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Siebentes Kapitel

Es war der erste Wintertag. Hoher Himmel und dünner Schnee auf der leicht gefrorenen Erde.

Vor der Kirche begannen die Männer sich zu versammeln, feierlich, mit hohen Zylindern aus mancherlei Jahrgängen. Sie flüsterten in kleinen Gruppen. Einer nach dem anderen gingen sie hin und guckten in das leere Grab dicht hinter der Kirchenmauer.

Drinnen in der Kirche gingen vier, fünf Frauen lautlos um den Sarg und befühlten die Kränze. Der Küster und die kleine Jensen legten die Gesänge auf die Plätze.

Sie waren fertig. »Und Numero 733 aus dem Gesangbuch am Grabe,« sagte die kleine Jensen.

Die kleine Jensen war eine Art Leichenbitter bei dieser Gelegenheit. Sie hatte sofort die Sorge für den Leichnam übernommen, im Hause wie auch in der Kirche. »Das Institut« hatte Herbstferien seit dem Todesfall.

Fräulein Jensen sah sich in der Kirche um und trat mit dem Küster an den Sarg: die Girlanden hingen in regelrechten Bogen vom Chor herab und die Altarleuchter waren mit Trauerflor umwunden.

»Reizender Sarg für diese Jahreszeit!« sagte der Küster.

Sie besahen die Kränze.

»Man bindet hübsche Kränze auf der Mühle,« sagte die kleine Jensen.

»Mit Unterschied,« sagte der Küster, indem er die Schulter in die Höhe zog und einen Kranz von Abels betrachtete.

»Ja,« sagte Fräulein Jensen, »da ist kein Interesse.«

Fräulein Jensen entfernte sich ein wenig und beschaute prüfend den Sarg: »Ja,« sagte sie, »ich freue mich, daß wir Eichenholz nahmen.«

»Das ist – wenn ich so sagen darf – auch viel proprer für die Leiche,« erwiderte der Küster.

Die Glocken begannen zu läuten und Fräulein Jensen trat hinaus auf den Kirchhof. Sie begrüßte die Eltern ihrer Schüler und hielt Volkszählung ab.

Bai kam durch die Pforte in Begleitung zweier Herren, die Fußsäcke in der Hand trugen; alle Hüte wurden gelüftet. Die kleine Jensen drückte Bai in der Vorhalle die Hand.

Als alle in den Kirchenstühlen Platz genommen hatten, langte die Familie Abel an. Die Witwe schritt voran, sie sah aus, als habe sie sich sehr beeilt. Die beiden Küken waren in Kreppschleier gehüllt wie zwei Witwen.

Luise die Älteste legte einen Efeukranz auf den Sarg.

Agnes saß neben dem alten Pastor. Sie hörte den Gesang nicht und las die Lieder auch nicht nach; sie starrte nur mit betauten Augen auf den Sarg der schönen Frau.

Der Gesang erstarb. Der alte Pastor erhob sich und trat vor.

Als Bai ihn dort vor dem Sarge mit gefalteten Händen stehen sah, brach er in Tränen aus und schluchzte.

Der alte Pastor wartete still, die Augen auf den Sarg gerichtet. Die Stimme ertönte nur halblaut, als er sprach. Die Wintersonne fiel durch die Chorfenster auf den Sarg und die Blumen.

Der alte Pastor sprach von den Stillen im Lande.

»Still war sie – still in ihrem Leben; still wollte sie zur letzten Ruhe gebracht werden. Gott der Herr, der die Menschen kennt, gab ihr ein Leben in Glück bei einem guten Manne; Gott gab ihr einen Tod im Frieden seines heiligen Geistes. Er empfange ihre Seele, er, der allein Herz und Nieren kennt; er schenke seinen Trost, den einzigen Trost – dem, der jetzt trauert.«

»Amen!«

Der alte Linde schwieg, es war ganz still.

Alle erhoben sich in den Kirchenstühlen und sahen dem Sarge nach, der unter Gesang hinausgetragen wurde.

Ein besser Teil kein Erdenlos gewann,
Als wenn zwei Herzen für einander schlagen,
Denn doppelt froh macht alle Freude dann
Und halb so schwer läßt aller Schmerz sich tragen.
Ja, herrlich ist zu preisen,
:,: Wenn zwei zusammen reisen, :,:
Und wenn den Weg will weisen
:,: Die Liebe. :,:

Agnes sah noch immer dem Sarge nach.

Die Türen waren weit aufgeschlagen, so daß der helle Tag hereinströmte.

Sie kamen hin zum Grabe. Die Leichenträger mußten mit dem Sarge über Berg und Tal. Das Seil entschlüpfte den Händen des Totengräbers.

Alle standen da und warteten, bis man des Seiles wieder habhaft wurde und es um den Sarg geschlungen hatte. Bai umklammerte einen Busch, als wollte er ihn zerknicken.

Agnes hatte die Augen geschlossen.

Wie traurig, wenn der Tod geschieden hat
Zwei Herzen, die für's Leben sich gefunden,
Doch sicherlich, in Gottes Stadt
Sind Lieb und Treu zu ew'gem Glück verbunden.
Wie herrlich auch zu leben,
:,: Vereint in gleichem Streben, :,:
Zum Himmel kann nur heben
:,: Die Liebe. :,:

»Na – na – na, Schwager,« sagten die beiden Pelzfußsäcke, die Bai stützten, der schluchzend zwischen ihnen stand.

Der Gesang erstarb wieder. Es war still, kein Laut war vernehmbar; kein Wind fuhr über die entblößten Häupter.

Schwer fiel der Sand aus den zitternden Händen des alten Linde in die Gruft.

»Vater unser, der du bist im Himmel ...«

Es war vorbei ... Die beiden Herren mit den Fußsäcken drückten die Hände und dankten für »die große Teilnahme«.

Frau Abel hielt sie an der Kirchhofspforte zurück. Sie habe ihren kleinen Tisch zum Mittag für Bai und seine Schwäger bereitet ... in aller Einfachheit – damit sie nicht so allein wären. Frau Abel trocknete ihre Augen: »Man weiß, was es heißt, jemand zu verlieren,« sagte sie.

Das Trauergefolge hatte sich zerstreut.

Agnes stand allein am Grabe. Sie blickte hinab auf den Sarg und die mit Sand bestreuten Kränze ... Und auf den Weg, wo alle Leute heimgingen, wieder ins Leben hinein.

Da ging Bai zwischen den beiden in Trauer gekleideten Damen – den langen Schleiern – und den beiden Herren mit den Fußsäcken ... es waren Kathinkas Brüder ... die im Namen der Familie den Leidtragenden gedankt hatten.

Die kleine Jensen sollte nach gehabter Anstrengung auf der Mühle speisen ... Fräulein Helene stöhnte in ihren engen Stiefeln ...

Dann gingen sie.

Und beeilten sich.

Agnes senkte das Haupt, sie empfand einen heftigen Widerwillen gegen dies kleinliche Leben, das ruhig weiterflutete – heimwärts auf allen Wegen.

Hinter ihr ertönten Schritte. Es war der kleine Bentzen mit einer großen Schachtel.

»Da ist ein Kranz, Fräulein,« sagte er, »ich wollte ihn lieber selbst bringen. Er kam mit dem Mittagszuge.«

Der kleine Bentzen nahm den Kranz aus der Schachtel.

»Er ist von Huus,« sagte er.

»Von Huus,« sagte Agnes. Sie nahm den Kranz und sah auf die halbverwelkten Rosen: »Wie schön er gewesen ist!«

»Ja,« sagte Bentzen, »schön ist er gewesen.«

Sie standen eine Weile schweigend nebeneinander. Dann kniete Agnes halb nieder und ließ den Kranz vorsichtig auf den Sarg hinabgleiten. Die Blätter der Rosen zerstreuten sich im Fallen.

Als Agnes sich umdrehte, stand der kleine Bentzen da und weinte.

Ein Mann trat auf sie zu.

»Wenn das Fräulein – – Es soll geschlossen werden.«

»Ja – wir kommen.«

»Der Küster gibt mir wohl Erlaubnis, hier sein zu dürfen,« sagte Agnes.

Agnes und Bentzen gingen still auf dem Wege dahin. Der Mann stand bereits an der Pforte und wartete.

Die Hände in den Taschen ihres Mantels blieb Agnes stehen und blickte den Mann an, der die Pforte schloß und das Vorlegeschloß vorlegte.

Der kleine Bentzen schluchzte noch immer, als er sich empfahl.

... Agnes blieb lange vor der geschlossenen Pforte stehen.

– – –

Bai war viel bei Abels.

Frau Abel konnte den Gedanken nicht ertragen, daß er so allein – auf der Station in den öden Zimmern sitze ... »Wenn man selbst bei einer traulichen Lampe sitzt,« sagte Frau Abel.

Sie und ihre älteste Tochter Luise holten ihn oft nach dem Achtuhrzug ab: »Nur nach Hause zur Lampe,« sagte Frau Abel.

Luise die Älteste war auf der Station ganz wie daheim. Sie mußte den Blumen noch schnell Wasser geben, ehe sie ging.

Frau Abel sah zu.

»Das waren die Lieblinge – der Teuren,« sagte sie mild.

Die Teure war Kathinka.

»Aber die Ampel,« sagte Luise, »sie durstet auch.« Sie nickte der Ampel zu.

Bai mußte den Stuhl halten, wenn Fräulein Luise den Pflanzen in der Ampel Wasser gab. Sie stand auf den Zehen, die Gießkanne in der Hand und zeigte ihre Schönheit.

»Sie vergißt nichts,« sagte Frau Abel. Die Ampel bekam zuviel Wasser, so daß es auf den Boden tropfte.

»Marie, Sie trocknen wohl auf,« rief Luise die Älteste mit scharfer Stimme in die Küche hinaus. Sie stand stets eine Weile in der Tür zur Speisekammer und hielt »Überschau«. Luise hatte so schnelle Finger, wenn ein süßer Rest auf einem Teller hingestellt war.

Sie gingen nach Hause zur Lampe.

Luise die Älteste schenkte den Tee und trug dabei eine weiße Schürze.

Ida die Jüngste mußte immer mehrmals gerufen werden.

»Sie schreibt,« sagte die Witwe, – »in ihrer Ecke.«

Ida die Jüngste schrieb stets in einem mehr als sonderbaren Negligé.

»Ida, du hast ja deine Manschetten vergessen,« sagte die Witwe.

»So?« erwiderte sie erstaunt.

Ida war im ganzen genommen sehr derangiert.

»Er ist ja nicht hier,« sagte die Witwe.

Nach Tisch bekam Bai seinen Grog zur Zeitung. Fräulein Luise stickte und die Witwe saß und blickte beide zärtlich an.

»Ganz wie zu Hause sollen Sie sich hier fühlen, das ist es ja, was wir wollen.«

Wenn Bai mit der Zeitung fertig war, spielte Luise die Älteste und sie schloß mit einem von Kathinkas kleinen Liedern.

»Das spielte sie, die Teure,« sagte die Witwe und blickte auf das Bild: Kathinkas Bild hing mit einem Immortellenkranz umgeben unter dem Spiegel über dem Sofa.

»Ja,« sagte Bai. Er saß da mit gefalteten Händen. Wenn Bai vor der Lampe saß und seinen Grog getrunken hatte, überkam ihn stets eine milde Rührung über seinen »Verlust«.

Die Witwe Abel verstand ihn.

»Aber man besitzt die verklärende Erinnerung,« sagte sie, »und hofft auf das Wiedersehen.«

»Ja,« bestätigte Bai, indem er mit zwei Fingern über die Augen fuhr.

Sie sprachen von der »teuren Verstorbenen«, während Bai sein zweites Glas trank.

Die kleine Jensen saß im Dunkeln an ihrem Fenster, um zu hören, wann Bai ging.

Die kleine Jensen war in der letzten Zeit viel im Pfarrhof.

»Bei Abels wollen sie offenbar nicht gestört sein,« sagte die kleine Jensen.

Fräulein Jensen war während der ersten Wochen nach dem Todesfall sehr oft nach der Station gekommen.

»Eine Frau hilft, wo sie kann,« sagte sie auf der Mühle.

»Ja,« sagte die Frau des Müllers.

Fräulein Helene streckte die Beine von sich und starrte auf ihre Filzpantoffeln.

»Und die liebe Kathinka« – Fräulein Jensen nannte sie Kathinka nach ihrem Tode – »hat ihn verwöhnt.«

Die kleine Jensen übernahm eine Art Oberaufsicht auf der Station.

»Was nützt wohl ein Mädchen?« sagte sie.

Sie kam nach der Schulzeit mit ihrem Spankorb und Bel-Ami. Bel-Ami hatte einen eigenen Korb am Ofen.

Sie ging lautlos umher und bereitete Bais Leibgerichte.

Wenn der Tisch fertig war, hatte sie ihren Mantel schon wieder angezogen. Bai bat sie, doch zu bleiben und ein Stück Butterbrot mit ihm zu essen.

»Ja – wenn Sie es lieber sehen, wenn ich bleibe,« sagte Fräulein Jensen. »Es ist doch immerhin ein lebendes Wesen,« fügte sie bescheiden hinzu.

Bel-Ami kam wieder auf seinen Platz und sie aßen.

Die kleine Jensen drängte sich nicht mit Unterhaltung auf. Sie saß da wie die stille Teilnahme, während Bai sich die Leibgerichte schmecken ließ. Er fing an seinen alten Appetit wieder zu bekommen.

Nach Tisch spielten sie eine einsilbige Partie Pikett.

Um zehn Uhr ging Fräulein Jensen.

»Ich war am Grabe,« sagte sie, »mit einer Blume –«

Fräulein Jensen pflegte das Grab.

Sie hörte Bel-Ami heulen, wenn sie auf dem Wege heimging. Sie nahm ihn nicht auf.

Fräulein Jensen ging in tiefe Gedanken versunken. Sie dachte daran, ihre Schule zu verkaufen.

Sie hätte sich immer besser für einen Platz geeignet, wo eine Dame mit Bildung die Stelle der Hausfrau vertrat.

Aber während der letzten zwei, drei Monate kam Fräulein Jensen nicht mehr so oft auf die Station.

Sie legte keinen Wert darauf, zu den Zudringlichen gezählt zu werden.

Frau Abel begriff sie ganz einfach nicht.

Des Abends saß sie am Fenster, um zu hören, ob sie ihn überhaupt nach Hause ließen.

»Das Grab pflege ich,« sagte sie auf der Mühle.

– – –

»Verteufelte Frauenzimmer, wie sie ihn umschwärmen« ... Kjär fächelte im Bureau mit seinem Hut, als wollte er Fliegen verjagen ... Fräulein Luise war in der Tür an ihm vorbeigehuscht. »Zum Teufel auch, wie sie ihn umschwärmen!«

Kjär mußte nach der Hauptstadt reisen und wollte Bai mitnehmen.

»Hast es wirklich großnötig, – alter Junge – hast es großnötig!«

»Mußt mal andere Luft atmen!«

»Alter Junggesell ...«

»Hinaus auf die Kegelbahn,« sagte er.

Bai konnte sich jedoch nicht dazu entschließen ... »Du – so kurz nach –«

»Du mußt aber mal andere Luft einatmen, wirklich, das wird dir guttun!«

Acht Tage später reisten sie.

Frau Abel und Fräulein Luise packten den Koffer.

Bai streckte sich auf dem Sitze aus und spannte seine Armmuskeln, als sie davonfuhren.

»Auf der Reise?« fragte der Indiskrete, den sie auf einer Station kreuzten.

»Ein Junggesellenausflug ... zwei fröhliche junge Hähne ...« Der Indiskrete lachte und schnalzte mit der Zunge, daß es knallte.

Bai sagte: »Ja – wir wollen in die Hauptstadt und sehen, wie die Weiber dort schwänzeln ...« Er schlug Kjär auf beide Knie und sagte wieder: »Schwänzeln – du, Alter ...«

Sie fuhren davon und winkten dem Indiskreten zu. »Viel Vergnügen!« rief er ihnen nach.

Sie wurden plötzlich sehr heiter, brauchten Kraftworte und schlugen sich gegenseitig auf die Knie vor Vergnügen.

»So geht es wieder seinen alten Gang,« sagte Bai.

»Wozu sind wir Menschen auch da?« erwiderte Kjär.

»Adam – du Alter,« entgegnete Bai.

Sie lachten und schäkerten. Kjär war außerordentlich lustig.

»Jetzt kennt man dich wieder,« sagte er, »du alter Lampenputzer ... jetzt kennt man dich.«

Bai wurde plötzlich ernst.

»Ja – alter Freund, es sind traurige Zeiten gewesen.«

Er seufzte zweimal und lehnte sich ein wenig in den Sitz zurück.

Dann sagte er wieder in fröhlichem Tone: »Du, wir holen Nielsen ab.«

»Was für einen Nielsen?« fragte Kjär.

»Ein kleiner flotter Leutnant – du, der kennt ...«

»Man kennt ja nicht alle neuen Orte, Alter ... Sah ihn im Pfarrhaus ... ein höllischer Kerl ... der kennt ... Ach so, – du willst auf den Bummel –«

Sie begannen zu gähnen und wurden stiller. Bald schliefen beide ein und schliefen bis Fredericia.

Dort tranken sie tüchtig Kognak – gegen die »Nachtkälte«.

Bai ging auf den Perron hinaus. Die Wagen wurden rangiert und es war ein Geläute und ein Signalisieren, so daß man fast sein eigenes Wort nicht hören konnte.

Bai stand unter einer Laterne mitten im Gewimmel und ließ sich stoßen: »Du, Alter,« sagte er zu Kjär und rieb sich die Hände, während er über den Perron und die Bahn hinausschaute, »was sagst du dazu?«

»Das nenn' ich Leben,« sagte Kjär.

Damen stiegen auf den Wagentritten aus und ein, gerötet vom Schlaf unter ihren Reisekapuzen.

»Und diese Weiber!« sagte Bai.

Es wurde gerufen und geläutet. »Die Passagiere nach Strib!« – »Die Passagiere für die Fähre!«

Mit dem Halbelfzug kamen beide in der Hauptstadt an. Sie fanden den pensionierten Leutnant Nielsen im vierten Stockwerk in einer Vorstadtstraße. Das Meublement bestand aus einem Kleiderschrank mit einer hängenden Tür, die eine einsame Uniformweste blicken ließ, und einem Rohrstuhl mit einem Waschbecken.

Der Leutnant lag auf einer Heumatratze.

»Befinde mich auf Feldfuß,« sagte er, »man hat ja seine Kajüten ›anderswo‹, Inspektor.«

Bai sagte, daß sie »die Stadt besehen« wollten. »Solche Orte,« sagte er ... »Sie verstehen mich wohl.«

Leutnant Nielsen verstand ihn sofort.

»Sie wollen den Markt sehen,« sagte er. »Verlassen Sie sich auf mich – ich will Ihnen den Markt zeigen.«

Er fuhr in die Hosen und fing an nach einer Madame Madsen zu schreien. Madame Madsen steckte mit nacktem Arm ein Stück Seife durch die Tür.

»Man lebt in der Familie,« sagte der Leutnant. Er schäumte Madame Madsens Seife an den Armen in die Höhe.

Sie verabredeten einen Ort, wo sie sich treffen wollten, um die Tanzbeine des Kasinotheaters zu sehen.

»Und dann besuchen wir den Markt,« sagte Bai.

Der Leutnant pumpte Madame Madsen um zehn Pfennige an und fuhr dann sofort hinaus nach der »Kneipe«.

Die Kneipe war ein kleiner, netter Biergarten in einer Vorstadt, wo die Mitglieder der »Bande« auf der Kegelbahn und bei Kartenspiel verkehrten.

Die Bande bestand aus drei Leutnants und zwei flachshaarigen Herren von der landwirtschaftlichen Schule.

Als Nielsen kam, waren die Herren bereits beim L'hombre; sie saßen in Hemdärmeln und hatten die Hüte im Nacken.

»Na – Zwillinge,« sagte Nielsen, »geht's flott her?«

»So so, la la!« meinte einer der Leutnants.

»Ich hab' ein Paar ›Spendierer‹ aufgeschnüffelt,« sagte Nielsen.

»Spendierer! – Zum Kuckuck auch, – Nielsen!« Die Flachshaarigen schoben die Hüte tief in den Nacken.

»Ein Paar ältere ›Spendierer‹, Zwillinge.«

Die Zwillinge klopften zu Ehren des genialen Finders mit den Bierflaschen auf den Tisch.

Am Abend fanden sie sich in einem Tingeltangel, »der Sarg« genannt, ein; vorher hatte Nielsen mit Kjär und Bai die Tanzbeine besichtigt.

Nielsen holte ein Paar rotwangige Mädchen heran, die schwedischen Punsch mit ihnen tranken und die beiden »älteren Herren aus der Provinz« kokett auf die Finger schlugen.

Bai frischte alte Zärtlichkeitsausdrücke aus seinen Leutnantstagen auf.

Die beiden Flachshaarigen konnten nichts vertragen. Sie saßen lallend da und sagten:

»Ihr alten Schweinsborsten!« und klopften Kjär und Bai auf die Schultern.

Sie tranken gemeinsam weiter.

Bai wurde zärtlich von dem vielen Trinken.

Wie es zugegangen war, wußte Bai nicht, aber plötzlich waren die Leutnants mit den rotwangigen Mädchen verschwunden ...

»Sie sind fortgeflogen,« sagte Kjär.

»Die beiden Herren sitzen so allein hier.« Eine ältere kleine Jüdin kam an ihren Tisch heran. – –

– – –

Acht Tage waren vergangen.

Kjär hatte des Vormittags Geschäfte, Bai schlief den größten Teil des Tages.

Kjär kam nach Hause und trat ins Zimmer.

»Was, schläfst du noch?« sagte er.

»Ja – man ist weiß Gott nicht aufgelegt,« sagte Bai und rieb sich die Augen auf dem Sofa.

»Wie viel Uhr ist es?«

»Zwei.«

»Dann müssen wir fort.« Bai erhob sich vom Sofa. »Verdammtes Plättbrett,« sagte er. Er fühlte Schmerzen in allen Gliedern.

Er kleidete sich an.

Sie wollten ausgehen, um einen Grabstein zu besehen. Bai wollte hier in Kopenhagen einen Grabstein für Kathinka kaufen.

Er war bei drei, vier Steinhauern gewesen und hatte sich noch nicht entschließen können.

Kjär war etwas ungeduldig, daß er so mit ihm zwischen allen diesen Steinen umherlaufen mußte.

»Es ist ja sehr hübsch von dir, alter Freund. – Es ist ja sehr hübsch von dir ... aber sie liegt ja ebenso gut ohne Stein.«

Bai war halb gerührt, während er zwischen all diesen Kreuzen und Säulen mit Marmortauben und Engelsköpfen umherging.

Heute mußte er sich entschließen, es war der letzte Tag.

Er wählte ein großes graues Kreuz mit ein Paar Marmorhänden, die sich im Händedruck unter dem Schmetterling des Lebens vereinigten.

Bai stand lange vor dem Kreuz mit den beiden Händen und dem Schmetterling.

»Schöner Gedanke,« sagte er, indem er zwei Finger über die Augen gleiten ließ: »Glaube, Liebe, Hoffnung.«

Kjär verstand nicht immer, was Bai meinte, wenn er traurig war.

»Ja, ein netter Gedanke,« sagte er.

Am Abend gingen sie in das königliche Theater.

Nach dem Theater wollten sie hinaus in die Vorstadt. »Ich bedanke mich,« sagte Kjär, »die Bänke zu wärmen und diesem Gelichter aufzulauern.«

Kjär ging nach Hause und Bai ging allein. Die Leute sollten nicht sagen, daß er nicht bis zum letzten Augenblick ausgehalten habe.

Er betrat das Lokal, von der Bande war noch niemand da. Er setzte sich auf die Galerie und wartete.

»Nein, ich danke,« er wünsche nichts ... »Eine Flasche Selterswasser.«

Er saß da und schaute in den Saal durch den Tabaksrauch auf die acht Mädchen hinab, die auf der Tribüne im Kreise saßen, und auf die Zuschauer. »Bei Gott, lauter Jungen ... Natürlich haben sie alle einen Griff in die Kasse ihres Prinzipals getan!« dachte Bai ...

»Lauter Jungen,« sagte er wieder.

Unten wurde geschrien und mit den Stöcken auf den Tisch geklopft: eine englische Tänzerin schlug mit großer Energie die Röcke über dem Kopf zusammen. Bai hatte diese Röcke jeden Abend fliegen sehen.

Und er sah fast ärgerlich auf die Begeisterung hinab, die durch die Stöcke zum Ausdruck gebracht wurde.

»Es war auch der Mühe wert, so viel Skandal zu machen,« sagte er.

Er trank das Selterswasser schnell aus und fuhr fort den Saal zu betrachten: die acht Mädchen, die wie eine Reihe schläfriger Hühner auf ihrer Stange dasaßen, und die Jungen, die ihnen Beifall klatschten, um sich einzubilden, daß es amüsant sei ... Er hatte fast drei Viertelstunden gewartet und die Bande kam nicht.

Übrigens war es ihm ganz lieb, daß sie fortblieben – mit ihren »Rotwangigen«.

»Eine alte Judenmamsell kann man am Ende überall finden« ...

Bai sah nach der anderen Seite hinüber: ein paar Herren scherzten mit zwei jungen Mädchen; das eine von ihnen war hübsch und frisch mit ein paar Lachgrübchen ... Der junge Mann beugte sich hinüber und stahl einen Kuß unter ihrem Schleier.

Die Bande kam noch immer nicht. Bai fühlte bald etwas wie Arger, während er immerfort diese beiden Tauben ansah, die sich schnäbelten.

»Es kommt, weiß Gott, niemand ... Na – wenn sie einen ordentlich gerupft haben ...«

Das Lokal begann sich zu leeren, das Parkett war nur noch spärlich besetzt und von der Galerie verschwand Paar auf Paar über die Treppe.

Der Rauch und der Bierdunst lag dick und schwer über den Tischen mit den verlassenen Gläsern ... oben auf der Galerie trippelte nur noch die ältere Jüdin hin und her und nickte Bai verführerisch zu.

Das Gas war bereits halb niedergeschraubt und Bai saß noch da, den Kopf in beiden Händen, und starrte auf diesen öden und schmutzigen Saal hinab.

Er stieß einen Fluch aus, als er sich erhob.

Die ältere Dame machte sich an der Tür bemerkbar.

»Der Herr ist noch immer hier?« sagte sie.

»Nein – zu allen tausend Teufeln!«

Bai schüttete seine ganze Erbitterung in dem Stoß aus, den er der älteren Dame versetzte.

»Was,« heulte die Dame, »so behandelt man eine Dame ... eine Hausbesitzerin?«

Kjär war schon zu Bett.

»Na,« sagte er, »habt ihr euch amüsiert?«

Bai zog die Stiefel aus.

»Sie waren gar nicht da,« sagte er halblaut.

»Pack!« rief Kjär.

Bai entkleidete sich, ohne zu sprechen.

Er lag eine Weile bei brennendem Licht, dann löschte er es aus.

»Sind wir verstimmt, Alter?« fragte Kjär.

»Nein« ...

»Na ... gute Nacht!«

»Aber wir fangen an alt zu werden,« sagte Bai. »Ja,« fuhr er langsam fort, »das ist die Sache.«

Kjär drehte sich im Bette um: »Unsinn!« sagte er.

Bald darauf schnarchte er, aber Bai konnte keinen Schlaf finden. Es war ihm, als ob er den Bierdunst noch die halbe Nacht lang rieche, und er lag da und wälzte sich hin und her.

Am nächsten Morgen, als er seinen Koffer packte, fiel Kathinkas Photographie zwischen zwei Taschentüchern heraus auf die Erde.

Frau Abel hatte sie ihm mit eingepackt.

Sie hatte sie zärtlich angeblickt und in Seidenpapier gehüllt.

»Die Teure!« hatte sie gesagt.

Luise die Älteste, »meine Letzte«, war wütend gewesen. »Blech! – Willst du ihm nicht lieber auch eine Spieldose mitgeben?«

Daß sie ihm »die lieben Melodien« vorspielt.

Luise die Älteste hatte die häßliche Angewohnheit, ihre Mama nachzuahmen, wenn ihr etwas gegen den Strich ging.

Die Witwe Abel hatte das Bild stillschweigend zwischen die beiden Taschentücher gelegt.

»Er soll ein Stück von seinem Heim mitnehmen ...«

Bai nahm das Bild vom Boden auf und schaute es fortwährend mit schwimmenden Augen an.

– – –

Die Familie Abel war auf der Station, um den Inspektor Bai zu empfangen. Die Zimmer waren osterrein und glänzten vor Sauberkeit mit weißen Gardinen und frischer Luft.

Bai saß im Sofa vor dem gedeckten Tisch.

»Man kehrt wieder heim zu seiner Häuslichkeit,« sagte er.

»Daheim ins Nest.«

Er aß und trank, als hätte er auf der ganzen Reise keinen Bissen gegessen.

Frau Abel saß mit feuchten Augen da und sah liebevoll »unseren Heimgekehrten« an.

Er erzählte von der Reise.

»Die Theater,« sagte Frau Abel, »die Saison –«

Einen Grabstein hätte er gekauft ... ein verteufelt hoher Preis.

»Daran denkt man ja nicht,« sagte die Witwe Abel ... »der letzte Liebesbeweis.«

Ja, das hatte er auch zu Kjär gesagt ... »der letzte Liebesbeweis.«

Luise die Älteste wurde nie fertig mit ihren Überraschungen. »Nicht sehen!« sagte sie, indem sie ihm die Hand vor die Augen hielt, während die Witwe den Deckel von der letzten Ragoutschale abhob.

»Ja, was sie alles bereitet hat,« sagte Frau Abel und lächelte, »meine Älteste.«

»Haustiere sind wir doch alle,« sagte Bai, »Gewohnheitstiere«. Er legte beide Hände auf den Tisch und schaute fröhlich drein, während er Ruhe hielt.

– – –

Es war im Oktober. Auf dem Perron war es ganz voll zum Nachmittagszug. Die kleine Jensen und alle von Lindes und die von der Mühle waren zugegen.

Die Witwe Abel wollte abreisen, um das Heim für Ida die Jüngste einzurichten.

»Luise kommt nach,« sagte sie, indem sie ihre Letzte um den Hals faßte. »Sie liebt die Heimat, sie kommt erst zur Hochzeit nach,« sagte sie.

Die Hochzeit sollte bei »meiner Schwester, der Etatsrätin,« stattfinden. »Dort haben sie sich gefunden,« sagte die Witwe.

Der Zug wurde gemeldet. Bai kam mit dem Gepäckschein und dem Billet: »Er ist meine Vorsehung gewesen,« sagte die Witwe Abel, indem sie ihm zunickte.

Der Zug kam über die Wiese: »Grüßen Sie Ida,« sagte der alte Pastor, »wir denken an sie – – an ihrem Ehrentage.«

»Das wissen wir,« sagte die Witwe, »wir wissen, wo die guten Gedanken sind.« Sie war sehr bewegt und küßte alle. »Ja,« sagte sie, »das ist eine Reise, um ein Kind zu verlieren.«

Der Zug hielt: »Na – liebe Frau Abel,« sagte Bai, »jetzt ist es Zeit.«

»Und – meine Luise – – – Sie passen wohl auf sie,« rief sie, während Bai sie bereits in das Kupee hineingehoben hatte ...

»Leben Sie wohl, Frau Linde ... leben Sie wohl ...«

Luise sprang auf das Trittbrett und küßte die Mutter ... »Zuletzt!« sagte sie, indem sie sich emporstreckte, so daß man ihre Schönheit sehen konnte.

»Luise!« schrie die Witwe. Der Zug hatte sich bereits in Bewegung gesetzt.

Bai fing Luise, ihre Letzte, auf ... Es entstand ein Fächeln und ein Winken, bis man nichts mehr vom Zuge sah.

Lindes gingen mit den Leuten von der Mühle heim.

Luise die Älteste wollte etwas in der Posttasche nachsehen und lief vor Bai ins Bureau ... Sie lachten drinnen, so daß man es draußen auf dem Perron hören konnte.

Die kleine Jensen stand zusammengesunken an einen Pfahl gelehnt. Der Stationsdiener hatte die Milchkannen vom Perron geschafft und die Weiche gewechselt. Und Fräulein Jensen stand noch da, allein, an ihren Pfahl gelehnt.

– – –

Lindes waren zu Hause.

Der alte Pastor saß mit Agnes in der Wohnstube, während »Mutter« nach dem Tee sah.

Es war halbdunkel. Der alte Pastor konnte Agnes kaum sehen, die am Klavier saß. »Singe eins deiner Lieder,« sagte er.

Agnes ließ die Hände eine Weile über die Tasten gleiten, langsam auf und ab, dann sang sie mit halber Stimme – mit ihrem tiefen Alt – den Gesang von Marianna.

»Unter des Grabes Rasen schlief
die arme Marianna,
Kam die Maid und beklagte tief
die arme Marianna.«

Es wurde still in dem dunklen Zimmer.

Der alte Pastor schlummerte ein wenig mit gefalteten Händen.

 

Ende


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