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Sechstes Kapitel

Der Winter verging, ebenso der Frühling und der Sommer, der über den Feldern lächelte.

»Nichts als Trübsal, alter Freund,« sagte Bai zu Kjär, »gestern bin ich in die Dachkammer hinaufgezogen. Ein Mann, der am Tage seine Geschäfte wahrzunehmen hat, muß ja seine Nachtruhe haben.«

Kathinkas Husten schallte durch das ganze Haus.

Marie, das treue Mädchen, brachte ihr Wein und Wasser und blieb am Bett ihrer Herrin stehen. Es war, als ob der Husten Kathinkas Brust zersprengen wollte.

»Danke – danke,« sagte sie. »Gehe nun hinein und schlafe.« Sie atmete schwer.

»Wieviel Uhr ist es?«

»Halb vier ...«

»So!« – Kathinka legte sich ins Bett zurück. »Nicht mehr?«

Marie schlich auf den bloßen Füßen nach ihrem Sofa und bald darauf hörte man ihren tiefen Atem. Der helle Fleck von der Nachtlampe hinter dem Bett zeichnete sich an der Decke ab: Kathinka lag mit geschlossenen Augen in den Kissen.

Des Vormittags war sie auf. Sie saß in Decken gehüllt draußen auf der Perronbank in der Sonne.

Der schlanke Zugführer mit den indiskreten, engen Hosen führte den Mittagszug. Er sprang ab und fragte nach ihrem Befinden.

»Sie sollen sehen,« sagte er, »die klare Herbstluft ...«

»Vielleicht,« sagte Kathinka und reichte ihm ihre feuchte, matte Hand.

Bai und der Zugführer gingen den Perron entlang.

»Beide Lungen,« sagte Bai. Er hatte die Gewohnheit angenommen, wenn er von seiner kranken Frau sprach, mit zwei Fingern über seine Augen hinzufahren ... »Gottes Wille geschehe,« sagte er seufzend.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Der »Indiskrete« sprang hinauf; er sah fortwährend zu Kathinka zurück, die dort so still und blaß in der Sonne saß. Es tat ihm wirklich leid – recht leid ... Ja, wirklich sehr traurig ...

Er hatte sich während des letzten Winters eine Zeitlang allerlei gedacht ... sie saß oft auf der Perronbank und schien so sehnend auszuschauen ... Heute sah er ein, daß es nur die Krankheit war, die bereits damals im Anzuge gewesen war ... Der Zug schaukelte hin über die Wiesen. Der Himmel und die Ebene erglänzten in der klaren Herbstluft.

Die Stare lärmten längs des Telegraphendrahtes und sammelten sich in Schwärmen.

»Jetzt reisen auch sie,« sagte Kathinka. Sie folgte mit den Augen der davonziehenden Schar unter dem klaren Himmel.

Der Doktor kam und setzte sich zu ihr:

»Nun, wie geht es Ihnen?«

»Ich sitze hier und sammle Kräfte,« sagte sie – »zu morgen.«

»Zu morgen? – Ja, ganz recht – es ist ja der Geburtstag.«

»Ja.«

»Aber es bleibt bei unserer Verabredung, liebe Frau Inspektor.«

»Ja – sobald sie gegessen haben, gehe ich zu Bett.«

Es war Bais Geburtstag. Kathinka wollte, daß er seine Partie haben sollte. Sie hatte schon lange davon gesprochen: sie wolle bis zu Tisch aufbleiben. Nachher gingen sie ja doch zu Bai hinein und spielten – dann würden sie gar nicht merken, daß sie krank sei ...

»Diesen einen Tag wenigstens,« sagte sie.

»Jetzt sollten Sie hineingehen,« sagte der Doktor.

»Lassen Sie mich Ihnen helfen ...«

»Ich danke – es ist die Treppe,« sagte sie, »die Treppen werden mir immer so schwer.«

Ihre bleischweren Füße vermochten nicht die drei kleinen Stufen hinaufzukommen.

»Ich danke Ihnen, Doktor ... aber mein Schal ...«

Der Doktor nahm den blauen Schal von der Bank: »Ihr Lieblingsstück,« sagte er.

Kathinka drehte sich in der Tür um und sah über die Felder hinaus: »In dieser Zeit ist es hier schön,« sagte sie.

Des Nachmittags wurden ihr alle Sachen zu dem Salat auf dem Zimmertisch aufgetragen. Sie schnitt rote Beten und Kartoffeln in kleine Stücke auf einem kleinen Brett.

Fräulein Jensen kam zum Besuch. Kathinka nickte mit dem Kopfe.

»Ja – das kann ich doch noch,« sagte sie.

»Gibt es etwas Neues?« fragte sie, indem sie sich zurücklehnte. Ihre Hände waren so müde und es tat ihrer Brust weh, wenn sie die Arme hoch hielt.

»Ich habe Abels lange nicht gesehen ...«

»Sie hoffen ja auf Barners Anstellung,« erwiderte die kleine Jensen.

»Ja – er sucht ja ...«

Die kleine Jensen bekam eine Tasse Kaffee. »Gib mir das Öl, Marie,« sagte Kathinka.

Sie bekam eine Batterie von Flaschen und großen Schalen. »Wie schwer die ist,« sagte sie. Sie konnte kaum die große Essigflasche emporheben. Sie rührte in den Schüsseln und kostete.

»Nein,« sagte sie plötzlich, indem sie die Schüssel von sich schob, »nein, ich habe keinen Geschmack mehr.«

Sie saß müde mit geschlossenen Augen da. Rote Flecken hatten sich über ihre Wangen verbreitet.

»Aber ich könnte ja helfen,« sagte die kleine Jensen.

»Ach, Marie kann es ... ich muß zu Bett.«

Aber während des ganzen Nachmittags mußte Marie alles hin und her tragen, so daß sie es sehen konnte, während sie im Bett lag. Sie richtete sich im Bett auf, während es in ihrer Brust brannte: »Ja,« sagte sie, »Bai ist es so gewöhnt.«

Marie mußte das feine Porzellan, die Gläser und die feinsten Messer und Gabeln in das Schlafzimmer bringen, sie putzen und reiben und auf dem Tisch ausbreiten.

Kathinka lag da und zählte und rechnete, während ihre Augen im Fieber glänzten. »Daß auch alles da ist,« sagte sie.

Sie lag etwas matt da und scheuerte ihr trockenes, fieberhaft brennendes Gesicht gegen das Kissen. »Die Löffel zum Grog, Marie,« sagte sie dann, »wir haben die Löffel zum Grog vergessen.«

»Wir können sie wohl auf Huus' Teebrett legen,« sagte Marie, die die Löffel auf dem kleinen japanischen Präsentierteller hereinbrachte.

»Nein – nicht auf das ...« Kathinka richtete sich halb im Bett auf. »Gib mir das Teebrett,« sagte sie. Sie nahm es und hielt ihre brennenden Handflächen auf den kühlen Lack. Still blieb sie mit Huus' Teebrett in den Händen liegen.

Bai kam herein und sah all das Porzellan und die Gläser, die geputzt und blank auf dem Tisch standen.

»Dummheiten, mein Kind,« sagte er, »Dummheiten – ich habe es ja gesagt ... du liegst nun da und wirst immer elender ... Tik« ... Er ergriff ihre Hand: »Ja – wie heiß du bist ...«

»Ach, das ist nichts,« sagte Kathinka, indem sie still ihre Hand aus der seinigen losmachte: »Wenn nur nichts fehlt.«

Bai begann zu zählen.

»Kompott soll doch wohl auf den Tisch?« sagte er.

»Ja.«

»Na ja, da ist nicht eine einzige Schale.«

»Dann sind sie vergessen.«

»Ja, wenn man nicht selbst dabei sein kann, Bai,« sagte Kathinka, indem sie in die Kissen zurücksank.

– – –

Die Gesellschaft bestand aus den »alten Saufkumpanen«, wie Bai sie nannte. Er verstand unter dieser Bezeichnung – die Gleichgesinnten.

Die Gleichgesinnten waren drei Gutsbesitzer, Kjär an der Spitze, und Bai als vierter Mann.

Svendsen schloß sich als außerordentliches Mitglied an.

»Er ist das belebende Element,« sagte Bai zu Kathinka. Kathinka hatte nie gehört, daß Herr Svendsen belebend sei. Wenn sie anwesend war, pflegte er seine Nägel zu putzen oder an seinem Schnurrbart zu kauen.

»Bring ihn mit, Kjär,« hatte Bai gesagt, »er ist so gut als fünfter Mann zu gebrauchen!«

– – Kathinka öffnete selbst die Tür zum Bureau. »Es ist angerichtet, Bai,« sagte sie.

Die Herren traten ein; Kathinka war völlig angekleidet mit einer hohen Fraise am Halse, die bis zu dem kleinen mageren Gesicht hinaufreichte.

Kjär führte sie zu Tisch.

Sie sprachen von ihrer Krankheit: O – sie solle nur sehen – der Winter sei die beste Zeit ... die stille, klare Kälte – das gäbe Kräfte.

»Ja – die stille, klare Kälte.«

»Wir wollen ein Glas darauf trinken,« sagte Bai. Es wurde getrunken. »Es wird ausgetrunken,« sagte Bai.

Die Gleichgesinnten hatten beim Essen die Servietten mit einer Nadel um den Hals befestigt. Sie berochen jedes Gericht, bevor sie es genossen.

»Öl!« sagte der Gutsbesitzer Mortensen, indem er schnüffelte.

Auf Kathinkas Teller lagen einige kleine Bissen. Sie saß ganz aufrecht, denn die Schmerzen in ihrer Brust waren unerträglich. Die Gabel zitterte in ihrer Hand, wenn sie zu essen versuchte.

»Nimm es fort, Marie,« sagte sie.

Der Entenbraten wurde aufgetragen und Kjär toastete auf Bai: Bei ihm wisse man, wo »das Herz und der vierte Mann« säße. »Ein Hoch auf ihn!«

Es wurde lebhafter und man trank einander zu. Man sprach über Zentrifugen und über einen neuen Viehtarif.

»Du Alter – auf ein gutes Jahr!«

Bai trank wieder.

Kathinkas Wangen brannten und sie sah die Gesichter wie durch einen grauen Schleier. Sie drückte sich fest gegen die Stuhllehne und sah zu Bai hinüber, der zu essen fortfuhr.

»Das schmilzt auf der Zunge – schmilzt auf der Zunge,« versicherte Kjär, indem er Kathinkas Glas mit altem Burgunder füllte.

»Danke – danke!«

Gutsbesitzer Mortensen wollte sich erlauben, ein Glas zu leeren ... Er erhob sich, indem er die Serviette vom Halse löste: Er wolle kurz und gut dieses Glas leeren ...

Wenn Gutsbesitzer Mortensen sein Glas leerte, war er religiös ... Im fünften Satz sprach er unabweislich von »denen, die vorausgegangen waren« und die von ihrem Himmel herabschauten ...

Bei Gutsbesitzer Mortensen schaute immer etwas von seinem Himmel herab. Die Gleichgesinnten saßen da, ließen die Köpfe hängen und blickten verlegen auf ihre Teller.

Kathinka hörte kaum, was gesprochen wurde. Sie hielt sich mit den Händen am Stuhlsitz fest und wurde bald blaß, bald rot.

Als Herr Mortensen ausgeredet hatte, konnte er noch ein Stück Entenbraten verzehren.

»Beste Frau Inspektor – Ihre Enten – das ist ein Braten.«

Kathinka hörte die Stimme nur undeutlich und stützte sich auf den Tisch, als sie sich erheben wollte.

Die Herren gingen ins Nebenzimmer, Kathinka sank auf ihren Stuhl zurück. Bai öffnete die Tür und trat wieder ein:

»Es ging ja prächtig – Tik – brillant ... und du hieltest dich ja sehr tapfer ...«

Kathinka richtete sich auf und lächelte: »Ja« – erwiderte sie, »jetzt sollt Ihr Euren Grog haben ...«

Bai ging wieder zu seinen Genossen. Kathinka blieb vor dem Tisch mit den Flaschen und den halbgeleerten Gläsern sitzen.

Drinnen im Bureau lachte und schmatzte man so laut durcheinander – man hörte Kjärs Stimme deutlich hindurch.

»Marie, bringe die Lampe dort hinein,« sagte Kathinka. Das laute Gelächter drang jedesmal, wenn Marie die Tür öffnete, bis zu ihr.

»Aber, Frau Inspektor, Sie sollten zu Bett gehen,« sagte Marie.

»Das eilt nicht ...«

»Der Freßsäcke wegen,« erwiderte Marie und knallte ärgerlich die Küchentür zu, so daß Kathinka zusammenfuhr.

Es blieb nur ein einziges Licht auf dem Eßtisch zurück ... der große unaufgeräumte Tisch sah im Halbdunkel trübselig aus.

Kathinka war so müde; sie mußte sich in eine Ecke setzen, um Kräfte zu sammeln.

Marie ging fortwährend ärgerlich von der Küche nach dem Bureau und knallte mit den Türen ... Wie heiter sie drinnen waren ... das mußte Svendsen sein, der jetzt sang ...

Kathinka lauschte von ihrer Ecke aus dem Klange der Stimme und blickte Marie nach, die mit Gläsern und Flaschen durch die erleuchteten Türen ging ...

So würde es auch sein, wenn sie einst heimgegangen und vergessen war.

»Marie!« rief sie.

Sie versuchte sich zu erheben und zu gehen, aber sie griff nach der Wand und vermochte es nicht. Marie führte sie stützend ins Schlafzimmer: »Das hat man von dem Komödiespielen,« sagte Marie.

Kathinka bekam einen langen Hustenanfall, während sie auf der Kante ihres Bettes saß.

»Schließe die Tür,« sagte sie.

Der Husten ließ nicht nach: »Und Bentzen soll jetzt essen,« sagte sie.

»Na, er wird wohl früh genug was bekommen,« sagte Marie. Sie entkleidete Kathinka und schimpfte und fluchte dabei.

Svendsen sang wieder in dem Zimmer mit heiserer Stimme.

»O, mein Charles, du Haft mir nicht geschrieben,
Wo du, mein Schatz, geblieben.«

Dann klirrten die Glaser: »Still,« rief Kjär ... »still – ihr Prasser!« – –

Kathinka war in einen leisen Schlummer gefallen, aber sie erwachte, als Bai eintrat.

»Das Fest hätten wir hinter uns,« sagte er überlaut infolge des reichlich genossenen Grogs.

»Sind sie fort?« fragte Kathinka. »Wieviel Uhr ist es?«

»Schon halb drei ... es wird immer spät, wenn man so beisammen sitzt ...«

Er setzte sich an das Bett und plauderte über dies und das.

»Verteufelte Geschichten, die dieser Svendsen erzählen kann – verteufelte Geschichten ...« Er wiederholte einige und schlug sich vor Lachen auf die Schenkel.

Kathinka war fieberheiß.

»Aber Lügen sind es doch nur,« sagte Bai schließlich.

Er bekam dann einen Anfall von Rührung, als er gute Nacht sagte, und erzählte in der Tür noch eine letzte Geschichte von Mortensens Meierin. – –

»Ja, ja, du bedarfst der Ruhe,« sagte er.

»Gute Nacht!«

»Gute Nacht!«

Am nächsten Tage wurde es mit Kathinka schlimmer. Der Doktor kam einige Male des Tages.

»Verteufelte Geschichte,« sagte Bai. »Und sie hielt sich am Geburtstag so außerordentlich tapfer, Doktor.«

»Ja – aber jetzt hält sie sich nicht tapfer, Herr Bai,« erwiderte der Doktor.

Es durfte niemand zu Kathinka hineingehen. Sie sollte absolute Ruhe haben.

Madame Madsen vom Kruge kannte die Geschichte ... Man müsse sie doch wohl etwas erheitern, meinte sie, damit sie nicht daläge und sich die Augen im Dunkeln riebe.

Madame Madsen trat ans Bett.

Die Rouleaux waren herabgelassen und es war dunkel im Zimmer.

»Wer ist da?« fragte Kathinka aus den Kissen heraus.

»Ich bin es,« erwiderte Madame Madsen, »die Krugwirtin.«

»Guten Tag,« sagte Kathinka und reichte ihr die fieberheiße Hand.

»Na – so schlecht steht es mit Ihnen?« sagte Madame Madsen.

»Ja,« Kathinka drehte den Kopf ein wenig auf dem Kissen herum, »es geht mir gar nicht gut.«

»Nein ... das sehe ich,« sagte Madame Madsen ärgerlich, indem sie sich niederließ und Kathinkas mageres Gesicht im Dunkeln anstarrte. »Und das kommt von dem Geburtstag her. Das war wohl etwas zuviel ... ja, es war zuviel,« wiederholte Madame Madsen immer in demselben ärgerlichen Ton.

Es wallte immer mehr in ihr auf, während sie so in dem melancholischen Dunkel vor dem armen, blassen Gesicht in den Kissen saß. »Ja, das kann man wohl mit Fug und Recht sagen,« begann sie von neuem, »er hat es auch wohl verdient.«

Und heftig, wie sie war, erzählte sie Bais ganzes Geheimnis: von ihrem Schenkmädchen und wie lange das Verhältnis gedauert hätte. »Aber mit heiler Haut kam die Gusta auch nicht davon,« berichtete sie.

Anfangs hatte Kathinka nichts verstanden ... ihr war so wirr und so matt. Aber dann urplötzlich begriff sie alles – sie schlug die Augen einen Augenblick auf und blickte in Madame Madsens Gesicht.

»Und für solch einen Menschen arbeitet ein anderer sich zu Tode,« sagte Madame Madsen.

Sie schwieg und erwartete, Kathinka werde etwas erwidern.

Aber Kathinka lag unbeweglich. Einige Tränen liefen ihr über die Wangen herab.

»Ja, ja,« sagte Madame Madsen in einem anderen Tone, »ein anderer wäre auch wohl nicht viel klüger.«

Madame Madsen hatte die Kranke verlassen.

»Marie,« sagte Kathinka, »zieh die Rouleaux auf – – damit es hier hell wird.«

Marie tat, wie ihr befohlen, so daß das Tageslicht auf das Bett fiel.

»Weshalb meinen Sie, Frau Inspektor?« fragte Marie.

Kathinka lag mit dem Gesicht dem Lichte zugekehrt.

»Ist es die Brust?« fragte Marie.

»Nein – nein,« sagte Kathinka, »mir geht es gut,« aber sie fuhr fort zu weinen, lautlos und glücklich.

Das Weinen ließ nach und sie lag in derselben Stellung da, matt in einem unbeschreiblichen Frieden.

– – –

Die letzten Sonnenscheintage des Herbstes kamen. Während der hellen Vormittage lag Kathinka drinnen in ihrem Zimmer mit der vollen Sonne auf ihrem Bett. Sie erdichtete so viele glückliche Träume, während ihre Hände leise über die sonnenbeschienene Bettdecke hin und her glitten.

»Frau Inspektor sehen so wohl aus,« sagte Marie.

»Ja, es geht mir auch ganz gut,« sie nickte, ohne die Augen zu öffnen, und lag wieder still da, in der Sonne.

»Morgen will ich wieder aufstehen,« sagte sie.

»Das können Sie ja, Frau Bai ...«

Kathinka wandte sich dem Fenster zu: »Es ist, als ob es Sommer wäre,« sagte sie; – »wenn ich doch morgen hinaus ins Freie kommen könnte« ... sie fuhr fort davon zu reden ... »hinab in die Laube – nach dem Holunderbaum – hat der Baum noch Blätter? – und die Rosen – und der Kirschbaum ... Im vorigen Jahr standen sie in Blüte ... ein förmlicher Blumenflor.«

»Alle Bekannten bekamen Kirschen zum Einmachen – während Frau Bai verreist waren,« sagte Marie.

»Der weiße Flor ...«

Kathinka fuhr fort von dem Garten zu sprechen. Jeden Augenblick sagte sie: »Glaubst du, Marie, daß der Doktor mir Erlaubnis gibt – daß ich Erlaubnis bekomme?«

»Vielleicht – wenn die Sonne scheint.«

Der Doktor kam nicht und am Nachmittag mußte Marie ins Dorf hinabgehen, um zu fragen.

Es wurde dunkel, bevor Marie zurückkam. Kathinka lag ohne Licht da. Sie schellte mit der kleinen Glocke, die neben ihrem Bett stand.

»Ist sie noch nicht gekommen?« fragte sie.

»Sie muß doch den weiten Weg gehen,« sagte Bai.

»Wie lange das dauert,« erwiderte Kathinka. Das Fieber brannte auf ihren Wangen. – Sie lag und lauschte auf jede Tür, die sich bewegte.

»Eben wurde die Küchentür geöffnet,« sagte sie.

Es war ein Mann mit Besen.

»Sie kommt gar nicht,« sagte Kathinka.

»Du machst dich wieder krank durch deine Unruhe,« sagte Bai.

Sie lag wieder still und schellte und sprach nicht mehr. Dann hörte sie Marie die Bureautür öffnen und blieb mit klopfendem Herzen unter der Decke liegen, ohne zu fragen.

»Was sagte er?« fragte Bai drinnen im Bureau.

»Ja – eine halbe Stunde während der Mittagszeit,« erwiderte Marie – »wenn die Sonne scheint. – Schläft Frau Inspektor?«

»Ich glaube ...«

Marie schlich hinein. Kathinka blieb eine Weile unbeweglich liegen, dann fragte sie: »Bist du es, Marie?«

»Ja ... Sie könnten morgen gern aufstehen und in der Sonne sitzen,« erwiderte sie, »um die Mittagszeit ...«

Kathinka antwortete nicht sofort. Dann ergriff sie Maries Hand:

»Ich danke dir,« sagte sie. »Du bist so gut, Marie.«

»Wie Ihre Hand brennt ...«

In der Nacht hatte Kathinka Fieber, sie lag mit glänzenden Augen da und ohne zu schlafen. Aber erst gegen Morgen weckte sie Marie.

»Marie, sieh nach dem Wetter,« sagte sie.

Marie sah von der Wohnstube aus dem Fenster: »Es wird klares Wetter,« sagte sie.

»Sieh aus der Küchentür,« rief Kathinka vom Bett, »von dort kommen stets die Wolken.«

Auch von der Küchentür sah man klaren Himmel.

– – –

»Ich kann ganz gut selbst – ich kann selbst,« sagte Kathinka. Sie hielt sich an den Wänden im Gange, der nach der Perrontür führte.

»Wie warm es ist,« sagte sie.

Nun kommt die Treppe ... so, das ging ...

Es wurde ihr schwer, auf dem Kies zu gehen, sie legte den Arm auf Mariens Schulter: »Der Kopf ist einem ja so schwer,« sagte sie.

Sie blieb bei jedem Schritt stehen und schaute über die Felder und über den Wald hinaus. Es war, als ob die Sonne über jedes einzelne bunte Blatt Licht verbreitete.

Kathinka wollte nach der Perrontür. Sie blieb einige Augenblicke stehen, indem sie sich anlehnte.

»Wie schön unser kleiner Wald ist,« sagte sie.

Kathinka schaute weit hin über den sonnenbeschienenen Weg. »Dort hinten steht der Meilenstein,« sagte sie. Sie wandte den Kopf und schaute über die Felder und die Wiesen und zu dem klaren Himmel empor: »Ja,« sagte sie mit ganz leiser Stimme, »hier ist es so schön ...« Marie trocknete sich die Augen, wenn ihre Herrin es nicht sah ...

»Aber wie die Blätter fallen,« sagte Kathinka. Sie wandte sich um und ging ein paar Schritte allein.

Endlich kamen sie in den Garten.

Kathinka sprach nicht mehr. Sie gelangten um den Rosenplatz nach der Laube hinab.

»Der Holunderbaum!« sagte sie nur. – »Hier muß ich sitzen,« sagte sie. Marie legte Decken um sie, und in sich versunken sah sie schweigend hinaus über den sonnenbeleuchteten Garten.

Die Blätter der Kirschbäume lagen gelb auf der Rasenbank; einige kleine Rosen blühten noch.

Marie wollte sie pflücken.

»Nein,« sagte Kathinka, »das wäre schade – laß sie nur sitzen.«

Sie saßen wieder eine Weile still. Ihre Lippen bewegten sich, als flüstere sie.

»Hier saß Huus am liebsten,« sagte Marie, die neben der Bank stand.

Kathinka zuckte zusammen. Dann sagte sie, indem sie still lächelte: »Ja – hier saß er gern.«

Sie gingen wieder zurück.

Als sie an die Pforte kamen, stand Kathinka einen Augenblick still. Sie blickte noch einmal zurück, in den Garten: »Wer nun wohl da drinnen gehen wird?« sagte sie.

Sie war so müde und stützte sich schwer auf Marie und drinnen im Gange hielt sie sich an den Wänden.

»Mache die Hintertür auf,« sagte sie, »damit ich den Wald sehen kann.«

Nach vieler Mühe kam sie auch dorthin und stand einen Augenblick an den Türrahmen gelehnt und schaute über den Wald und den Weg hinaus.

»Marie,« sagte sie, »ich will auch die Tauben sehen ...«

– – –

Kathinka verließ das Bett nicht mehr. Die Kräfte schwanden immer mehr.

Die Witwe Abel brachte Weingelee.

»Um die Zunge zu erquicken,« sagte sie, indem sie Kathinka fortwährend mit tränenerfüllten Augen anschaute. – »Und wie allein Sie hier liegen,« sagte sie.

Frau Abel wollte ihre älteste Tochter Luise schicken.

»Sie ist eine Diakonissin,« sagte sie, »meine Älteste ... eine wahre Diakonissin ...«

Luise kam des Vormittags und ging auf den Zehen umher und trug eine weiße Schürze. Kathinka lag, als ob sie schliefe ... Luise deckte den Frühstückstisch und trichterte den Kaffee ... Und die Tür zum Schlafzimmer war nur halb geschlossen, während sie aßen. – – –

Bai war sehr dankbar. Die Witwe Abel trocknete die Augen: » Freunde erkennt man nur im Unglück,« sagte sie.

Frau Linde kam des Nachmittags und saß am Bett und strickte. Sie erzählte Neues und Altes von der ganzen Gegend, von sich und ihrem Linde.

Der alte Linde holte seine Frau in der Abenddämmerung ab und die beiden Alten saßen eine Zeitlang in der Dämmerung an Kathinkas Bett.

Agnes war ihr Anfang und Agnes war ihr Ende.

»Linde kann nun einmal nicht ohne Agnes leben,« sagte Frau Linde; sie selbst weinte in allen Ecken vom Morgen bis zum Abend.

»Ja – ja, mein Kind, sie ist nun mal mein Augenstern,« sagte der alte Pastor.

»Sie werden sehen, sie kommt eines Tages,« sagte Kathinka.

»Als alte Jungfer,« erwiderte Frau Linde. Ihre Stricknadeln rasselten.

Das mit der alten Jungfer konnte Frau Linde nun einmal nicht vergessen.

Die beiden Alten saßen da und schwatzten, und der alte Pastor bekam ein Gläschen Johannisbeerwein, ehe er heimging.

»Das tat gut,« sagte er, »und steigt nicht zu Kopf.«

Endlich gingen die beiden Alten auf dem herbstlich dunklen Wege heim.

– – –

Bai war viel aus.

»Ein kleiner L'hombre – das erheitert,« sagte Kjär, »dessen bedarfst du bei Gott, alter Freund.«

»Ja, alter Kjär,« erwiderte Bai, indem er sich mit der Hand über die Augen fuhr. »Einmal im Laufe der Woche,« sagte er. »Ich danke dir, ich danke dir für deine Freundschaft.« Er schlug Kjär auf die Schulter und war gerührt. Bai war in der letzten Zeit sehr leicht gerührt.

Er ging aus und spielte bis spät in die Nacht hinein L'hombre.

Wenn er heimkehrte, weckte er Kathinka, weil er »nicht zu Bett gehen könne, ohne zu sehen, wie sie sich befinde.«

»Ich danke – ganz gut,« sagte Kathinka. »Hast du dich amüsiert?«

»Wie man sich amüsieren kann,« erwiderte Bai – »wenn du hier krank liegst.« Er saß eine Zeitlang am Bett und seufzte, bis er Kathinka ganz wach gemacht hatte.

»Gute Nacht,« sagte er dann.

»Schlafe wohl, Bai.«

Wenn Marie während des Tages im Hause und in der Küche beschäftigt war, standen die Türen zum Bureau offen. Kathinka liebte das und hörte das Prickeln des Telegraphen.

»Wie der Telegraph geschäftig ist,« sagte sie. – »Was er wohl alles erzählt? ... Bai,« rief sie, »das ist ja für hier.«

Bai fluchte laut im Bureau ... »Ja – bei meiner Seel'« – er kam bis an die Tür – »es ist an Lindes.«

»An Lindes?« – Kathinka setzte sich aufrecht im Bett hin. – »Es ist wohl von Agnes?« fragte sie.

Bai erwiderte nichts, er war ganz wild; er lief mit dem Blaustift umher und wollte seinen Rock haben. Er schrieb die Depesche in Hemdärmeln, schrieb verkehrt und zerriß das Geschriebene wieder.

»Bai,« fragte Kathinka, »Bai – ist es von Agnes?«

»Ja, bei meiner Seel' –«

Er stürzte selbst mit der Depesche davon, gerade als der Nachmittagszug kommen sollte ...

Eine solche Freude hatte Bai niemals gesehen. Die beiden Alten lachten und weinten.

»Ach Gott – ist es denn wahr? Ach Gott, ist es denn wahr?«

»Ja, liebe Mutter – ja – ja ..« Der alte Pastor bemühte sich ruhig zu erscheinen.

Er suchte seine alte Lebensgefährtin zu beschwichtigen, indem er ihr die Wangen streichelte, aber dann faltete er die Hände. »Nein,« sagte er, »das ist zuviel ...« Er weinte selbst und trocknete die Tränen mit seinem Sammetkäppchen. – – »Ja – ja,« sagte er, »Gott sei Dank, sage ich – Gott sei Dank.«

Der alte Pastor wollte Kathinka die Neuigkeit selber bringen und er entfernte, sich, um Rock, Hut und Handschuhe zu holen, und ließ das Geholte wieder liegen und ergriff Bais beide Hände: »Ja – die Freude – Inspektor,« sagte er, »für uns beide Alte, die hier verlassen sitzen – das zu erleben ... das zu erleben, Inspektor ... Hm – ja – jeder hat nun einmal seine Art und Weise – Andersen mußte erst lernen, sie zu entbehren – sie zu entbehren,« sagte der alte Pastor.

Er lief hin und her und kam nicht von der Stelle.

Frau Linde kam mit Erdbeerlikör, ehe sie gingen.

Unterwegs pfiff der alte Pastor den »tapfern Landsoldaten« vor sich hin.

– – – Er saß drinnen an Kathinkas Bett: »Ja,« sagte er, »Gott führt doch die Rechten zusammen.«

– – – – – – –

Eine Woche später kam Agnes heim.

Sie stürzte über den Perron durch das Bureau hinein. Von der Bureautür aus sah sie Kathinka, die mit geschlossenen Augen in ihren Kissen lag, Agnes würde sie nicht wieder erkannt haben.

Kathinka schlug die Augen auf und sah Agnes.

»Ja,« sagte sie, »ich bin es.«

Agnes trat näher und ergriff Kathinkas Hände. Sie kniete vor ihrem Bett. »Schöne Frau,« sagte Agnes und kämpfte mit sich, um nicht zu weinen.

Sie kam jeden Nachmittag und saß bis zum Abend bei Kathinka.

Sie sprachen nicht viel. Kathinka schlummerte und Agnes ließ ihr Nähzeug in den Schoß sinken und blickte mitleidsvoll auf das Gesicht in den Kissen. Der schwache Atem pfiff in Kathinkas Brust.

Kathinka bewegte sich und Agnes nahm wieder das Nähzeug auf und führte die Nadel hin und her.

Kathinka lag wach. Sie war so matt und vermochte nicht zu sprechen. Der Husten kam und schüttelte sie; sie fuhr im Bett empor, es war, als ob ihre Brust springen müsse.

Agnes stützte sie. Sie war naß von kaltem Schweiß.

»Danke,« sagte sie, »danke!«

Sie fiel wieder zurück und lag ganz still. Unter dem Bettumhang hervor blickte sie auf Agnes' Gesicht, das so rund und stark war, und auf die Hände, die die Nadel so geschäftig führten.

»Agnes,« sagte sie, »möchten Sie nicht ein wenig spielen?«

»Sie sollten schlafen,« erwiderte Agnes.

»O nein, spielen Sie ein wenig.«

Agnes erhob sich und ging ins andere Zimmer ans Klavier. Sie spielte gedämpft eine Melodie nach der andern.

Kathinka lag still mit den Händen auf der Decke.

»Agnes,« sagte sie dann, »singen Sie das Lied ... nicht wahr, Sie tun es?«

Es war der Gesang von Sorrent. Agnes sang mit ihrer tiefen Altstimme:

Wo die dunkle Pinie zur Mittagszeit
Dem Garten des Winzers Schatten verleiht;
Wo am blauen Golf der Orangenhain
Balsamisch duftet im Abendschein;
Wo am Strand die Boote sich schaukeln und schwingen,
Wo die Stadt sich füllt mit Jauchzen und Klingen.
Wenn zum Tanzplatz eilen die Mädchen und singen
Der Madonna Lied, die das Heil verhieß; –
Ach niemals vergeß' ich, wohin ich gehe,
Die Täler und Höhen, die hier ich sehe,
Die Sternennächte voll Himmelsnähe,
Neapel, dein irdisches Paradies.

Sie blieb noch am Klavier sitzen. Dann erhob sie sich und ging ins Schlafzimmer.

Kathinka lag ganz still da.

»Ja,« sagte sie dann ganz leise, »wie schön das Leben doch sein könnte!«

Agnes kniete am Bett. Sie lagen still da, alle beide im Dunkeln. Kathinkas Hand glitt über Agnes Haar hin.

»Agnes,« sagte sie, »an meinem Grabe – soll keine Rede gehalten werden ...«

»Aber Kathinka!«

»Nur ein Gebet,« sagte sie.

Sie schwieg wieder. Agnes weinte leise. Kathinka fuhr fort, kleine Locken aus Agnes' Haar zwischen ihren Fingern zu drehen.

»Aber da ist –« sie sprach ganz leise, gleichsam furchtsam, die Hand fiel von Agnes' Haar herab, »ein Gesang – – – den – den ich gerne ... an meinem Grabe gesungen haben möchte ...« Sie flüsterte fast unhörbar. Agnes lag da, den Kopf tief in den Kissen.

»Das Hochzeitslied,« sagte Kathinka ganz leise wie ein Kind, das nicht bitten darf.

Schluchzen erschütterte Agnes und sie nahm Kathinkas Hände und küßte sie, während sie schluchzte.

»Aber Kathinka – Kathinka ...«

Kathinka umfaßte ihren Kopf und beugte sich ein wenig vornüber. »Jetzt werdet Ihr beide ja glücklich,« sagte sie.

Sie lag schweigend da. Agnes weinte immerfort.

Am nächsten Tage reichte der alte Pastor Kathinka das Abendmahl. Bai befand sich in Geschäften in der nächsten Stadt.

– – –

Agnes wurde in der Nacht von einem angstbebenden Mädchen, mit einem Talglicht in der Hand, geweckt: »Es ist ein Bote da – Fräulein – von der Station ... das Fräulein möchte doch kommen.«

»Ein Bote?« ... Agnes war im nächsten Augenblick aus dem Bett. »Wer ist da?« rief sie in den Gang hinaus.

»Ich,« erwiderte der kleine Bentzen.

Agnes kam in einige Schals gehüllt heraus.

»Sie stirbt, Fräulein,« rief der kleine Bentzen.

Er stand blaß und zähneklappernd vor ihr ... Der kleine Bentzen hatte noch nie jemand sterben sehen.

»Ist nach dem Doktor geschickt worden?« fragte Agnes. »Die Laterne, Anna.«

»Es war niemand da, der hingehen konnte.«

Agnes zündete schnell die Laterne an und ging über den Hof. Sie klopfte an die Kammer der Knechte, so daß es im Hof widerhallte ... »Lars! – Lars!«

Die Pferde begannen im Stalle zu stampfen.

Lars kam heraus – schlaftrunken – an die Halbtür in den Lichtschein.

Agnes ging über den Hof zurück nach dem Korridor ... der kleine Bentzen stand auf den Treppenstufen und graulte sich im Dunkeln zu stehen.

»Sie fahren mit,« sagte Agnes, indem sie vorbeiging.

Einige Mädchen kamen erschreckt auf den Gang hinaus. »Kocht schnell Kaffee,« rief Agnes, »beeilt Euch!«

Sie ging in ihr Zimmer, um sich anzukleiden, während der kleine Bentzen allein im Korridor blieb. Die Türen standen durch das ganze Haus offen und knarrten im Dunkeln. Die Mädchen rumorten herum halb angekleidet, schlaftrunken, jedes mit einem Talglicht ... Sie vergaßen einen Leuchter auf dem Tisch, das Licht flackerte im Zuge.

Draußen im Hof kam der Knecht mit der Stallaterne. Er stellte sie auf das Steinpflaster und ging wieder – es entstand ein heller Kreis um die Laterne im Dunkeln.

Die Stallpforte wurde aufgeschlagen und Lars kam mit den Pferden heraus ... Jeder Laut erklang stark und erschreckend in die Nacht hinaus.

Agnes kam aus dem Hause und ging an Bentzen im Korridor vorüber.

»Jetzt gehe ich hinab,« sagte sie. – »Hat sie Krämpfe?«

»Sie schrie,« erwiderte Bentzen.

Agnes sah in den Hof hinaus: »Beeilt Euch,« rief sie. Der Knecht lief mit der Laterne über den Hofraum.

Es wurden einige flammende Lichter an das Küchenfenster gestellt, so daß der Schein auf Pferde und Wagen fiel.

Die alte Frau Linde kam in das Speisezimmer im Schlafrock des alten Pastors: »Bleibe im Bett, Mutter,« rief Agnes.

»Ach, Herr mein Gott! O, Herr mein Gott!« sagte Frau Linde. »So plötzlich ist es also gekommen ... so plötzlich ist es gekommen ...« Und sie begann wie die anderen mit ihrem Licht in der Hand umherzugehen.

Der Knecht schlug die Pforte auf – alle fuhren zusammen bei dem Lärm – und Lars zeigte sich in der Küchentür und bekam eine Tasse Kaffee.

Der kleine Bentzen trat hinaus und stieg auf den Kutscherbock ... Er sah das Gesicht der Pastorin – sie saß weinend im Zimmer vor dem hin und her flackernden Licht und neigte sich hin und her ...

Sie fuhren sofort hinab auf den Weg – in das Dunkel hinein – im Trab, so daß die Weidenbüsche am Grabenrande wie tanzende Gespenster vorüberhuschten.

Lars hielt die Zügel.

»Die Biester sind scheu, wenn man zu Sterbenden fährt,« sagte er.

Sie sprachen nicht mehr. Das Licht der Wagenlaterne zitterte über die unruhigen Weidenbüsche hin.

– – –

Bai ging im Vorzimmer auf und nieder – auf und nieder an den Wänden entlang.

»Sind Sie es – sind Sie es?« fragte er. »O, wie sie schreit!«

Agnes öffnete die Tür zum Bureau. Sie hörte Kathinka stöhnen und die Stimme der Wärterin: »Ja – ja – ja – ja.«

Marie kam herein: »Der Doktor,« sagte sie.

»Der Wagen ist hier, um ihn zu holen,« sagte Agnes.

Sie gingen hinein.

Die Wärterin hielt Kathinkas Arme über den Kopf. Zuckungen erschütterten Kathinkas Körper unter der Decke.

»Halten Sie sie,« sagte die Krankenwärterin.

Agnes umfaßte Kathinkas Handgelenk, ließ es aber wieder los – sie fühlte den kalten Schweiß.

Die Sterbende schlug mit den von Krämpfen gekrümmten Armen in die Bettgardinen.

»Halten Sie sie doch,« sagte die Wärterin.

Agnes umfaßte wieder die Arme: »Die Zunge – die Zunge,« sagte sie.

»Einen Löffel – die Zunge!«

Kathinka fiel zurück. Es trat blauweißer Schaum über die geöffneten Lippen durch die zusammengebissenen Zähne.

Marie ließ den Löffel fallen und fand ihn nicht wieder auf dem Boden; sie suchte nach einem anderen mit dem Licht.

»Den Kopf,« sagte die Wärterin, »den Kopf!« ... Marie hielt ihn, am ganzen Körper zitternd.

»Ach Jesus – ach mein lieber Heiland,« jammerte sie fortwährend ... »Ach Jesus ... o mein lieber Heiland!« ... Agnes drückte Kathinkas Arme nieder: »Den Kopf zurück,« rief die Wärterin ...

Sie beugte sich über die Sterbende und preßte ihr den Löffel zwischen die Zähne ... Es floß Schaum über den Löffel heraus: »Gut,« flüsterte die Wärterin, »gut.«

Kathinka schlug die Augen auf und richtete sie auf Agnes, – weit geöffnet und angsterfüllt.

»Kathinka – Kathinka – kennen Sie mich?«

Kathinka starrte sie nur mit demselben Blick an.

»Kathinka ...«

Die Sterbende stöhnte und sank zurück. Der Löffel entfiel ihrem Munde.

»Sie bekommt Ruhe,« sagte die Wärterin.

Kathinkas Augen fielen zu. Agnes ließ ihre Arme los.

Sie setzten sich zu beiden Seiten des Bettes und lauschten auf ihren Atem, der unregelmäßig und ganz schwach ging.

»Sie bekommt Ruhe,« sagte die Wärterin.

Die Sterbende schlummerte und stöhnte hin und wieder.

Draußen hörte man den Wagen. Die Tür wurde aufgeschlagen und man hörte die Stimme des Doktors.

Agnes erhob sich und tuschte.

»Sie schläft,« sagte sie.

Der Doktor ging hinein und beugte sich über das Bett: »Ja,« sagte er, »es ist bald vorbei.«

»Leidet sie?« fragte Agnes.

»Man weiß es nicht,« erwiderte der Doktor. – »Jetzt schläft sie.«

Der Doktor und Agnes setzten sich in die Wohnstube. Drinnen im Bureau hörten sie Bai auf und nieder gehen.

Agnes erhob sich und ging hinein.

»Was sagt er?« fragte Bai. Er fuhr fort auf und nieder zu gehen.

Agnes antwortete nicht; sie saß schweigend in ihrem Stuhl.

»Ich hätte es ja nicht geglaubt,« sagte Bai – »ich hätte es ja nicht geglaubt, Fräulein Agnes.«

Er schritt auf und nieder von der Tür zum Fenster – und blieb wieder vor Agnes' Stuhl stehen und sprach in die Luft hinein.

»Das hätte ich ja nicht geglaubt, Fräulein Agnes.«

Der Doktor öffnete die Tür: »Kommen Sie,« sagte er.

Der Krampf hatte wieder begonnen. Bai sollte der Kranken den einen Arm halten.

Aber er ließ ihn wieder los.

»Ich kann nicht,« sagte er und entfernte sich, die Hände vor dem Gesicht. Sie hörten ihn im Bureau schluchzen.

»Trocknen Sie die Stirn,« sagte der Doktor.

Agnes trocknete den Schweiß von Kathinkas Stirn.

»Danke,« sagte Kathinka, indem sie die Augen aufschlug: »Ist das Agnes?«

»Ja, Kathinka – ich bin es ...«

»Danke.«

Sie fiel wieder zurück.

Gegen Morgen erwachte sie. Sie saßen alle an ihrem Bett.

Ihre Augen waren gebrochen.

»Bai,« sagte sie.

»Ja.«

»Bitte sie, daß sie spielt.«

»Spielen Sie,« sagte der Doktor.

Agnes ging hinein. Ihre Tränen liefen über die Tasten und ihre Hände, während sie spielte, ohne ihre eigenen Töne zu hören.

Kathinka lag still da. Die Brust hob und senkte sich pfeifend.

»Weshalb spielt sie nicht!« sagte sie wieder. »Spielen Sie doch.«

»Sie spielt ja, Tik ...«

»Sie hört es nicht mehr ...«

Die Sterbende schüttelte den Kopf: »Ich höre nichts,« sagte sie.

»Den Gesang,« flüsterte sie, »den Gesang.« Sie lag wieder eine Weile still. Der Doktor saß, ihren Puls in der Hand, da und beobachtete ihr Gesicht.

Dann richtete sie sich auf und riß ihre Hand los:

»Bai!« schrie sie, »Bai!«

Agnes erhob sich und eilte hinein. Sie umstanden alle ihr Bett.

Bai kniete nieder und schluchzte.

Sie erschraken alle: Es war der Telegraph, der durch die Zimmer schellte und den Zug meldete ...

Kathinka schlug die Augen auf. »Seht, seht,« sagte sie und erhob den Kopf.

»Seht die Sonne,« – sagte sie, »seht die Sonne über den Bergen.«

Sie erhob die Arme. Sie fielen wieder zurück und glitten herab.

Der Doktor beugte sich, schnell über das Bett.

Agnes kniete neben Marie am Fußende, den Kopf gegen das Bett gelehnt.

Man hörte nur ein lautes Schluchzen.

Der Doktor hob die herabhängenden Arme empor und faltete die Hände über der Brust der Toten.

 

Hm – Sie haben wohl noch nicht ausgeschlafen, Bentzen.« Der Indiskrete sprang vom Zug.

»Wie geht es drinnen?«

»Sie ist tot,« sagte der kleine Bentzen. Er sprach, als ob ihn friere.

»Was? Zum Teufel auch ...«

Der Indiskrete stand einen Augenblick still und sah nach dem kleinen Stationsgebäude hinüber; alles lag wie gewöhnlich da.

Dann drehte er sich um und bestieg schweigend den Zug.

Die winterlichen Nebel, die über den Feldern lagen, hüllten den Zug in ihre Schleier.


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