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Drittes Kapitel

Es war Frühling geworden.

Am Nachmittag holte die Pfarrerstochter Kathinka ab und beide gingen zum Flusse hinab. Am Ufer unter ein paar Weidenbäumen dicht an der Eisenbahnbrücke hatte der kleine Bentzen eine Bank aufgeschlagen. Dort saßen sie und arbeiteten, bis der Nachmittagszug kam. Die Kondukteure der Strecke kannten sie und grüßten.

»Das beste wäre, fortzureisen,« sagte Agnes Linde, indem sie dem Zuge nachschaute. »Ich denke jeden Tag daran.«

»O – aber – Agnes ...«

»Ja – das wäre das beste – für uns beide – entweder er oder ich ... davonzugehen.«

Und sie sprachen zum tausendstenmal über dasselbe Thema.

Es war eines Tages mitten im Winter. Agnes Linde und der Kaplan kamen vom Teiche, wo sie Schlittschuh gelaufen hatten, vorüber, und da mußte der Kaplan mit einem Briefe zur Station und geriet dabei ins Gespräch mit Bai.

Agnes kam in die Wohnstube, die Schlittschuhe überm Arm. Sie war sehr kurz angebunden und sagte nur »Ja« und »Nein« zu allem, was Kathinka sie fragte. Sie hatte eine Weile am Fenster gestanden und hinausgeschaut, als sie plötzlich zu weinen begann.

»Was haben Sie, Fräulein Linde, sind Sie krank?« fragte Kathinka, indem sie zu ihr hintrat und den Arm um sie legte. »Was haben Sie nur?«

Agnes kämpfte mit dem Weinen, aber es wurde immer heftiger; sie schob Kathinkas Arm fort.

»Lassen Sie mich hier eintreten,« sagte sie, indem sie auf das Schlafzimmer zuschritt.

Dort drinnen warf sie sich auf das Bett und erzählte Kathinka alles in einem Zuge, wie sie Andersen liebe, und daß er nur mit ihr spiele und daß sie es nicht länger zu ertragen vermöchte.

Von dem Tage an war Kathinka die Vertraute der Pfarrerstochter.

Kathinka war gewohnt, ›Vertraute‹ zu sein. Sie war es auch daheim als junges Mädchen stets gewesen. Zu ihr kamen alle blutenden Herzen. Es lag wohl an ihrem stillen Wesen und daran, daß sie selber nie viel sagte. Sie eignete sich vorzüglich dazu, andern zuzuhören.

Die Pfarrerstochter kam fast jeden Tag und blieb stundenlang bei Kathinka. Das Gespräch drehte sich immer wieder um dasselbe Thema: um ihre Liebe und um ihn. Und jeden Tag erzählte sie als etwas Neues, was schon tausendmal gesagt worden war.

Wenn sie so drei, vier Stunden dagesessen und erzählt und schließlich geweint hatte, packte Agnes ihre Arbeit zusammen: »Ja – wir sind ein paar nette Vögel,« sagte sie zum Schluß.

Jetzt als der Frühling gekommen war, saßen sie unten am Flusse.

Agnes sprach und Kathinka hörte zu. Diese saß da, die Hände im Schoß und blickte über die Wiesen hinaus. Es wurde etwas neblig und die Niederung glich einem großen blauen See. Man sah nicht, was Wasser und was Himmel war; alles war nur ein dämmeriges Blau – mit den Weidengruppen als Inseln im Meer.

Agnes erzählte von der ersten Zeit, als sie aus der Residenz heimkam und Andersen traf. Es waren Monate vergangen und sie wußte selbst nicht, daß er ihr lieb war.

Kathinka hörte und hörte auch nicht, denn sie kannte das Thema und nickte schweigend.

Aber sie bekam nach und nach ihren Anteil an dieser fremden Liebe. Sie kannte sie mit allen ihren Gemütsbewegungen. Sie teilte sie, als sei es ihre eigene. Es wurde ja nie von etwas anderem gesprochen.

Und alle Worte der Liebe fanden eine Heimstätte bei ihr.

Ihre Gedanken wurden mit allem vertraut, was es an Liebe gab bei den beiden fremden Menschen.

Denn wenn sie Agnes Linde ein Stück Weges begleitet hatte und zurückgekehrt war, konnte sie halbe Stunden lang im Lusthause im Garten sitzen, und alle diese Liebesworte umflossen sie dann gleichsam in der Luft und sie hörte sie wieder und dachte darüber nach.

Es lag in ihrer stillen, etwas laxen Natur, daß Worte und Gedanken, die sie einmal in sich aufgenommen hatte, auf dem Wege zu ihr wieder umkehrten.

Und diese Gedanken und Worte umspannen sie. Sie wurden zu Träumen, die sie weit fortführten, sie wußte kaum wohin.

Es war auch in der letzten Zeit sehr still bei ihnen gewesen. Huus kam jetzt während des Frühlings nicht mehr so oft. Es gäbe so viel zu tun, sagte er.

Wenn er kam, war er auch so ungleich in seiner Stimmung. Es schien sehr oft, als ob er gar nicht sah, wie froh Kathinka bei seinem Anblick wurde, und er sprach fast ausschließlich mit Bai, obgleich Kathinka ihm so viel zu sagen, nach so vielem zu fragen hatte. Gerade jetzt im Frühling, wo überall so viel einzurichten und zu ändern war ... fehlen tat ihm etwas, vielleicht war er auch auf dem Gute bei Kjär nicht zufrieden; man sagte, es sei schwer, bei Kjär zu arbeiten.

Übrigens litt sie auch selbst mitunter an Schwermut.

Das kam vielleicht daher, daß sie zu wenig schlief.

Sie blieb des Abends im Zimmer, während Bai sich auszog. Er ging immer so lange halbnackt umher oder saß auf der Bettkante und redete und wurde niemals fertig.

Es war Kathinka sehr unangenehm, daß er nie zur Ruhe kam und fertig wurde.

Und wenn sie selbst zu Bett gegangen war und im Dunkeln neben Bai lag, der fest schlief, vermochte sie nicht einzuschlafen. Sie fühlte ein Unbehagen, so daß sie wieder aufstand und ins Wohnzimmer ging. Dort saß sie an ihrem Fenster. Der Nachtzug brauste vorüber und die große Stille breitete sich wieder über die Felder aus. Nicht ein Laut, nicht ein Hauch während der Sommernacht. Die erste graue Dämmerung des Tages kam und eine kalte, feuchte Luft stieg aus den Wiesen empor.

Es wurde lichter und immer lichter, während die Lerchen zu singen begannen.

Huus liebte es sehr, es Morgen werden zu sehen, pflegte er zu sagen.

Er hatte erzählt, wie es auf den Bergen sei, wenn es Morgen würde. Es sei wie ein mächtiges goldigrotes Meer, sagte er, halb von Gold und halb von Rosen – um alle Gipfel. Und die Bergspitzen leuchten wie Inseln aus dem großen Meer auf. »Und nach und nach,« sagte er, »stehen alle Bergspitzen in Feuer ... und dann kommt die Sonne – steigt empor und verjagt die Finsternis aus den Tälern gleichsam mit einem großen Flügel.«

Er erzählte jetzt oft so etwas von seiner Reise.

Er sprach im ganzen jetzt mehr – wenn er überhaupt sprach.

... Es wurde ganz hell und Kathinka saß noch am Fenster ... aber sie mußte wohl jetzt zur Ruhe gehen.

Die Luft im Schlafzimmer war dumpf und Bai hatte die Decke abgeworfen.

– – –

Wenn Huus des Abends kam, saßen sie gewöhnlich in der Holunderlaube.

Sie sahen den Achtuhrzug fahren. Ein vereinzelter Bauer war auf dem Perron ausgestiegen und grüßte sie, wenn er vorüberging und heimwärts schlenderte.

Dann gingen sie in den Garten hinab. Die Kirschbäume standen in Blüte. Die weißen Blätter glitten wie ein hellglitzernder Regen durch die Sommerluft auf den Rasenplatz herab.

Sie saßen still nebeneinander und blickten auf die weißen Bäume. Es war, als ob das weiche Schweigen des Abends, das über der Ebene lag, alle Gegenstände umhüllte. Oben im Dorf hörte man ein Tor zuschlagen. Das Vieh brüllte über die Felder hin.

Kathinka sprach von ihrem Elternhaus. Von den Freundinnen und den Brüdern und dem alten Hof, der voll von Tauben war.

»Und später, in der neuen Wohnung, mit der Mutter – als der Vater gestorben war. –

Ja – das war eine glückliche Zeit ...

Aber dann verheiratete ich mich ja.«

Huus sah auf den weißen Schnee der Blüten, der so weich auf den Rasen fiel.

»Thora Berg, wie die lustig war: ... des Abends, wenn sie aus der Gesellschaft kam, die ganze Garnison hinter sich her, und Sand in alle Fensterscheiben der ganzen Stadt warf.«

Kathinka schwieg eine Weile. –

»Sie ist jetzt auch verheiratet,« sagte sie.

»Mehrere Kinder soll sie haben.«

Auf dem Wege draußen ging ein Mann vorüber. »Guten Abend!« rief er ihnen über die Hecke zu.

»Guten Abend, Christian!«

»Guten Abend!« sagte Kathinka.

»Hm,« sagte Kathinka nach einer Weile, »ich sah sie zuletzt auf meiner Hochzeit. Sie sangen, die jungen Mädchen, sie standen vor der Orgel oben auf dem Chor – ich sehe sie noch alle, alle diese Gesichter – alle ...

O, wie ich weinte ...«

Huus schwieg ununterbrochen. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen. Er saß so gebeugt und schien etwas auf der Erde zu untersuchen.

»Es sind seitdem fast elf Jahre verflossen,« sagte Kathinka. »Ja, die Zeit vergeht ...«

»Wenn man glücklich ist,« sagte Huus, ohne sich zu bewegen.

Kathinka hörte es anfangs nicht und dann war es, als ob die Worte sie plötzlich einholten.

»Ja,« sagte sie und zuckte leicht zusammen.

Und nach einer Weile: »Hier hat man ja – sein Heim.«

Sie saßen wieder schweigend da.

Bai kam in den Garten. Man konnte ihn schon von weitem hören. Er machte stets so viel Lärm – und bisher war es so stille in der Dämmerung gewesen.

»Ich will die Gläser holen,« sagte Kathinka.

»Herrlicher Abend,« bemerkte Bai, »herrlicher Abend im Freien ...«

Kathinka kam mit den Gläsern und Flaschen zurück.

»Ich habe Besuch gehabt,« sagte Bai.

»Von wem?«

»Von Fräulein Ida ... sie reist jetzt ...«

»Wie, Ida?«

»Ja,« sagte Bai und lachte, »Fräulein Luise ist wohl aufgegeben ... Jetzt setzen sie alle Segel auf, – bei der leichteren Schute. Sie wird den ganzen Sommer fortbleiben. – Nun ja, wenn es doch nur der einen gelänge!«

Bai saß eine Weile schweigend da.

»Ja – zum Teufel – solch ein Mädchen muß sich ja verheiraten.«

Bai erging sich oft des längeren über das Heiraten und die Ehe; er war eine Art Philosoph, auf diesem Gebiet.

»Ich ging in den Eisenbahndienst,« sagte er. »Glauben Sie, daß ich das aus Neigung tat – aber als Leutnant konnte ich nicht heiraten – So ist es, – es gibt ja kein Pardon – die Mädchen wollen ja vor den Altar – – Und so geht es dann – man sieht es ja, sie leben sich ineinander ein – sie haben Haus und Hof und dann kommen Kinder ...«

»Bei den meisten,« schloß Bai mit einem halben Seufzer.

Sie saßen nun schweigend da; es wurde ganz finster unter dem Holunderbaum – – – –

Der Juni ging zu Ende. – – – –

»Die schöne Frau ist so bleich,« sagte Agnes Linde, wenn sie auf die Station kam.

»Ja – ich kann wohl die Hitze nicht vertragen,« erwiderte Kathinka. Es war, als habe sie Unruhe im Blut, und fortwährend nahm sie etwas anderes vor und gab es dann gleich wieder auf.

Am liebsten saß sie mit Agnes am Flusse. Sie blickte über die Wiesen hinaus und hörte stets dasselbe.

Agnes Linde bekam eine ganz andere und sanftere Stimme, wenn sie von ihm, » dem Manne,« wie sie ihn nannte, sprach.

Kathinka blickte sie an, wenn sie so mit gebeugtem Kopf und lächelnd dasaß.

»Und dann weint man,« sagte Agnes, »wegen dieses Ungeheuers, weil es so ist, wie es ist – und doch ist dies vielleicht das Beste, was einem je geboten wird.«

»Ja,« sagte Kathinka und sah Agnes unverwandt an.

Wenn Agnes Linde nicht zu ihr kam, ging Kathinka nach dem Pfarrhaus. Sie sehnte sich förmlich danach, Agnes sprechen zu hören.

Und dann sah sie Andersen auch. Sie sah sie beisammen, Agnes und ihn.

Sie stand dabei, wenn sie auf dem großen Rasenplatze Krocket spielten, sie stand da und sah sie an, diese beiden, die einander liebten.

Sie hörte ihrem Geplauder zu und sah sie neugierig an – fast wie ein großes Wunder. –

Und eines Tages weinte sie, als sie heimging.

Huus kam jetzt so unregelmäßig. Bald kam er zweimal des Tages und hatte sich kaum in die Laube niedergesetzt, als er auch schon wieder zu Pferde mußte. Bald vergingen halbe Wochen, wo sie ihn gar nicht auf der Station sah.

Man sei in der Heuernte, sagte er.

Das Heu war gemäht und stand jetzt in Schobern auf den Wiesen. Die ganze Luft war von würzigem Duft erfüllt.

Eines Abends war Huus in besonders guter Laune und schlug vor, eine Waldpartie nach dem großen ›Jahrmarkt‹ zu machen. Man sollte im Wagen dahinfahren, zuerst im Walde rasten und dann alle Herrlichkeiten des Marktes beschauen.

Bai war ganz damit einverstanden und die Fahrt wurde beschlossen. Man wollte früh am Morgen fahren, während es noch kühl sei, und erst in der nächsten Nacht oder des Morgens heimkehren.

Nur Bais und Huus.

– – –

Kathinka hatte während des ganzen Tages mit Zubereitung der Speisen zu tun.

Sie studierte das Kochbuch und dachte während der Nacht darüber nach. Sie reiste selbst nach der Stadt, um einzukaufen.

Huus kam gerade, als der Zug abfuhr, um die Post zu holen.

»Huus!« rief sie aus dem Kupee.

»Aber wo wollen denn Sie hin?« rief er.

»Einkaufen – – Marie ist mit.« Und sie zog Marie ans Fenster, um ihm ihr Gesicht zu zeigen. »Adieu!«

»Hm,« sagte Bai, »Kathinka ist wirklich ein bißchen verrückt. Sie kocht und brät zu dieser Fahrt, als ob sie uns für die Cholera präparieren wolle.«

In der Stadt hatte man begonnen, ringsumher in den Straßen Zelte zu errichten; oben auf dem Marktplatz standen die Karussellpferde in einer Reihe an die Kirchenmauer gelehnt. Kathinka ging zwischen den Marktleuten umher, die hämmerten und klopften, und beschaute alles. Sie starrte die Kasten an und geriet in Erstaunen über jedes Stück Segeltuch, das aufgespannt wurde. »Will das kleine Fräulein nicht ein wenig aus dem Wege gehen!« ... Sie mußte über Bretter und Stricke springen.

»Sie nennen mich Fräulein,« sagte sie. – »Marie, wenn nur das Wetter sich halten wollte!«

Sie gingen durch die Straßen nach dem Städtchen hinaus. Dort hielt der Wagen einer Seiltänzergesellschaft. Die Männer schliefen am Grabenrande, die Frauen wuschen die Trikots in einer Wanne auf der heruntergeschlagenen Treppe. Drei Paar weiße Unaussprechliche hingen langgestreckt herab und wehten auf einer Schnur hin und her.

Kathinka guckte neugierig die Frauen und die Männer an.

»Wünschen Sie etwas?« rief die Frau mit fremdem Akzent.

»Ach jeh,« rief Kathinka. Sie wurde ganz ängstlich und lief ein Stück davon.

»Das war die starke Frau,« sagte sie.

Sie gingen weiter den Weg entlang. Am Rande des Waldes legten Zimmerleute einen Tanzboden. Es war kühl unter den Bäumen nach dem sonnigen Weg. Kathinka setzte sich auf eine Bank.

»Hier werden wir tanzen,« sagte sie.

»Ja – er muß schön tanzen, Herr Huus,« sagte Marie. Sie war in fortwährender treuer Bewunderung dieses Mannes. Sein Bild stand in Sammetrahmen auf der Kommode und eine alte Visitenkarte mit seinem Namen lag als Lesezeichen im Gesangbuch.

Kathinka antwortete nicht. Sie schaute unablässig die arbeitenden Leute an.

»Wenn nur das Wetter sich halten wollte,« sagte sie zu einem von ihnen.

»Ja,« antwortete er und sah zu den Bäumen empor – den Himmel sah er nicht – während er sich den Schweiß mit dem Ärmel abwischte – »darauf kommt es an.«

Kathinka und Marie gingen zurück. Es war die höchste Zeit. Sie kamen über den Markt; die Abendglocken schallten vom Turm auf den Lärm des Marktes herab.

Am letzten Tage buken sie. Kathinka hatte die Ärmel aufgestreift und knetete, so daß ihr Haar mit Mehl bepudert war wie bei einem Müller.

»Niemand kommt herein – Niemand kommt herein,« rief Kathinka – es klopfte an der verschlossenen Tür –

Kathinka glaubte, daß es Huus sei.

»Ich bin es,« rief Agnes Linde. »Was geht denn hier vor?«

Sie trat ein und half beim Backen. Es war ein sogenannter Pfundkuchen, der bis ins Unendliche gerührt werden mußte: »Es ist Huus' Schuld,« sagte Kathinka, »der Leckermund will Pfundkuchen haben.«

Agnes Linde rührte so, daß der Teig Blasen warf. »Die Männer müssen auch Pfundkuchen haben,« sagte sie.

Kathinka nahm die Kuchenplatte aus dem Ofen: »Kosten Sie mal,« sagte sie. »Sie sind glühend heiß.« Sie war von der Ofenhitze rot wie ein Kupferkessel.

Fräulein Jensen und Luise die Älteste kamen zum Nachmittagszuge nach der Station. War das ein Klopfen und Parlamentieren vor dem Küchenfenster!

»Weiß Gott, das haben sie gerochen!« sagte Agnes Linde. Sie ließ die Arme müde heruntersinken und saß sehr ungraziös mit dem Teiggefäß zwischen ihren ausgespreizten Beinen.

Marie brachte einen Teller voll Kuchen zum Kosten auf den Perron hinaus. Luise sprang vor Freude auf die Perronbank, so daß ein paar Handlungsreisende im Zuge einen bedeutenden Teil ihrer Schönheit sahen.

Nachdem der Zug abgefahren war, öffnete sie in der Küche die Fenster. Luise die Älteste und die kleine Jensen knupperten draußen auf der Bank. »Wie köstlich sie Ihnen geraten sind, Frau Bai – ausgezeichnet.«

»Ja, Frau Bai versteht sich auf die Wirtschaft!« sagte Fräulein Jensen.

»Jetzt geht die Mühle wieder,« sagte Agnes drinnen in der Küche. Sie fing von neuem an zu rühren.

Bai öffnete das Bureaufenster oberhalb der Perronbank.

»Ja,« sagte er, »und ich sitze hier mit trocknem Munde.«

»Wollen Sie was abhaben, Herr Inspektor?« fragte Luise. »Mögen Sie auch gern Süßes?«

»Wenn mir jemand etwas Süßes gönnen will!« sagte Bai in seinem alten Klubton.

Es entstand ein Lärmen und ein Kreischen auf dem Perron.

»Was ist denn da los?« rief Agnes aus der Küche heraus.

»Wir füttern den Vogel,« sagte Luise die Älteste. Sie war mit ihrer Schönheit auf die Bank gesprungen und steckte Bai Kuchen in den Mund.

»Pfui! er beißt,« rief sie.

Bei solchen Gelegenheiten pflegte Frau Abel zu sagen:

»Sie bleiben ewig die reinen Kinder – wenn man nichts von der Welt kennt.«

Luise brachte den leeren Teller zurück. Die Krümel tippte sie mit den Fingerspitzen auf. Die Fräulein Abel waren stets so: sie ließen nichts umkommen.

Sie stand am Küchenfenster und sah hinein. »Das sollte die Mutter nur wissen,« sagte sie liebenswürdig.

»Na, sie hat es also nicht gerochen,« sagte Agnes über den Pfundkuchen gebeugt.

Luise die Älteste bekam eine Düte mit Kuchen durch das Fenster gereicht: Das sei etwas Rechts zum Aufheben! sagte sie, als sie sich mit der kleinen Jensen auf dem Heimwege befand.

Sie und Fräulein Jensen hatten die Kuchen schon verschlungen, ehe sie noch den Wald erreicht hatten. Luise warf das Papier fort.

»Ach mein Gott, liebe Luise ... Fräulein Linde mit ihren scharfen Augen, sie könnte es sehen.«

Fräulein Jensen nahm das Papier auf. Unten in der Tasche wickelte sie es um drei Kuchen für Bel-Ami.

Kathinka wurde müde. Sie saß auf dem Fleischblock mit den aufgestreiften Ärmeln und sah ihr Werk an: »Aber das ist nichts gegen früher daheim – nichts – wenn wir zu Weihnachten Kuchen buken.«

Sie erzählte, wie sie buken – ihre Mutter und die Schwestern und das ganze Haus ... Sie formten Ferkel aus Spritzkuchenteig und dann barsten diese, wenn sie ins Fett getan wurden.

Und die Brüder, die stahlen so, daß die Mutter mit dem großen Löffel den Pfefferkuchenteig in der großen irdenen Schüssel schützen mußte, und die geschälten Mandeln, so daß nicht fünfzig Stück auf ein Pfund blieben ...

Es klopfte an die Tür. Es war Huus.

»Hier kann niemand herein,« sagte Kathinka an der Tür. »In einer Stunde ... kommen Sie in einer Stunde wieder.«

Huus trat unter das Fenster: »Sie können im Garten warten,« sagte Kathinka, die nun Eile hatte, ihre Arbeit zu vollenden und Agnes in den Garten hinaussandte, um Huus Gesellschaft zu leisten.

Agnes blieb wohl eine halbe Stunde, dann ging sie.

»Verwalter Huus ist zu leicht zu unterhalten,« sagte sie zu Andersen, »er verlangt nur, daß man schweigt, damit er in Ruhe pfeifen kann.«

»Wo ist Agnes?« fragte Kathinka, als sie in den Garten hinauskam.

»Sie ging, glaube ich.«

»Aber – wann? ...«

»Es ist wohl eine Stunde her.«

Huus begann zu lachen: »Fräulein Linde und ich haben einander sehr gern,« sagte er. »Aber wir haben uns nicht viel zu sagen.«

»Wir müssen einpacken,« sagte Kathinka.

Sie gingen hinein und begannen den großen Korb zu packen. Sie stopften Heu zwischen die Kruken, damit sie feststünden.

»Fester,« sagte sie, »fester!« und drückte auf Huus' Hände.

Sie öffnete den Sekretär und nahm Löffel und Gabeln aus dem Silberfach.

»Und dann will ich den Fächer mitnehmen,« sagte sie.

Sie begann zu suchen: »Ah, der liegt in der Schublade.«

Es war die Schublade mit den Kotillonsschachteln und dem Brautschleier.

Sie öffnete den Kasten mit den alten Bandschleifen. »Sehen Sie,« sagte sie, »all den alten Tand.« Sie griff mit der Hand in die Schachtel und hob Bänder und Orden bunt durcheinander heraus: »Der alte Tand!«

Sie suchte wieder nach dem Fächer: »O, da ist mein Schleier«, sagte sie. Sie legte den Brautschleier und einen echten Schal auf Huus' Arm: »Da ist er,« sagte sie. Der Fächer lag auf dem Boden der Schublade.

»Und hier das Tuch von Ihnen,« sagte sie. Es lag zur Seite in Seidenpapier eingepackt. Sie nahm es heraus.

Huus hatte den gelb gewordenen Brautschleier zerknittert, so daß Spuren davon im Tüll zu sehen waren.

Der Abendzug kam und sie traten auf den Perron hinaus.

»Hu!« sagte der schlanke Zugführer mit den indiskreten Unaussprechlichen, »den Zug in diesen Ferientagen zu fahren ... dreißig Minuten Verspätung ...«

»Auf der nächsten Station steht ein Zug,« sagte Bai.

Kathinka sah auf die Wagenreihe. Es zeigte sich ein schweißtriefender Kopf an jedem Fenster.

»Daß Leute in solcher Hitze reisen mögen,« sagte sie. Der Zugführer lächelte.

»Ja,« sagte er, »dazu sind die Eisenbahnen ja da.« Er reichte ihr zwei Finger und sprang auf den Wagentritt.

Der Zug fuhr ab.

Der junge Zugführer blieb vornübergebeugt auf dem Tritt stehen, lachte und nickte.

Kathinka winkte mit dem blauen Schal und aus allen Kupeefenstern wurde plötzlich mit den Taschentüchern gewinkt und die Feriengäste nickten, lachten und grüßten.

Kathinka rief, winkte mit dem ganzen Schal und aus dem Zuge antworteten sie, solange sie sehen konnten.

Nach dem Tee fuhr Huus nach Hause. Er wollte sich am nächsten Morgen um sechs Uhr auf der Station einfinden.

Kathinka stand im Garten hinter der Hecke und sah sich um, ob es morgen wohl gutes Wetter sein werde.

Der Duft der Bäume in dem nahen Hain strömte ihr entgegen. Sie lächelte und sah in die blaue Luft hinein.

»Das Blau kleidet die kleine Frau doch gar zu schön,« dachte der Zugführer mit den Plastischen. Er sah alles, was auf der Strecke vor sich ging.

»Wir müssen um fünf Uhr aufstehen,« rief Bai in die Küche hinein.

»Ja, ja, Bai, jetzt komme ich, man muß doch fertig sein.«

Sie packte den Pfundkuchen ein und sah zum letztenmal nach dem Korbe. Sie öffnete die Tür nach dem Hofe und blickte hinaus. Oben auf dem Dache girrten die Tauben. Das war der einzige Laut, den man vernahm.

Am Himmel gegen Westen verschwand das letzte blasse Rot. Der Fluß schlängelte sich zwischen den duftenden Wiesen dahin.

Wie sie doch dies Fleckchen Erde liebte!

Sie schloß die Tür und ging hinein.

Bai hatte seine Uhr neben das brennende Licht vor dem Bett gelegt. Er wollte kontrollieren, wann sie endlich fertig geworden sei.

Aber er war eingeschlafen und lag schwitzend da und schnarchte beim Schein des Lichts.

Kathinka löschte es in aller Stille aus und entkleidete sich im Dunkeln.

– – –

Kathinka war im Garten, als der Wagen kam. Ihr blaues Kleid war schon bei der Biegung des Weges sichtbar.

»Guten Morgen – guten Morgen ... Sie bringen gutes Wetter mit.«

Sie lief auf den Perron: »Er ist da!« rief sie.

»Die Körbe, Marie!« ...

Bai zeigte sich in Hemdärmeln am Fenster des Schlafzimmers: »Guten Morgen – Huus – kriegen heute wohl 'n Sonnenstich, wie?«

»Na – der Wind geht ja etwas,« sagte Huus, der vom Wagen gestiegen war.

Sie banden die Körbe auf den Wagen und tranken auf dem Perron Kaffee. Der kleine Bentzen war so schlaftrunken, daß Bai ihn dreimal »wie zum Sturm gefällt« auf dem Perron auf und nieder laufen ließ, um ihn wach zu bekommen.

Kathinka versprach ihm, ein Pfefferkuchenherz mitzubringen, und sie kamen endlich auf den Wagen. Bai wollte selber fahren und saß auf dem Vordersitz mit Marie, die so gesteift war, daß es knisterte, sobald sie sich nur rührte.

Kathinka sah mit ihrem großen, weißen Schutzhut aus wie ein junges Mädchen.

»Vom Krug kommt Essen für Sie,« rief Kathinka dem kleinen Bentzen zu.

»Jetzt fahren wir,« sagte Bai. Der kleine Bentzen lief in den Garten und wehte und winkte mit dem Taschentuch.

Sie fuhren eine Strecke auf einem Nebenwege über die Felder. Es war noch kühl, es wehte ein frischer Sommerwind; der Klee und das feuchte Gras dufteten.

»Wie ist die Luft doch erfrischend!« sagte Kathinka.

»Ja, ein schöner Morgen,« sagte Huus.

»Herrliche Luft, es weht.« Bai trieb die Pferde ein wenig an.

Man fuhr auf die Chaussee, an Kjärs Feldern vorüber. Die Hütte des Kuhhirten stand auf ihren Rädern mitten unter dem weidenden Vieh, der Hund bellte in der Ferne nach einem verlaufenen Rind; die großen Kühe erhoben die dicken Hälse und brüllten träge und gesättigt.

Kathinka schaute über die grünen Felder mit dem zerstreut weidenden glänzenden Vieh, das die Sonne beschien.

»Wie schön ist es doch!« sagte sie.

»Ja, nicht wahr,« sagte Huus, indem er den Kopf ihr zuwandte. »Schön ist es ...«

Kathinka und er begannen sich zu unterhalten. Sie sahen alles und freuten sich über dieselben Dinge. Sie hatten stets die Augen auf denselben Gegenstand gerichtet und dann nickte entweder er oder Kathinka.

Bai sprach mit den Pferden wie ein alter Kavallerist.

Es war noch keine Stunde verflossen, als er davon zu sprechen begann, etwas »in den Magen zu bekommen«.

»Die Morgenluft zehrt, du, Tik,« sagte er, »man muß wirklich etwas haben, um dagegen anzukommen.«

Kathinka konnte doch jetzt wirklich die Körbe nicht auspacken. Wo sollten sie auch sitzen?

Aber Bai hörte nicht auf und sie machten auf einem Felde Halt, wo der Roggen in Hocken stand.

Einer der Körbe wurde vom Wagen gehoben. Sie setzten sich in eine Hocke dicht am Wegerande.

Bai aß, als ob er seit acht Tagen kein Essen gesehen hätte.

»Prost, Huus,« sagte er. »Auf einen angenehmen Tag!«

Sie plauderten, reichten die Töpfe und Schalen herum und aßen.

»Es geht doch runter, Tik,« sagte Bai.

Leute kamen an dem Wege vorüber und schielten zu ihnen hinüber.

»Mahlzeit!« sagten sie, indem sie vorübergingen.

»Prost, Huus! Auf gutes Amüsement,« sagte Frau Bai.

»Ich danke, Frau Inspektor.«

»Das hat gestärkt,« rief Bai befriedigt, und bald waren sie wieder auf dem Wagen.

»Aber heiß ist es, nicht wahr, Marie?«

»Ja,« erwiderte Marie, die vor Hitze glänzte, »heiß ist es.«

»Jetzt kommen wir bald in den Wald,« sagte Huus.

Sie fuhren weiter. In der Ferne lag der Waldessaum, von der Hitze in blauen Dunst gehüllt.

»Riechen Sie wohl, wie die Tannen duften,« sagte Kathinka.

Sie erreichten den Waldessaum und dichte Tannen warfen Schatten über den Weg. Sie atmeten alle wieder auf, aber sie sprachen nicht, während sie langsam durch den Wald fuhren. Die Tannen standen am Wege in langen, geraden Reihen, so daß es drinnen dunkel erschien. Kein Vogel, kein Gesang, kein Geräusch.

Nur die Insekten summten über den Tannen im Lichte.

Sie kamen aus dem Walde wieder heraus.

»Kolossal feierlich da drinnen – nicht wahr?« unterbrach Bai das Schweigen.

Gegen Mittag erreichten sie den Buchenwald und hielten am Waldhüterhause.

»Es tut wohl, sich hier ein wenig zu recken. Man muß die Beine strecken, Huus,« sagte Bai, indem er nach einem Baum ging und sich unter ihm zum Schlaf setzte.

Huus half beim Auspacken.

»Sie haben eine so leichte Hand, Huus,« sagte Kathinka. Marie ging hin und her und wärmte die Kruken in heißem Wasser drinnen in der Küche.

»Das sagte meine Schwiegermutter auch stets,« erwiderte Huus.

»Ihre Schwiegermutter ...?«

»Ja,« sagte Huus, »die Mutter meiner Braut ...«

Kathinka entgegnete nichts ... Die Messer und Gabeln rasselten aus dem Papier heraus, das sie in der Hand hielt.

»Ja,« sagte Huus, »ich hatte bisher nie darüber gesprochen.«

»So? – Das wußte ich nicht.«

Kathinka legte die Messer herum. Marie kam zurück.

»Wir können nach dem Teich hinabgehen,« sagte Huus.

»Ja – wenn Marie rufen will« ... Sie gingen auf einem Steig in den Wald hinein. Der Teich war ein Gewässer, tief drinnen im Moor, die Bäume streckten ihre großen Kronen über das dunkle Wasser.

Sie hatten auf dem ganzen Wege kein Wort gesprochen. Jetzt saßen sie auf einer Bank vor dem See nebeneinander.

»Nein,« sagte Huus, »ich habe noch nie davon gesprochen.«

Kathinka blickte schweigend über das Wasser hinaus.

»Meine Mutter,« fuhr er fort, »wünschte diese Partie ... der Zukunft wegen.«

»So?« sagte Kathinka.

»Und so kam es denn auch ... Wir waren es ein Jahr lang ... bis sie die Verlobung aufhob.«

Huus sprach diese Worte abgebrochen – mit langen Pausen – gleichsam verschämt oder erzürnt.

»So geht es ja,« begann er wieder, »mit Verlobungen und Ehen.«

Ein Vogel ließ seine Triller im Walde ertönen. Kathinka hörte jeden Ton in der jetzt herrschenden Stille.

»Und dann ist man obendrein feig und kann sich nicht entschließen, der Sache ein Ende zu machen, nein,« sagte Huus wieder, »so recht jämmerlich feig ... Tag für Tag.«

»Ich konnte mich nicht entschließen,« fuhr er fort, – die Stimme war leise – »bis sie ein Ende machte. –

Weil sie mich liebte.«

Kathinka legte ihre Hand leise liebkosend auf die seinige, die er fest auf die Bank stützte.

»Armer Huus,« sagte sie nur und fuhr liebkosend über seine Hand, leise und besänftigend: der Ärmste, was mag er doch gelitten haben, dachte sie bei sich.

Sie saßen nahe beieinander. Die Mittagshitze strömte über das Wasser des kleinen Sees herab. Mücken und Fliegen summten in Schwärmen.

Sie sprachen nicht mehr. Maries Ruf weckte sie.

»Wir werden gerufen,« sagte Kathinka.

Sie erhoben sich und gingen schweigend auf den Steg zurück. – – Sie wurden alle so lustig bei Tisch. Schließlich tranken sie alten Portwein zum Pfundkuchen.

Bai saß in Hemdärmeln da und sagte jeden Augenblick: »Ja, Kinder – hier ist es herrlich im grünen Wald.«

Er bekam einen Anfall von Zärtlichkeit und wollte Kathinka durchaus auf den Schoß nehmen. Sie riß sich los: »Aber Bai!« sagte sie, indem sie bald blaß, bald rot wurde.

»Man geniert sich wohl vor den Fremden?« sagte Bai.

Es trat eine Stille ein. Kathinka begann die Körbe wieder einzupacken und Huus erhob sich.

»Ja,« sagte Bai, »wenn wir jetzt einen Spaziergang nach dem Essen machten ...« Er zog seinen Rock an. »Man muß der Verdauung nachhelfen.«

»Ja,« sagte Kathinka, »ihr könnt ein wenig gehen, während ich einpacke.«

Huus und Bai gingen den Weg entlang. Bai ging mit dem Hut in der Hand und war warm von der Hitze und dem alten Portwein.

»Sehen Sie, Huus: das nennt man Ehe, Freundchen!« sagt er; »so ist es und nicht anders.

Es kann zum Henker nichts nützen – was sie auch alle zusammenschreiben mögen und was man auch aus der »Lesemappe« in sich hineintüllt über die Ehe und die Keuschheit und was es sonst noch ist – – und die Treue – und »die Forderungen«, die sie alle an den Fingern herzählen können, wie der alte Pastor Linde sein »Vaterunser« – – –

Das ist ja alles ganz gut gesagt, und es klingt ja auch ganz nett – und gibt den Leuten etwas, worüber sie schreiben können. Aber sehen Sie: das alles berührt nicht die Sache, Huus ...«

Er hielt inne und fuchtelte mit seinem Strohhut vor Huus hin und her.

»Sie sahen es ja: ich hatte Lust und Kathinka wollte nicht ... Schöner Sommertag, wo man im Grünen gut gegessen hat, und trotzdem – nicht mal einen Kuß. – So ist es mit den Frauenzimmern ... man weiß nie, wie ihnen der Kopf steht. Sie haben es so mit Perioden, Huus.«

»Unter uns gesagt,« Bai schüttelte den Kopf, »es ist oft verteufelt schwer für den Mann in seinen kräftigsten Jahren ...«

Huus schlug die Brennesseln mit seinem Stock ab. Er schwang ihn so, daß sie knickten, als würden sie gemäht.

»Ja – das ist die Sache,« sagte Bai, der eine ganze Weile nachdenklich dreingeschaut hatte ... »aber darüber sprechen sie nicht in der Mappe – aber wir Ehemänner unter uns, wir wissen, wo der Schuh drückt.«

Sie hörten, daß Kathinka hinter ihnen herrief, und Huus antwortete mit einem »Hallo!«, das laut durch den Wald schallte.

Kathinka war wieder heiter: sie müßten jetzt wohl unter den Bäumen Mittagsschlaf halten, sagte sie. Sie wisse einen herrlichen Platz unter einer großen Eiche – und sie ging voraus, um ihn zu suchen.

Huus ging ihr nach. Er rief »Kuckuck!«, so daß es zwischen den Bäumen widerhallte. Bai hörte ihn lachen und jodeln.

»Ja,« sagte er vor sich hin, »er kann wohl lachen – er ist unverheiratet.«

Etwas später schlief Bai unter der großen Eiche, die Nase nach oben und den Hut auf dem Magen.

»Jetzt sollen Sie schlafen, Huus,« sagte Kathinka.

»Ja–a,« erwiderte Huus, sie saßen jeder auf einer Seite des Eichenstammes.

Kathinka hatte den Strohhut abgenommen und lehnte den Kopf gegen den Baum. Sie blickte fortwährend zur Eiche empor. Ganz, ganz oben an der Krone fielen die Sonnenstrahlen wie sickernde Goldtropfen in das Grüne hindurch ... und die Vögel sangen im Unterholz.

»Wie schön es hier ist,« flüsterte sie und beugte den Kopf vor.

»Ja – hier ist es schön ...« flüsterte Huus zurück. Er saß mit den Armen um seine Knie und starrte ebenfalls in die Krone hinauf.

Es war so still. Sie hörten beide Bais Atemzüge; ein summendes Insekt, das sie mit den Blicken bis zu der grünen Krone hinauf verfolgten, und die Vögel, die bald nahe, bald ferne zwitscherten.

»Schlafen Sie?« flüsterte Kathinka.

»Ja,« sagte Huus.

Sie schwiegen wieder. Huus lauschte, erhob sich dann vorsichtig und trat vor sie hin: ja – sie schlief. Sie sah aus wie ein Kind, den Kopf zur Seite geneigt und den Mund ein wenig geöffnet zu einem Lächeln im Schlaf.

Huus stand lange da und sah sie an. Dann kehrte er leise zu seinem Platz zurück, und glücklich, die Augen zur Krone der Eiche erhoben, lauschte er ihrem Schlaf.

Als Marie sie mit einem lauten »Heida!« zum Kaffee rief, hatte Bai sowohl den Ärger wie den alten Portwein verschlafen.

»Ein Kognak tut gut im Grünen,« sagte er, »ein kleiner guter Kognak im Grünen.«

Zu dem kleinen Kognak konnte Bai wieder ein Stück Pfundkuchen zu sich nehmen, denn Bai besaß eine stark zehrende Natur.

»Herrlicher Kuchen!« sagte er.

»Das ist Huus' Kuchen,« erwiderte Kathinka.

»Ja, meinetwegen,« sagte Bai, »wenn wir anderen ihn nur verzehren dürfen ...«

Nach dem Kaffee fuhren sie weiter. Bai hatte es satt, die Zügel zu halten, und nahm daher Huus' Platz auf dem Hintersitz bei Kathinka. Sie waren alle ein wenig schläfrig, die heiße Sommersonne sandte ihre Strahlen herab und es war auch viel Staub auf dem Wege –; Kathinka saß da und betrachtete Huus' Nacken, der breit war und stark von der Sonne gebräunt.

Auf dem Hofe des Gasthofs fand sich eine dichte Masse von ausgespannten und verlassenen Wagen. Frauen und Mädchen, die soeben von den offenen Wagen herabgestiegen waren, schüttelten und glätteten ihre Röcke. Im Gastzimmer waren alle Fenster geöffnet; der Kaffeepunsch wurde reichlich beim Kartenspiel getrunken. Auf einem fistelstimmigen Klavier vom Tanzsaal her hinter den herabgelassenen Gardinen erscholl: »O, du mein Waldemar!«

»Das ist eins von Agnes' Stücken,« sagte Kathinka.

»Das sind die Nachtigallen,« rief Bai. »Heute abend müssen wir hinein und sie zwitschern hören.«

Kathinka hielt sich dicht an der Saaltür, als sie gingen. Aber man sah nichts.

»Nicht gucken!« sagte Bai. »Man zahlt Entree an der Kasse ...«

Drinnen hinter den Gardinen begann eine schrille Frauenstimme »ihren Charles« anzurufen ...

»O mein Charles,
Du hast mir nicht geschrieben,
Wo Du, mein Schatz, geblieben.«

»Ach,« sagte Kathinka, indem sie am Fenster stehenblieb und mit dem Kopfe nickte, »ja, das ist das Stück – Agnes kann es ...«

»Du hast mir nicht geschrieben –
Wo Du, mein Schatz, geblieben – –«

»Komm jetzt, Tik,« sagte Bai ... »Geh du mit Huus, ich werde den Weg bahnen, wenn es Gedränge gibt.«

»Aber wir wissen immer nur den ersten Vers,« sagte Kathinka, die fortfuhr zu lauschen, während sie Huus' Arm nahm.

Wo Du, mein Schatz, geblieben – –

gellte die Stimme dadrinnen.

»In den anderen Versen steht gewöhnlich immer nur dasselbe,« meinte Huus.

»Kommt ihr nun?« rief Bai.

Vor dem Hause sang ein hageres Weib von dem Massenmörder Thomas und bearbeitete sein aufgehängtes Konterfei mit einem Rohrstock. Die Zuschauer umstanden sie und schauten beklommenen Herzens auf das Bild und stimmten in den Refrain ein, der gerade so lang gezogen war wie ein Amen in der Kirche.

Die Mädchen gingen in langen Reihen Arm in Arm mit ernsten Gesichtern an den Burschen vorüber, die mit Pfeifen im Mund, die Hände in den Hosentaschen, in Haufen vor den Zelten standen und sich das ›schöne Geschlecht‹ anschauten. Ein Bursche trat vor.

»Guten Tag, Marie,« sagte er. Und Marie reichte ihm die Spitzen ihrer Finger.

»Guten Tag, Sören,« erwiderte sie, und die ganze Mädchenreihe blieb stehen und wartete.

Sören stand eine Weile vor Marie und sah zuerst auf seine Pfeife und dann auf seine Stiefel und sagte endlich: »Adieu, Marie.«

»Adieu, Sören.«

Sören ging zurück zu seinem Kreis und die Mädchenreihe schloß sich wieder und ging weiter mit zugekniffenem Munde.

»Verdammte Manier, die ganze Straße auf solche Weise abzusperren,« sagte Bai.

Die Frauen sammelten sich in Haufen und standen mit betrübten Gesichtern da, als ob sie zu einem Begräbnis gingen, und musterten einander. Wenn sie sprachen, flüsterten sie unhörbar, als ob sie den Mund nicht recht öffnen könnten. Und wenn sie zwei Worte gesprochen hatten, standen sie wieder schweigend da und sahen still beleidigt aus.

Man kam nicht vorwärts. »Ich gebrauche die Ellenbogen,« sagte Kathinka. Jeden Augenblick wurde sie gegen Huus gestoßen.

»Halten Sie sich nur dicht an mich,« sagte Huus.

Man hörte keinen einzigen Laut wegen der schreienden Massenmördersängerin und einiger Leierkasten, die General Bertrands Abschiedslied in trauriger Weise mit dem Duett der Ajaxe vermischten. Die Gymnasiasten schoben hin und her und pfiffen auf den Fingern und träge Bauernjungen bliesen Schreiballons auf und ließen sie schreien, während sie mit unbeweglichen Gesichtern in die Luft starrten.

Die Sonne schien senkrecht auf die Straße herab und buk sowohl die Menschen wie die Honigkuchen.

»Wie das warm ist!« sagte Kathinka.

»Hier wollen wir Waffeln kaufen,« rief Bai.

»Waffeln – meine Damen – Waffeln – von der braunäugigen Tochter des Südens ...«

»Waffeln – Huus – Waffeln,« sagte Kathinka. Sie schob sich durch eine Mauer von Mädchen, welche die Straße sperrten.

Die Mädchen kreischten. Die Gymnasiasten hatten ihnen die Röcke zusammengenäht ... »Das sind die Jungen vom Gymnasium gewesen,« schrien ein paar Bengel aus der Bürgerschule; diese benutzten nur Stecknadeln dazu.

Die Mädchen liefen in Scharen zusammen, um sich wieder frei zu machen: »Herrje!« heulten sie. »Herrjemine!« Die Gymnasiasten hatten auf diesen Augenblick gelauert und brachen jetzt wie der Blitz über die Mädchen herein, um sie in die Beine zu kneifen.

»Herrje!« heulten sie. Kathinka stimmte aus reinem Übermut in das Geheul ein.

»Waffeln, Waffeln, meine Damen!«

Sie gelangten endlich zu dem Ofen: »Drei Waffeln, mein Herr – holländische – fünfzehn Pfennige.«

»Streuzucker, du Braunäugige.«

Diese streute mit bloßen Fingern Zucker auf die Waffeln: »Ja, meine Damen,« sagte der Mann – »sie hat bessere Tage gekannt ... Geben Sie ein Trinkgeld« – und er schrie so, daß man es über die ganze Straße hören konnte – »für die braunäugige Tochter des Südens.«

Die Braunäugige rasselte automatisch mit einer vorgestreckten Sparbüchse und sah aus, als ob sie weder hören noch sehen könne.

»Zucker, du Braunäugige!«

Die Finger der Braunäugigen griffen wieder in den Zucker hinein.

Bai, Huus und Kathinka gelangten endlich auf den Markt. »Man wird förmlich taub,« sagte Kathinka, indem sie sich die Ohren zuhielt. Der große Zauberprofessor Le-Tort kämpfte auf einer hohen Tribüne mit zwei Pauken gegen die Musik von drei Karussells an. Ein weiß bemalter Pierrot schleppte eine große Trommel vor die »größte Arena der Welt«.

»Die größte Arena, meine Damen und Herren, die weltberühmteste Arena ...«

Er musizierte, indem er sich mit seinem hintersten Körperteil hart auf seine Trommel setzte.

»Miß Flora – Miß Flora auf dem hohen Trapez!« ...

Unsere Gesellschaft stand gerade vor der Arena: »Miß Flora, die Königin der Luft – meine Herren – zehn Pfennige!« ... Der Ausrufer schwang mit seinem rechten Arm eine Alarmglocke.

»Die Königin der Luft – zehn Pfennige!«

Professor Le-Tort war erbittert. Er schrie von allen Wundern der Welt, so daß seine Stimme überschnappte, und er beschloß, gratis ein seidenes Band von fünfhundert Ellen Länge zu fabrizieren ... Er begann auf seiner Tribüne aufzustoßen und einen Streifen Seidenpapier aus seinem Hals herauszuziehen, wobei er dunkelrot wurde, als ob er einen Schlaganfall bekäme.

»Die Königin der Luft – zehn Pfennige!« ...

In der größten Arena der Welt stand der Pierrot Kopf auf der Trommel und klopfte das Trommelfell mit seinem Gehirnkasten ... Die Karussells drehten sich bei Hörnerklang und Leierkasten ...

»Meine Damen – die Königin der Luft ... Die Königin der Luft – zehn Pfennige!«

Es herrschte eine glühende Hitze und ein Duft von Honigkuchen und ein Hin- und Herstoßen und Lärmen.

»Wie herrlich das ist!« sagte Kathinka, indem sie zu Huus aufschaute und sich wie ein junges Kätzchen ein wenig krümmte. »Das ist die Frau.«

»Wer?« fragte Huus.

»Die Frau, die neulich das Zeug wusch.«

Es war die Königin der Luft, die die Treppe erklomm mit hellroten Beinen in Schnürstiefeln und hin und her watschelndem Hinterteil.

»Miß Flora – die sogenannte Königin der Luft.«

Die Königin der Luft trug einen Fächer, den sie als Feigenblatt hantierte; sie aß Pflaumen, bevor sie in die Arena treten und das Trapez besteigen sollte.

»Wollen wir hineingehen?« sagte Kathinka.

»Tik!« rief Bai. Er wollte die »Schlangendame« sehen. Sie arbeiteten sich durch das Gedränge und kamen an einem Karussell vorüber. Marie, das Mädchen, fuhr auf einem Löwen, halb auf dem Schoß eines Kavalleristen.

Kathinka wollte auch Karussell fahren. Bai bedankte sich, er wolle kein Geld ausgeben, um sich seine Eingeweide im Leibe herumdrehen zu lassen. Kathinka bekam ein Pferd auf der Innenseite neben Huus. Sie begannen zu fahren, erst langsam und dann schneller. Sie nickte Bai zu und lachte allen Gesichtern zu, die sich rund herum drehten.

»Welch ein Gewimmel!« sagte sie; sie konnte von ihrem Platze aus über alle Köpfe hinwegsehen.

Sie fuhren zum zweitenmal. »Greifen Sie doch den Ring,« sagte Kathinka, indem sie sich zu Huus hinüberbeugte.

»Nehmen Sie sich in Acht, daß Sie nicht fallen,« sagte er, indem er sie umfaßte.

Kathinka lächelte und beugte sich zurück. Die Gesichter vor ihr begannen zu verschwimmen, alles erschien ihr als ein schwarzer Punkt – schwarz und weiß – der sich herumdrehte.

Sie lächelte fortwährend und schloß die Augen.

Es war ihr, als ob der Lärm des Marktes, die Musik und die Stimmen und die schmetternden Hörner zu einem Brausen in ihrem Ohr zusammenschmolzen, während alles leise wogte.

Sie öffnete die Augen ein wenig: »Ich sehe nichts,« sagte sie, indem sie sie wieder schloß.

Die Glocke ertönte und das Karussell begann langsamer zu gehen.

»Noch einmal!« sagte sie. Sie fuhren wieder. Huus hatte sich nach innen hinübergebeugt – sie wußte es nicht, sie stützte sich an seine Schulter. »Greifen Sie den Ring,« sagte sie, indem sie daran vorüberflogen, und sie lächelte ihm zu.

Sie saß mit halbgeöffneten Augen da und schaute in den Kreis hinaus. Es war ihr, als ob alle Gesichter auf eine Schnur gezogen wären.

Halbschwindelig erkannte sie Marie, die wieder das Karussell bestiegen hatte, in einem Wagen mit ihrem Kavalleristen ... Sie saß auf seinem Knie.

Wie sie aussah – fast ohnmächtig ...

Und all die anderen – als lägen sie wie Halbtote – in den Armen der Burschen ... Kathinka richtete sich plötzlich auf – alles Blut war ihr zu Kopf gestiegen. Das Karussell hielt an.

»Kommen Sie,« sagte sie, indem sie vom Pferde stieg.

Bai stand am Ringpfahl; Kathinka ergriff seine Hand: »Man wird schwindlig,« sagte sie, als sie die Erde betrat. Sie war vom vielen Rundfahren ganz blaß geworden.

»Huus, nehmen Sie Tik,« sagte Bai. »Ich bin Euer Leuchtturm.« Er kniff Marie in den Arm, die gerade mit ihrem Kavalleristen vom Karussell herabstieg.

Marie fühlte sich ein wenig geniert, ihre Herrschaft zu sehen, sie schmiegte sich an den Blauen.

»Brillant, wie sie mit ihm abzieht,« sagte Bai, indem er voranschritt.

»Hier ist es ja,« rief Kathinka, der Huus wieder seinen Arm geboten hatte.

Die Schlangendame, Fräulein Theodora, zeigte ihre trägen Tiere neben einem der Karussells. Es waren einige fette, schleimige Tiere, die sie aus einem Kasten, der mit wollenen Decken gefüllt war, herausnahm. Fräulein Theodora kitzelte sie unter dem Schwanz, um sie etwas lebhafter zu machen.

»Sie verdauen, Fräulein,« sagte Bai in seinem alten Klubton.

» Was tun sie?« sagte Fräulein Theodora. »Glauben Sie etwa nicht, daß die Tiere lebendig sind?« Fräulein Theodora faßte die Verdauung als eine Beleidigung auf.

Sie legte eine Schlange um ihren Hals, kraute ihr den Kopf, so daß sie den Rachen öffnete und es zu einem Zischen brachte.

Fräulein Theodora nannte die Schlange ihren Liebling und barg sie an ihrer Brust. Fräulein Theodora hatte einen Riesenumfang und war in Pagentracht.

Die Schlange ließ ihren Schwanz leise zwischen den Knien des Fräuleins hin und her schlagen.

»Kommen Sie,« sagte Kathinka, »das ist ekelhaft.« Sie hatte in ihrem Widerwillen Huus' Arm ergriffen.

»Ja,« sagte der Budenbesitzer, der es für Angst hielt und sich geschmeichelt fühlte, »riesige Bestien, kleine Dame ... Aber sie hat dasselbe mit Löwen gemacht ...«

Kathinka stand wieder draußen.

»Daß man so etwas tun kann,« sagte sie; es schauderte sie.

»Ja,« sagte Bai und befühlte alles sachverständig. Der Besitzer hatte den »Herrn« aufgefordert, sich zu überzeugen, daß die Tiere sich wirklich so gut wie auf bloßem Körper »bewegten«. »Ja,« sagte Bai, »Fleisch hat sie ...«

Die Schlangendame Fräulein Theodora lächelte versöhnt, während sie ihre Lieblinge in den Kasten legte.

»Ja,« sagte der Besitzer, »sie hat dasselbe mit Löwen gemacht, mein Herr.«

»Acht Jahre lang,« fügte Fräulein Theodora hinzu.

Huus und Kathinka standen bereits jenseits des Marktplatzes. Es begann nach und nach finster zu werden und alle Ausrufer heulten um die Wette auf ihren Tribünen mit dem Eifer der Verzweiflung.

»Herabgesetzter Preis – herabgesetzter Preis – meine Dame,« rief der Professor Kathinka zu und trocknete sich den Schweiß mit dem seltsamen »Taschentuch« – »zwanzig Öre mit dem Geliebten ...« Kathinka ging schneller, so daß Bai sie kaum einzuholen vermochte.

Die Leute begannen lustiger zu werden. Haufen herumschlendernder Burschen liefen singend auf die Mädchenreihen zu, die sich mit einem Schrei auflösten; und nach und nach begannen sich Paare längs der Budenstraße zu bewegen.

Aus den Bewirtungszelten und von der Braunäugigen, wo Kognak zu den Waffeln ausgeschenkt wurde, ertönte lauter Lärm.

Die drei Polizisten hinkten an Stöcken von dannen. Sie waren in den Kämpfen, die sie zur Aufrechterhaltung der Ordnung abhielten, leicht verwundet worden; ringsumher hinter den Zelten und in den gedrängten Haufen hörte man das plötzliche Fingerpfeifen der Gymnasiasten durch den Lärm hindurchgellen.

Es wurde immer finsterer, während Kathinka und Huus die Budenreihe entlang gingen und Einkäufe machten.

In den Buden wurden bereits die Laternen angezündet, die auf Herzen und Honigkuchen sparsam herableuchteten. Die Frauen hinter den hohen Tischen polierten die Honigkuchen mit der flachen Hand, so daß sie glänzten, und reichten sie Huus und Kathinka auf einer langen Schaufel heraus. Bai kam hinzu und kaufte auch welche.

Huus hatte Kathinka ein kleines japanisches Teebrett als Marktgeschenk gekauft. Sie schenkte ihm einen Honigkuchen.

»Was,« sagte Bai, »gibst du Huus Honigkuchen? – Gib ihm wenigstens ein Herz ... Madame,« rief er der Verkäuferin zu, »hier ein Herz ...«

»Ein Herz – mein Herr – mit Versen ...«

»Bai!« sagte Kathinka.

»Wir bekommen einen Regenguß,« sagte Huus hinter ihm.

»Zum Teufel auch!« rief Bai, indem er sich von der Bude abwandte.

Die ersten Tropfen fielen: »Das wird ein ordentlicher Guß,« sagte Bai.

»Im Panorama finden wir Schutz,« sagte Huus.

»Gut,« rief Kathinka, indem sie Bais Arm nahm. »Kommen Sie,« sagte sie.

Es herrschte ein Rennen nach allen Türen. Frauen und Mädchen schlugen die Röcke über die Köpfe und liefen, die Taschentücher im Viereck über den neuen Hüten, von dannen.

»Hallo,« rief Bai, »jetzt kommen die Unterröcke zum Vorschein.«

Die Mädchen standen in den Haustüren mit blauen Strümpfen und isländischen, wollenen Unterröcken um die Beine.

Die Verkäufer nahmen ihre Waren schnell herein und fluchten und schalten. Die Gymnasiasten liefen schreiend herum und ließen sich durchweichen.

»Hier ist es,« sagte Kathinka.

»Ganz Italien, meine Herrschaften, für fünfzig Pfennige!«

Der Mann war heiser und in wollene Tücher gewickelt. – »Dreimal. – Bitte!« – – –

»Wie es gießt,« sagte Kathinka – sie schüttelte sich und blickte auf den Marktplatz hinaus.

Der Regen goß wie mit Mollen. Der ganze Marktplatz war bereits überschwemmt. Die Leichtverwundeten liefen hinkend unter Regenschirmen umher und hoben die Rinnsteinbohlen auf. In allen Buden und Türen stand das halbnasse Frauengeschlecht und sah mitgenommen aus.

Drinnen im Panorama war es leer und ganz still. Man hörte den schweren einförmigen Fall des Regens auf das Dach, und es war auch sehr kühl geworden.

Es war, als ob Kathinka nach all dem Lärm wieder aufatmete.

»Wie einem das wohltut,« sagte sie.

»Es sind Landschaften,« sagte Bai, der bereits angefangen hatte, in die Gucklöcher zu schauen. – »Das blaue Wasser,« sagte er, indem er weiterging. Er zog es vor, in den Vorraum zu gehen und zu sehen, was sich unter den isländischen Unterkleidern zeigen möchte.

Kathinka blieb sitzen. Sie fühlte sich hier drinnen wie neugeboren, allein mit Huus in der Stille unter dem fallenden Regen.

»Sie spielen nicht,« sagte sie.

»Nein – des Regens wegen« ... Sie lauschten beide dem Fall des Regens.

»Der Lärm war doch fürchterlich,« sagte sie. Kathinka wäre am liebsten hier ruhig sitzen geblieben und hätte dem Fall des Regens gelauscht, aber sie erhob sich doch und fragte: »Ist das Italien?«

Er bejahte es.

Sie guckte in ein Glas. »Ja,« rief sie, »das ist Italien.«

Es war künstliches Licht drinnen vor den Bildern, die in kräftigen Farben strahlten.

»Wie ist das doch hübsch ...«

»Das ist der Golf,« bemerkte Huus, – »der Golf von Neapel.«

Das Bild war nicht schlecht. Glänzende Sonne lag über Golf, Ufer und Stadt. Boote flogen hin und her über das Blau des Wassers.

»Neapel,« sagte Kathinka leise.

Sie fuhr fort durch das Glas zu sehen. Huus sah durch das Guckloch neben ihr dasselbe Bild.

»Sind Sie dort gewesen?«

»Ja – zwei Monate.«

»Ach, dort segeln zu können!« sagte Kathinka.

»Ja – nach Sorrento.«

»Sorrento.« Kathinka wiederholte das fremde Wort leise und zögernd. »Ja,« sagte sie – »reisen zu können ...«

Sie gingen längs der Gläser und sahen nebeneinander hinein. Der Regen fiel schwächer auf das Dach – schließlich nur träufelnde Tropfen.

Sie sahen Rom, das Forum und das Kolosseum. Huus erzählte davon.

»Es ist so großartig,« sagte Kathinka, »daß man förmlich bange wird.«

»Ich liebe Neapel am meisten ...«

Draußen begannen die Leierkasten zu spielen und die Karussells klingelten. Kathinka hatte fast vergessen, wo sie sich befand.

»Es regnet scheinbar nicht mehr.«

»Nein, es ist vorüber.«

Kathinka sah sich in dem Raum um: »Dann erwartet Bai uns,« sagte sie.

Sie ging zurück und sah noch einmal durch das Glas auf die Bucht von Neapel mit den dahineilenden Booten.

Bai kam herein und sagte, daß die Straße wieder dem planmäßigen Verkehr übergeben sei.

»So gehen wir wohl nach dem Walde,« sagte er.

Sie gingen. Die Luft war kühl und rein. Große fröhliche Scharen schritten auf dem Wege zum Walde hin.

Der Wald und die Dornenhecken dufteten nach dem Regen.

Die Sonne ging unter und in der Ferne am Eingang des Waldes zündete man die farbigen Lampen an der Ehrenpforte an. Die Burschen gingen mit den Mädchen, den Arm um das Mieder gelegt, alle Bänke am Wege waren besetzt; in sentimentalen Stellungen saßen sie da und liebkosten sich verstohlen.

Man hörte bereits Musik vom Tanzplatz her und den summenden Laut der vielen Stimmen.

»Jetzt wollen wir tanzen,« sagte Bai.

Außerhalb der Tanzestrade stand eine Menge halberwachsener Burschen und Mädchen, die über das Geländer hinweg zuschauten. Auf dem Tanzboden stampfte man einen Trippelwalzer, so daß es dröhnte.

»Komm, Tik,« sagte Bai, »wir eröffnen den Ball.«

Bai tanzte wie rasend fortwährend zwischen den Paaren hin und her.

»Aber Bai!« rief Kathinka. Sie war ganz atemlos.

»Man kann noch immer eine Dame schwingen,« sagte Bai. Er tanzte linksherum im Schiebetakt.

»Aber Bai ...«

»Man kann also noch warm werden,« sagte Bai.

Sie kamen zu Huus.

»Man muß jetzt in der Übung bleiben,« sagte er, indem er die Hacken, wie auf den Klubbällen zusammenschlug, »und die Damen ein wenig bewegen.«

Kathinka fühlte sich durch Bais Benehmen sehr gedrückt.

»Bai ist so übermütig,« sagte sie, als er sie verlassen hatte.

»Wollen Sie einmal mit mir tanzen?« fragte Huus.

»Ja, – gleich – lassen Sie uns ein wenig warten ...« Sie sahen Bai mit einem üppigen Bauernmädchen in einer Sammetjacke davonfliegen.

»Wir wollen ein wenig gehen,« sagte Kathinka.

Sie gingen von der Estrade hinab, ein Stück auf dem Wege entlang, wo die Musik fast erstarb.

Kathinka setzte sich: »Setzen Sie sich,« sagte sie, »man wird so müde.«

Es war so still im Walde. Nur ein paar einzelne Töne drangen hin und wieder bis zu ihnen.

Sie saßen schweigend nebeneinander. Huus wühlte mit seinem Stock in der Erde.

»Wo ist sie jetzt?« fragte Kathinka plötzlich, indem sie vor sich niedersah.

»Wer?«

»Ja – – Ihre – Braut.«

»Sie ist verheiratet – Gott sei Dank ...«

»Gott sei Dank?«

»Ja – man meint doch immer, man habe eine Verantwortung, wenn sie – wenn sie sitzen geblieben wäre ...«

»Das wäre doch nicht Ihre Schuld gewesen ...« Kathinka schwieg ein wenig: »Hat sie Sie geliebt?«

»Sie liebte mich,« sagte Huus, »das weiß ich jetzt.«

Kathinka erhob sich. »Hat sie Kinder?« fragte sie, als sie sich wieder auf dem Wege befanden.

»Ja, einen kleinen Knaben.«

Sie sprach nicht mehr, bis sie an die Estrade kamen. »Jetzt wollen wir tanzen,« sagte sie dann.

Ringsumher waren nur kleine Lichter angezündet und verbreiteten ein spärliches Licht über die Bänke an der Seite. Die Paare schwangen sich hinaus ins Licht und wieder zurück ins Dunkle; auf dem Tanzboden bewegte sich das ganze wie etwas Unruhiges, Schweres, das hin und her glitt.

Huus und Kathinka begannen zu tanzen. Huus tanzte ruhig und führte sicher. Es war Kathinka, als ob sie hier in seinen Armen zur Ruhe käme.

Sie hörte alles – die Musik, die Stimmen und das Stampfen – wie etwas ganz Fernes; sie fühlte, daß er sie sicher hin und her führte.

Huus fuhr fort, auf dieselbe ruhige Art und Weise zu tanzen. Kathinka fühlte ihr Herz klopfen und ihre Wangen brannten, aber sie bat ihn nicht aufzuhören und sprach auch nicht.

Sie tanzten noch immer.

»Kann man den Himmel sehen?« fragte Kathinka plötzlich.

»Nein,« erwiderte Huus, »die Bäume verdecken ihn.«

»So, die Bäume verdecken ihn?« flüsterte Kathinka.

Sie tanzten. »Huus,« sagte sie; sie sah zu ihm auf und wußte nicht, weshalb sich ihre Augen mit Tränen füllten, »ich bin müde.«

Huus hielt inne und stützte sie mit dem Arm im Gedränge.

»Wir amüsieren uns,« sagte Bai, indem er an ihnen vorübersauste.

Sie gingen die Stufen hinab und betraten einen Pfad.

Es war ganz finster zwischen den Bäumen; es war, als ob es nach dem Regen wieder wärmer geworden wäre, und die blühenden Dornbüsche sandten ihnen einen durchdringenden Duft entgegen.

Ringsumher zwischen den Bäumen und dem Unterholz flüsterte es, bewegte es sich und eng umschlungen verbargen sich die Paare auf den Bänken im Finstern.

»Huus – Bai erwartet uns gewiß,« sagte Kathinka – »kommen Sie.«

Sie kehrten um.

»Ja,« sagte Bai, »jetzt gehen wir zu den Schreihälsen. Es sind einige »Sängerinnen« dort im Pavillon – nette Mädchen, sagen die Leute ... Ich muß mich nur erst von der kleinen Landdame dahinten verabschieden. Schwingen Sie Kathinka einmal herum, Huus, damit sie nicht still sitzt.«

Huus schlang den Arm um Kathinka und sie tanzten wieder.

Kathinka wußte nicht, ob sie eine Minute oder eine Stunde getanzt hatten, als sie durch den Wald nach dem Pavillon gingen.

Der Gesang von fünf Damen klang ihnen aus der Tür entgegen. Sie schlugen mit den Absätzen ihrer hohen Schnürstiefel zusammen und hielten zwei Finger auf das Herz:

»Wir treten an, gebt Acht,
Die frohe Fahnenwacht,
Gegen der Männer Tyrannenmacht.«

»Hier ist eine reizende Ecke,« sagte Bai, »hier können wir die Damen sehen ...«

Sie setzten sich. Man sah kaum die Gesichter ringsumher vor Rauch und Dunst. Die fünf Damen sangen von Bajonetten und Unerschrockenheit. Als sie fertig waren, tranken sie Punsch und kokettierten, indem sie Rosenblätter unter ihren Brustausschnitt steckten und hinter ihren Fächer kicherten.

»Nette Mädchen,« sagte Bai.

Kathinka hörte kaum; Huus saß mit dem Kopf zwischen den Händen und starrte auf den schmutzigen Fußboden.

Ein kleiner Pianist, der aussah wie ein Grashüpfer, hopste über ein Klavier, als wolle er mit seiner dünnen Nase spielen.

Die Damen zankten sich darüber, »welche von ihnen jetzt dran sollte.« –

»Du bist dran, Julie,« wurde in wütendem Ton hinter den Fächern geflüstert. »Das weiß Gott – Julie ist dran.«

»Der Schornsteinfeger,« rief Julie laut über die Zuhörer hinaus.

»Der ist verboten« – riefen ein paar Damen hinter den Fächern zum Pianisten hinab – »sie singt, was die Polizei verboten hat.«

Unten im Saal schlugen sie mit den Gläsern auf die Tische.

»Pah! weil Josephine das Lied nicht singen kann.«

Die Dame Julie sang den Schornsteinfeger:

»Der Schornsteinfeger August
Den Besen trägt als Schild ...«

Bai klatschte, so daß er fast die Groggläser auf dem Tisch zerschlagen hätte.

»Was sagst du dazu, Tik?« fragte er.

Kathinka erschrak. Sie hatte gar nicht hingehört. »Ach ja,« sagte sie.

»Sehr gut,« sagte Bai. Er klatschte wieder.

»Die Romanzensängerin Fräulein Mathilde Nielssen,« rief Fräulein Julie.

Die Romanzensängerin Fräulein Mathilde Nielssen trug lange Kleider und sah sehr feierlich aus. Die anderen Damen sagten: »Mathilde hat Stimme.« Mathilde war als Kind gefallen und hatte eine flache Nase.

Sie legte gleich während des Vorspiels die Hand aufs Herz.

Es war das Lied von Sorrent:

Wo die dunkle Pinie zur Mittagszeit
Dem Garten des Winzers Schatten verleiht;
Wo am blauen Golf der Orangenhain
Balsamisch duftet im Abendschein;
Wo am Strand die Boote sich schaukeln und schwingen,
Wo die Stadt sich erfüllt mit Jauchzen und Klingen,
Wenn zum Tanzplatz eilen die Mädchen und singen
Der Madonna Lied, die das Heil verhieß; –
Ach niemals vergeß' ich, wohin ich gehe,
Die Täler und Höhen, die ich hier sehe,
Die Sternennächte voll Himmelsnähe,
Neapel, dein irdisches Paradies.

Fräulein Mathilde Nielssen sang sentimental mit langen, tremolierenden Tönen.

Als der Gesang beendet war, applaudierten die »Damen«, indem sie mit den Fächern auf die flachen Hände schlugen.

Die Romanzensängerin »Fräulein« Nielssen dankte sich verneigend.

»Ich glaube gar, Tik weint über den ›Vortrag‹,« sagte Bai. Kathinka hatte wirklich Tränen in den Augen.

Sie kamen heraus: »Jetzt gehen wir über den Kirchhof nach Hause,« sagte Bai.

»Über den Kirchhof?« fragte Kathinka.

»Ja, das ist der bequemste Weg – und er ist sehr schön

Kathinka nahm Huus' Arm und sie folgten Bai. Sie kamen in den Wald und gingen durch eine Allee. Lärm und Musik verklangen hinter ihnen.

»Ja,« sagte Bai, »ein bewegter Tag – ein gut angewandter Tag.« Er fuhr fort zu plaudern über den Tanz – wie die Mädchen sich schmiegten, die Dorfmädchen – und die »Damen« – Fräulein Julie, fesches Mädchen – und Marie – »na, wir werden ja sehen, wie es ihr gegangen ist ... ich kenne sie ...«

Die beiden anderen sprachen nicht und auch keines von beiden hörte, was Bai sagte. Es war so still, daß sie ihre eigenen Schritte auf der Erde hören konnten. Am Ende der Allee erhob sich die eiserne Pforte des Kirchhofs mit ihrem großen Kreuz.

»Aber Bai!« rief Kathinka.

»Glaubst du, daß es hier Gespenster gibt,« sagte Bai, indem er eine Seitenpforte öffnete. Sie gingen hinein. Kathinka ergriff Huus' Arm in der Pforte. Der Kirchhof lag in der Dämmerung wie ein großer Garten da. Rosen und Buchsbaumhecken, Jasmin und Linden dufteten schwer, und graue und weiße Steine erhoben sich zwischen den Hecken.

Kathinka klammerte sich an Huus' Arm, während sie hier gingen.

Bai schritt voran. Er trabte an den Bosketts entlang und schlug mit den Armen um sich, als wenn er Hühner aufjagen wollte.

Kathinka blieb stehen und rief: »Seht doch!«

Es befand sich zwischen den Bäumen ein Aushau, so daß man über die Felder hinweg den Fjord sehen konnte. Die Dämmerung schwebte gleich einem Schleier über dem dunklen, blanken Wasserspiegel, still und träumerisch.

Es herrschte eine Stille, als ob das Leben in der dufterfüllten Luft erstorben wäre ... Unbeweglich standen sie dicht nebeneinander.

Langsam schritten sie weiter. Kathinka blieb hin und wieder stehen und las die Inschriften auf den Steinen, welche in der Dämmerung hervorleuchteten. Sie las sie, Namen und Jahreszahlen mit leiser und zitternder Stimme.

»Geliebt und entbehrt.«

»Geliebt bis in das Grab hinaus.«

»Die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes.«

Sie trat näher und hob die Zweige der Trauerweide: sie wollte den Namen auf dem Stein lesen.

Da raschelte es hinter der Weide. – »Huus,« sagte sie, und umklammerte seinen Arm krampfhaft.

Es entfloh etwas über die Hecke.

»Es waren ein Paar Menschen,« sagte Huus.

»Wie ängstlich ich wurde,« sagte Kathinka und preßte die Hände auf die Brust.

Sie ging weiter dicht neben ihm, während ihr Herz klopfte.

Sie sprach nicht mehr. Hin und wieder raschelte es in dem Gebüsch, so daß Kathinka erschrak.

»Aber liebes Herz – liebes Herz!« flüsterte Huus wie zu einem Kinde, Kathinkas Hand zitterte in der seinigen.

Bai stand am Ende des Ganges.

»Seid Ihr da?« fragte er.

Er öffnete die Pforte. Sie fiel hinter ihnen wieder ins Schloß.

Draußen in der Allee nahm Bai Huus bei Seite.

»Es ist bei Gott doch ein Skandal,« sagte er ... »daß so etwas geschehen kann – eine Entweihung des heiligen Ortes ... Kjär hatte es mir freilich gesagt ... wie sie es treiben, diese Räuber ... aber ich glaubte bei Gott doch nicht, daß das möglich sei ... Nicht einmal Pietät gegen die Toten! – Im Garten des Todes – pfui Kuckuck ... Man kann, hol mich der Teufel, nicht einmal auf den Bänken in Frieden sitzen ...«

Huus hätte ihn prügeln können.

– – –

Sie gelangten wieder auf die Straße. Die Buden standen geschlossen und öde da. Nur hier und dort packte ein Verkäufer bei einer einsamen Laterne seine Waren zusammen.

Der Lärm aus dem Wirtshause drang bis auf die Straße. Schläfrig und zusammengesunken schleppte man sich paarweise nach Hause.

In dem Torweg des Gasthofes wurde Marie sichtbar; sie war schlaftrunken und müde.

Kathinka wartete am Wagen, überall wurden die Wagen angespannt und fuhren dann fort. Die »Nachtigallen« sangen so laut, daß man es auf der Straße hörte. Unsere Gesellschaft bestieg endlich den Wagen. Bai wollte fahren und saß neben Marie.

Man hörte aus dem Pavillon:

»O Du – mein Waldemar
– Jetzt wird's mir sonnenklar– –«

»Die haben Ausdauer!« sagte Bai; sie fuhren durch die Nacht; an dem Walde vorüber; hin über die flachen Felder.

Marie hing schlafend krumm gebeugt über dem Korb auf ihrem Schoß. Huus und Kathinka saßen schweigsam nebeneinander in die Gegend hinausschauend. Nur hin und wieder sprach Bai.

»Oho – ihr alten Knaben. Nun – nun. Langsam!« – Und wieder wurde es still wie zuvor.

Bai wollte eine ›Ermunterung‹ haben und stieß Marie an, bis sie erwachte und eine Flasche Portwein fand.

»Wollt Ihr auch etwas haben?« fragte er sich umdrehend.

»Nein, ich danke,« erwiderte Huus.

»Das ist unrecht, Huus!« Bai nahm die Flasche vom Munde. »Ein Magen muß etwas gegen die Nachtluft haben.« Bai nahm noch einen herzhaften Schluck. »Das lernt man im Felde,« sagte er. Dann begann er von dem letzten Kriege und den Preußen zu sprechen.

»Gutmütige Leute,« sagte er, »das heißt, jeder für sich genommen – schwere Esser, schneidige Kerle, gutmütig – herzensgute Menschen – das heißt, jeder für sich genommen – aber in Reih und Glied – da mag der Teufel sie holen ...«

Keiner antwortete. Marie nickte wieder.

Kathinka wünschte nur, daß er schweigen möchte.

»Aber starke Fresser,« fuhr Bai fort.

Er begann patriotisch zu werden und sprach von dem alten Dänemark und seinem blutroten Banner. Dann verfiel er, als niemand ihm antwortete, in schweigsame Betrachtungen.

Man hörte nur das Rasseln des Pferdegeschirrs und hin und wieder hörte man über die Felder einen Hahn krähen.

»Nehmen Sie den Schal um,« sagte Huus, »es ist kalt.«

Vorsichtig legte er den blauen Schal um Kathinkas Schultern.

Nach und nach graute der Tag über den Feldern.

– – –

»Nun bekommen wir wohl etwas Frühstück,« sagte Bai. Sie waren zu Hause angekommen und standen übernächtig auf der Treppe in dem grauen Morgen.

»Ja, wenn du es wünschst,« sagte Kathinka.

Huus mußte aber nach Hause. Es sei die höchste Zeit.

»Na – wie Sie wollen,« sagte Bai, er gähnte und ging ins Haus; Marie hatte die Körbe hineingeschleppt.

Huus und Kathinka blieben allein. Sie lehnte sich an den Türpfosten. Sie schwiegen eine Weile.

»Vielen Dank für den schönen Tag!« sagte sie. Es kam leise und unsicher heraus.

»Als ob nicht ich allein zu danken hätte,« erwiderte Huus. Es kam gleichsam wie ein Ausbruch hervor und im nächsten Augenblicke hatte Huus ihre Hand ergriffen und sie zweimal – dreimal – mit heißen Lippen geküßt. Dann bestieg er schnell den Wagen und fuhr davon.

»Wo zum Teufel bleibt denn Huus?« sagte Bai, indem er heraustrat. »Ist er schon fort?«

Kathinka stand noch auf demselben Fleck: »Ja,« erwiderte sie, »er ist nach Hause gefahren.«

Sie lehnte sich an die Tür und ging dann still ins Haus.

– – –

Kathinka saß am offenen Fenster. Der Tag war angebrochen. Lerchen und alle Vögel jubelten über der weiten Gegend. Es herrschte lauter Gesang und Sonne und Zwitschern über den sommerlich prangenden Feldern.


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