu erzählen. Erzählen Sie mir lieber, ob es Ihnen wirklich so gleichgültig ist, daß ich bald abreisen muß. Habe ich das um Sie verdient, daß Sie mir auch nicht die leiseste Träne nachweinen werden, wenn auch nur eine bildliche Träne?«

»Dazu läge doch gar keine Veranlassung vor,« meinte sie verwundert, »ganz abgesehen davon, daß Sie gar nicht reisen werden. Sie haben Ihre Strafe noch nicht verbüßt, und ehe das nicht der Fall ist, können Sie nicht fortgehen, denn Sie wollen doch nicht wortbrüchig werden?«

»Nein, das gewiß nicht,« verteidigte er sich, »aber trotzdem, gnädiges Fräulein, ich muß reisen. Die Eltern erwarten mich und sie rechnen bestimmt damit, daß ich 233 demnächst meinen Geburtstag bei ihnen verlebe, das werden Sie den Eltern nachfühlen.«

»Das schon,« warf sie ein, »und ich will natürlich nicht so grausam sein, Sie an diesem Tage zurückzuhalten. Ich will Ihnen auch gern drei oder vier Tage Urlaub geben, aber dann müssen Sie zurückkommen, denn ehe Sie nicht in Flammen stehen –«

»Wissen Sie das denn so genau, daß das noch nicht der Fall ist?« fiel er ihr in das Wort.

Kitty sah ihn lachend und übermütig an: »Verlangen Sie wirklich von mir, daß ich Ihnen das glaube? So weit sind Sie noch lange nicht, denn wenn dem so wäre, dann müßte ich Ihnen das doch irgendwie anmerken.«

»Das merken Sie nur nicht, weil Sie es nicht wollen,« rief er ihr zu.

»Bitte sehr,« widersprach Kitty, »da tun Sie mir Unrecht. Was hätte ich wohl davon, wenn ich mich absichtlich blind stellte? Einmal muß der Tag der Befreiung für Sie kommen und je eher der da ist, desto besser für Sie und für mich. Noch aber ist es nicht so weit.«

»Ihrem Urteil muß ich mich natürlich fügen,« stimmte er ihr verdrießlich bei, bis er plötzlich sagte: »Wenn ich also nach Ihrer Ansicht immer noch nicht genügend für Sie entflammt bin, dann muß das doch einen Grund haben.«

»Und der wäre?« fragte Kitty neugierig.

›So,‹ dachte Hans Arnim im stillen, ›nun heißt es mal wieder frech sein,‹ dann meinte er: »Ganz klar bin ich mir darüber selber noch nicht, gnädiges Fräulein. Vielleicht liegt es an Ihnen, vielleicht haben Sie mich zuweilen zu 234 schlecht behandelt. Vielleicht aber auch, gnädiges Fräulein, – nein, das kann ich nicht aussprechen, das wäre mehr als unhöflich, aber sagen muß ich es dennoch, und da meine ich, daß Sie, gnädiges Fräulein, doch nicht ganz so liebenswert sind, wie ich das bei unserer ersten Begegnung glaubte.«

Er erschrak selbst bei seinen Worten. Wenn Kitty die nicht übelnahm, dann war das mehr als ein Wunder und es schien auch für einen Augenblick, als ob sie mehr als böse sei, denn sie sah ihn starr und fassungslos an, bis sie plötzlich hell auflachte und ihm zurief: »Nein, Herr von Kühnhausen, daß Sie mir die Schuld in die Schuhe schieben wollen, das gibt es nicht. Was Sie da sagen, glauben Sie ja auch selber nicht, das ist nur eine faule Ausrede.«

Da hatte Kitty natürlich recht, aber das durfte er ihr nicht eingestehen und so meinte er denn: »Vielleicht doch nicht so ganz, gnädiges Fräulein, denn in einer Hinsicht haben Sie mich neulich tatsächlich sehr enttäuscht,« und nach einer kleinen Pause, während der sie ihn neugierig und verwundert ansah, setzte er hinzu: »Es wird mir zwar nicht leicht, gerade Ihnen das zu sagen, aber trotzdem, Sie enttäuschten mich sehr, denn ich habe einsehen müssen, daß Sie leider Gottes vom Küssen keine Ahnung haben, nicht die allerleiseste.«

»Von was hätte ich keine Ahnung?« stotterte sie fassungslos. »Vom Küssen? Was wissen Sie denn davon?« bis sie schnell, ihre alte Unbefangenheit wiedergewinnend, fortfuhr: »Im übrigen irren Sie sich da sehr. Fragen Sie nur meinen Vetter Fritz, der denkt darüber wesentlich anders.«

235 »Was weiß denn solcher Vetter vom Küssen?« meinte Hans Arnim geringschätzig, »Dem kommt es doch nur darauf an, daß er überhaupt geküßt wird, und sicherlich war er auch noch sehr jung.«

»Bitte sehr,« warf Kitty ein, »der Vetter war damals achtzehn Jahre.«

»Donnerwetter, schon so alt,« meinte Hans Arnim ironisch, »na, allerdings, in dem Alter mußte er ja Bescheid wissen, da hat man ja seine Erfahrungen hinter sich, sicher war Ihr Vetter auch schon, wie man so sagt, für immer mit den Weibern fertig?«

»Das schon,« stimmte sie ihm nun belustigt bei, »im übrigen war es vielleicht sehr unrecht von mir, Ihnen von diesem Vetter zu erzählen, aber ich kann es doch nicht auf mir sitzen lassen, schlecht zu küssen, das werden Sie mir sicher nachfühlen.«

»Vollständig,« pflichtete er ihr anscheinend ganz ernsthaft bei, »aber trotzdem, gnädiges Fräulein, noch sind Sie von diesem Vorwurf nicht befreit, denn das Urteil Ihres Vetters ist für mich absolut nicht maßgebend. Auch nicht das Ihrige. Sie erinnern sich, daß ich Ihnen an dem ersten Tage hier auf dem Tennisplatz eine kleine Vorlesung über das Küssen hielt. Aber die scheint auf Sie keinen allzu tiefen Eindruck gemacht zu haben, wenigstens haben Sie nicht nach der gehandelt, denn als Sie neulich nachmittag auf meinem Schoß saßen –«

»Wo hätte ich gesessen?« fiel sie ihm entsetzt und erstarrt zugleich in das Wort.

»Auf meinem Schoß, gnädiges Fräulein, ich sagte es 236 Ihnen doch schon, aber deswegen brauchen Sie nicht rot zu werden, dazu liegt gar keine Veranlassung vor, denn Sie werden dort noch oft sitzen, sobald Sie erst meine Frau sind.«

»Also niemals!« rief sie ihm zornig zu. »Aber ich verstehe immer noch nicht, wie Sie auch nur im Scherz behaupten können, ich hätte neulich auf Ihrem Schoß gesessen. Das ist mehr als ungezogen!«

»Aber ich kann doch nichts dafür, gnädiges Fräulein, daß Sie es taten,« verteidigte er sich. »Meine Schuld besteht lediglich darin, daß ich an jenem Nachmittag an Sie dachte, und da saßen Sie, wenn auch nur in Gedanken, plötzlich auf meinen Knieen. Sie schlangen Ihre Arme um meinen Hals und küßten mich. Ich bin ja zwar schon oft in meinem Leben geküßt worden, natürlich nur von meinen Cousinen, aber trotzdem, gnädiges Fräulein, so wie Sie mich küßten, hat das vorher noch keine andere getan.«

Kitty hatte wider alles Erwarten ihre gute Laune schnell wiedergefunden, so meinte sie jetzt: »Na also, Herr von Kühnhausen, da könnten Sie ja eigentlich zufrieden sein?«

Aber er widersprach: »Nein, ganz im Gegenteil, gnädiges Fräulein, Sie küßten zu wild und zu stürmisch, und ich glaube, wenn Fräulein Nanny nicht in das Zimmer getreten wäre, dann hätten Sie mich totgeküßt und nicht wahr, das wäre doch schade um mein junges Leben gewesen?«

»Glauben Sie das wirklich?« fragte sie, unschlüssig, ob sie sich über seine Keckheit ärgern, oder ob sie über die lachen sollte.

237 »Ich glaubs!« gab er zur Antwort. »Und im Zusammenhange damit ist mir der Gedanke gekommen, ob ich Ihnen nicht vielleicht Unterricht im Küssen geben dürfte. Wir könnten ja erst mit dem theoretischen anfangen und dann nach den ersten fünf oder zehn Minuten zu dem praktischen Unterricht übergehen.«

»Das könnte Ihnen wohl so passen!« lachte sie hell auf. »Aber auf die Stunden möchte ich lieber verzichten.«

»Aber warum denn nur?« meinte er anscheinend ganz verwundert. »Ein junges Mädchen, das so ernsthaft daran denkt, sich zu verloben, wie Sie, gnädiges Fräulein, das kann gar nicht genug Kenntnisse mit in die Ehe bringen, und im übrigen dürfen Sie meinen Vorschlag nicht ablehnen. Sie erinnern mich fortwährend an den Eid, den ich Ihnen leistete. Da möchte ich Sie auch einmal an etwas erinnern, das Sie mir am ersten Nachmittag im Garten Ihrer Frau Tante zuriefen: ich solle nicht nur mit Ihnen in dem Auto fahren dürfen, sondern es solle mir auch sonst jeder Wunsch von Ihnen erfüllt werden, jeder, bis auf den letzten, daß Sie meine Frau würden. Da müssen Sie mir also den Kußunterricht erlauben, das ist ein Wunsch, der mit der Gewährung des letzten schließlich nichts zu tun hat, denn wenn man alle jungen Damen heiraten wollte, die man küßte, dann wäre der Sultan im Vergleich damit der reinste Junggeselle. Und schließlich haben Sie Ihren Vetter doch auch geküßt, ohne dabei an das Heiraten zu denken.«

»Dafür ist es auch nur ein Vetter,« meinte sie, über seine Worte belustigt.

238 »Was man so Vetter nennt,« neckte er sie, »oder war es wirklich ein richtiggehender Vetter?«

»Sie schämen sich wohl gar nicht, so etwas auch nur zu fragen,« schalt Kitty ihn mit dunkelrotem Kopf, denn sie allein wußte ja, wie weitläufig die Verwandtschaft mit diesem Vetter Fritz war.

»Aber warum soll ich mich denn nur immer schämen?« fragte er verwundert. »Wenn Sie das aber wünschen, gnädiges Fräulein, will ich es auch diesesmal gern tun, aber nur unter der Bedingung, daß Sie mir erlauben, Ihnen den Unterricht im Küssen zu geben, denn wenn ich bisher noch nicht so für Sie entflammte, wie Sie es annehmen, dann liegt das vielleicht nur daran, daß wir uns noch nicht küßten. Lieben kann man sich natürlich auch ohnedem, aber die wirkliche, die leidenschaftliche Liebe kommt doch erst mit dem Kuß über die Menschen. Und ganz ernsthaft gesprochen, gnädiges Fräulein, ich kann küssen, zart und leise, aber gerade deshalb leidenschaftlich entflammend, so zart und leise, daß Sie den Kuß kaum empfänden und daß trotzdem ein süßer Schauer Sie durchströmen sollte. Daß Sie die kleinen Lippen öffnen würden, um meine Küsse zu trinken, wie die Blumen den Tau des Himmels. Meine Küsse würden Sie berauschen, daß Sie die Augen schlössen und vor sich hin träumten, daß Sie sich wünschten, der Kuß möge ewig dauern.«

Schon lange bevor er ihr erklärte, sie würde die Augen schließen, hatte sie das getan und vor sich hingeträumt. Viel mehr noch als das, was er ihr da sagte, verwirrte sie die Art, in der er es tat, seine Stimme, die mehr zu singen, 239 als zu sprechen schien, die sich ihren Ohren einschmeichelte und die in ihrer Phantasie die Bilder heraufbeschwor, die er ihr schilderte. Ihre Gedanken waren bei dem schönen Hugo. Sie träumte von dem Kuß, den sie sich schon lange von ihm wünschte. Sie sah seinen hübschen Mund mit den schneeweißen Zähnen ganz deutlich vor sich. Ein leises, süßes, wonniges Gefühl durchströmte ihren Körper, immer fester preßte sie die Augen zusammen, sie wollte nichts sehen als nur den Kürassier, während Hans Arnim auch jetzt noch weiter auf sie einsprach und ihr die Freuden des Kusses schilderte. Bis sie plötzlich einen leisen, halbunterdrückten Schrei ausstieß und ihn gleich darauf mit derartig entsetzten Augen völlig fassungslos ansah, daß er seinerseits ganz erschrocken ausrief: »Um Gottes willen, gnädiges Fräulein, was ist Ihnen denn nur?«

Kitty hatte sich den Strohhut weit nach hinten geschoben und strich sich nun ein paarmal mit der Hand über die Stirn: »Was mir ist?« wiederholte sie seine Frage. »Ich weiß es selbst nicht, aber nun ist es schon wieder vorüber. Ein leichter Schwindelanfall, weiter nichts. Sie brauchen deswegen wirklich kein so ängstliches Gesicht zu machen, und doch sind Sie ganz allein daran schuld,« schalt sie ihn nun aus, »jetzt weiß ich auch, was mich derartig verwirrte, das war die Art, in der Sie es wagten, mir von dem Küssen zu sprechen, weil ich daran denken mußte, Sie glaubten allen Ernstes, ich würde mich jemals von Ihnen küssen lassen. Ja, daß Sie es überhaupt wagten, mir solche Kußstunden anzubieten, daß Sie ganz zu vergessen scheinen, wer ich bin, das alles wirkte auf mich ein. So keck wie Sie ist noch 240 nie ein Herr zu mir gewesen und ich sehe es jetzt ein, ich tat unrecht, Sie bestrafen zu wollen. Die Sache ist erledigt, ich will nichts mehr davon wissen, denn wenn Sie zu jenen schlechten Menschen gehören, die da erst ein junges Mädchen küssen müssen, ehe sie Feuer fangen, dann wird es mir nie gelingen, Sie für mich zu entflammen, dann wollen wir lieber gleich heute mit dem Spiel aufhören.«

Ohne selbst recht zu wissen, was sie da alles sagte, während sie sich mit den Worten überstürzte und ihm keine Zeit gab, sie zu unterbrechen, hatte sie darauflos geredet. Nun hielt sie erschöpft inne, und schweigend standen sich die beiden gegenüber. Hans Arnim viel mehr erstaunt und verwundert, als irgendwie betroffen durch die Vorwürfe, die sie ihm machte. Er wurde den Gedanken nicht los, daß ihre ganze Rede weiter nichts sei als ein Vorwand, um ihm das zu verheimlichen, was sie in Wirklichkeit beschäftigte, und so sagte er sich denn fortwährend im stillen: ›Da stimmt irgend etwas nicht.‹

Aber was das war, wußte er jetzt im Augenblick doch nicht. Er nahm sich auch nicht die Zeit, darüber nachzudenken, denn nun bedrückte es ihn doch, daß es plötzlich mit dem Spiel, wie sie es nannte, vorbei sein solle, und so meinte er denn jetzt, wenn auch sehr gegen seine Überzeugung: »Ich sehe es ein, gnädiges Fräulein, es war wirklich unrecht von mir, wenn auch nur im Scherz so zu Ihnen zu sprechen. Daß ich nicht im Ernst daran glaubte, Sie würden sich von mir küssen lassen, brauche ich Ihnen doch wohl nicht erst zu sagen. Und darum und deshalb liegt doch für Sie auch gar keine Veranlassung vor, mich schon 241 heute aus der Kerkerzelle zu entlassen, wie Sie das damals nannten. Ich habe mich in der so froh und glücklich gefühlt, ich meine natürlich so elend und so einsam, ich habe derartig sehnsüchtig durch die vergitterten Fenster in das Freie geblickt und mir so heiß den Augenblick herbeigewünscht, in dem die eiserne Tür sich mir wieder öffnen würde, daß es für mich geradezu eine Belohnung wäre, wenn Sie mich jetzt schon befreiten und nicht wahr, die habe ich doch nicht um Sie verdient?«

»Nein, ganz gewiß nicht,« stimmte sie ihm erregt bei, »ich will mir deshalb auch nochmals überlegen, ob ich meine Worte von vorhin aufrecht erhalte, aber für heute ist mir die Lust vergangen, weiter mit Ihnen zu plaudern. Ich möchte nach Hause, ich habe Kopfschmerzen.«

Und wirklich sah Kitty blaß und elend aus, so daß er es nicht wagte, sie zurückzuhalten, als sie sich gleich darauf mit ein paar kurzen Worten von ihm verabschiedete, ohne ihm wie sonst ein »auf baldiges Wiedersehen« zuzurufen und ohne seine Begleitung, die er ihr anbot, anzunehmen.

»Da stimmt etwas nicht,« sagte er sich auch jetzt im stillen, als er ihr nachsah, dann verließ auch er seinen Platz, um sich noch etwas unter die anderen jungen Damen und Herren zu mischen und um noch mit denen zu plaudern, aber als er näher herantrat, mußte er bemerken, daß die meisten sich schon entfernt hatten. Auch Maria Elisabeth war schon gegangen, ebenso der Kürassier, und die wenigen Paare, die noch plaudernd zusammenstanden, waren ebenfalls im Begriff, aufzubrechen früher als sonst, und das lag daran, daß heute tatsächlich keine rechte Flirtstimmung aufgekommen 242 war, ohne daß Hans Arnim wußte, daß das einzig und allein die Schuld seiner kleinen Rede war.

Zehn Minuten später lag der Tennisplatz vereinsamt da. Als die Letzten waren Fräulein Viki und ihre beiden Courmacher gegangen, nachdem Viki ihnen beiden nochmals zugerufen hatte: »Ich bin nur neugierig, wer von Ihnen bis morgen Mittag sein Versprechen nicht gehalten hat!«

Nun schritten die beiden Freunde und Konkurrenten schweigend nebeneinander dahin. Keiner von ihnen sprach, das tat auch nicht nötig, jeder wußte genau, daß der andere dasselbe dachte wie er: »Daß Viki uns gerade diese Prüfung auferlegte, ist mehr als hart, und wir hätten besser getan, sie um eine andere Probe zu bitten, als diese so ruhig hinzunehmen. Nun ist es zu spät, nachträglich können wir Viki nicht mehr umzustimmen versuchen, das sähe ja so aus, als würde es uns schwer fallen, ihretwegen das Rauchen zu lassen. Das dürfen wir ihr nicht einmal andeuten, denn sonst würde sie mit vollem Recht an unserer Liebe zweifeln.

Aber bitter war es doch, nicht mehr rauchen zu dürfen! Sie beide waren zu sehr daran gewöhnt und so griffen sie denn plötzlich wie auf Kommando in ihre Rocktaschen und gleich darauf hielt der eine seine geliebte Zigarre und der andere seine Zigarette zwischen den Lippen, aber sie rauchten natürlich kalt.

Groß war der Genuß ja nicht, aber es war doch wenigstens ein eingebildeter!

Und auch als sie in ihrem Bürgerquartier in dem gemeinsamen Wohnzimmer zu Abend gegessen hatten, setzten 243 sie das kalte Rauchen fort, bis Natzel plötzlich meinte: »Weißt du, Ratzel, wir haben eigentlich alle Ursache, Fräulein Viki sehr dankbar zu sein, daß sie uns das Rauchen, wenn auch nur vorübergehend, abgewöhnen will. Wenigstens bin ich ihr dafür sehr dankbar, mir ist das Rauchen in der letzten Zeit gar nicht mehr besonders gut bekommen. Aber davon ganz abgesehen, wenn ich ihr dieses Opfer nicht brächte, wie könnte ich ihr da beweisen, daß ich sie noch mehr liebe als du.«

»Wenn du dich da mit dem Nochmehrlieben nur nicht irrst,« verteidigte Ratzel sich, »und wenn du das alles eben nur nicht deshalb sagtest, um dich selbst darüber hinwegzutäuschen, wie schwer es dir wird, den Tabak zu entbehren.«

Da hatte der Freund vollständig recht, Natzel litt Tantalusqualen, aber trotzdem lachte er jetzt anscheinend völlig ungezwungen auf: »Das sollte mir schwer fallen? Im Gegenteil, das wird mir so leicht, wie ich es gar nicht für möglich gehalten hätte, sicher sehr viel leichter als dir.«

Diesesmal lachte Ratzel hell auf, wenn auch ihm dieses Lachen absolut nicht von Herzen kam, dann meinte er: »Wenn du dich nur nicht irrst, Natzel, ich denke gar nicht an das Rauchen, nun aber entschuldige mich bitte einen Augenblick, ich komme gleich wieder.«

»Ach so, ich verstehe,« gab Natzel zur Antwort, »aber das sage ich dir gleich, Ratzel, da wo du jetzt hingehst. da gehe ich unmittelbar nach dir auch hin, und wenn ich rieche, daß du da heimlich ein paar Züge geraucht hast –«

»Wie kannst du nur so etwas von mir glauben,« fiel ihm der andere schnell in das Wort, »aber wenn du mir 244 eine solche Niederträchtigkeit zutraust, kann ich ja zum Beweise, daß ich gar nicht an so was dachte, auch hier bleiben.«

Wieder herrschte eine ganze Weile Schweigen, bis Natzel fragte: »Sag mal, Ratzel, was macht man denn eigentlich so den ganzen Abend, wenn man nicht rauchen darf?«

Das wußte der auch nicht, aber trotzdem meinte er: »Gott, man unterhält sich, man liest die Zeitung oder ein gutes Buch, oder noch besser, man geht sehr früh zu Bett.«

Das taten die beiden in dem gemeinsamen Schlafzimmer denn auch, aber als sie sich niedergelegt hatten, fragte Ratzel den Kameraden: »Du, Natzel, in der Hinsicht kann ich mich doch wohl auf dich verlassen, daß du nachher, wenn ich eingeschlafen bin, nicht heimlich aufstehst und nebenan oder sonst wo zu rauchen anfängst?«

»Das ist doch ausgeschlossen,« verteidigte sich der andere, »vorausgesetzt natürlich, daß ich mich in der Hinsicht auf dich verlassen kann.«

»Das ist doch selbstverständlich,« rief Ratzel beleidigt, »denn ich liebe Fräulein Viki über alles.«

»Das tue ich erst recht,« meinte Natzel.

»Na also, da sind wir uns ja einig, denn gute Nacht.«

»Gute Nacht!« klang es zurück, aber einschlafen konnten sie beide nicht, einmal, weil es noch so früh am Tage war, dann aber auch, weil sie vor Sehnsucht nach der Zigarre und der Zigarette fast vergingen. Ruhelos warfen sie sich in den Kissen hin und her, bis Natzel endlich fragte: »Warum bist du denn immer noch nicht eingeschlafen?«

»Warum bist du immer noch nicht eingeschlafen?« erkundigte sich Ratzel.

245 »Weil du so unruhig daliegst, da kann doch kein Mensch den Schlaf finden,« lautete die Antwort.

»Da werde ich mich also nun still verhalten und deshalb nochmals gute Nacht.«

Still und regungslos lag Ratzel nun da, beide wünschten und ersehnten den Schlaf, aber es dauerte lange, bis der kam. Endlich schliefen sie ein und da träumte dem Ratzel, der Natzel schliefe gar nicht, der sei längst aufgestanden, der säße im Zimmer nebenan und qualme darauflos, was das Zeug halten wolle.

Das war ja nur ein Traum, aber er wurde doch von dem wach, und als er das elektrische Licht neben seinem Bette anknipste, war das Bett von Natzel tatsächlich leer. Und als er mit einem Satz aus dem Bett sprang und in das Wohnzimmer trat, schlug ihm von dort ein solcher dichter Tabaksqualm entgegen, daß er den Kameraden zuerst kaum zu bemerken vermochte, bis er ihm dann aber strafend zurief: »Na, du bist mir der Richtige, du kannst so bleiben. Wenn das deine ganze Liebe für Fräulein Viki ist, wird die morgen ein schönes Gesicht machen, wenn die davon erfährt.«

Der andere bekam es mit der Angst und so rief er denn jetzt: »Du wirst doch nicht etwa so niederträchtig sein wollen, mich bei Fräulein Viki zu verpetzen? Wenn du durch solche Angeberei ihre Liebe erringen willst, dann solltest du dich schon jetzt schämen.«

»Aber wenn sie dich nun selber fragen sollte, dann kannst du sie doch nicht belügen?«

»Das werde ich auch selbstverständlich nicht tun, und 246 damit ich nicht der Alleinschuldige bin, gibt es nur eins. du mußt jetzt auch rauchen.«

»Ich denke ja gar nicht daran,« lehnte Ratzel ab, bis er von seinem Rauchhunger geplagt plötzlich zu der Einsicht kam, es wäre wirklich sehr unkameradschaftlich gehandelt, wenn er sich dadurch bei Viki in ein gutes Licht zu setzen versuchen wollte, daß er den anderen allein schuldig erscheinen ließ. Denn wenn die ihn fragen würde: ›Geben Sie der Wahrheit die Ehre, ist es Ihnen wenigstens leicht geworden, mir dieses kleine Opfer zu bringen?‹, dann mußte er der Wahrheit gemäß antworten: ›Da ich an keiner Zigarre saugen durfte, habe ich an den zehn Fingern gesaugt, noch einen Tag ohne Tabak und ich bin ein kranker Mann‹.

So zündete denn auch er sich jetzt seine Zigarre an, und die beiden Freunde qualmten um die Wette. Trotz des schlechten Gewissens, das sie beide vor Fräulein Viki hatten, schmeckte ihnen der Tabak glänzend, bis Ratzel nun doch meinte: »Sag mal, Natzel, beantworte mir bitte eine Frage, aber so ehrlich, wie du nur kannst.«

»Ich weiß schon, was du mir sagen willst,« fiel ihm der andere in das Wort, »und dieselbe Frage wollte ich an dich richten, schon vorhin, als wir noch im Bett lagen. Aber du hättest du mich natürlich belogen, oder wenn auch nicht gerade mich, so doch dich. Nun aber, da wir hier rauchend beisammen sitzen, sag mal, Ratzel, kannst du es mit gutem Gewissen beschwören, daß du Fräulein Viki wirklich lieber hast als alles andere aus der Welt, noch lieber als deine Zigarre?«

247 »Willst du mir als Antwort eine Gegenfrage erlauben?« bat Ratzel, »hast du Fräulein Viki wirklich lieber als alles andere auf der Welt, noch lieber als deine Zigarette?«

»Ja, das habe ich und gerade deshalb bin ich doch nur aufgestanden, um zu rauchen.«

Ratzel blickte ganz verwundert auf, dann meinte er: »Das verstehe ich wirklich nicht, das ist mir zu hoch.«

»Und doch ist die Sache so furchtbar einfach, Ratzel,« meinte Natzel. »Sieh mal, Ratzel, wenn man einem Menschen ein Opfer bringen soll, dann muß das doch auch wirklich eins sein, dann muß einem dieses Opfer schwerfallen, denn sonst ist es eben kein Opfer. Na und ob ich rauche oder nicht, das ist mir vollständig gleich. Das ist mir vorhin im Bett klar geworden, da sagte ich mir: ›es wird dir doch eigentlich wahnsinnig leicht, das Rauchen zu lassen, so leicht, daß es dir sehr viel schwerer fallen würde, zu rauchen, das auch schon deshalb, weil du das eigentlich nicht darfst. Wenn du also trotzdem rauchst, dann bringst du Viki dadurch ein viel größeres Opfer, als wenn du weiter auf das Rauchen verzichtest‹. Nicht wahr, das ist dir doch soweit klar?«

»Das hast du dir ja sehr schön ausgedacht,« meinte Ratzel, »wenn man dich so sprechen hört, könnte man beinahe glauben, du hättest recht. Aber daß du es nicht hast, weißte du selbst am besten, da du bei deiner Schlußfolgerung von einer falschen Voraussetzung ausgehst.«

»Das schadet aber nichts, wenn nur das Endergebnis richtig ist,« verteidigte Natzel sich, »davon aber ganz abgesehen, durfte Fräulein Viki dieses Opfer, das für uns beide keins war, gar nicht erst von uns verlangen, sie mußte im 248 voraus wissen, daß wir beide die auferlegte Prüfung mit der höchsten Auszeichnung bestehen würden.«

»Das hätte ich selbstverständlich auch getan, wenn ich nicht aus Kameradschaft zu dir –«

»Du brauchst das gar nicht weiter zu begründen, Ratzel, ich glaube dir das auch so,« fiel Natzel ihm schnell in das Wort, »und nun stelle dir mal vor, wir hätten nach Ablauf der verlangten vier Wochen Fräulein Viki erklärt: ›Wir beide haben Ihren Wunsch erfüllt!‹ Dann wäre Fräulein Viki genau so klug gewesen wie vorher. Dann wüßte sie auch dann noch nicht, wer von uns beiden sie am meisten liebt, und sie selber hätte auch nicht gewußt, wen von uns beiden sie wiederlieben solle, da wir beide ihr den verlangten Beweis unserer Liebe erbrachten. Darum und deshalb muß diese Streitfrage auf eine andere Weise gelöst werden, und ich habe mir auch schon überlegt wie. Wir beide werden uns nie darüber einig, wer von uns Fräulein Viki heiraten soll, da muß also die das entscheiden, und damit sie es kann, müssen wir beide für kurze Zeit verreisen. Urlaub werden wir schon bekommen, und wenn wir fort sind, kann Fräulein Viki sich daraufhin prüfen, wen sie von uns beiden am meisten vermißt und dem dann schreiben.«

»Auf den Brief freue ich mich schon heute,« warf Ratzel glückselig ein.

»Und ich mich erst!« stimmte Natzel ihm bei. »Ich habe ja zwar schon manchen Liebesbrief bekommen –«

»Glaubst du etwa, ich nicht?« fragte Ratzel beleidigt.

»Das mag schon sein,« meinte Natzel, »aber einen 249 solchen Brief, wie ich ihn von Fräulein Viki bekommen werde –«

»Oder ich,« unterbrach Ratzel den Freund.

»Das bleibt abzuwarten, Ratzel, aber darum handelt es sich jetzt weniger, sondern nur darum, ob du meinem Vorschlage beistimmst. In diesem Falle könnten wir schon heute mittag Urlaub erbitten und abends abreisen. Wohin ist völlig gleichgültig, wir müßten nur Fräulein Viki unsere Adresse hinterlassen. Am besten geben wir ihr beide eine adressierte Postkarte, auf die wir selbst schon die Worte geschrieben haben: »Werden Sie noch lange fortbleiben?« Da braucht Viki nur mit ihrem Namen zu unterschreiben. Wer von uns beiden die Karte erhält, der weiß Bescheid. Ist dir das so recht?«

»Schön, meinetwegen,« stimmte Ratzel nach kurzem Besinnen bei, »nur möchte ich vorschlagen, daß wir die Sache noch um vierundzwanzig Stunden verschieben, damit wir heute nachmittag Fräulein Viki unseren Plan unterbreiten und von der hören, ob sie mit dem einverstanden ist. Ist das der Fall, dann können wir morgen fahren.«

»Na, gut, abgemacht,« meinte Natzel, »das wollen wir so tun. Aber ob wir uns nun nicht wieder niederlegen? Mein Rauchbedarf ist bis zum Morgenkaffee gedeckt.«

»Und der meine auch.«

»Also dann gute Nacht!«

Gleich darauf krochen die beiden wieder in ihre Betten, um nun endlich auch den Schlaf zu finden und um beide von Viki zu träumen.

Und wie diese von Viki, so träumte Viki von ihnen. Die 250 hatte sich den ganzen Abend schwere Vorwürfe gemacht, von den beiden ein so großes Opfer verlangt zu haben, denn als sie nach Hause kam, traf sie vor dem Tor den stellvertretenden Stabsarzt, der dienstlich bei ihrem Vater zu tun hatte. Der Arzt, der sich gerade ein Zigarre angezündet hatte, stand ein paar Minuten mit ihr im Gespräch zusammen, und als er ihr da versehentlich einmal den Rauch in das Gesicht blies, tat sie auch ihm gegenüber, als verstände sie nicht, wie ein Mensch rauchen könne und fragte, warum er sich das nicht abgewöhne. Das müsse doch sehr leicht sein, man würfe die Zigarre einfach fort und stecke sich keine neue an, damit sei der Fall erledigt.«

Aber der Arzt hatte sie eines anderen belehrt und sie darüber aufgeklärt, so einfach sei das denn doch nicht. Ein Raucher, der an das Nikotin gewöhnt sei, könne ernstlich erkranken, wenn er dieses Gift plötzlich seinem Körper entzöge. Aber das nicht allein, es könnten nicht nur körperliche Beschwerden eintreten, sondern unter Umständen auch ein Nachlassen der geistigen Funktionen. Ja, es sei sogar mehr als einmal vorgekommen, daß starke Raucher, die ihre Leidenschaft hätten aufgeben müssen, Selbstmord verübten.

Viki war es bei diesen Worten himmelangst geworden, und als sie wieder allein war und erst recht, als sie sich am Abend niedergelegt hatte, wurde sie die Gewissensbisse nicht los und sie nahm sich fest vor, gleich morgen nachmittag den beiden zuzurufen: »Tun Sie mir den einzigen Gefallen und rauchen Sie wieder darauflos, ich will nicht schuld sein, daß Sie erkranken.«

Mit diesem guten Vorsatz schlief sie endlich ein, aber dann 251 träumte sie: Sie stand am nächsten Nachmittag auf dem Tennisplatz und wartete auf Natzel und Ratzel, aber die kamen und kamen nicht. Als sie aber endlich doch erschienen, waren sie beide tot. Sie lagen nicht auf einer Bahre, sondern sie standen, zwei Totengerippe, vor ihr, fest aneinandergelehnt, damit sie nicht umfielen, und jeder von ihnen trug an der Stirn eine Schußwunde, aus der auch nun noch das Blut heraussickerte. Mit Totenaugen blickten die beiden sie an, aber selbst aus diesen starren Augen sprach noch der Vorwurf: Warum hast du uns in den Tod getrieben?

Da packte sie das Entsetzen, aber auch das Mitleid um die so früh Verstorbenen und sie fiel vor ihnen beiden auf die Knie, um sie um Verzeihung zu bitten, schon damit sie wieder lebendig wurden.

Aber die blieben tot, es kam ihr sogar so vor, als würden sie immer noch töter, bis Viki plötzlich laut aufschluchzend Natzels Hände erfaßte und diesem zurief: »Natzel, mein Natzel, wenn ich Euch beiden das Leben nicht wieder zurückgeben kann, dann werde du mir wenigstens wieder lebendig, wenigstens du, denn nun, da Ihr beide tot seid, weiß ich es, dich, meinen Natzel, würde ich viel mehr entbehren, als den Ratzel, ohne dich könnte ich gar nicht mehr leben.«

»Das ist ja außerordentlich schmeichelhaft für mich,« erklang da zu ihrem Entsetzen Ratzels Stimme, aber als sie nun in die Höhe sah, da waren beide wieder lebendig geworden, und der Natzel beugte sich über sie, um sie zu küssen und sie küßte ihn wieder, bis sie sich nach Ratzel umsah. Aber der war spurlos verschwunden und zum erstenmal, da sie nun mit Natzel allein war, sehnte sie sich nicht 252 nach Ratzel und zum erstenmal glaubte sie auch nicht, daß Ratzel doch netter sei als der Natzel, nein, da wußte sie, der Natzel war der Allernetteste, nicht nur von den beiden, sondern überhaupt von allen Männern.

Und abermals ließ sie sich von ihm küssen, bis sie erwachte.

Da war sie zuerst sehr traurig, daß alles nur ein Traum gewesen sei, dann aber, in der Stille der Nacht, prüfte sie ihr Herz noch einmal und immer wieder sagte sie vor sich hin: »Mein Natzel, mein Natzel.«

So sah sie denn dem Nachmittag voller glückseliger Ungeduld entgegen, nur eins bedrückte sie zuweilen, wie es der Ratzel ertragen würde, wenn sie dem Natzel zu verstehen gab, daß sie ihn liebe, aber auch nur ihn. Wie würde Ratzel die Botschaft und die Wahl, die sie getroffen hatte, aufnehmen? Aber alle ihre Befürchtungen erwiesen sich zunächst als grundlos, denn kaum hatte sie, von ihren beiden Courmachern bereits voller Ungeduld erwartet, den Tennisplatz betreten, als diese ihr auch sofort den in der schlaflosen Nacht entworfenen Plan unterbreiteten und ihr dann auch gleichzeitig zwei adressierte und frankierte Postkarten überreichten: »Wenn Ihr Herr Vater uns den Urlaub gibt, gnädiges Fräulein, woran wir nicht zweifeln, setzen wir uns gleich morgen in die Bahn und fahren nach Dresden auf den Weißen Hirsch. Uns ist eingefallen, daß dort verschiedene unserer Kameraden weilen, die wollen wir besuchen, und wohin wir fahren, ist ja auch ganz gleichgültig, nur fort von hier, damit Sie, gnädiges Fräulein, fern von Madrid, fern von uns, oder noch besser gesagt, wir fern von 253 Ihnen, darüber nachdenken können, wen Sie von uns beiden am meisten vermissen.«

Das war eine ziemlich lange Rede, die dadurch nicht verständlicher wurde, daß die beiden Freunde zuweilen gleichzeitig sprachen, um sich dann wieder gegenseitig zu unterbrechen. Aber den Sinn verstand Viki trotzdem und sie freute sich für Ratzel darüber, daß er auf diese Art nicht dabei sein würde, wenn sie Natzels Werbung annahm. Trotzdem aber meinte sie, als die beiden endlich mit ihren Auseinandersetzungen fertig waren, anscheinend nur belustigt: »Ich mache Ihnen mein Kompliment, meine Herren, das haben Sie sich ja wirklich sehr bequem und einfach ausgedacht. Anstatt daß Sie mir beweisen, wem von Ihnen ich ernstlich glauben kann, wenn Sie beide mir fortwährend etwas vorschwärmen, anstatt mir den Beweis zu erbringen: »gnädiges Fräulein, ich bin derjenige, welcher,« verlangen Sie von mir, daß ich meine Wahl zwischen Ihnen treffen soll. So haben wir aber nicht miteinander gewettet,« und neckend und übermütig setzte sie hinzu: »Wie sollte ich auch wohl dazu kommen, Ihren Wunsch zu erfüllen und einem von Ihnen diese Postkarte zu schicken? Da müßten Sie mir doch zum mindesten vorher, wenn auch nur im Scherz, einen offiziellen Antrag gemacht haben, damit ich weiß, wen von beiden ich erhören soll.«

»Wenn es weiter nichts ist, gnädiges Fräulein!« rief da statt des Natzel zu Vikis Schrecken Leutnant Ratzel, »den Antrag können Sie sofort haben, wenigstens von mir, gnädiges Fräulein, ich habe zwar auf diesem Gebiet noch keine Erfahrungen und weiß nicht rechte wie man 254 das macht, aber trotzdem, nun sollen Sie mal was erleben. Ich mache nur zur Bedingung, daß Natzel mich nicht fortwährend unterbricht.«

Auch der war erschrocken zusammengefahren, als Ratzel sich sofort bereit erklärte, um Viki anzuhalten, da aber hatte die ihm leise und verstohlen mit schelmisch lachenden Augen einen kurzen, raschen Blick zugeworfen, in dem geschrieben stand: »Fürchte dich nicht, dazu hast du keine Veranlassung.« – Wenigstens glaubte er, das in ihren Augen zu lesen, aber ob er sich da nicht irrte? Auf jeden Fall schlug sein Herz so unruhig wie nie zuvor und es wurde ihm nicht leicht, dem Freunde das verlangte Versprechen zu geben, denn wer konnte wissen, ob der nicht doch das richtige Wort fand, um Viki für sich zu gewinnen.

So wartete er denn voll ängstlicher Spannung auf das, was Ratzel sagen würde, und der begann jetzt mit ernster, feierlicher Stimme: »Hochverehrtes gnädiges Fräulein!«

Aber weiter kam er nicht, denn Viki rief ihm tadelnd, aber zugleich hell auflachend zu: »Aber Herr Leutnant Ratzel, was fällt Ihnen denn ein? So fängt man doch keinen Antrag an. Ich habe zwar auf dem Gebiet auch noch keine Erfahrung, aber so viel weiß ich doch, der muß ganz anders beginnen. Sie machen ja eine Überschrift, als wenn Sie mir einen Brief schreiben, oder als wenn Sie sonst eine Rede auf mich halten wollten, die mit den Worten endet: ›Fräulein Viki von Aschenbach, die Tochter unseres allverehrten Herrn Oberst und Garnisonältesten, sie lebe hurra, hurra, hurra!‹ Nein, so geht das nicht.«

Ratzel stand ganz verdutzt da, denn wenn es ihm auch 255 tatsächlich an jeder Erfahrung auf diesem Gebiet fehlte, so viel wußte er doch, daß es nicht sehr vielverheißend war, wenn er gleich zu Beginn seines Antrages ausgelacht wurde. Aber immerhin besser, zu Beginn als zum Schluß ausgelacht zu werden. So begann er denn nach einer kleinen Pause abermals: »Gestatten Sie mir also bitte, gnädiges Fräulein, Ihnen ohne jede weitere Überschrift zu sagen, was ich auf dem Herzen habe, und ich glaube, ich brauche da nicht erst viele Worte zu machen?«

»Da irren Sie sich aber gewaltig,« unterbrach ihn Viki abermals lustig, »Sie sollen sogar sehr viele Worte machen. Sie dürfen da aber natürlich nicht in die allgemeinen Redensarten verfallen, die da ungefähr lauten: ›Von der Minute an, da ich Ihnen zum erstenmal begegnete, habe ich keinen anderen Gedanken, als nur den Sie für mein Leben zu gewinnen. Ihre Nähe entflammt mich, jeder Blick Ihrer Augen, jedes Wort, das Sie zu mir sprechen, löst ein unbeschreibliches Gefühl des Glückes und der Seligkeit in mir aus‹ – und wie das so weiter geht, wenn ein Ladenjüngling seiner Herzallerliebsten seine Liebe gesteht. Mit solchen banalen Worten haben Sie bei mir kein Glück, Herr Leutnant, nicht einmal im Scherz, das sage ich Ihnen gleich, da müssen Sie sich geistig schon mehr anstrengen.«

»Aber das geht doch nicht so ohne weiteres,« verteidigte Ratzel sich, der trotz allem immer noch nicht die Hoffnung aufgab, Viki zu gewinnen, »das muß man sich doch erst in Ruhe überlegen.«

»Schön, dann überlege dir das mal,« stimmte Natzel ihm nun schnell bei, »vielleicht beurlaubt dich das gnädige 256 Fräulein für eine Viertelstunde, oder wie lange du sonst brauchst.«

»Länger auf keinen Fall,« rief Ratzel, »aber das sage ich dir gleich, Natzel, wenn du meine Abwesenheit dazu benutzt, um dem gnädigen Fräulein nun auch deinerseits einen Antrag zu machen –«

»Bitte sehr,« fiel Natzel ihm in das Wort, »das ist mein gutes Recht,« und auch Viki meinte: »Wie soll ich wohl wissen, welche Worte mir am besten gefallen haben, wenn ich Sie nicht beide anhöre. Also denken Sie sich nur etwas recht Hübsches aus, Herr Leutnant Ratzel, damit Sie dann hinterher als der preisgekrönte Redner dastehen.«

»Das werde ich auch, gnädiges Fräulein,« meinte Ratzel, »nun entschuldigen Sie mich also bitte für wenige Minuten.«

Gleich darauf ging er ganz in Gedanken versunken davon, ohne sich irgendwie durch das Treiben auf dem Tennisplatz in seinem Grübeln stören zu lassen. Viki und Natzel blieben allein zurück. War Natzel verwirrt und unruhig, so war Viki es erst recht, aber trotzdem meinte sie anscheinend völlig unbefangen und lustig: »Na, Herr Leutnant, nun bin ich aber wirklich begierig, wie Sie die Sache anfangen werden. Aber erst kommen Sie, wir haben schon lange genug gestanden; wenn es Ihnen recht ist, setzen wir uns dort drüben etwas auf die kleine Bank.«

Das taten sie denn auch und kaum hatten sie es getan, als Natzel Vikis rechte Hand ergriff.

»Aber was machen Sie da nur?« fragte Viki, nun, da die Entscheidung nahte, doch mehr als verlegen.

»Ich stelle die Verbindung zwischen uns her, gnädiges Fräulein,« gab er zur Antwort, »Sie sitzen zwar 257 unmittelbar neben mir, aber doch vorläufig nur mit Ihrem Körper, nicht mit Ihren Gedanken, und deshalb müssen Sie mir nicht nur Ihre Hand lassen, sondern Sie müssen mir auch erlauben, die leise zu streicheln.«

»Aber warum denn das?« rief sie verwirrt. »Die Verbindung ist doch nun da.«

»Ist sie das wirklich?« fragte er erfreut. »Aber trotzdem, gnädiges Fräulein, die Verbindung könnte wieder gestört werden, oder das Fräulein auf dem Amt könnte plötzlich auf den Gedanken kommen, abzuklingeln. Da ist es schon besser so.« Und abermals streichelte er ihre Hand, bis er endlich, ohne sie dabei anzusehen, zu sprechen begann, wenn auch nicht in origineller Weise, wie Viki das von Ratzel verlangt hatte, nur, um diesen nicht zu Wort kommen zu lassen. Er sprach ihr von seinem bisherigen Leben, wie er immer ein flotter, frischer, übermütiger Leutnant gewesen sei, der es nicht für möglich gehalten hätte, daß ihm jetzt schon bei seinen doch erst fünfundzwanzig Jahren ein junges Mädchen so gefährlich werden könne, daß auch nur vorübergehend der Gedanke in ihm wach werden solle, ihr seine bisherige Freiheit zu opfern. Da aber habe er sie kennen gelernt: »Ich will Ihnen in diesem Augenblick nichts vorlügen, gnädiges Fräulein, und Ihnen nicht erzählen, daß ich auf den ersten Blick in Sie verliebt war. Sie waren mir zuerst weiter nichts, als eine der vielen hübschen jungen Damen, die ich hier täglich sah. Ziemlich achtlos ging ich sogar an Ihnen vorüber, aber dann fand ich nach und nach an Ihnen ein immer größeres Gefallen, nicht nur an Ihrer äußeren Erscheinung, sondern auch an 258 Ihrem Wesen. Und eines Morgens erwachte ich und war in Sie verliebt. Ich war es natürlich schon längst gewesen, aber ich hatte es nur nicht bemerkt, jetzt aber war die Leidenschaft desto stärker in mir erwacht.« So sprach er noch eine ganze Weile auf sie ein, bis er mit den Worten schloß: »Sie wissen nun, gnädiges Fräulein, wie es um mich bestellt ist, und wenn der Ratzel und ich morgen abgereist sind und wenn Sie sich dann prüfen, wen Sie von uns beiden am meisten entbehren, dann denken Sie bitte an alles, was ich Ihnen eben sagte. Nichts liegt mir natürlich ferner, als den Freund durch meine Worte aus Ihrem Herzen verdrängen zu wollen, Sie werden ja hören, was der Ihnen nachher zu sagen hat.«

Da kam Ratzel auch schon angestürmt mit einem glückstrahlenden Gesicht, ihnen beiden von weitem zurufend: »Ich hab's, Herrschaften, ich hab's, und das sage ich Ihnen gleich, gnädiges Fräulein, wenn Sie auf die Liebeserklärung nicht hineinschliddern, dann –«

Aber mitten im Satz hielt er inne, als er nun näher gekommen war und unmittelbar vor ihnen stand, denn nun sah er, was die beiden selbst nicht wußten, daß sie immer noch Hand in Hand dasaßen. Aber das nicht allein, er bemerkte in Vikis Zügen und in deren Augen einen solchen Abglanz des Glückes und der Seligkeit, daß ihm tatsächlich das Wort in der Kehle stecken blieb, denn er wußte, der Kamerad hatte den Sieg davongetragen. Nicht, weil die Liebeserklärung, die er losließ, mit der neuen, die er sich ausdachte, auch nur im entferntesten einen Vergleich ausgehalten hätte, sondern weil Viki sich auch ohne viele Worte für den entschieden haben mußte. Das gab ihm einen 259 mordsmäßigen Ruck durch den ganzen Körper, ihm war zumute, als fiele er von der höchsten Spitze eines hohen Baumes in den tiefsten Abgrund eines unermeßlich tiefen Brunnens. Aber trotzdem durfte er das, was er empfand, nicht verraten, das war er sich selber schuldig, und so meinte er denn jetzt anscheinend nur verstimmt und verärgert: »Aber Herrschaften, das hättet Ihr mir doch eher sagen können, da hätte ich mir die Mühe erspart, mir derartig meinen Schädel anzustrengen. Ich habe nachgedacht, daß mir wenigstens zehn Haare ausgefallen sind.«

»Die werden schon wieder wachsen,« tröstete Natzel den Kameraden. »im übrigen ist es tatsächlich noch nicht so weit, wie du zu glauben scheinst. Ich habe zwar dem gnädigen Fräulein mein Herz ausgeschüttet, aber daß Fräulein Viki mir bisher die Hand ließ, ist noch kein Beweis dafür, daß ich sie auch für immer behalten darf. Das wird sich erst entscheiden, wenn wir abgereist sind.«

»Das glaubst du wohl selber nicht,« widersprach Ratzel, dem selbst diese Worte des Freundes keine Hoffnung mehr machten, »und selbst wenn wir reisen, dann bekomme ich ganz gewiß nicht die Karte, auf der geschrieben steht: »Wann kehren Sie zurück?«

»Doch, Herr Leutnant Ratzel,« nahm Viki jetzt das Wort, ihre Hand aus der des Geliebten lösend. Und aus ihrer Bluse die Karten hervornestelnd, meinte sie abermals: »Sie bekommen die Karte totensicher, Herr Leutnant Ratzel, und damit Sie mir auch glauben, gebe ich Sie Ihnen schon jetzt, hier ist sie.«

So ernst, so frei von jedem Schalk und Übermut sah sie 260 ihn dabei an, daß er sie gar nicht begriff. Sollte er doch der Glückspilz sein, für den sie sich entschied? Hatte sie mit Natzel nur deshalb Hand in Hand dagesessen, um den darüber hinwegzutrösten, daß sie seine Neigung nicht erwidere? Hatte das Glück in ihren Augen nur dem Gedanken an ihn gegolten? Schön war's, wenn es so wäre, dachte er im stillen, aber er vermochte sich doch nicht zu diesem Glauben durchzuringen und so fragte ersetzt: »Wie soll ich es verstehen, gnädiges Fräulein, daß Sie gerade mir die Karte schicken?«

Da sah Viki ihn voll herzlichster Freundschaft an und rief ihm gleich darauf zu: »Weil Sie meinetwegen gar nicht erst fortzugehen brauchen, weil ich Sie als Freund nicht einen Tag missen möchte, wenn es nicht unbedingt sein muß, weil Sie mir fehlen würden, wenn Sie mir nicht auch in Zukunft, wenn auch nur im Scherz, weiter den Hof machten, und nicht wahr, Natzel, das darf er doch, oder würdest du da eifersüchtig werden?«

Da hatten Natzel und Ratzel die Antwort, die sie aus Vikis Munde erwartet hatten, und während Natzel vor Freude von seinem Platz emporschnellte, trat Ratzel jetzt ganz dicht auf Viki zu, und beide warteten darauf, daß Viki sie küssen möge, den einen aus Liebe, den anderen aus Freundschaft.

Und da Viki sah, daß ihr Natzel nicht die leiseste Spur von Eifersucht zeigte, da küßte sie jetzt nicht nur den Natzel, sondern auch den Ratzel, den küßte sie sogar zuerst, weil es ja der erste und der letzte Kuß war, den er von ihr erhielt und weil sie überglücklich war, daß sie den Natzel nicht nur einmal, sondern in Zukunft immer küssen durfte, so oft ihr danach zumute war. 261

 


 << zurück weiter >>