Honoré de Balzac
Vendetta
Honoré de Balzac

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Sie gingen zusammen durch die drei Räume, aus denen ihre Wohnung bestand. Das erste Zimmer diente als Salon und Speisezimmer. Rechts befand sich ein Schlafzimmer, links ein großer Arbeitsraum, den Luigi für seine geliebte Frau hatte zurechtmachen lassen und in dem sie Staffeleien, den Farbenkasten, Gipsabgüsse, Modelle, Gliederpuppen, Bilder, Mappen, kurz das gesamte Mobiliar eines Künstlers vorfand.

»Hier werde ich also arbeiten«, sagte sie mit kindlicher Freude. Lange besah sie die Tapeten, die Möbel, und immer wandte sie sich nach Luigi um, um ihm zu danken, denn in dieser kleinen Wohnung spürte man etwas von Freigebigkeit: eine Bibliothek mit Ginevras Lieblingsbüchern und ein Klavier. Sie setzte sich auf einen Diwan, zog Luigi neben sich und drückte seine Hand: »Du hast einen guten Geschmack«, sagte sie in zärtlichem Ton.

»Was du da sagst, macht mich sehr glücklich«, erwiderte er.

»Aber nun wollen wir uns alles ansehen,« sagte Ginevra, vor der Luigi ein Geheimnis daraus gemacht hatte, wie er ihren Zufluchtsort ausstattete. Sie gingen nun in das Schlafzimmer, das in jungfräulicher Frische und Weiße schimmerte.

»Oh, gehen wir weiter!« sagte Luigi lachend.

»Aber nein, ich will alles sehen.« Und die eigenwillige Ginevra prüfte die Ausstattung mit der wißbegierigen Sorgsamkeit eines Antiquars, der eine Medaille untersucht, faßte die Seidenstoffe an und nahm von allem Kenntnis mit der naiven Befriedigung einer Jungverheirateten, die die Köstlichkeiten ihrer Aussteuer vor sich ausbreitet. »Wir fangen damit an, daß wir uns zugrunde richten«, sagte sie halb lustig, halb sorgenvoll.

»Das ist richtig! Der ganze Vorschuß auf meinen Sold steckt hier drin«, antwortete Luigi. »Ich habe ihn an einen Biedermann, namens Gigonnet, abgetreten.«

»Weshalb?« erwiderte sie vorwurfsvoll mit einem heimlichen Ton der Befriedigung. »Glaubst du, daß ich in einer Dachkammer weniger glücklich gewesen wäre? Aber,« fuhr sie fort, »das alles ist sehr hübsch, und es gehört uns.« Luigi sah sie mit einer solchen Begeisterung an, daß sie die Augen niederschlug und sagte: »Komm, wir wollen uns das übrige ansehen.«

Über den drei Zimmern, unterm Dach, lag ein Arbeitsraum für Luigi, eine Küche und ein Mädchenzimmer. Ginevra war mit ihrem kleinen Herrschaftsgebiet zufrieden, wenn auch die Aussicht durch die große Mauer eines benachbarten Hauses beschränkt und vom Hof her nur dunkles Licht kam. Aber die beiden Liebenden hatten ein solches Glücksgefühl, und die Hoffnung verschönerte ihnen die Zukunft so sehr, daß ihr heimliches Asyl wie ein reizvolles Traumbild erschien. Sie fühlten sich in diesem riesigen Hause und in dem ungeheuren Paris verloren wie zwei Perlen in ihrer Muschel in der Tiefe des Meeres: für jeden andern wäre es ein Gefängnis gewesen, für sie war es ein Paradies. Die ersten Tage nach ihrer Hochzeit gehörten der Liebe. Sie vermochten es nicht, sofort die Arbeit aufzunehmen, und sie konnten dem reizvollen Auskosten ihrer Liebesleidenschaft nicht widerstehen. Luigi verweilte ganze Stunden zu den Füßen seiner Frau und bewunderte die Farbe ihres Haares, den Schnitt ihrer Stirn, die reizende Umrahmung ihrer Augen und Reinheit und Schwung der beiden Bogen, unter denen sie langsam hin und her glitten und das Gefühl befriedigter Liebe ausdrückten. Ginevra spielte mit dem Haar ihres Luigi, ohne müde zu werden, die, wie sie sich ausdrückte, beltà folgorante und die Feinheit seiner Züge zu betrachten; immer wurde sie hingerissen von dem Adel seines Wesens, wie er es war von ihrer Grazie. Sie spielten wie die Kinder mit Nichtigkeiten, diese Nichtigkeiten führten sie immer wieder zu ihrer Liebe zurück, und sie hörten mit dem Spielen nur auf, um in die Träumerei des far niente zu versinken. Ein von Ginevra gesungenes Lied gab ihrer Liebe noch eine entzückende Nuance. Dann durcheilten sie mit gleichem Schritt und in gleicher Seelenstimmung die Felder und fanden überall das Abbild ihrer Liebe in den Blumen, am Himmelszelt, in den glühenden Farben der untergehenden Sonne; sie erblickten es sogar in den eigenartigen Wolkengebilden, die sich in den Lüften bekämpften. Niemals ähnelte ein Tag dem vorangegangenen, denn ihre Liebe wuchs immer noch, weil sie echt war. In den wenigen Tagen hatten sie einander erprobt und hatten instinktmäßig erkannt, daß sie beide Seelen besaßen, deren unerschöpfliche Reichtümer immer neue Genüsse in der Zukunft zu versprechen scheinen. Es war die Liebe in all ihrer Unberührtheit, mit ihren unendlichen Plaudereien, ihren nicht vollendeten Sätzen, ihrem langen Stillschweigen, ihrer orientalischen Ruhe und ihrem wilden Schwunge. Luigi und Ginevra hatten alles begriffen, was die Liebe geben kann. Ist die Liebe nicht wie das Meer, das, oberflächlich oder eilig gesehen, von gewöhnlichen Seelen für einförmig gehalten wird, während bevorzugte Wesen ihr Leben damit zubringen können, es anzustaunen, indem sie unaufhörlich wechselnde Erscheinungen finden, die sie entzücken?

Trotzdem vertrieb eines Tages die Überlegung die jungen Gatten aus ihrem Eden, denn es war nötig geworden, an die Arbeit zu gehen, um zu leben. Ginevra, die eine besondere Begabung für das Kopieren alter Bilder besaß, machte sich an diese Arbeit und schuf sich eine Kundschaft unter den Bilderhändlern. Seinerseits suchte Luigi sehr eifrig nach einer Beschäftigung; aber es war sehr schwer, für einen jungen Offizier, dessen gesamte Begabung sich auf eine genaue Kenntnis der Strategie beschränkte, in Paris eine Verwendung zu finden. Als er eines Tages, müde seiner vergeblichen Anstrengungen, in Verzweiflung darüber war, daß die gesamte Last für ihren Unterhalt ganz allein auf Ginevra fiel, kam ihm der Gedanke, einen Gewinn aus seiner Handschrift, die sehr schön war, zu ziehen. Mit der Beharrlichkeit, für die ihm seine Frau ein Beispiel gegeben hatte, bat er bei den Pariser Anwälten, Notaren und Advokaten um Arbeit. Seine freimütige Art und seine Situation sprachen lebhaft zu seinen Gunsten, und er erhielt genug Aufträge, so daß er sich genötigt sah, die Hilfe von jungen Leuten in Anspruch zu nehmen. Ohne es beabsichtigt zu haben, errichtete er eine Schreibstube im großen Stil. Der Ertrag dieses Bureaus und der Preis für die Bilder Ginevras brachten schließlich dem jungen Haushalt einen gewissen Wohlstand, auf den sie stolz waren, weil er von ihrem Fleiß geschaffen war.

Das war die schönste Zeit ihres Lebens. Zwischen ihrer Tätigkeit und ihrem Liebesglück verflogen die Tage schnell. Abends, nach fleißig getaner Arbeit, fanden sie sich selig in Ginevras kleiner Zelle zusammen. Die Musik bot ihnen Erholung nach ihrer mühevollen Arbeit. Niemals verdunkelte ein Ausdruck von Trübsinn die Züge der jungen Frau, und niemals äußerte sie eine Klage. Immer vermochte sie vor ihrem Luigi mit einem Lächeln auf den Lippen und mit strahlenden Augen zu erscheinen. Bei beiden überwog ein Gedanke, der auch ihre schwerste Arbeit zu einem Vergnügen machte: Ginevra sagte sich, daß sie für Luigi, und Luigi, daß er für Ginevra arbeite. Manchmal dachte, in Abwesenheit ihres Mannes, die junge Frau an das vollkommene Glück, das sie hätte genießen können, wenn dieses Leben voll Liebe sich in Gegenwart ihres Vaters und ihrer Mutter abgespielt hätte: sie verfiel dann vor Gewissensbissen in schweren Trübsinn; trübe Bilder zogen schattenhaft an ihr vorüber: sie sah ihren alten Vater allein oder ihre Mutter am Abend weinend vor sich, wie sie ihre Tränen vor dem unerbittlichen Piombo verbarg; die beiden weißen, ernsten Häupter erhoben sich plötzlich vor ihr, und es schien ihr, daß sie sie nur in dem ungewissen Licht der Erinnerung betrachten dürfe. Dieser Gedanke verfolgte sie wie eine böse Ahnung. Den Jahrestag ihrer Hochzeit feierte sie damit, daß sie ihrem Gatten das Porträt schenkte, das er sich so oft gewünscht hatte, das seiner Ginevra. Noch niemals hatte die junge Künstlerin etwas so Hervorragendes zustande gebracht. Abgesehen von der vollkommenen Ähnlichkeit waren der Glanz ihrer Schönheit, die Reinheit ihres Empfindens und das Glück ihrer Liebe mit einer Art übernatürlicher Kunst wiedergegeben. Das Meisterwerk wurde feierlich eingeweiht. Sie verbrachten so noch ein zweites Jahr in behaglichem Wohlstande. Die Geschichte ihres Daseins ließ sich mit drei Worten erzählen: Sie waren glücklich. Irgendein anderes Ereignis ist nicht zu berichten.

Zu Beginn des Winters 1819 rieten die Bilderhändler Ginevra, ihnen etwas anderes zu bringen als Kopien, denn sie konnte sie mit Rücksicht auf die Konkurrenz nicht mehr vorteilhaft verkaufen. Frau Porta wurde es klar, daß sie sich mit Unrecht nicht auf die Malerei von Genrebildern gelegt hätte, die ihr einen Namen gemacht hätten, und sie begann, Porträts zu malen; aber hierbei mußte sie gegen eine Menge von Künstlern kämpfen, die noch weniger wohlhabend waren. Da aber Luigi und Ginevra etwas Geld erspart hatten, so verzweifelten sie noch nicht an der Zukunft. Am Ende des Winters dieses Jahres arbeitete Luigi ohne Unterlaß. Auch er hatte mit Konkurrenten zu kämpfen: der Preis für das Abschreiben war so weit heruntergegangen, daß er niemanden anders mehr beschäftigen konnte und sich in die Notwendigkeit versetzt sah, mehr Zeit als bisher auf seine Arbeit zu verwenden, um den gleichen Betrag zu verdienen. Seine Frau hatte mehrere Bilder vollendet, die nicht ohne Verdienst waren; aber die Händler kauften kaum solche von namhaften Künstlern. Ginevra bot sie zu niedrigem Preise an, ohne sie verkaufen zu können. Die Lage dieses Haushaltes hatte etwas Erschreckendes an sich; die Seelen der beiden Gatten schwammen in Glück, die Liebe überhäufte sie mit ihren Schätzen, und die Armut erhob sich wie ein Skelett inmitten dieser reichen Ernte der Freude, wobei sie einander gegenseitig ihre Unruhe verbargen. Wenn Ginevra Luigi leiden sah, so war sie nahe am Weinen und überhäufte ihn mit Zärtlichkeiten. Ebenso hegte Luigi eine dunkle Angst in seinem Herzen, während er die zärtlichste Liebe an Ginevra verschwendete. Sie suchten einen Ersatz für ihre Leiden in dem Überschwang ihrer Gefühle, und ihre Worte, ihre Freuden, ihre Spielereien steigerten sich zu einer Art von Wahnsinn. Sie fürchteten sich vor der Zukunft. Welche Empfindung ist so mächtig wie eine Leidenschaft, die am nächsten Tage, vom Tode oder von der Not vernichtet, vorüber sein kann? Wenn sie von ihrer Bedürftigkeit sprachen, hielten sie es für nötig, einander zu täuschen, und stürzten sich mit gleicher Wärme auf den leisesten Hoffnungsstrahl. Eines Nachts suchte Ginevra Luigi vergeblich neben sich und stand voll Schrecken auf. Ein schwacher Lichtschein an der dunklen Mauer des kleinen Hofes ließ sie ahnen, daß ihr Mann auch nachts arbeitete. Luigi wartete, bis seine Frau eingeschlafen war, um in sein Arbeitszimmer hinaufzugehen. Es war vier Uhr, Ginevra legte sich wieder hin und tat, als ob sie schliefe. Erschöpft von der Arbeit und übermüdet kam Luigi zurück, und Ginevra betrachtete schmerzvoll sein schönes Gesicht, in das Arbeit und Sorge schon einige Runzeln gegraben hatten.

»Meinetwegen verbringt er die Nacht mit Schreiben«, sagte sie sich weinend.

Aber eine Idee trocknete ihre Tränen. Sie beschloß, Luigi nachzuahmen. Noch am selben Tage ging sie zu einem reichen Händler mit Kupferstichen, und mit Hilfe eines Empfehlungsschreibens, das sie sich für den Kaufmann von Elias Magus hatte geben lassen, erhielt sie einen Auftrag auf Kolorierung. Am Tage malte sie und beschäftigte sich mit ihrer Wirtschaft, dann, wenn es Nacht wurde, kolorierte sie Stiche. Diese beiden Geschöpfe voll heißer Liebe stiegen nur in das Ehebett, um bald wieder aufzustehen. Alle beide taten, als ob sie schliefen, und verließen einander in ihrer Hingabe, sobald eins das andere getäuscht hatte. Eines Nachts öffnete Luigi in einer Art von Fieber, infolge der Arbeit, deren Last ihn zu erdrücken begann, das Dachfenster, um etwas reine Morgenluft zu atmen und seine Schmerzen abzuschütteln, als seine nach unten gerichteten Blicke das Licht bemerkten, das Ginevras Lampe warf; der Unglückliche ahnte alles, stieg hinunter, schlich leise vorwärts und überraschte seine Frau in ihrem Atelier, wie sie Stiche ausmalte.

»Oh, Ginevra!« rief er aus.

Sie fuhr krampfhaft von ihrem Stuhl in die Höhe und errötete.

»Konnte ich schlafen, während du dich in Arbeit erschöpftest?« sagte sie.

»Aber ich allein habe das Recht, so zu arbeiten.«

»Und ich soll untätig bleiben,« erwiderte die junge Frau, während ihr die Tränen in die Augen stiegen. »wo ich weiß, daß jedes Stück Brot uns fast einen Tropfen deines Blutes kostet? Ich würde sterben, wenn ich nicht meine Arbeit mit der deinigen vereinigen dürfte. Soll nicht alles zwischen uns gemeinsam sein, Freude und Kummer?«

»Du erkältest dich ja«, rief Luigi verzweifelt. »Schließe doch dein Tuch besser über der Brust, geliebte Ginevra, die Nacht ist feucht und kalt.«

Sie traten an das Fenster, die junge Frau lehnte ihr Haupt an die Brust ihres Vielgeliebten, der sie umfaßt hatte, und beide betrachteten, in tiefes Schweigen versunken, den Himmel, an dem das Morgenrot langsam erschien. Graue Wolken zogen schnell hintereinander her, und im Osten wurde es immer heller.

»Siehst du«, sagte Ginevra, »das ist ein gutes Zeichen: wir werden glücklich werden.«

»Ja, im Himmel«, erwiderte Luigi mit bitterem Lächeln. »Ach, Ginevra, du, die du alle Schätze der Erde verdientest . . .«

»Ich habe ja deine Liebe«, sagte sie mit freudigem Ausdruck.

»Ach, ich beklage mich ja auch nicht«, entgegnete er und drückte sie fest an sich. Und er bedeckte mit Küssen ihr zartes Gesicht, das anfing, seine Jugendfrische zu verlieren, dessen Ausdruck aber so sanft und zärtlich war, daß er es niemals ansehen konnte, ohne getröstet zu sein.

»Welches Schweigen!« sagte Ginevra. »Ich finde einen großen Genuß darin, Liebster, jetzt wach zu sein. Die Majestät der Nacht teilt sich einem wirklich mit, sie erscheint gewaltig, sie regt einen an; es liegt eine gewisse Macht in dem Gedanken: alles schläft, und ich wache.«

»Oh, Ginevra, ich weiß es nicht erst seit heute, wie zart das Empfinden deiner Seele ist! Aber da ist das Morgenrot, komm schlafen.«

»Ja«, antwortete sie, »wenn ich nicht allein zu schlafen brauche. Was habe ich nachts gelitten, wenn ich wahrnahm, daß mein Luigi ohne mich wachte.«

Der Mut, mit dem das junge Paar gegen die Not ankämpfte, wurde eine Zeitlang belohnt; aber ein Ereignis, das sonst den Höhepunkt des Glücks einer Ehe darstellt, wurde ihm verhängnisvoll: Ginevra gebar einen Sohn, der, um den üblichen Ausdruck zu gebrauchen, schön wie der Tag war. Das Muttergefühl verdoppelte die Kraft der jungen Frau. Luigi borgte sich Geld, um die Kosten der Niederkunft Ginevras zu bezahlen. In der ersten Zeit empfand sie daher nicht das ganze Unbehagen ihrer Lage, und die beiden Gatten überließen sich dem Glücksgefühl, ein Kind aufziehen zu können. Das war ihr letztes Glück. Wie zwei Schwimmer ihre Kräfte vereinigen, um gegen eine Strömung anzukämpfen, so mühten sich die beiden Korsen zuerst voller Mut; aber manchmal verfielen sie in eine Apathie, ähnlich dem Schlaf, der dem Tode vorangeht, und bald sahen sie sich genötigt, ihren Schmuck zu verkaufen. Plötzlich war die Armut da, noch nicht die häßliche, sondern die noch anständig verhüllte, die beinahe leicht zu ertragen ist; sie kündigte sich noch nicht erschreckend an, in ihrem Gefolge waren weder Verzweiflung, noch Angst, noch Lumpen zu sehen; aber sie ließ die Erinnerung an die Gewohnheiten des behaglichen Lebens schwinden; sie nutzte das Gefühl des Stolzes ab. Dann kam das Elend in all seiner Scheußlichkeit, das sich nicht mehr um seinen Plunder kümmerte und alle menschlichen Empfindungen mit Füßen trat. Sieben bis acht Monate nach der Geburt des kleinen Bartolomeo hätte man nur mit Mühe in der Mutter, die das schwächliche Kind nährte, die reizenden Züge des Originals jenes wundervollen Porträts erkannt, des einzigen Schmucks des kahlen Zimmers. Ohne Heizung in einem rauhen Winter sah Ginevra, wie die zarten Züge ihres Gesichts sich langsam veränderten, wie ihre Wangen bleich wie Porzellan, ihre Augen matt wurden, als ob die Lebensquellen in ihr versiegten. Wenn sie wahrnahm, wie ihr Kind abmagerte und bleich wurde, litt sie nur an seinem Elend, und Luigi hatte nicht mehr den Mut, seinem Sohne zuzulächeln.

»Durch ganz Paris bin ich gerannt,« sagte er in düsterem Tone, »aber ich kenne ja niemanden, und wie soll ich es wagen, gleichgültige Leute anzusprechen? Vergniaud, unser Pferdezüchter, mein alter Waffengefährte aus Ägypten, ist in eine Verschwörung verwickelt und ins Gefängnis geworfen worden, und im übrigen hat er mir schon alles geliehen, worüber er verfügen konnte. Und unser Hausbesitzer hat seit einem Jahre keine Miete verlangt.«

»Aber wir brauchen ja nichts«, antwortete Ginevra sanft und machte ein beruhigtes Gesicht.

»Jeder neue Tag bringt eine Schwierigkeit mehr«, sagte Luigi voll Schrecken.

Luigi nahm alle Bilder Ginevras, das Porträt, verschiedene Möbel, die noch in der Wirtschaft entbehrlich waren, verkaufte alles für einen niedrigen Preis, und die Summe, die er erhielt, verlängerte die Agonie des Haushalts noch für einige Zeit. In diesen Unglückstagen zeigte Ginevra die Erhabenheit ihres Charakters und die Größe ihrer Resignation; stoisch ertrug sie jeden Schmerz; ihr energischer Geist hielt sie in allem Unglück aufrecht, sie kämpfte mit erlahmender Hand neben ihrem sterbenden Sohn, führte die Wirtschaft mit wunderbarer Tüchtigkeit und wußte allen Ansprüchen zu genügen. Sie war sogar noch glücklich, wenn sie auf Luigis Lippen ein Lächeln des Erstaunens beim Anblick der Sauberkeit erblickte, die das einzige Zimmer, in das sie sich geflüchtet hatten, aufwies.

»Ich habe dir ein Stück Brot aufgehoben, Liebster«, sagte sie zu ihm, als er eines Abends ermüdet heimkehrte.

»Und du?«

»Ich habe schon gegessen, lieber Luigi, ich brauche nichts.«

Und der zärtliche Ausdruck ihres Gesichtes drängte ihn noch mehr als ihre Worte, eine Nahrung anzunehmen, deren sie sich beraubte. Luigi drückte ihr einen jener Küsse der Verzweiflung auf, wie sie sich 1793 die Freunde gaben, wenn sie zusammen das Schafott bestiegen. In solchen höchsten Momenten sehen sich zwei Wesen völlig ins Herz. So fühlte auch der unglückliche Luigi, der plötzlich begriffen hatte, daß seine Frau hungerte, dasselbe Fieber, das sie verzehrte, er erschauerte und ging fort, indem er ein eiliges Geschäft vorschützte, denn er hätte lieber das schärfste Gift genommen, als den Hungertod vermieden, indem er das letzte Stück Brot aß, das sich im Hause vorfand. Er irrte durch Paris inmitten der elegantesten Wagen und des beleidigenden Luxus, der sich überall breit macht; er kam an den Läden der Geldwechsler vorbei, wo das Gold funkelt, und beschloß schließlich, sich selbst zu verkaufen und sich als Ersatzmann für den Militärdienst anzubieten, in der Hoffnung, daß dieses Opfer Ginevra retten, und daß sie sich mit Bartolomeo wieder aussöhnen könne. Er ging also zu einem der Männer, der solche Leute anwarb, und war glücklich, in ihm einen alten Offizier der kaiserlichen Garde zu erkennen.

»Ich habe seit zwei Tagen nichts gegessen, sagte er langsam mit schwacher Stimme, »meine Frau stirbt vor Hunger und läßt keine Klage laut werden, ich glaube, sie würde mit einem Lächeln auf den Lippen sterben. Erbarmen, Kamerad,« fügte er mit bitterm Lächeln hinzu, »du kannst mich schon gleich nehmen, ich bin robust, ich bin nicht mehr im Dienst, und ich . . .

Der Offizier gab Luigi eine Summe als Vorschuß auf den Betrag, den er ihm zu verschaffen sich verpflichtete. Der Unselige stieß ein krampfhaftes Lachen aus, als er eine Handvoll Goldstücke festhielt, und rannte aus Leibeskräften nach Hause, während er wiederholt ausrief: »Oh meine Ginevra, meine Ginevra!« Es begann zu dunkeln, als er daheim anlangte. Er trat leise herein, weil er fürchtete, seine Frau, die er so schwach zurückgelassen hatte, zu sehr zu erregen. Die letzten Strahlen der Sonne drangen durch das Dachfenster und erstarben auf Ginevras Gesicht, die auf einem Stuhl sitzend schlief, während sie ihr Kind am Busen hielt.

»Wach auf, mein Herz«, sagte er, ohne auf die Haltung seines Kindes zu achten, das in einem überirdischen Glanz dalag.

Als sie seine Stimme hörte, öffnete die arme Mutter die Augen, begegnete seinem Blick und lächelte; aber Luigi stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Kaum konnte er seine Frau erkennen, die fast wie eine Irre dasaß, während er ihr mit wilder Energie das Gold zeigte. Ginevra stieß mechanisch ein Lachen aus; plötzlich rief sie mit entsetzter Stimme: »Louis, das Kind ist kalt!« Sie sah ihren Sohn an und wurde ohnmächtig: der kleine Bartolomeo war tot. Luigi nahm seine Frau in die Arme, ohne ihr das Kind fortzunehmen, das sie mit unglaublicher Kraft an sich preßte, und nachdem er sie auf das Bett gelegt hatte, eilte er hinaus, um Hilfe zu holen.

»Mein Gott,« sagte er zu dem Hausbesitzer, den er auf der Treppe traf, »ich habe hier Gold, und mein Kind ist vor Hunger gestorben, und die Mutter stirbt mir auch . . . helfen Sie uns!«

Verzweifelt ging er wieder zu seiner Frau hinein, während der ehrenhafte Bauunternehmer mit mehreren Nachbarn alles zusammenholte, was das bis dahin unbekannte Elend lindern konnte, das die beiden Korsen aus Stolz so sorgfältig verhehlt hatten. Luigi hatte das Gold auf den Fußboden geworfen und kniete an dem Bette, in dem seine Frau lag.

»Vater, sorge für meinen Sohn, der deinen Namen trägt!« rief Ginevra in ihrem Fieberzustand aus.

»Ach, mein Engel, beruhige dich doch!« sagte Luigi und umarmte sie; »es erwarten uns noch gute Tage!

Seine Stimme und seine Zärtlichkeit ließen sie wieder ruhiger werden.

»Oh, mein Louis! begann sie wieder und sah ihm aufmerksam ins Gesicht, »höre mich wohl an. Ich fühle, daß ich sterbe. Ich muß sterben, denn ich habe zu sehr gelitten, und dann muß man für ein Glück, das so groß war wie das meine, bezahlen. Ja, mein Luigi, tröste dich. Ich bin so glücklich gewesen, daß, wenn ich mein Leben von vorn beginnen sollte, ich unser Geschick nochmals auf mich nehmen würde. Ich bin eine schlechte Mutter: ich fühle mehr Schmerz um dich als um mein Kind. – Mein Kind!« fügte sie mit düsterer Stimme hinzu. Zwei Tränen entquollen ihren ersterbenden Augen, und plötzlich preßte sie den Leichnam an sich, den sie nicht mehr erwärmen konnte. – »Gib mein Haar meinem Vater als Erinnerung an seine Ginevra«, fuhr sie fort. »Versichere ihm, daß ich niemals eine Anklage gegen ihn erhoben habe . . .« Und ihr Haupt fiel auf den Arm ihres Mannes.

»Nein, du darfst nicht sterben!« schrie Luigi; »der Arzt wird gleich kommen. Wir haben jetzt Brot. Dein Vater wird dir verzeihen. Wir werden wieder zu Wohlstand gelangen. Bleib bei uns, du Engel von Schönheit!«

Aber das treue, liebevolle Herz erkaltete, Ginevra wandte instinktiv die Augen dem, den sie anbetete, zu, obwohl sie nichts mehr fühlte: verschwommene Bilder tauchten vor ihrem Geist auf, der keine Erinnerung an Irdisches mehr hatte. Sie wußte, daß Luigi da war, denn sie preßte seine eisige Hand immer stärker, als wollte sie sich an ihm festhalten vor dem Abgrund, in den sie zu stürzen glaubte.

»Mein Freund,« sagte sie endlich, »dir ist kalt, ich will dich erwärmen.«

Sie wollte die Hand ihres Mannes auf ihr Herz legen, aber sie hauchte ihren letzten Atem aus. Zwei Ärzte, ein Priester, Nachbarn traten jetzt herein und brachten alles Nötige, um dem Ehepaar zu helfen und seine verzweifelte Lage zu lindern. Die Fremden machten zuerst viel Geräusch; aber als sie eingetreten waren, herrschte eine schreckliche Stille im Zimmer.

Während diese Szene sich abspielte, saßen Bartolomeo und seine Frau in ihren antiken Sesseln, jeder an einer Seite des großen Kamins, dessen brennende Glut den riesigen Salon ihres Hauses erwärmte. Die Uhr zeigte auf Mitternacht. Seit langer Zeit hatte das alte Paar keinen Schlaf mehr. Jetzt saßen sie schweigend da, wie zwei kindisch gewordene Greise, die alles anstarren, ohne etwas zu sehen. Ihr verlassener, aber von ihren Erinnerungen erfüllter Salon war schwach von einer einzigen Lampe erhellt, die dicht am Erlöschen war. Ohne die zitternden Flammen des Kamins hätten sie völlig im Dunkeln gesessen. Einer ihrer Freunde hatte sie eben verlassen, und der Stuhl, auf dem er während des Besuchs gesessen hatte, stand zwischen den beiden Korsen. Piombo hatte bereits mehr als einen Blick auf diesen Stuhl geworfen, und diese gedankenvollen Blicke folgten einander wie Gewissensbisse, denn der leere Stuhl war der Ginevras. Elisa Piombo spähte nach dem Ausdruck, den das bleiche Gesicht ihres Mannes annahm. Obwohl sie gewöhnt war, die Gefühle des Korsen zu ahnen, je nach den wechselnden Verzerrungen seiner Züge, waren diese doch abwechselnd so drohend und so melancholisch geworden, daß sie nicht mehr in dieser unbegreiflichen Seele zu lesen vermochte.

Gab Bartolomeo den schwerwiegenden Erinnerungen, die dieser Stuhl wachrief, nach? War er verletzt dadurch, daß seit dem Weggang seiner Tochter zum erstenmal ein Fremder sich seiner bedient hatte? Hatte die Stunde der Verzeihung, diese bisher so vergeblich erwartete Stunde, geschlagen?

Diese Erwägungen bestürmten nacheinander Elisa Piombos Herz. Einen Augenblick lang bekam das Gesicht ihres Mannes einen so schrecklichen Ausdruck, daß sie vor ihrem Wagnis zitterte, eine so einfache List gebraucht zu haben, um eine Gelegenheit zu schaffen, von Ginevra zu reden. In diesem Augenblick jagte der Sturm Schneeflocken so heftig gegen die Fensterläden, daß die beiden Alten das leise Geräusch hören konnten. Ginevras Mutter neigte das Haupt, um die Tränen vor ihrem Manne zu verbergen. Plötzlich stieg ein Seufzer aus der Brust des Greises, seine Frau sah ihn an, er war besiegt; und sie wagte es, zum zweitenmal seit drei Jahren, ihm von der Tochter zu reden.

»Wenn Ginevra fröre!« rief sie leise aus. Piombo erzitterte, – »Sie hungert vielleicht«, fuhr sie fort. Der Korse hatte eine Träne im Auge. – »Sie hat ein Kind und kann es nicht nähren, ihre Milch ist versiegt!« rief lebhaft die Mutter in verzweifeltem Tone.

»Sie soll kommen! Sie soll kommen! rief Piombo. »Oh, mein geliebtes Kind, du hast mich besiegt!«

Die Mutter erhob sich, um ihre Tochter zu holen. In diesem Augenblick wurde die Tür jäh aufgestoßen und ein Mann, dessen Gesicht nichts Menschliches mehr hatte, stand plötzlich zwischen ihnen.

»Tot! Unsere beiden Familien mußten einander ausrotten, denn hier ist alles, was von ihr geblieben ist«, sagte er und legte Ginevras langes schwarzes Haar auf einen Tisch.

Die beiden Alten schwankten, als ob sie ein Blitzstrahl getroffen hätte, aber sie sahen Luigi nicht mehr aufrecht.

»Er erspart uns einen Schuß, denn er ist tot!« sagte Bartolomeo langsam und sah auf die Erde.

 


 


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