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V.

Der gütige Leser, der unsere Transportmittel nun kennt, wird es sich gern gefallen lassen, im Handumdrehen wieder von München nach Hamburg zurück versetzt zu werden. – Wir sind schon dort, und zwar – laß sehen – ja, wir befinden uns gerade, wo wir uns hingewünscht, auf dem Neuenwall vor dem ungeheuern Schaufenster der Modistin, Madame Eberhardt. Dieses zeigt uns in reicher Auswahl Damenhüte in den neuesten Façons, elegante Hauben, Coiffüren, Plümagen, Pariser Blumen, Bänder, Blenden und wie sie alle heißen mögen, diese tausend zierlichen Sachen, wodurch unsere lieben Damen ihre Reize nicht blendender machen und den etwaigen Mangel an Schönheit nicht verdecken, die also für etwas vollkommen Entbehrliches angesehen werden dürfen, was uns namentlich die Väter und Ehemänner gern einräumen werden, die sie bezahlen.

Wir wollen in den Laden treten, nicht um dort etwas zu kaufen – der Himmel bewahre uns davor – nein, weil wir hoffen dürfen, eine liebe Bekannte, Louise Lüders hier zu treffen. Das sehr geräumige und elegant eingerichtete Local zeigt uns eine Unmasse der eben genannten Gegenstände, wir würdigen jedoch dieselben keiner Aufmerksamkeit und sehen uns lieber nach Louisen um. Dort steht sie hinter dem großen Ladentische. Ja, lieber Leser, das ist jetzt ihr Platz, und, Du wirst es nicht bestreiten, kein beneidenswerther. Ihr schönes Gesicht ist auffallend blaß, erscheint aber dadurch nur noch interessanter. Man könnte denken, daß sie vor Kurzem vom Krankenlager erstanden sei, oder daß ein schmerzliches Seelenleiden sie niederdrücke; vielleicht treffen beide Annahmen zu. Wir möchten uns gern dem lieblichen Mädchen nähern und sie theilnehmend um den Grund ihres Kummers befragen; doch nein, wir kennen denselben ja, und zudem ist sie gerade damit beschäftigt, eine Menge von Ballcoiffüren einigen älteren Damen vorzulegen, die ungemein wählerisch sind und jede zwanzigmal in die Hand nehmen, bald diese, bald jene auf den Kopf drücken und dann vor den großen Trumeau treten um sich von allen Seiten selbstgefällig zu betrachten – o über die Eitelkeit! Die Aelteste von ihnen, jene mit dem Mulattengesicht, der aufgeworfenen Nase und dem breiten Munde, kann sich durchaus nicht für die Coiffüre von rothem Sammt mit goldenen Litzen entscheiden, wozu ihr die Freundin räth; weit lieber wäre ihr die mit den Blonden, wenn nur die Seidenkreppbänder nicht zu schmal wären oder die da auf weißem Seidengrunde, wenn die Pariser Blumen nur Rosenknospen und nicht Maiglöckchen wären, denn diese lassen den Teint so gelb erscheinen – o über die Eitelkeit! Mein Gott, Madame, nehmen Sie die erste beste, es bleibt sich wahrhaftig ganz gleich; denn keine wird Sie jung und schön machen oder Ihnen zu einer Eroberung verhelfen. Da tritt sie zum einundzwanzigsten Mal vor den Spiegel – o über die Eitelkeit.

Komm, lieber Leser, hier ist unsers Bleibens nicht. Wir wünschen Louisen, daß sie ihre Engelsgeduld nicht verlieren möge und schreiten durch den Laden jener Thür zu. Sie führt uns in eine Kammer, die mit Kisten, Körben und Schachteln von jeder Größe und den verschiedensten Formen dermaßen angefüllt ist, daß für den Durchgang nur ein schmaler Raum übrig bleibt. Zudem ist die Kammer sehr schwach beleuchtet, denn sie empfängt kein anderes Licht als das, welches durch eine in der eben genannten Thür angebrachte Scheibe hereinfällt. Horch! dringt nicht von der dem Laden entgegengesetzten Seite ein verworrenes Geräusch an unser Ohr, wie ein von mehreren Personen herrührendes Sprechen und Lachen? Wir sind lieber unter Menschen, als allein hier in dem halbdunkeln Kämmerlein und wollen daher unsern Weg fortsetzen. In jener Ecke sehen wir eine zweite Thür. Wir öffnen sie und haben plötzlich eine sehr belebte Scene vor uns. Kein Wunder, denn wir befinden uns in dem Arbeitszimmer der Putzmacherinnen. Das Zimmer ist sehr geräumig und hell. Es hat zwar nur ein Fenster, das auf die Straße geht, jedoch der Thür gegenüber, durch welche wir eingetreten sind, befinden sich noch drei andere, die eine weniger freundliche Aussicht auf einen kleinen, rings von hohen Mauern eingeschlossenen Hof darbieten. Zu diesem Hofe führt auch eine Thür links in der Ecke. Um einen großen Tisch, der fast die ganze Länge des Zimmers einnimmt, sitzen nicht weniger als zehn junge Mädchen, eifrig mit ihrer Arbeit beschäftigt, noch eifriger mit dem Geplauder, das uns so eben zu Ohren drang.

Sie sind hübsch, diese jungen Damen, und der geneigte Leser wird es daher nicht ungern sehen, daß wir sie ihm mit einigen Worten vorstellen. Wir beobachten dabei gewissenhaft die Rangordnung, die hier eingeführt ist, und beginnen also mit der Vorarbeiterin Fräulein Emilie – wir müssen ausdrücklich bemerken, daß die jungen Damen nur bei ihren Vornamen genannt werden.

Wir haben gesagt, daß die Putzmacherinnen alle hübsch sind. Es thut uns in der That sehr leid, diesen Ausspruch gleich von vorn herein bedeutend modificiren zu müssen; denn Fräulein Emilie besitzt leider keinen anderen äußeren Vorzug, als jenen, den man bei den kleinen struppigen Rattenfängern rühmt und der eben nur in ihrer ausnehmenden Häßlichkeit besteht. Ueber einen etwas krummen Rücken erhebt sich ein etwas schiefer Hals, auf welchem ein etwas schiefer Kopf sitzt mit brennend rothem Haar und einem kleinen schiefen Gesichte, das mit reichlichen Sommersprossen übersäet ist.

Je bucklichter, desto verliebter, sagt man. Bei Fräulein Emilie trifft dies zu. Sie schwärmt mit der ganzen Gluth einer liebedürstenden Seele für einen stattlichen, schlankgewachsenen Lieutenant, der, so oft ihn sein Weg von seiner Wohnung nach der Caserne und von der Caserne nach seiner Wohnung an dem Laden vorbeiführt, seine Augen zu dem Fenster erhebt, an welchem Fräulein Emilie sitzt. Es geschieht freilich nicht, um sein krankes Herz an dem Anblick der Reize Fräulein Emiliens zu laben, sondern um einen Blick der Verständigung von Seiten Fräulein Mariens aufzufangen, die neben Emilie, aber tiefer im Zimmer ihren Platz hat. Der schlaue Lieutenant legt dann gern die Hand auf die Brust und zwar so, daß sein Zeigefinger den fünften oder sechsten Knopf links, von oben gezählt, oder den ersten rechts, der die Zahl sieben angiebt, oder irgend einen der darauf folgenden berührt. Fräulein Marie weiß, was das zu bedeuten hat; aber Fräulein Emilie bezieht Alles auf sich und findet es ungemein rührend, daß er immer auf sein Herz deutet, den Sitz seiner Liebeslust und Liebespein. Nun, irren ist menschlich, und Fräulein Emilie zeigt sich in dieser Beziehung sehr menschlich.

Fräulein Emiliens Schwärmerei für den Lieutenant ist dem Scharfblick ihrer Mitarbeiterinnen nicht entgangen, und diese haben das Menschenmögliche gethan, um ihr anfangs schwach glimmendes Liebesfeuer allmählig bis zur helllodernden Flamme anzufachen. Sie erzählen ihr tagtäglich, wie sich der arme Lieutenant in Liebe und Sehnsucht verzehre, wie man ihn oft Abends, wenn der Laden schon geschlossen war, vor demselben habe auf und ab wandeln sehen, den Blick gen Himmel gerichtet und den Mond anseufzend. Sie erzählten ihr, wie er schon längst in düsteren Lebensüberdruß versunken wäre, wenn ihn nicht die Hoffnung aufrecht erhielte, daß er bald zum Oberlieutenant avanciren und durch die Erhöhung seiner Gage endlich in den Stand gesetzt würde, sein geliebtes Mädchen zum Altare zu führen.

Fräulein Emilie ist so leichtgläubig, daß sie all den Unsinn, den ihr jene auftischen, für baare Münze nimmt; und schon lange besteht durch die Vermittelung ihrer Freundinnen zwischen ihr und dem Sohne des Mars ein Briefwechsel, von dem dieser sich nichts träumen läßt, der aber für die Arbeiterinnen im Putzladen höchst ergötzlich ist. Ihr letzter Brief hatte mit Heine's Worten geschlossen:

Sie liebten sich beide, doch Keines
Wollt' es dem Andern gestehn;
Sie sahen sich an so feindlich
Und wollten vor Liebe vergehn.

Und er hatte in seiner Antwort so zart auf seine jetzigen ungünstigen Verhältnisse hingedeutet, hatte in so wehmüthiger Weise davon gesprochen, in wie weiter Ferne das Ziel seiner Wünsche noch liege und zum Schluß mit Byron gesagt:

Drum sei mein Heil durch Flucht erbeten,
Denn ohne Wunsch hineinzutreten
Kann vor dem Paradiese ich nicht stehn!

Und sie sah darin einen so schönen Zug seines edlen Charakters, und es hatte sie beim Lesen dieser Zeilen eine so tiefe Rührung ergriffen, daß sie schier zu verschmelzen drohte, wie Butter an der Sonne.

Wenn wir hinzufügen, daß Fräulein Emilie nur ihren Lieutenant liebte, alle übrigen Menschen aber haßte, eine sehr scharfe Zunge besaß und zur Aufrechthaltung der Autorität, deren sie sich im Arbeitszimmer erfreute, sich nicht immer der gelindesten Mittel bediente, so glauben wir über sie vorläufig genug gesagt zu haben, um zu der zweiten im Range, Fräulein Eulalia übergehen zu können.

Fräulein Eulalia ist eine sehr hübsche Brünette mit großen, kohlschwarzen, lebhaften Augen und von blühender Gesichtsfarbe. Sie könnte für eine untadelhafte Schönheit gelten, wenn nicht ihr eines Bein ein wenig kürzer gewesen wäre, als das andere, wodurch ihr Gang, trotz des sehr hohen Absatzes unter dem linken Fuße, etwas hinkend wurde. Wir sagten, sie sei die zweite im Range, doch genoß sie diesen Vorzug nicht in Folge ihrer Anciennetät, sondern weil sie sich ausschließlich mit der Anfertigung eleganter Hauben beschäftigte. Die Einreihung der Menschen in verschiedene Rangclassen ist mitunter auf sonderbare Grundlagen basirt.

Fräulein Julie, welche die dritte Rangstufe einnimmt, weil sie nämlich Coiffüren anfertigt, ist eine junge, reizende Blondine mit einem schmachtenden Gesichtsausdrucke. Ihr folgt Fräulein Amanda, jene blühende, rothwangige Dame, die so fleißig an einem neuen Hute arbeitet, dann kommt Fräulein Lina, die, wie ihr strahlendes Auge verräth, ein sehr lebhaftes Temperament besitzt, immer und über Alles lacht und mit ihren Neckereien nicht eben sparsam und behutsam ist. Sie modernisirt gebrauchte Strohhüte, die aufgetrennt und ausgebreitet vor ihr liegen. Sie glättet dieselben, indem sie mit dem in Wasser getauchten Finger darüber hinfährt, und beschneidet sie dann nach dem ebenfalls vor ihr liegenden Muster.

Wir kommen nun zu Fräulein Marien, jener dort mit den hellen Locken und den sanften Augen, die auf den Lieutenant Berthold einen so großen Zauber geübt haben. Sie ist äußerst empfindsam und spielt gern die Tugendheldin.

Ihre Nachbarin, Fräulein Bertha, ist unter Allen bei weitem die schönste. Ihre Schönheit ist in der That blendend; denn ihre Züge sind nicht nur von der vollkommensten Regelmäßigkeit und einer wunderbaren Frische, sie werden noch dazu von einem Paar strahlenden, großen, dunkeln Augen belebt, die ihres Gleichen suchen. Dazu ist sie über die Maßen eitel und coquett. Sie fesselt leicht, aber nur auf kurze Zeit, und aus beiden Gründen hat sie eine größere Zahl von Anbetern aufzuweisen, als alle übrigen zusammengenommen. Die nun folgenden jungen Damen können wir übergehen, da sich nichts Besonderes von ihnen sagen läßt. Nur das an einem kleinen Seitentische mit Bügeln beschäftigte Lehrmädchen, Nanny, ein Kind von dreizehn Jahren, müssen wir noch erwähnen. Sie ist ein armes, geplagtes Geschöpf und kommt aus dem Weinen nie heraus. Ihr Geist besitzt leider nicht die nöthige Spannkraft, um sich von jedem Schicksalsschlage gleich wieder zu erheben, und da diese Schläge sehr schnell auf einander folgen, so befindet sie sich fortwährend in dem Zustand eines Gummiballs, der zu Boden geschleudert und nach jedem Rückpralle, von der geübten Hand eines Schulknaben auf's Neue getroffen, seine gezwungenen Sprünge in endloser Reihenfolge fortsetzt.

Das zweite Lehrmädchen, Betty, ist nicht zur Stelle; wir werden sie aber aus dem Folgenden zur Genüge kennen lernen.

Behorchen wir nun das Gespräch der uns vorgeführten Damen. »Wo nur die Betty bleibt,« sagt Fräulein Bertha, nachdem sie mehrmals ungeduldig nach der auf den Hof führenden Thür geblickt hat.

»Nun, die bleibt ja immer eine halbe Ewigkeit weg,« bemerkt Fräulein Lina, »und das wird nie anders werden, wenn Sie, Fräulein Emilie, dem naseweisen Dinge nicht einmal einen tüchtigen Verweis geben.«

»Ich hätte viel zu thun,« murmelt sehr unverständlich Fräulein Emilie, die eine Stecknadel zwischen den Lippen hält, mit welcher sie eben eine Schleife auf einen Hut zu befestigen im Begriff ist, »ich hätte viel zu thun, wenn ich allen naseweisen Dingern ihre wohlverdiente Zurechtweisung geben wollte.«

Dies war nicht ohne Beziehung gesagt, und Fräulein Lina fühlte den Stich.

»Mein Gott,« entgegnete sie, indem sie die Fingerspitzen in die mit Wasser gefüllte Schale tauchte, »man darf doch wohl eine Bemerkung machen. Bei Ihnen sieht sich doch auch Alles schief an, Fräulein Emilie.«

Das Wort schief hatte sie so stark betont, daß sofort Alle die Anspielung auf die in Fräulein Emiliens Figur vorherrschende Schiefheit verstanden und in ein lautes Kichern ausbrachen. Fräulein Emiliens Augen flammten vor Zorn. Aber Fräulein Lina ließ es dabei nicht bewenden, sie zog die Finger in einer Weise aus der Wasserschale, daß einige Tropfen auf Fräulein Emilie fielen.

»Ich verbitte mir Ihre Unarten, Fräulein,« rief diese mit wüthenden Blicken. »Wenn Sie so ungeschickt sind, so werden Sie die Güte haben, sich mit Ihren alten Hüten –« sie legte in das Wort alten den Ausdruck einer grenzenlosen Verachtung – »an den Nebentisch zu setzen, und Nanny wird Ihren Platz einnehmen. Also geben Sie ein wenig Acht!«

»O, Sie werden doch keinen Schaden genommen haben,« entgegnete lachend Fräulein Lina, »ich habe immer gedacht, daß eine kleine Abkühlung Ihnen nur gut thun könnte.«

»Da geht Lieutenant Berthold vorüber!« rief Fräulein Julie, »mit seinem Freunde, dem kleinen netten Lieutenant Springer.«

Plötzlich ließen die zehn Näherinnen ihre Arbeit in den Schoß sinken, oder legten sie vor sich auf den Tisch, indem sie sich alle halb empor richteten und die, welche vom Fenster am weitesten entfernt saßen, die Köpfe vorstreckten, um den beiden Officieren nachzusehen. Ja, Fräulein Emilie und Fräulein Marie fuhren so rasch in die Höhe, daß sie die vor ihnen stehenden Haubenstöcke umstießen.

»Acht« sagte Fräulein Marie, die auf den bezeichneten Knopf sehr genau gemerkt hatte, kaum hörbar vor sich hin.

»Was sagen Sie?« fragte Fräulein Emilie, »Acht?«

»Ich sage, Sie möchten sich ein wenig in Acht nehmen, Fräulein Emilie,« entgegnete jene etwas verlegen, »mit Ihrem Haubenstock mein' ich.«

»Ich glaube, Sie haben meinen mit dem Ihrigen umgerissen.«

»Ich glaube, es war umgekehrt.«

»Es wäre schlimm,« sagte Fräulein Julie, »wenn die hübschen Gesichter Schaden gelitten hätten, wie das meines Engels hier.« Sie streichelte dabei die Wangen des vor ihr stehenden Haubenstocks und befestigte die blaue Schleife, welche die schon bei einem früheren ähnlichen Anlasse verloren gegangene Nase ersetzte, mit einer zweiten Stecknadel.

»Oder wenn Fräulein Emiliens einen schiefen Hals bekommen hätte,« flüsterte die neckische Lina ihrer Nachbarin zu, worüber diese – es war Fräulein Bertha – so sehr lachte, daß sie die Nähnadel fallen ließ, durch welche sie gerade einen Faden ziehen wollte.

In diesem Augenblicke ertönte die neben der Thür zu dem Durchgang befindliche Glocke.

»Sputen Sie sich doch, Nanny,« rief Fräulein Emilie.

»Die hört wieder nicht,« bemerkte Fräulein Eulalie.

»Mein Gott, ich gehe ja schon,« klagte die kleine Nanny, indem sie das heiße Plätteisen auf den Fußboden stellte.

»Machen Sie aber, daß Sie schnell wieder kommen,« rief Fräulein Amanda der Forteilenden nach, »ich hab' etwas für Sie zu thun.«

»Ich auch, ich auch!« riefen zwei oder drei andere.

»Fräulein Therese wird wieder krank sein,« meinte Fräulein Lina.

»Um so besser,« bemerkte Fräulein Bertha.

»Es würde sie freuen, zu hören, wie liebreich Sie von ihr sprechen.«

»Sie verstehen mich wohl nicht.«

»So reden Sie deutlicher.«

»Ich meine, wenn Fräulein Therese krank ist und Fräulein Louise ihr Geschäft im Laden übernimmt, so sind wir der Unannehmlichkeit überhoben, dieses vornehme Dämchen hier zu sehen, ein Glück, das wir zu schätzen wissen.«

»Darin stimme ich Ihnen vollkommen bei.«

»Ich auch.«

»Und ich erst recht.«

»Ach, möchte Fräulein Therese nur immer krank sein.«

»Ich weiß wirklich nicht, meine Damen,« sagte Fräulein Emilie mit einer beschützenden Miene. »was Sie Alle gegen Fräulein Louise haben; sie legt Ihnen doch nie etwas in den Weg.«

»Aber sie ist unerträglich mit ihrem erhabenen Wesen.«

»Und ihrer erheuchelten Demuth.«

»Und ihrer Engelstugend, die doch vielleicht nicht so unbesiegbar ist, wie sie uns glauben machen will.«

»Das sagen Sie nur, Fräulein Bertha, weil eines Abends ein gewisser reicher Consul Fräulein Louisen nachging, statt, wie er versprochen hatte, Sie in's Theater zu führen. O, wir wissen das recht gut.«

»Und Sie, Fräulein Emilie, sagen das nur aus Aerger darüber, daß noch nie Jemand auf den Einfall gekommen ist, Sie in's Theater führen zu wollen, weder ein reicher Consul, noch ein gewisser armer Lieutenant. O, wir wissen das auch recht gut.«

»Und wenn Jemand auf den Einfall kommen sollte, Fräulein Bertha, so seien Sie überzeugt, daß ich mich nicht in's Theater führen lassen würde, so wenig als sonst wohin. Ich werde nur mit meinem Verlobten ausgehen.«

»Dann können Sie lange warten. Uebrigens möchte ich wissen, was Sie mit dem: ›sonst wohin‹ gemeint haben. Sie haben mitunter sehr schiefe Gedanken.«

Der Haubenstock erzitterte unter den Händen Fräulein Emiliens, und ihre Gegnerin zog mit einer unwillkürlichen Handbewegung Fräulein Lina's Wasserschale etwas näher an sich. Es war gewiß ein Glück zu nennen, daß in diesem kritischen Momente die Aufmerksamkeit Aller auf das zweite Lehrmädchen, die kleine Betty, gelenkt wurde, die, mit einer ungeheuren Pappschachtel beladen, durch die auf den Hof führende Thür eintrat. Sie war sehr erhitzt und ganz außer Athem, und erst nachdem sie sich ihrer Bürde entledigt und mit einem nicht ganz reinen Schnupftuch ihr Gesicht getrocknet hatte, konnte sie sich sammeln, um die Sündfluth von Schmähworten abzuschütteln, die von allen Seiten auf ihr schuldloses Haupt herabströmte.

»Mein Gott,« hieß es, »wo bleiben Sie doch nur!« – »Es thäte wirklich noth, das man Ihnen Jemand mitgäbe, der Sie wieder nach Hause bringen könnte. –« »Oder, daß man eigens für Sie eine Droschke hielte,« – »Danken Sie dem Himmel, daß Madame Eberhardt nicht da ist.« – »Sie würde Ihnen ordentlich den Text lesen.«

»Aber so hören Sie doch, meine Damen,« entgegnete die nun wieder zu Athem gekommene Betty in einem schnippischen Ton und mit großer Zungengeläufigkeit. »Ich bin wieder einmal artig in den April geschickt worden. Madame Miller habe ich nicht finden können; denn in der ganzen Bergstraße ist keine Nummer 96. Und dann ist Alles wieder verkehrt, wie gewöhnlich. Madame Schnitter sagt, sie wolle keinen Krepphut, sie habe sich für einen weißen Spitzenhut entschieden, das müsse Madame Eberhardt doch wissen, und dann hat Frau von Allen keine rothen Bänder auf ihre Haube gewollt, sondern weiße, und die Baronin Hirschberg sagt, es seien nicht ihre Blonden, die man auf ihre Coiffüre genäht habe, und sie bäte sich ihre eigenen Blonden aus.«

»Sind Sie endlich fertig?« fragte Fräulein Emilie.

»Nun, ich dächte, es wäre genug.«

»Gehen Sie in den Laden und erzählen Sie das Alles Fräulein Theresen.«

»Fräulein Therese hat mir keinen Auftrag gegeben, sondern Fräulein Louise.«

»Und die hat wieder Confusionen gemacht wie immer,« rief Eine.

»O, wir kennen das,« sagte eine Andere.

»Sie hat wieder die Nummernzettel verwechselt,« fügte eine Dritte hinzu.

»Das wird was setzen, wenn Madame Eberhardt nach Hause kommt.«

»Gott mag wissen, wo Fräulein Louise auch immer ihre Gedanken hat.«

»Auf Buchenthal.«

»Nein, auf dem Weltmeere.«

»Was haben Sie da in der Hand, Betty?« fragte Fräulein Bertha. »Kommen Sie hierher!«

»Es ist ein Brief an Fräulein Louise,« entgegnete das Lehrmädchen.

»Ei, ei, an Fräulein Louise; lassen Sie einmal sehen. Nun, so geben Sie ihn doch her!«

»Was wollen Sie damit, Fräulein Bertha? Er ist ja nicht an Sie.«

»Geben Sie ihn gleich her, sage ich. Sie sehen ja, daß Fräulein Louise nicht hier ist.«

»Dann wird sie wohl im Laden sein.«

»Im Laden wird sie aber keine Briefe lesen.« Mit diesen Worten entriß Fräulein Bertha dem Lehrmädchen den Brief und legte ihn neben sich auf den Tisch. »So,« setzte sie hinzu, »da kann er liegen, bis Fräulein Louise kommt. Wer gab Ihnen übrigens den Brief?«

»Eine alte Frau.«

»Gut, nehmen Sie Ihre Siebensachen und trollen Sie sich in den Laden.«

Kaum war Betty fort, als Fräulein Bertha den Brief in die Hand nahm, indem sie die Bemerkung hinwarf, daß es doch sehr verdächtig sei, einen solchen durch eine alte Frau besorgen zu lassen, die offenbar die Weisung erhalten habe, nicht selbst in den Laden zu gehen, sondern dem Lehrmädchen aufzulauern und ihn diesem zu übergeben. Als sie die Adresse genau geprüft hatte, lachte sie plötzlich laut auf und warf den Brief Fräulein Emilie zu.

»Sehen Sie doch, Fräulein,« sagte sie frohlockend, » ob Sie die Handschrift nicht kennen.«

Fräulein Emilie ergriff hastig den Brief; aber sie hatte kaum einen Blick auf die Aufschrift geworfen, als sie leichenblaß wurde und ihre kleinen grauen Augen unheimlich zu leuchten begannen.

»Kann man sich da irren?« fragte sie mit vor Wuth bebender Stimme Fräulein Amanda, indem sie ihr den Brief hinhielt.

»Ei du meine Güte!« rief diese mit dem Ausdruck des höchsten Erstaunens, »das ist ja von ..... ihm!«

»Ich bin dessen gewiß,« sagte Fräulein Emilie, indem sie eine große Scheere, mit welcher sie so eben ein Stück Tüll zugeschnitten hatte, von sich warf, daß sie vom Tisch herunter klirrend zu Boden fiel. »O nur zu gewiß; aber begreifen Sie, was er wohl für einen Beweggrund haben mag, ihr zu schreiben?«

»Das können Sie ja leicht erfahren, Fräulein Emilie.«

»Sie meinen doch nicht, daß ich den Brief öffnen solle.«

»Das sind Sie sich selbst schuldig.«

Hatte Fräulein Emilie noch einige Bedenklichkeiten, das Siegel zu erbrechen, so fielen diese jetzt von selbst weg; denn, mochte es nun das viele Befühlen und Hin- und Herbringen bewirkt haben, oder hatte es Fräulein Amanda durch einen kleinen Ruck zu Stande gebracht, genug, als sie den Brief genauer betrachtete, fand sie, daß die Oblate, mit welcher er verschlossen gewesen, sich abgelöst hatte. Sie entfaltete nun hastig das Papier und überflog die wenigen Zeilen, die es enthielt. Die Blässe auf ihrem Gesichte wurde noch fahler als zuvor, und der Brief entsank ihrer zitternden Hand.

»Die Schändliche!« rief sie, »die Heuchlerin, die ....,« sie konnte nicht weiter reden und vergrub laut schluchzend das Gesicht in ihr Schnupftuch.

Sechs Hände griffen nun zu gleicher Zeit nach dem verhängnißvollen Briefe; aber Fräulein Amanda's waren schneller gewesen als die andern, und sie war eben im Begriff, ihre brennende Neugierde zu befriedigen, als Fräulein Marie und Fräulein Bertha, nachdem sie ein Zeichen der Verständigung gewechselt hatten, ihr zuriefen, sie möchte laut lesen.

»Ja, lesen Sie laut, lesen Sie laut!« erscholl es von allen Seiten.

»Wenn Fräulein Emilie Nichts dagegen hat ...,« erwiederte Fräulein Amanda, indem sie die Vorarbeiterin fragend ansah.

»Ich habe Nichts dagegen,« schluchzte diese, »im Gegentheil, ich wünsche, daß Sie alle, meine Damen, sich von der Schlechtigkeit dieser – Person überzeugen mögen.«

Fräulein Amanda las nun:

»Mein verehrtes Fräulein: Ermuthigt durch die freundliche Gesinnung,...«

»Wie? Ermuthigt?« rief Fräulein Eulalie, »na, der Anfang klingt nicht übel.«

» Ermuthigt durch die freundliche Gesinnung,« begann Fräulein Amanda von Neuem, »die ich, als Sie mir vor einigen Tagen das Glück gewährten, Sie auf einen Augenblick zu sprechen ....«

»Ah, sie scheinen sich schon öfter Rendezvous gegeben zu haben,« unterbrach sie Fräulein Julie.

»Nun, versteht sich,« fügte Fräulein Lina hinzu, »wie käme er sonst dazu, ihr Briefe hierher zu schicken.«

»Unterbrechen Sie mich nicht, meine Damen,« bat Fräulein Amanda, »sonst werde ich ja nie fertig. Wo war ich denn? Also: zu sprechen, in Ihren schönen Augen ....«

»Schöne Augen .... pah!« – »Lächerlich!« – »Wie fade!«

»In Ihren schönen Augen zu lesen glaubte,« fuhr Fräulein Amanda mit erhobener Stimme fort, »wage ich, dem Drängen meines liebeerfüllten Herzens nachgebend, Sie zu ersuchen, heute Nachmittag um 6 Uhr an der bewußten Stelle vorüberzugehen, wo ich Sie alsdann treffen werde. Ich habe Ihnen so Vieles zu sagen, Sie um so Vieles zu befragen, d'rum lassen Sie nicht vergeblich harren Ihren W. B.«

Unmöglich läßt sich der Aufruhr beschreiben, der unter den Näherinnen entstand, als das Lesen dieses Briefes beendigt war. Alle Arbeiten ruhten. Hauben und Hüte, Bänder, Blonden und Spitzen, Tüll, Krepp und Seide, Alles, was noch vor wenigen Augenblicken von den geschickten Händen so fleißig gehandhabt worden war, lag jetzt in buntester Unordnung auf den Tisch geworfen. Die meisten der jungen Mädchen hatten ihre Plätze verlassen, und Alle sprachen zu gleicher Zeit. Dazu das Hin- und Herrücken der Stühle, das Scharren der Füße auf dem Boden, hier das Umfallen eines Haubenstocks, dort das Klirren einer herunterfallenden Scheere, und dazwischen das krampfhafte Schluchzen Fräulein Emiliens – es war ein betäubender Lärm, und kaum vermochte man, aus dem wilden Chaos von verschiedenen Tönen einzelne Aeußerungen der Entrüstung, des Bedauerns oder des Spottes herauszuhören, wie »Nein, es ist doch wirklich zu stark.« – »Hahaha! schöne Augen!« – »Warum nicht auch Korallenlippen?« »Ach, wie sehr bedaure ich Sie, Fräulein Emilie!« – »Sagt er nichts von den zarten Rosen ihrer Wangen?« – »Sie haben dieses wahrlich nicht um sie verdient, Fräulein Emilie!« – »Die Komödiantin! endlich fällt die Maske!« – »Die Sache muß man gründlich untersuchen!« – »Arme Emilie!« – »Man muß so etwas nicht dulden!« – »Verrätherische Louise!«

Das scharfe Ohr Fräulein Eulalia's vernahm jetzt das Oeffnen der Thür, die von dem Durchgang in den Laden führte. Ein lautes »Pst!« ertönte aus ihrem Munde, und die Wirkung davon war wunderbar. Im Nu saßen die Näherinnen wieder auf ihren Plätzen, und wer nicht Zeuge der eben beschriebenen Scene gewesen war, hätte denken müssen, daß es in der Welt keine stilleren, fleißigeren Mädchen gebe, als unsere jetzt emsig nähenden Putzmacherinnen. Als gleich darauf Madame Eberhardt eintrat, herrschte eine Stille wie im Grabe.

Sie war eine große, stattliche Frau von imponirender Haltung und mit einem ernsten, strengen Gesichtsausdrucke. Man begriff, sobald man sie sah, daß diese Frau wohl im Stande sein müsse, ihren Untergebenen den nöthigen Respect einzuflößen. Madame Eberhardt machte die Runde um den Tisch und redete fast jede der Näherinnen mit einigen kurzen Worten an.

»Sind Sie mit dem Futternähen zu Ende, Fräulein Bertha? Sie wissen, daß der Hut noch heute Abend abgeholt wird. Wenn Sie Ihre Arbeit beendigt haben, Fräulein Marie, so nähen Sie hier ein breiteres Bindband an. Die Coiffüren müssen spätestens Morgen Mittag fertig sein, Fräulein Julie. Wo ist Nanny? Lassen Sie schnell diese Garnirung von ihr annähen, Fräulein Emilie, und schicken Sie mir Betty, sie muß einen Gang für mich thun.«

Nachdem Madame Eberhardt diese und ähnliche Weisungen ertheilt und den ganzen Kreis noch mit einem prüfenden Blicke gemustert hatte, der sie nicht besonders zu befriedigen schien, schritt sie langsam und kopfschüttelnd, aber ohne weitere Bemerkungen zu machen, der Thür zu. Kaum hatte sich diese hinter ihr geschlossen, als Fräulein Amanda den Brief aus der Tasche zog, die Oblate anfeuchtete und dann mit einem Druck des Fingerhuts wieder anklebte. Dann wurde der Brief auf Louisens Platz neben Fräulein Bertha gelegt; und man gab sich gegenseitig das Wort darauf, gegen diese Nichts zu verrathen. Das Alles war gethan, als die kleine Nanny eintrat.

»Kommen Sie hierher,« rief ihr Fräulein Eulalia zu, und das Kind folgte mit verzagter Miene dieser Aufforderung. Fräulein Eulalia zog nun ein Schnupftuch aus der Tasche, band es dem Lehrmädchen um den Kopf und stülpte dann die elegante Spitzenhaube, die sie so eben beendigt hatte, darüber. Es gewährte einen komischen Anblick dieses kleine weinerliche Gesicht unter der Menge von Blonden, Bändern und Schleifen.

»An dem dummen Haubenstock sieht man gar nichts recht,« murmelte Fräulein Eulalia zwischen den Zähnen; »drehen Sie den Kopf nach rechts,« fuhr sie dann mit lauter Stimme fort, »nach rechts, sage ich – mein Gott, wissen Sie denn nicht, was rechts und links ist? – So, nun halten Sie still!.«

Eine Schleife, die nicht richtig angebracht sein mochte, wurde abgenommen und an einer andern Stelle befestigt.

»Aber warum stehen Sie nicht still, Sie kleiner Kobold?« sagte in heftigem Tone Fräulein Eulalia.

»Weil Sie mich stechen, Fräulein.«

»Dummes Zeug.«

»Ach, es thut weh!« klagte die kleine Nanny, und zwei helle Thränen traten in ihre Augen.

»So lassen Sie doch Ihr ewiges Flennen! Wie hätt' ich Sie wohl stechen können? So, ich bin fertig, Sie können gehen.«

Und die Haube und das Tuch wurden mit eben so wenig Umständen entfernt, als womit sie vorhin angebracht worden waren, worauf ein kleiner Schubs das noch immer weinende Lehrmädchen aus dem Bereich Fräulein Eulalia's brachte.

»Sie sollen diese Garnirung annähen,« rief ihr dann Fräulein Emilie zu.

»Aber beeilen Sie sich damit,« sagte Fräulein Marie, »denn Sie müssen mir hernach diese Bänder ausplätten.«

»Holen Sie mir aber erst ein Glas Wasser,« befahl Fräulein Julie.

»Und wenn Sie heute Abend aufräumen,« bedeutete ihr Fräulein Lina, »so werfen Sie mir nicht wieder Alles durcheinander, wie Sie es gestern Abend gethan haben.«

»Und ich bitte mir aus,« schalt Fräulein Bertha, »daß Sie mir meine Nadelbüchse wiederfinden, die Niemand anders verlegt haben kann, als Sie.«

Die arme kleine Nanny ließ ihre thränenerfüllten Augen von der einen Sprecherin zur andern schweifen und beantwortete jede ihr gegebene Weisung mit einem stillen Seufzer. Der Himmel mag wissen, wie viele andere sie noch bekommen haben würde, wäre jetzt nicht Louise in's Zimmer getreten. Sie war zum Ausgehen angekleidet; denn sie trug einen Strohhut und über ihrem einfachen wollenen Kleide eine schwarzseidene Mantille. Aller Augen richteten sich sogleich mit wahrem oder erkünsteltem Erstaunen auf sie und ein gedehntes: »Ah!« erscholl von Aller Lippen.

»Sie wollen so früh weggehen?« fragte mit einem schneidenden Tone Fräulein Emilie.

»Madame Eberhardt hat es mir erlaubt,« war die sanfte Antwort.

»Sie müssen wichtige Gründe gehabt haben, sie darum zu bitten, so etwas wird uns Anderen nie gestattet.«

»Ich hatte in der That wichtige Gründe.«

»Oh! ei, ei! sieh doch!« riefen Alle zugleich.

Louise schien dieses auffallende, beleidigende Betragen ihrer Mitarbeiterinnen nicht zu beachten. Sie ging ruhig ihrem Platze am Tische zu und steckte die dort liegende Arbeit, nachdem sie diese sorgfältig zusammengelegt hatte, in den Nähkorb, den sie am Arme trug.

»Ist es denn schon sechs Uhr?« fragte Fräulein Bertha ihre Nachbarin.

»Wahrscheinlich wird es so spät sein,« entgegnete diese, »da Fräulein Louise bereits fortgeht.«

»Ja, in solchen Dingen muß man pünktlich sein.«

»Sonst verfehlt man sich leicht.«

»Und das wäre wirklich schade.«

Ein lautes Gelächter folgte diesen Aeußerungen.

»Hier ist auch ein Brief für Sie, Fräulein Louise,« sagte Fräulein Lina.

»Für mich?« antwortete diese verwundert.

»O, wie Sie doch meisterlich die Erstaunte zu spielen wissen,« sagte Fräulein Emilie.

»Ich verstehe Sie nicht, Fräulein Emilie,« entgegnete Louise, indem sie den Brief, als sie die Aufschrift flüchtig betrachtet hatte, in den Nähkorb legte.

»Ei, ei, Sie verstehen mich nicht?« kreischte Fräulein Emilie. »Nun, wir verstehen Sie auch nicht, und ich fürchte, wir werden uns nie verstehen lernen. Was sagen Sie, meine Damen?«

»Wir sind ganz Ihrer Meinung,« riefen Alle.

»Und wo kein Verständniß möglich ist,« fuhr die Vorarbeiterin fort, »da thut man wohl, sich bei Zeiten zu trennen. Meinen Sie das nicht auch, meine Damen?«

»Ja, ja, je eher, desto besser.«

»Denn wir möchten hier gern in Ruhe und Eintracht leben,« schloß die wüthende Emilie, indem sie sich mit der Nadel so tief in den Finger stach, daß das Blut herausquoll.

»Und das sagen Sie mir, Fräulein Emilie?« fragte Louise, indem sie einen Blick auf die erboßte Sprecherin warf, in welchem sich ein sanfter Vorwurf mit dem bittersten Schmerze mischte. »Ich gestehe, von Ihnen hätte ich das nicht erwartet.«

»Von Ihnen hätte ich gewisse Dinge auch nicht erwartet,« entgegnete Fräulein Emilie, deren Wuth durch den Anblick ihres herabtröpfelnden Blutes noch gesteigert worden war, »von Ihnen am allerwenigsten; doch man täuscht sich mitunter gewaltig in den Menschen. Hinter der Maske der Schüchternheit, der Demuth, der Tugend ....«

»Reden Sie nicht aus!« unterbrach sie Louise in einem Tone, der, ohne gerade sehr laut zu sein, etwas Entschlossenes, Gebieterisches hatte. In der Haltung des jungen Mädchens lag dabei so viel Würde, ein so erhabenes Bewußtsein ihrer Ueberlegenheit, daß ihre ergrimmte Gegnerin unwillkürlich davon eingeschüchtert wurde.

»So lange ich hier bin,« fuhr Louise in sanfterem, aber noch immer entschiedenem Tone fort, »war ich bestrebt, Ihnen nie den mindesten Anlaß zu geben, sich über mich zu beschweren; stets war ich freundlich und, wo ich nur immer konnte, gefällig gegen Sie Alle. Ja, ich habe noch mehr gethan, denn Vieles, was hier in der Absicht, mich zu kränken, gesprochen wurde, hab' ich geduldig ertragen, weil ich es in den gegebenen Verhältnissen für eine Pflicht hielt, auch manches nicht verschuldete Unrecht über mich ergehen zu lassen. Was Sie nun gerade heute bewogen haben mag, mich in so absichtlich beleidigender Weise zu behandeln, kann ich freilich nicht errathen und wünsche es auch nicht zu erfahren; aber Eines lassen Sie sich sagen, mein Fräulein; wenn ich auch bis jetzt kleine Neckereien und Sticheleien übersehen habe, so giebt es doch Dinge, die ich mir nicht gefallen lassen kann, und sollte es kein anderes Mittel geben, mich davor zu schützen, nun gut, so werde ich mich des von Ihnen angedeuteten bedienen und nicht mehr hierher kommen. Schon morgen werde ich mich darüber entschieden haben.«

Mit diesen Worten wandte sie sich der Thür zu, um sich zu entfernen. Die Näherinnen hatten jetzt übrigens Zeit gehabt, sich von dem Erstaunen, welches das energische Auftreten des sonst so sanften Mädchens in ihnen hervorgerufen hatte, wieder zu erholen, und noch bevor Louise die Thür erreicht hatte, erhoben sie sich Alle, als ob es unter ihnen verabredet gewesen wäre, von ihren Sitzen, und riefen ihr mit tiefen Knixen nach: »Amüsiren Sie sich gut, Fräulein Louise! amüsiren Sie sich gut!«



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