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Siebentes Kapitel

Die Zelle war peinlich sauber und maß sieben Schritt. Durch das sehr hoch angebrachte und vergitterte Fenster kam an diesem frühen Vormittag das Licht mit unwahrscheinlicher Leuchtkraft und fiel auf den jungen Menschen, der auf dem niedrigen Schemel saß, den Kopf schwer in die Hände gestützt und die Umwelt vergessend.

Gestern war wieder einmal der Parteianwalt dagewesen. Er hatte die besten Grüße von Thea Gärtner und Hans Herfurt gebracht und ihm Mut zugesprochen. Der Parteianwalt ritt das hohe Pferd der Politik und verdiente sich mit seinen politischen Prozessen silberne und goldene Sporen. Er berichtete vom Stand der Verhandlungen und erzählte die neuesten Witze. Nein, Otto Müller war noch nicht in Berlin. Thea war frei, schon lange in Freiheit, und auch er würde bald die Türe hinter sich ins Schloß schlagen können. Kopf hoch, alter Junge! Nur keine Bange, Genosse Eugen!

Eugen hatte keine Gange. Er war stolz auf die Haft.

Gefängnis: das war Ehre und Auszeichnung!

Der Schlüssel klirrte im Schloß.

Bundschuh hörte ihn nicht.

»Fertigmachen zur Vernehmung«, riß ihn die satte Stimme des Wärters aus seiner Versunkenheit. Fertigmachen: auch das hatte er in den letzten Wochen viele Male gehört. Fertig? Er war immer fertig, er war immer bereit zur Vernehmung.

Nun erhob er sich und trat auf den kahlen Gang, an dem sich Tür neben Tür reihte, Türen mit schweren Schlössern und Riegeln, Türen mit listigen Gucklöchern, den Spionen zur Beobachtung. In den letzten fünf Wochen seiner Haft hatte er viele Male die kalten Augen der Wärter durch den Spion auf sich richten gefühlt und mit keiner Wimper gezuckt. Aber er wußte jetzt, wie es einem gefangenen Tier zu Mute ist, das immer hinter den Gittern rennt und rennt und den Blicken der Menschen doch nicht entlaufen kann.

Auch den Weg zur Vernehmung durch die kahlen Etagen über die vielen Treppen und Gänge kannte er schon.

Fünf Wochen waren vergangen, fünf Wochen Einzelhaft, fünf Wochen Nachdenken, fünf Wochen Selbstbesinnung. Vor fünf Wochen hatte in der Frühe eine Klingel geschrillt und eine Faust an die Türe gehämmert. Thea öffnete, zwei Männer drängten sich in die Wohnung, zeigten ihre Zähne und Blechmarken, durchsuchten die Zimmer und hatten die gut versteckte Pistole doch nicht gefunden. Aber sie verhafteten Thea Gärtner und Eugen Bundschuh. Thea, ganz hoheitsvolle Dame, hatte eine Taxe auf eigene Rechnung für die Fahrt nach dem Polizeipräsidium verlangt und bekommen.

Während der Fahrt durfte er mit Thea kein Wort wechseln. Sie brauchten auch keine Worte mehr zu wechseln. Der Fall einer Verhaftung war viele Male eingehend besprochen und wie ein Theaterstück geübt worden. Im Polizeipräsidium wurden sie getrennt vernommen und sagten beinahe wörtlich dasselbe aus.

Bundschuh lächelte und erinnerte sich aus dem Wege zur Vernehmung ganz genau der ersten Vernehmung.

Sie war wie ein lustiges Kinderspiel mit Frage und Antwort gewesen.

»Sie heißen?«

»Eugen Bundschuh.«

»Geboren?«

»Ja.«

»Wann Sie geboren sind?«

»Am 6. Juli 1904.«

»Wo?«

»In Werder an der Havel.«

»Wohnhaft?«

»Ebendort.«

»Wo liegt das?«

»Ich bin nicht in Ebendort geboren, sondern in Werder an der Havel.«

Der Kommissar verliert seine geschäftsmäßige Kühle. Er schlägt mit der Faust aus den Tisch:

»Sie grüner Junge Sie, was erlauben Sie sich eigentlich? Sie stehen hier vor der Polizei!«

»Das weiß ich, aber ich weiß nicht warum.«

»Gut, sehr gut, mein Junge, aber das werden Sie bald erfahren ... Wo wohnen Sie in Berlin?«

»In Berlin? Ich wohne doch in Werder an der Havel, Herr Kommissar.«

»Mensch, keine Flausen! Sie sind nicht in Werder aus dem Bett geholt worden, sondern in Berlin!«

»Das weiß ich wohl, aber ich bin nur auf Besuch hier.«

»Nun, das kennen wir schon, auf Besuch«, lacht der Beamte, »auf Besuch, das kennen wir schon, mein Lieber. Sagen Sie mal, junger Freund, wohnen Sie schon lange unangemeldet bei Fräulein Braut?«

Fräulein Braut? Thea Gärtner ist Fräulein Braut? Jetzt wird es Eugen Bundschuh zu dumm, und er sagt laut und betont:

»Die Dame ist nicht mein Fräulein Braut, Herr Kommissar, ich verbitte mir, daß Sie die Dame beleidigen!«

»Die Dame ...« Der Kommissar verschluckt eine Gemeinheit. »Nun gut, junger Mann, dann wollen wir mal von etwas anderm sprechen. Wie lange«, er hebt die Stimme, »sagen Sie mal, wie lange sind Sie eigentlich schon in der Partei?«

»In welcher Partei?«

»Mensch, stellen Sie sich doch nicht so dämlich an, ich meine selbstverständlich die KPD!«

»Was ist die KPD?«

»Mann«, brüllt der Kommissar, »Sie können mich doch nicht auf den Arm nehmen und schaukeln. Ich lasse Sie sofort wegen Ungebühr abführen. So ein Lausekerl ist mir doch noch nicht vorgekommen ... Also, wie lange sind Sie schon Kommunist? Oder wissen Sie auch nicht, was das ist?«

»Doch, das weiß ich, aber ich weiß nicht, daß es verboten ist, Kommunist zu sein.«

»Beantworten Sie meine Frage!«

»Nein, ich möchte vorläufig die Auskunft verweigern.«

»Die Auskunft verweigern?« sagte der Kommissar und rieb sich die Hände, »schön, Sie verweigern also die Auskunft ... Sagen Sie mal«, beginnt er ganz gemütlich, »sagen Sie mal, was hatten Sie denn am 1. Mai in der Kellerstraße zu tun?«

»Ich? Am 1. Mai in der Kellerstraße? Moment mal: wo ist denn die Kellerstraße eigentlich?«

Der Kommissar lächelt verächtlich und klingelt. Wütend pafft er dicke Rauchwolken aus seiner Tabakspfeife. Die Türe öffnet sich bald, und herein tritt ein Mann in abgetragenen Kleidern, ein Mann mit verwischtem Gesicht, öligem Haar und verwaschenen Sklavenaugen.

»Schmitz«, sagt der Kommissar, »ist Ihnen der junge Mann hier bekannt? Kommen Sie näher, und sehen Sie sich den Kerl mal ganz genau an.«

Eugen Bundschuh wirft einen Blick auf den Mann namens Schmitz mit der gemeinen Visage und zuckt zusammen. Den Menschen kennt er doch: das war ja der Landstreicher aus der Wiesenstraße, dem es nicht toll genug zugehen konnte! Schmitz, ein schöner Schmitz! Also dieser Kerl war ein Spitzel!

»Den da?« sagt Schmitz und seine verwaschenen Zügen werden scharf und prüfend, »Ja, den kenne ich, den habe ich gesehen. Der kam mit dem Auto und einem Frauenzimmer am Nachmittage.«

Bundschuh spitzt die Ohren.

»Am Nachmittage?«

Ja, das gibt er entschlossen zu. Er sagt:

»Das kann stimmen Herr Kommissar, ich entsinne mich. Wir sind am 1. Mai überall herumgefahren, um den Rummel zu filmen. Es war allerhand los. Frau Gärtner hat Verbindungen zur Filmwelt, und es ist möglich, daß wir auch in der Kellerstraße waren, das ist durchaus möglich. Liegt sie nicht auf dem Wedding?«

Der Spitzel ist immer noch im Zimmer.

»Ganz recht, auf dem Wedding«, sagt der Kommissar, »und Sie, werter Herr, haben sich mit andern Personen am Abend an der Schießerei beteiligt.«

»Ich an der Schießerei beteiligt? Ist denn überhaupt in der Kellerstraße geschossen worden?«

»Bursche, wir kriegen dich schon noch klein«, ändert der Kommissar das Flötenkonzert der Vernehmung und läßt die dunkle Pauke dröhnen, »lange kannst du uns nicht mehr verkohlen. Wir haben den Willi geschnappt, und den Uralski haben wir auch. Was sagst du nun dazu?«

Bundschuh unterdrückt ein Lächeln.

Uralski und Willi sind vor drei Tagen nach Moskau gefahren. Er weiß es ganz genau. Diese Dummheit hätte der Kommissar nicht machen sollen.

»Willi? Wer ist das? Uralski? Wer ist Uralski? Ich kenne keinen Willi und Uralski.«

»Aber der Willi kennt dich, er kennt Otto und den Paule.«

»So, dann ersuche ich dringend, diesem Willi gegenübergestellt zu werden, Herr Kommissar.«

»Schmitz«, wendet sich der Beamte an den Spitzel, »kommen Sie mal mit mir in die Ecke.«

Schmitz geht mit in die Ecke, Bundschuh hört die beiden Männer zischeln und versteht kein Wort. Das aber versteht er, daß der Spitzel ihn am Abend nicht gesehen hat, und jetzt hört er auch ganz leise: »Möglich, leicht möglich, Herr Kommissar, aber ich kann es nicht beschwören, Herr Kommissar. Die Dunkelheit ...«

Der Kommissar zuckt enttäuscht mit den Schultern. Der Spitzel wirft noch einen Blick auf den Verhafteten und verschwindet aus dem Zimmer.

»Rauchen Sie?« fragt der Kommissar ganz höflich, »bitte, bedienen Sie sich doch!« Bundschuh bedient sich.

»Nun wollen wir mal als Mensch zu Mensch reden, als Mann zu Mann, setzen Sie sich doch, junger Freund!« Er wartet, bis sich Bundschuh gesetzt hat und sagt: »Der Willi hat gestanden, und der Uralski leugnet nicht mehr. Wir wissen, daß Sie am Abend mit Paul und Otto zusammen waren. Erleichtern Sie doch Ihr Herz, Bundschuh! Wir sind doch keine Unmenschen! Die Führer haben euch eben wieder mal ins Feuer geschickt, wir wissen schon Bescheid ... Also, junger Freund, wie lange haben Sie sich an der Knallerei beteiligt?«

Bundschuh hat sich gesetzt und schüttelt den Kopf.

»Ich weiß von nichts.«

»Sie wissen von nichts? Mensch, lesen Sie denn keine Zeitungen? Und noch eins: wo waren Sie am l. Mai, werter Herr? Was taten Sie an demselben Abend in der Zeit von acht bis zwölf Uhr?«

»Am Abend des 1. Mai? Ja, wo war ich denn zwischen acht bis zwölf Uhr? Ach so, in einem Konzertcafé.«

»Haben Sie Zeugen?«

»Herr Kommissar«, lächelt Bundschuh, »wenn Sie ein Konzertcafé besuchen, kümmern Sie sich da um Zeugen?«

Er fühlt sich ganz sicher. Er steht ja nicht allein vor Gericht. Die Partei steht hinter ihm. Nichts kann ihm geschehen. Der Spitzel hat ihn nicht erkannt. Am Tage mit dem Auto in der Kellerstraße: das war harmlos. Was wollen Sie noch wissen, Herr Kommissar?

Der Kommissar will augenblicklich gar nichts wissen. Er klopft seine Tabakspfeife aus, dann starrt er wütend dem jungen Menschen ins Gesicht. Eigentlich hat er recht: wer kümmert sich um Zeugen, wenn er abends in ein Café gehen will? Mumm haben sie schon in den Knochen, die jungen Leute von heute. Alle Achtung. Aber das denkt der Kommissar nur am Rande und sozusagen privat. Er ist jetzt im Amt und muß weiter.

»Sie haben keine Zeugen? Das ist sehr schlimm für Sie. In was für einem Konzertcafé waren Sie?«

»Ganz in der Nähe. Hier am Alexanderplatz. Mit der Frau Gärtner.«

»Aber da haben Sie doch einen Zeugen. Mensch, warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«

»Es fiel mir eben erst ein, Herr Kommissar.«

»Nun, Bürschlein, dir wird in den nächsten Tagen noch allerhand einfallen. Die Aussage verweigern über die Parteizugehörigkeit, diesen Trick kennen wir schon, und dann wollen Sie am 1. Mai am Abend mit einer Frau Gärtner, die dringend verdächtig der Beihilfe ist, in einem Café gewesen sein. Weiterhin streiten Sie ab, Willi und Uralski zu kennen. Nun, wenn das kein Verdacht ist, fresse ich einen Besen.«

»Bitte sehr«, sagt Bundschuh.

»Wie?« brüllt der Kommissar und diktiert dem Schreiber wütend das erste Protokoll. Er schiebt es über den Tisch herüber und befiehlt: »Unterschreiben!«

»Ich unterschreibe nichts, bevor ich nicht mit einem Rechtsanwalt gesprochen habe, Herr Kommissar.«

»Aus dieser Richtung bläst der Wind? Na, mein Bürschlein, du wirst schon noch genug unterschreiben. Abführen!«

Das alles war vor fünf Wochen passiert, und in den letzten vier Wochen hatte Eugen Bundschuh noch verschiedene Vernehmungen bestanden. Manchmal waren sie freundlich gewesen, ein andermal zitterten die Wände von heftigem Gebrüll. Freundlich oder unfreundlich: Eugen Bundschuh ließ sich nicht einschüchtern und war kein Verräter. Und jetzt steigt er lächelnd die Treppe hinunter zu der neuen Vernehmung.

Der Untersuchungsrichter in Moabit war ein älterer und freundlicher Herr und nickte würdevoll, als der Gefangene vorgeführt wurde.

Auch dieser Untersuchungsrichter hatte aus Bundschuh nichts herausgebracht, jetzt erhob er sein Gesicht und lächelte dem Eintretenden entgegen.

»Setzen Sie sich.«

Bundschuh setzte sich.

»Zigarette gefällig?«

»Danke für die Liebenswürdigkeit, aber ich rauche nicht, Herr Untersuchungsrichter.«

»Na, dann eben nicht, liebe Tante«, sagte der Richter und wurde amtlich. »Die bisherige Voruntersuchung hat immerhin ergeben, daß Sie dringend der Tatbeihilfe am Aufruhr am 1. Mai 1929 verdächtig erscheinen. Sie wohnen unangemeldet in Berlin ...«

»Verzeihung, ich bin immer noch polizeilich in Werder gemeldet, und ich wäre schon längst wieder nach Hause gefahren, wenn ich hier nicht festgehalten würde.«

Der Untersuchungsrichter bleibt amtlich.

»Sie sind arbeitslos. Sagen Sie, wovon haben Sie eigentlich in den letzten Wochen gelebt?«

»Vom Staat«, lächelt Bundschuh, »der Staat hat für mich gesorgt, und vorher habe ich von meinen Ersparnissen gelebt, vom Stempelgeld.«

»Machen Sie keine Witze, Herr. Gestehen Sie oder gestehen Sie nicht?«

»Ich habe nichts zu gestehen.«

»Ganz wie Sie wünschen ... Nun, vorläufig«, seine Stimme wurde ernst und würdevoll, sein Gesicht wohlwollend, »vorläufig steht Ihrer Entlassung aus der Haft durchaus nichts mehr im Wege. Sie sind frei. Aber benutzen Sie die Zeit, diesen guten Rat gebe ich Ihnen mit auf den Weg, und werden Sie ein anständiger Mensch!«

»Ich bin ein anständiger Mensch, Herr Untersuchungsrichter!« antwortete Bundschuh.

Möglich, dachte der Richter, anständige Menschen gibt es überall. Er nahm einen Stoß Akten und sagte:

»Wärter, der Mann hier wird entlassen. In der Kanzlei liegen seine Papiere.«

»Guten Tag, Herr Untersuchungsrichter.«

Bundschuh bekam keine Antwort.

Zum letzten Male stieg er die eisernen Treppen hinaus in die Zelle. Jetzt aber fühlte er die verlorenen Wochen auf seinen Schultern lasten. Der Mut, den er sich bei den vielen Vernehmungen gemacht hatte, dieser Mut war der Mut eines Seiltänzers gewesen, eines Mannes, der auch lieber auf festem Grund und Boden geht als auf einem Seile zu tanzen. Ja, bei den vielen Vernehmungen hatte er wie auf einem Seil getanzt und war auf den Absturz vorbereitet.

Schön war das Balancieren auf dem Seil, das Springen, Wanken und Schwanken hoch über dem Abgrund. Das war schön, aber noch schöner war es, still zu sein, nachzudenken, an die Arbeit zu gehen und keine Schauspiele mehr aufzuführen.

Bundschuh, ein junger Arbeiter von heute, war sich seiner Stärken und Schwächen wohl bewußt. Sein Verstand ließ ihn bei den Vernehmungen auf dem Seile tanzen, seine Seele aber war Zuschauer und freute oder entsetzte sich über die ernsten oder komischen Sprünge. In der Zelle tanzte er nicht Seil.

Dort in der Einsamkeit lagen Verstand und Seele sehr oft in großem Streit. Der Verstand sagte Ja, wo die Seele schwieg, und die Seele sagte Ja, wo sich der Verstand in Schweigen hüllte. Manchmal aber gingen Verstand und Seele wie ein Geschwisterpaar durch den engen Raum. An der Leine führten sie ein knurrendes Tier mit, den Trieb. Der Trieb war dumm und wollte nichts als fressen.

Zum letzen Male stand Eugen Bundschuh in der Zelle, sieben Schritte vor, sieben Schritte zurück. Wie viele Male war er in den fünf Wochen diesen kurzen Weg gegangen, diese endlose Straße von einer Wand zur andern, diese Hauptstraße der Freiheit und Knechtschaft, die vor ihm schon tausendmal tausend Gefangene geschritten waren: Kämpfer für ihre Klasse, Kämpfer für ihre Idee, Kämpfer für Volk und Vaterland, Kämpfer für die Menschheit.

Wie viele Male hatte er Licht und Dunkel in die Zelle fallen sehen. Licht und Schatten wie Gut und Böse, Recht und Unrecht, Liebe und Haß. Die Welt ist nicht vollkommen. Sie besteht aus Gut und Böse, aus Recht und Unrecht, aus Liebe und Haß. Licht und Schatten über der Welt, und die Menschen und die Dinge verändern sich und rücken näher oder ferner, je nachdem sie das Licht oder der Schatten trifft.

Eugen Bundschuh hebt den Blick zu den vergitterten Fenstern. Wie oft waren die Mauern zerbrochen, die Riegel zersprungen, die Gitter zersplittert, wenn er an das Ziel dachte, an die Freunde und an die Kameraden.

Frei!

Ja, er war jetzt frei.

Einen letzten Blick wirft er in die Zelle und folgt dem Wärter, der sich bei jedem Schritt immer mehr vermenschlicht und plötzlich sprechen kann. Sie gehen hinunter nach der Kanzlei. Dort bekommt Bundschuh seine Papiere, er bekommt das Geld und steht auf der Straße.

In der Zelleneinsamkeit hat er sich oft den ersten Schritt in die Freiheit plastisch vorgestellt. Und jetzt tut er den ersten Schritt. Aber es ist kein Ereignis. Autos und Straßenbahnen, viele Menschen, gleichgültige Gesichter, brutale Gesichter, gehetzte Kreaturen um den Bissen Brot! Wie böse und kalt kann doch ein menschlicher Mund werden!

Eugen Bundschuh überquert die Straße, holt sich eine Schachtel Zigaretten und fährt dann mit dem Autobus nach den Linden.

Schön ist die Welt trotz alledem!

Zwei Männer klettern ihm auf das Oberverdeck nach und setzten sich in seine Nähe. Bundschuh beachtet sie nicht. Das Leben auf der Straße ist ihm viel bedeutsamer, der dunkle Wasserlauf der Spree, die Unrast des Lehrter Bahnhofes mit den sprungbereiten Lokomotiven, das satte Grün des Tiergartens, die bunten Fähnchen der Mädchen und Frauen, die Spaziergänger, die Kinder, die weißen Denkmäler, die goldene Kuppel des Reichstages und die geschlossne Wucht des Brandenburger Tores. Tausendmal tausend Männer können in den Gefängnissen sitzen, die Blumen blühen weiter, die Wolken ziehen, Kinder spielen, Mädchen lachen als sei nichts geschehen, als geschehe nichts.

Der Autobus büffelt Unter den Linden entlang an den Hotels, Cafés und Schaufenstern vorüber. Erst an der Friedrichstraße, als er ausstieg, bemerkte Bundschuh die beiden Männer, die ihm folgten.

Er lächelte.

Spitzel auf seinen Fersen!

Gleichgültig ging er weiter die Friedrichstraße hinunter und entsann sich des 1. Mai. Damals war er die Friedrichstraße hinaufgegangen, um Thea und Herfurt zu treffen. Hinauf oder hinunter, die Straße war dieselbe. Entschlossen ließ er sich durch eine Drehtüre in ein Café schieben, setzte sich an das Fenster in einen weichen Sessel und der Oberkellner im schwarzen Frack erschien und nahm die Bestellung entgegen. Eine kleine Weile blieben die Spitzel vor den hohen, blanken Scheiben stehen, drückten sich die Nasen platt, hatten hungrige Augen und warteten. Nach zehn Minuten kamen sie herein und ließen sich in seiner Nähe nieder.

Eugen Bundschuh winkte, sein Wunsch war Befehl und brachte einen männlichen Schnaps. Dann ließ er sich die neuen Zeitungen bringen, hatte sehr viel Zeit und beschloß, die Spitzel abzuhängen und nach Werder zu fahren. Von Herfurt hatte er durch den Rechtsanwalt Geld bekommen. Er verließ also das Café, fuhr nach dem Potsdamer Bahnhof und löste eine Karte nach Werder. Auch die beiden Männer lösten Karten und bestiegen den Zug.

Schön und erquickend war es, diesem Steinhaufen Berlin, diesem Dunstkreis über der Asphaltwüste zu entfliehen. Schwarzgrüne Wälder, hellgrüne Wiesen, bunte Blumen, silberdunkle Gewässer, die zitternden Birken, die breitästigen, hymnischen Buchen, und – o Seligkeit des Schauens – die weißen Wolken am blauen Himmel!

Die weißen Wolken am blauen Himmel und unter ihnen der schon sommerliche Junitag. Die kühle Riesenwasserschlange der Havel blitzte auf, lief und rollte dahin und schlang sich wollüstig um die Stadt Potsdam. Am Wildpark und bei Werder blähte sich diese Riesenwasserschlange auf, tauchte in den Seen geruhsam unter und schoß und rollte weiter, immer weiter und war schön und schimmernd.

Die Spitzel folgten Bundschuh bis an das Haus, in dem er wohnte. Sie erkundigten sich beim Gemüsekrämer nach ihm. Und als sie erfuhren, daß er hier bekannt und seßhaft sei: es ist nichts gegen den Mann zu sagen, keine Arbeit, Sie wissen schon, meine Herren, ein Elend ist es heutzutage – da kehrten sie um, tranken auf Rechnung der Politischen Polizei zwei Flaschen Erdbeerwein, wurden sehr heiter und kurbelten mit einer dritten Flasche auf eigene Rechnung die Wirtschaft an.

Bundschuh sah die Spitzel vor dem Hause verschwinden. Seiner Wirtin erzählte er eine große Geschichte von einem Onkel in Berlin, bei dem er sechs Wochen gewohnt haben wollte, um seine Abwesenheit zu erklären und bezahlte schließlich die rückständige Miete. Die Wirtin war sehr gerührt.

»In den nächsten Tagen, Frau Schulze, hole ich meine Sachen ab, ich ziehe nach Berlin.«

»Haben Sie Arbeit gefunden?«

»Natürlich. Es wurde auch Zeit.«

»Glück haben Sie gehabt, Herr Bundschuh!«

»Ja, sehr viel Glück«, sagte er.

»Wann wird das Volk endlich einmal vernünftig werden?« fragte Frau Schulze.

»Wenn alle Menschen wieder Arbeit haben«, antwortete Eugen Bundschuh, packte einen kleinen Koffer und verabschiedete sich.

Frau Schulze sah ihm lange aus dem Fenster nach. Glück hat er gehabt, der junge Mensch da, keine Eltern mehr, es ist ein Jammer, aber er hat doch wenigstens Arbeit. Und der Mann, der Arbeit hatte, ging zum Postamt und telephonierte nach Berlin an Thea Gärtner. Gerührt hörte er den kleinen lieblichen Schrei, als sie seine Stimme erkannte.

»Eugen, Eugen«, sagte sie, »Sie sind also wieder gesund, Eugen; wann und wo können wir uns treffen?«

»Gesund?« Bundschuh lachte, »Ja, ich bin ganz gesund, Thea, in zwei Stunden bin ich in dem alten Café am Wittenbergplatz. Sie wissen ja Bescheid. Ich telephoniere von auswärts. Was macht denn der Peterle?«

»Der zwitschert.«

»Und ich zwitschere auch!«

»Auf Wiedersehen, Eugen. Das ist ja herrlich, daß Du wieder gesund bist, ich freue mich schrecklich!«

»Ich erst, Thea!«

Mit dem nächsten Zug fuhr er nach Berlin. Es war derselbe Zug, mit dem die beiden Spitzel heimkehrten. Sie waren sehr vergnügt und wußten nichts von ihrem Nachbar. Bundschuh bemerkte sie erst in Berlin und ließ sie als erste im Strom der Passagiere durch die Sperre treiben.

Im Café Geier wurde er schon von Thea erwartet.

»Der Herfurt kommt später«, sagte sie »und jetzt müssen Sie mir erzählen, wie es Ihnen in den fünf Wochen ergangen ist. Ich habe mich ja so sehr gesorgt!«

»Gesorgt? Ich hatte Sorgen um Sie, Thea. An Peterle dachte ich und daran, wer ihm wohl frisches Wasser gibt.«

»Spötter! Ich war doch in drei Tagen wieder frei!«

»Wie kam das so schnell?«

»Herfurt«, sagte sie und errötete, »Herfurt ließ alle Minen springen und hat alle Verbindungen ausgenutzt. Und ich habe sofort den Rechtsanwalt für Sie besorgt, Eugen. Wir brauchen Sie ja, bestimmt. Wissen Sie denn nicht, daß in drei Tagen eine Delegation nach Moskau fährt und Sie mit sollen?«

»Mensch, Mädel, Thea: ich nach Moskau? Wer fährt alles mit?«

»Sieben Arbeiter aus dem Reich, Herfurt selbstverständlich, Sie, ich, Otto Müller und Paul Riedel, das wären wohl alle, die fahren.«

»Herrlich... Ist Uralski schon wieder in Berlin?«

»Vorige Woche gekommen. Der Genosse Emil hatte nur Dummheiten im Kopfe. Sie wissen schon.«

»Und der Willi?«

»Der Willi?«, sie senkte die Stimme. »Der Willi ist in Moskau erschossen worden. Wegen Feigheit vor dem Feinde.«

In Moskau erschossen aus Feigheit vor dem Feinde!

Bundschuh fröstelte.

Gegen die Russen war viel einzuwenden, sie kamen als Herren, als Offiziere, als Generalstäbler der Bewegung und verlangten Blut und Leben, wenn es sein mußte, aber: sie opferten auch wieder Blut und Leben, sie opferten selbst einen ihrer Leute, wenn es die Klassenmoral befahl. Und sie hatten Willi erschossen!

»Erzählen Sie doch von der letzten Woche«, bat Thea, »ich habe ja so oft und so viel an Sie denken müssen, Eugen!« Ihre grünen Katzenaugen leuchteten. »Haben Sie viel ausgestanden, Kleiner?«

Sie streichelte mit behutsamen Fingern seine Hand.

Eugen erzählte von den fünf Wochen und machte sich über die Vernehmungen lustig. Thea lachte. Und als er von den beiden Spitzeln berichtete, die ihm bis nach Werder gefolgt waren, wich das Katzenhafte aus ihren Augen, ihr Gesicht wurde von Angst verdunkelt. Dann hörte sie die Geschichte von dem Spitzel Schmitz. Da wich die Angst. Streng und finster wurde das Gesicht.

»Das muß Herfurt sofort erfahren, die Geschichte von Schmitz«, sagte sie, »vor dem Hund müssen wir uns schützen.«

»Gut, ich werde es erzählen... Ach, Thea, wie schön ist es doch, wieder frei zu sein«, sagte er und streckte die Arme. »Was macht Otto und was macht Mucki?«

»Mucki ist wieder lustig und hat nur Angst vor Ottos Rußlandreise. Das Dummchen glaubt, alle Frauen warten nur darauf, ihren Mann wegzunehmen. Otto kommt übrigens morgen nach Berlin.«

»Und Paule?«

»Paule? Er macht uns Sorgen. Über zwei Wochen haben wir ihn nicht mehr gesehen, den Paule.«

»Kennen Sie seine Adresse?«

»Nein, aber Herfurt kennt sie.«

»Ist Riedel als Kundschafter zu den Nazis gegangen?«

»Ja.«

Thea blieb einsilbig und schien ein schlechtes Gewissen zu haben. Riedel, ja was war mit Riedel los? Sie wußte von seiner hoffnungslosen Liebe zu ihr, jedes Wort, das er in ihrer Gegenwart sprach, war Verehrung. Aber sie liebte ihn nicht. Liebe läßt sich doch nicht befehlen. Sie liebte Bundschuh. Und der tat, als sei er blind.

»Hat Riedel schon einen Bericht über die Nazistürme an Herfurt gegeben?« fragte Bundschuh.

»Das weiß ich nicht, ich glaube nein. Aber«, sie zögerte, »der gute Junge macht mir wirklich Kummer. Vor einer Woche hatten die Nazis in Neukölln einen Propagandamarsch. Sie wissen ja, daß überall in den Arbeitervierteln die Nazis auftauchen. Gut, und wissen Sie, wer in Neukölln mitmarschierte? Unser Freund und Genosse Riedel. Er hat mich wohl gesehen, aber gegrüßt hat er nicht... Mit den Augen hätte er doch wenigstens grüßen können! Sie wissen ja, Eugen«, jetzt errötete sie, »Sie wissen ja, daß Paule sonst immer zu mir kam. Aber das scheint jetzt vorbei zu sein. Komisch seid ihr Männer!«

Sie seufzte.

Noch einmal streichelten ihre Finger seine Hand.

Eugen fühlte die werbenden Liebkosungen der gepflegten Finger. Er fühlte die Einsamkeit der jungen Frau, die viele Männer kannte und doch keinen Mann hatte. Aber er konnte ihr nicht helfen. Nein. Behutsam zog er die Hand zurück, tat, als habe er nichts gemerkt und bot Thea eine Zigarette an. Die Frau nahm die Zigarette und lachte unvermittelt.

»Ich«, sagte sie, »ich habe den Paule eigentlich zweimal gesehen, einmal mit dem Nazisturm und dann ganz alleine. Und da haben wir miteinander gesprochen. Ich habe ihn gefragt, wie es ihm dort bei den Leuten gefalle. Gut, hat er gesagt, und Herfurt wird über meinen Bericht Bauklötzer staunen. Und Herfurt hat auch gestaunt.«

»Was hat denn der Paul berichtet?«

»Da müssen Sie Herfurt selber fragen, Eugen, dort kommt er eben«, antwortete Thea und winkte Herfurt heran.

Hans Herfurt war unverändert und immer noch der elegante Bürger. Das Kinn schob sich wie ein Hammer vor, der weibische Mund schwelgte in Gefühlen, hob die Wucht des Kinnes wieder auf und machte es ein wenig komisch. Sein Gesicht war frischer als sonst.

»Gratuliere«, sagte er, »wir haben dich gerade zur rechten Zeit herausgebracht aus dem Kittchen. In drei Tagen fahren wir los. Papiere und so: alles in Ordnung. Ist dir die Zeit recht lang geworden?«

»Nein, die Zeit ist schnell vergangen. Mensch, Herfurt, ich hätte auch fünf Monate oder fünf Jahre gesessen, um mit hinüber nach Moskau zu fahren.«

Thea blickte ihn zärtlich an.

»Gibt es was Neues?« fragte Herfurt.

Bundschuh erzählte die Geschichte von dem Landstreicher, der am 1. Mai auf den Barrikaden mitgekämpft hatte und dann im Polizeipräsidium als Spitzel auftauchte. Herfurt hörte gut zu, das Kinn besiegte den weibischen Mund, und er sagte:

»Das wissen wir schon. Den Kerl kennen wir. Schmitz heißt der Hund. Der Mann wird nicht alt. Der Genosse Emil nimmt sich seiner liebevoll an.«

Der Genosse Emil nimmt sich seiner an. Gut, dachte Bundschuh. für einen Spitzel soll es keine Gnade geben.

»Und was hat Riedel berichtet?«

»Riedel, Riedel, das ist die Sache, die ich mit euch besprechen muß. Er hat einen Bericht geschickt, der Riedel, aber wir können daraus nichts entnehmen. Man weiß nicht, ob er eigentlich für oder gegen die Nazis schreibt. Wir haben ihn nun ersucht, mit uns nach Moskau zu fahren, um dort an Ort und Stelle zu berichten. Aber wir haben noch keine Antwort von ihm. Du wirst ihn aufsuchen, Bundschuh, und mit ihm sprechen. Hier ist seine Adresse«, sagte Herfurt und schob einen kleinen Zettel über den Tisch, »der Junge ist doch zuverlässig?«

»Selbstverständlich!« sagte Thea.

»Unbedingt«, erklärte Bundschuh, »er hat es bewiesen damals am 1. Mai. Ich habe mit ihm den Otto Müller aus dem Feuer geschleppt, als die Grünen kamen... Habt ihr«, fragte er, »habt ihr euch um die kleine Erna gekümmert?«

Herfurt blickte Thea an.

»Wer ist die kleine Erna?«

»Aber Hans, das ist die Freundin von Kurt, und Kurt ist der Genosse, der am 1. Mai in der Kellerstraße den Rückzug von Eugen und Paul deckte und dabei erschossen wurde. Das weißt du doch, du hast ja selber darüber geschrieben«,sagte Thea.

Herfurt strich sich eine Locke aus der Stirn.

»Ach so. natürlich, ich habe ja auch am Grabe gesprochen. Aber von der kleinen Erna weiß ich nichts. Was ist mit der los?«

»Auch das habe ich dir schon gesagt, sie ist immer noch verschwunden«, sagte Thea.

»Verschwunden, was heißt hier verschwunden?« fragte Herfurt. »Wir sind keine Kleinkinderbewahranstalt«, erklärte er, »täglich verschwinden in Berlin soundso viel kleine Mädchen. Wenn wir uns um alle kümmern müßten... Nur keine Sentimentalitäten! Wird schon wiederkommen, die kleine Erna! Hier ist deine neue Adresse, Bundschuh. Da kannst du die drei Tage bis zur Abreise wohnen. Bei Thea ist es zu gefährlich. Und hier ist Geld für die letzten Wochen.«

Er schob einen Briefumschlag herüber.

»Aber Mensch, Herfurt, ich habe doch nicht des Geldes wegen gesessen, ich bin doch kein Angestellter!«

»Kannst du von der Luft leben?« fragte Herfurt.

»Nein, das nicht. Ich bin kein Verschwender, und was ich übrig habe, gebe ich zurück.«

»Und morgen treffen wir uns im Büro, und da gibst du mir Bericht, wie es mit Riedel steht. Du wirst ihn noch heute aufsuchen. Auf Wiedersehen, ich habe jetzt noch mit Thea zu sprechen«, sagte Hans Herfurt.

»Auf Wiedersehen, Eugen«, sagte Thea und gab ihm zärtlich die gepflegte Hand.

Bundschuh fuhr nach dem Alexanderplatz. Riedel hatte sich in der Weinstraße einquartiert und war nicht zu Hause. Arm und grau war diese Straße, trostlos und verlassen wie die Kellerstraße auf dem Wedding.

An der Gollnowstraße kam Bundschuh in einen Auflauf hinein und sah, wie vier junge Burschen auf einen Mann einhieben. Der wehrte sich tapfer. Ein Schlagring hatte ihm die rechte Stirnseite aufgerissen. Vier Mann gegen einen! In Bundschuh stieg die helle Wut hoch, er bahnte sich einen Weg durch die Gaffer, stieß dem jungen Burschen, der eben mit dem Schlagring noch einmal ausholen wollte, die Faust vor die Brust und stellte sich vor den Angegriffenen.

»Feige Hunde«, keuchte er und bekam einen heftigen Schlag ins Gesicht, »feige Hunde!«

»Bist wohl auch ein Nazi?« höhnte der Mann mit dem Schlagring und umtanzte ihn wie ein Boxer. »Mach dich dünne, aber plötzlich, mein Junge!«

Dünne machen? Vier gegen einen? Jetzt waren es nur noch vier gegen zwei, nein, Bundschuh machte sich nicht dünne.

»Gib ihm Saures, Fritze«, kreischte eine Stimme.

Aber es gab kein Saures mehr. Die Menge stob auseinander. Die Polizei kam im Laufschritt an. Bundschuh griff den Mann mit dem blutigen Gesicht unter den Arm und zog ihn mit sich fort. Sie liefen nach dem nächsten Hausflur. Der Mann wischte sich das Blut von der Backe und sagte:

»Das hast du aber gut gemacht, Eugen!«

Und erst jetzt erkannte er Paul Riedel.

»Mensch, Paule! Du! Junge, Junge! Was waren denn das für feige Kerle, vier gegen einen?«

»Kommune«, antwortete Riedel, »und sie haben mich nicht zum ersten Mal geschnappt.«

»Kommune? Kommunisten? Unsre Leute? Mensch, warum sagst du denn nicht, wer du bist?«

»Wer ich bin? Komm, Eugen, komm zu mir rauf, da wollen wir sprechen«, sagte Riedel und band sich das Taschentuch um die Stirn. »Es ist nicht schlimm, die Haut geritzt«, sagte er, »das ist so eine proletarische Abreibung gewesen«, lachte er, »und du kamst gerade zur rechten Zeit, ehe es schlimm wurde. Der Kerl mit dem Schlagring ist ein Bulle von der Wanderklicke Kalmückenblut.«

Sie stiegen schweigend die vier Treppen hoch.

Riedel wusch sich die Wunde. Sie sah gefährlich aus und war harmlos. In den letzten Wochen nahm es Paule Riedel aus der Kellerstraße nicht mehr so genau, wenn ein Tropfen Blut floß. In den letzten vier Wochen war er schon einige Male überfallen worden.

»Was ist los, Paule? Warum verfolgen dich unsre Leute? Was wollen die Kalmücken von dir?«

»Das ist ein Drama, das ist eine Tragödie, Eugen«, sagte Riedel, »und vielleicht ist es ein deutsches Trauerspiel, ich kenne mich in Theatersachen nicht so genau aus, aber in der Wahrheit kenne ich mich jetzt aus. Paß mal auf, wie das alles war. Der Herfurt hat mich in den Sturm abkommandiert. Überall hat man Kommune in die Stürme abkommandiert. Das wußten unsre Funktionäre. Schön, wir sollten spitzeln. Aber da gabs gar nichts zu spitzeln, Eugen! Da waren Leute wie wir Arbeiterjungens, Idealisten, die den letzten Kanten Brot miteinander teilten, jawohl, das habe ich erlebt, vom letzten Kanten habe ich selber mitgegessen. Und da wollten nun unsre Leute wissen, wann mein Sturm ausmarschiert und um welche Zeit er marschiert und welche Straßen er marschiert. Und alles wollten sie wissen von wegen proletarischer Abreibung. Und ich bin kein Verräter. Und ich habe zum ersten Mal den Genossen einen falschen Weg angegeben, und wir sind eine andre Straße gekommen, und da haben sie mich gesehen und auf dem Heimwege geschnappt, Eugen, ja, siehst du, weil ich kein Verräter sein will und keine Arbeiter vor die Bleirohre und Kanonen der Kommune schicken kann: das ist ihr ganzer Haß, und weil sie Hitler und Goebbels nicht verstehen, und weil ihnen eingehämmert wird, die Nazis seien finstre Reaktionäre.«

Riedel hatte sich heiß geredet.

»Aber natürlich sitzt bei euch die Reaktion!« sagte Bundschuh.

»Nein. Wir sind Sozialisten. Deutsche Sozialisten! Wir sind eine Arbeiterpartei. Wir sind«, er zögerte, »wir sind das Volk, das unsterbliche Volk!«

»Mit Prinzen.«

»Mit deutschen Volksgenossen!«

»Paule«, sagte Bundschuh, »was ist denn mit uns los? Warum streiten wir uns? Was hast du denn mit den Nazis zu tun? Sage die Wahrheit, schreibe für Herfurt die Berichte und fahre in den nächsten Tagen mit mir nach Moskau, alter Junge, sei vernünftig!«

»Vernünftig? Nein, ich verrate nichts. Ich bin kein Spitzel. Soll der verrückte Herfurt selber spitzeln ... Ich kann es nicht, ich will es nicht! Mensch, gib mir mal eine Zigarette.«

Er bekam die Zigarette.

»Und was ist mit Moskau?«

»Was soll ich in Moskau?«

»Thea fährt auch mit! Ich soll dich grüßen, Paule. Mensch, in drei Tagen fahren wir los! Und was du sehen sollst? Das, was unsre Leute ausgebaut haben, du Narr, du elender!«

»«Und berichten, daß wir alle auf den Einmarsch der Roten Armee warten, was, und Hurra schreien? Nein, ich habe nichts zu berichten. Und ich habe von den Russen genug. Denke an das Schwein Willi.«

»Willi, Willi, der Kerl ist doch schon lange erschossen worden, wegen Feigheit vor dem Feind!«

»Schade«,sagte Riedel und hob den Blick, »schade, ich hätte ihn am liebsten selber abgeknallt ...« Seine Stimme wurde härter, »du hast doch den Kurt gekannt, den Kurt mit dem Vollmondgesicht, und der ließ sich für uns abknallen. Und die kleine Erna, wo ist die? Ist verschwunden, und kein Mensch kümmert sich um sie. Kurts Eltern sind arbeitslos, aber wenn du denkst, die Partei hilft, da bist du schwer im Irrtum. Mal ist ein ganz kleiner Bonze von der Roten Hilfe dagewesen, hat sich alles erzählen lassen und hat einen großen Artikel darüber geschrieben. Und dann haben sie zwanzig Mark ausgespuckt. Damit war die ganze Sache erledigt. Damit haben sie den Toten bezahlt.«

»Du bist ja verrückt«, wütete Bundschuh, »Mensch, was ist denn mit dir eigentlich los?«

Riedel erneuerte den Verband.

»Nichts ist los, das ist los«, sagte er, »und höre gut zu. Was soll ich in Moskau? Hurra schreien am Grabe Lenins und meinen Sturm verraten? Das gibts nicht, mein Junge!«

»Augenblick mal: deinen Sturm?« fragte Bundschuh, »du bist doch bei uns in der Partei!«

»Nein. Mir sind die Augen aufgegangen in den letzten Wochen. Da sind wir ausmarschiert nach den Dörfern. Da sind wir durch Neukölln gezogen. Da habe ich Deutschland gefunden. In der Stadt und auf dem Dorfe. Als Spitzel habt ihr mich geschickt, als Mann habe ich mich gesunden und Mensch, ich glaube nicht mehr an den alten Zauber, ich glaube an Deutschland!«

»Verdammter Blödsinn«, murrte Bundschuh, »auch wir sind Deutsche und keine Baschkiren, auch wir leben hier und nicht in Japan. Wenn wir kämpfen, kämpfen wir für unser Volk und für unser Land.«

»Das mußt du mal Uralski erzählen«, höhnte Riedel, »ich bin nicht mehr bei euch, weil mir ein Baum am Plötzensee wichtiger und heiliger ist als ein Stein aus dem Roten Platze in Moskau, und weil ich die Bonzen nicht mehr sehen kann, die sich an unsren Groschen überfressen und die die dummen Arbeiter in die Zuchthäuser und ins Feuer schicken. Schau dir doch diesen Herfurt ganz genau an, diesen Schaufensterdekorateur der Revolution! Das Feuer, Mensch, wir sind in den letzten Jahren ziemlich ausgiebig mit Feuer getauft worden! Ganze Waschkörbe mit Feuer auf unsre dummen Schädel! Aber das hört nun auf!« Seine Stimme beruhigte sich. »Nein, ich fahre nicht mit hinüber. Den letzten Gedanken daran hat mir vor einer halben Stunde der Mann mit dem Schlagring vertrieben!«

Bundschuh schwieg.

»Und wie stehts mit uns, Paule?« fragte er endlich.

»Wir haben zusammen an einer Barrikade gebaut, Eugen, und wir haben zusammen einen Kameraden aus dem Feuer getragen, und ein Toter hat uns beschützt. Der Kurt. Zwischen uns, Eugen, ist nichts als das Blut, mit dem wir uns damals beschmierten. Und Blut bindet uns. Aber«, und seine Stimme wurde kalt und hart, »aber wenn wir uns mal in der Stadt treffen, ich hier und du dort, und es muß geschossen werden, in Gottes Namen, dann knalle ich, Eugen!«

»Auch ich werde meine Kanone nicht in die Luft abschießen wie damals auf dem Wedding. Leb wohl, Paule.«

Riedel sagte:

»Also leb wohl, Eugen, und ich danke dir für heute.« Er schüttelte seine Hand, »kannst du mich wenigstens verstehen?«

»Nein«, sagte Bundschuh und ging.


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