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2.
Die Erbschaft Minoret

Die Handlung begann mit dem Spiel eines in der alten wie in der neuen Literatur dermaßen abgenutzten Mittels, daß 1829 an seine Wirkung niemand hätte glauben können, wenn es sich nicht um eine alte Bretonin, eine Kergarouet, eine Emigrierte, gehandelt hätte. Allein, beeilen wir uns, es anzumerken: 1829 hatte der Adel ein wenig von dem Gelände in den Sitten wiedererobert, das er in der Politik verloren. Übrigens entspringt das Gefühl, das die Großeltern da leitet, wo es sich um Heiratskonvenienzen handelt, stets, schon seit dem Bestehen der zivilisierten Gesellschaft, aus dem Familiengeist. Es herrscht in Genf und in Wien wie in Nemours, wo Zélie Levrault unlängst ihrem Sohn ihre Zustimmung zu der Ehe mit der Tochter eines Bastards verweigert hatte. Trotzdem hat jedes soziale Gesetz seine Ausnahmen. Savinien dachte also, den Stolz seiner Mutter vor dem angeborenen Adel Ursulas zu beugen. Er begann damit unverzüglich. Als er sich zu Tisch gesetzt hatte, sprach ihm seine Mutter von den fürchterlichen Briefen, die die Kergarouets und die Portenduères ihr geschrieben hatten.

»Es gibt heute keine Familie mehr, liebe Mutter«, antwortete ihr Savinien, »es gibt nur noch Einzelwesen! Die Edelleute haben keinen Korpsgeist mehr. Heute wird nicht mehr danach gefragt, ob Sie eine Portenduère, ob Sie tapfer, ob Sie ein Staatsmann sind; alle Welt fragt Sie: ›Wieviel bezahlen Sie Steuern?«‹

»Und der König?« fragte die alte Dame.

»Der König ist gefangen zwischen den beiden Kammern wie ein Mann zwischen seiner legitimen Frau und seiner Mätresse. So muß auch ich mich mit einem reichen Mädchen verheiraten, was für einer Familie es auch angehört, mit der Tochter eines Bauern, wenn sie eine Million Mitgift hat und wenn sie hinreichend gut erzogen, will sagen: wenn sie ein Pensionat durchgemacht hat.«

»Das hat nichts damit zu tun!« äußerte die alte Dame.

Savinien zog die Brauen zusammen, als er diese Worte vernahm. Er kannte diesen granitenen, bretonischen Starrsinn genannten Willen, der seine Mutter kennzeichnete, und wollte gleich ihre Ansicht über diesen heiklen Punkt erfahren.

»Würden Sie sich also«, sagte er, »wenn ich eine junge Person liebte, etwa das Mündel unseres Nachbarn, die kleine Ursula, dieser Heirat widersetzen?«

»Solange ich lebe«, sagte sie. »Nach meinem Tode wirst du für die Ehre und das Blut der Portenduères und das der Kergarouets verantwortlich sein.«

»Also würden Sie mich vor Hunger und Verzweiflung sterben lassen für ein Trugbild, das sich heute nur noch durch den Glanz des Vermögens verwirklicht?«

»Du sollst Frankreich dienen und Gott vertrauen!«

»Sie würden mein Glück also auf den Tag Ihres Todes vertagen?«

»Es würde von dir entsetzlich sein; das ist alles.«

»Ludwig+XIV. hat beinahe die Nichte Mazarins geheiratet, eines Emporkömmlings.«

»Mazarin selbst hat sich ihm entgegengestellt.«

»Und die Witwe Scarrons?«

»War eine d'Aubigné! Übrigens war die Ehe heimlich. Aber ich bin alt genug, lieber Sohn«, sagte sie, indem sie den Kopf schüttelte; »wenn ich nicht mehr sein werde, heiraten Sie nach Ihrem Belieben.«

Savinien liebte seine Mutter und achtete sie zugleich; er widersetzte sich, wenn auch stillschweigend, sofort dem Starrsinn der alten Kergarouet mit dem gleichen und entschloß sich, niemals eine andere Frau zu nehmen als Ursula, welcher dieser Widerstand, wie es in solchen Fällen immer ist, den Reiz der verbotenen Dinge verlieh.

Als nach dem Nachmittagsgottesdienst Doktor Minoret und die weiß und rosa gekleidete Ursula in diesen kühlen Saal eintraten, überfiel das Kind ein nervöses Zittern, als befände es sich der Königin von Frankreich gegenüber und hätte von ihr eine Gnade zu erbitten. Seit ihrer Auseinandersetzung mit dem Doktor hatte dieses kleine Haus für sie das Ausmaß eines Palastes angenommen und die alte Dame alle gesellschaftliche Bedeutung, die eine Herzogin im Mittelalter in den Augen der Tochter eines Niedriggeborenen haben mußte. Niemals ermaß Ursula in gleich verzweiflungsvoller Weise als in diesem Augenblick den Abstand, der einen Vicomte von Portenduère von der Tochter eines Militär-Musikkapellmeisters, eines ehemaligen Sängers bei den Italienern, natürlichen Sohnes eines Organisten, trennte, deren Existenz abhing von der Güte eines Arztes.

»Was ist Ihnen, liebes Kind?« wandte sich die alte Dame an sie, während sie sie neben sich Platz nehmen ließ.

»Gnädige Frau, ich bin verwirrt von der Ehre, der Sie mich würdigen …«

»Oh, liebe Kleine«, versetzte Frau von Portenduère in ihrer schärfsten Tonart, »ich weiß, wie sehr Ihr Vormund Sie liebt, und ich will ihm zu Gefallen sein, denn er hat mir einen verlorenen Sohn wiedergebracht.«

»Aber meine teure Mutter«, sagte Savinien, der ins innerste Herz getroffen war, als er Ursulas lebhaftes Erröten und die schreckliche Anstrengung wahrnahm, mit der sie ihre Tränen zurückhielt, »selbst wenn Sie dem Herrn Ritter Minoret in keiner Weise verpflichtet wären, scheint mir, daß wir uns auf jeden Fall freuen müßten, daß das Fräulein uns das Vergnügen gibt, unsere Einladung anzunehmen.«

Und der junge Edelmann drückte auf bedeutsame Weise die Hand des Doktors, während er hinzufügte:

»Sie tragen, mein Herr, den Orden Saint-Michel, den ältesten Orden Frankreichs, der auf jeden Fall den Adel verleiht.«

Die ungewöhnliche Schönheit Ursulas, welcher ihre so gut wie hoffnungslose Liebe seit einigen Tagen jene Tiefe gegeben hatte, die die großen Maler den Porträts aufgeprägt haben, in denen die Seele so stark hervortritt, hatte Frau von Portenduère plötzlich getroffen und ließ sie hinter der Großmut des Doktors eine ehrgeizige Absicht argwöhnen. Und so waren ihre von Savinien dann zurückgewiesenen Worte mit einer Absicht gesprochen, die den Greis in seinem Teuersten verletzten; doch konnte er ein Lächeln nicht unterdrücken, als er sich von Savinien einen Ritter nennen hörte, denn er erkannte in dieser Übertreibung die Kühnheit des Liebenden, der selbst nicht davor zurückschreckt, lächerlich zu erscheinen.

»Der Orden Saint-Michel, für dessen Erlangen man ehemals keine Torheit scheute, ist in seinem Wert gesunken, Herr Vicomte«, antwortete der alte Arzt des Königs, »wie es mit so vielen Vorrechten zurückgegangen ist. Es erhalten ihn heute nur Ärzte, arme Künstler. So haben die Könige ganz recht getan, wenn sie ihn mit dem von Saint-Lazare verbanden, welcher Heilige, glaub ich, ein armer Teufel war, der durch ein Wunder ins Leben zurückgerufen wurde. In dieser Hinsicht wären die Orden Saint-Michel und Saint-Lazare für uns ein Symbol.«

Nach dieser zugleich würdigen und spöttischen Antwort herrschte ein Schweigen, das niemand brechen wollte und schon ziemlich peinlich wurde, als angeklopft wurde.

»Unser lieber Pfarrer«, sagte die alte Dame, die sich erhob, Ursula allein ließ und Abbé Chaperon entgegenging; eine Ehre, die sie weder Ursula noch dem Doktor erwiesen hatte.

Der Greis sah abwechselnd sein Mündel und Savinien an und lächelte. Sich über das Benehmen Frau von Portenduères zu beklagen oder es übelzunehmen, wäre ein Klippe gewesen, auf die ein beschränkter Mensch wohl aufgelaufen wäre; doch Minoret besaß zuviel Lebenserfahrung, als daß er sie nicht vermieden hätte: er begann mit dem Vicomte über die Gefahr zu plaudern, die damals Karl+X. lief, nachdem er die Leitung der Politik dem Fürsten von Polignac anvertraut hatte. Nach hinreichender Zeit, so daß es nicht den Anschein haben konnte, als ob der Doktor, wenn er just auf die Geschäfte kam, sich rächen wollte, überreichte er beinahe scherzend der alten Dame die Dokumente mit einer von seinem Notar aufgestellten Berechnung der bezahlten Kosten.

»Mein Sohn hat es anerkannt?« sagte sie, indem sie Savinien anblickte, der mit einem bestätigenden Kopfnicken antwortete. »Nun gut, das geht Dionis an«, fügte sie hinzu, indem sie die Papiere zurückstieß und die Angelegenheit mit einer Geringschätzung behandelte, die in ihren Augen das Geld verdiente.

Den Reichtum herabsetzen hieß nach den Anschauungen Frau von Portenduères den Adel erheben und dem Bürgertum alle Bedeutung nehmen.

Gleich darauf kam im Auftrage seines Chefs Goupil, um die zwischen Savinien und Herrn Minoret ausgestellten Rechnungen zu erbitten.

»Und warum?« sagte die alte Dame.

»Zur Unterlage für die Schuldverschreibung; es handelt sich ja nicht um eine Bargeldauslieferung«, antwortete der Erste Schreiber, während er unverschämt seinen Blick umhergehen ließ.

Ursula und Savinien, die zum ersten Mal mit dieser schrecklichen Person einen Blick wechselten, war es, als hätten sie eine Kröte berührt, zugleich fühlten sie sich aber von einer unheilvollen Vorahnung bedrückt. Beide hatten sie jene dunkle Vision des Kommenden, für welche es der Sprache an einem Ausdruck fehlt, die aber durch einen Vorgang des inneren Seins, von welchem der Swedenborgianer zu Doktor Minoret gesprochen hatte, sich wohl zum Ausdruck bringen könnte. Die Gewißheit, daß dieser giftige Goupil verhängnisvoll für sie werden würde, machte Ursula erzittern; doch es war ihr und ihrer Unruhe eine Erleichterung und unsägliche Freude, als sie wahrnahm, daß Savinien ihre Empfindung teilte.

»Er ist keine Schönheit, der Schreiber des Herrn Dionis!« äußerte Savinien, als sich die Tür hinter Goupil geschlossen hatte.

»Nun, was hat es zu besagen, ob diese Leute schön oder häßlich sind?« äußerte Frau von Portenduère.

»Ich mache ihm aus seiner Häßlichkeit keinen Vorwurf«, sagte der Pfarrer, »wohl aber aus seiner Bösartigkeit, die alle Grenzen überschreitet; sie ist schon verrucht.«

Ungeachtet seines Wunsches, liebenswürdig zu sein, wurde der Doktor kühl und gemessen. Die beiden Liebenden fühlten sich peinlich berührt. Wäre nicht Abbé Chaperons Gutherzigkeit gewesen und seine sanfte Heiterkeit, mit der er das Diner belebte, so wäre die Situation für den Doktor und sein Mündel fast unerträglich geworden. Als der Doktor beim Nachtisch Ursula blaß werden sah, sagte er zu ihr:

»Wenn du dich nicht wohl fühlst, liebes Kind, so hast du's nach Hause ja bloß über die Straße.«

»Was ist Ihnen, mein Herzchen?« wandte sich die alte Dame an das junge Mädchen.

»Ach, gnädige Frau«, antwortete der Doktor nicht ohne Schärfe, »ihr Inneres friert; sie ist ja gewohnt, nur freundliche Gesichter um sich zu sehen.«

»Keine recht gute Erziehung, Herr Doktor«, sagte Frau von Portenduère. »Ist's nicht so, Herr Pfarrer?«

»Ja, gnädige Frau«, entgegnete Minoret, indem er auf den Pfarrer, der keine Worte fand, einen Blick richtete. »Ich habe, ich seh es, ich habe diesem engelsguten Wesen, wenn es in die Welt eintreten müßte, das Leben unmöglich gemacht; doch vor meinem Hingang will ich es noch der Kälte, der Gleichgültigkeit und dem Haß gegenüber sicherstellen.«

»Lieber Pate! … Ich bitte Sie … genug! Ich leide hier ja gar nicht«, sagte Ursula, dabei Savinien ansehend, indem sie mehr dem Blick Frau von Portenduères trotzte, als sie ihren Worten Bedeutung beizulegen schien.

»Ich weiß nicht«, sagte Savinien danach zu seiner Mutter, »ob Fräulein Ursula leidet, doch ich weiß, daß Sie mich sehr peinlich strafen.«

Als sie dies Wort, das das Benehmen seiner Mutter dem hochherzigen jungen Mann entriß, hörte, erbleichte Ursula und bat Frau von Portenduère, sie zu entschuldigen; sie erhob sich, nahm den Arm ihres Vormundes, grüßte, entfernte sich, kehrte nach Haus zurück, betrat eilig den Salon ihres Paten, wo sie sich am Piano niederließ, das Gesicht in die Hände barg und in Tränen ausbrach.

»Warum überläßt du die Leitung deiner Empfindungen nicht meiner alten Erfahrung, du schlimmes Kind?« sagte der Doktor zu der ganz Verzweifelten. »Die Adligen halten sich uns Bürgerlichen gegenüber niemals für verpflichtet. Wenn wir ihnen zu Diensten sind, tun wir unsere Pflicht; das ist alles. Übrigens hat die alte Dame gesehen, daß Savinien dich gern anblickte, und sie befürchtet, daß er dich liebt.«

»Schließlich, er ist gerettet!« sagte sie. »Aber zu versuchen, einen Mann wie Sie zu demütigen …«

»Warte auf mich, meine Kleine.«

Als der Doktor wieder bei Frau von Portenduère eintraf, fand er hier in Begleitung der Herren Bongrand und Levrault, des Maires, den nach dem Gesetz für die Rechtsgültigkeit der in die Gemeinden, wo es nur einen Notar gibt, übergehenden Akten erforderlichen Zeugen Dionis vor. Minoret nahm Herrn Dionis beiseite und sagte ihm ein Wort ins Ohr, auf das hin der Notar die Schuldverschreibung vorlas; Frau von Portenduère gab danach eine Hypothek auf ihren gesamten Grundbesitz bis zur Zurückzahlung der dem Vicomte von dem Doktor geliehenen hunderttausend Franken, und die Zinsen waren auf fünf vom Hundert festgesetzt. Bei der Verlesung dieser Klausel sah der Pfarrer Minoret an, der mit einem leichten, seine Zufriedenheit bezeugenden Kopfnicken antwortete. Der arme Priester ging und sagte seinem Beichtkind einige Worte ins Ohr, auf die sie halblaut antwortete:

»Ich will diesen Leuten nichts zu danken haben.«

»Meine Mutter, mein Herr, überläßt die bessere Rolle mir«, wandte sich Savinien an den Doktor. »Sie wird Ihnen das ganze Geld wiedergeben und überträgt mir die Erkenntlichkeit.«

»Aber Sie werden fürs erste Jahr elftausend Franken Zinsen aufzutreiben haben«, ergriff der Pfarrer das Wort.

»Mein Herr«, sagte Minoret zu Dionis, »da Herr und Frau von Portenduère außerstande sind, die Eintragungskosten zu zahlen, so rechnen Sie die Kosten des Vertrages zu dem Kapital; ich werde sie bezahlen.«

Dionis bewerkstelligte die Übertragung, und das Kapital wurde alsdann auf hundertsiebentausend Franken festgesetzt. Als alles unterzeichnet war, schützte Minoret Müdigkeit vor und zog sich mit dem Notar und den Zeugen zurück.

»Gnädige Frau«, sagte der Pfarrer, der mit dem Vicomte allein zurückblieb, »weshalb verletzen Sie diesen ausgezeichneten Herrn Minoret, der Ihnen in Paris doch mindestens fünfundzwanzigtausend Franken gerettet hat und der die Feinfühligkeit hatte, zwanzigtausend davon Ihrem Sohn für seine Ehrenschulden zu überlassen?«

»Ihr Minoret ist ein Duckmäuser«, sagte sie, während sie ein Prischen Tabak nahm, »er weiß ganz genau, was er tut.«

»Meine Mutter meint, daß er mich verpflichten will, sein Mündel zu heiraten, indem er unser Landgut einsteckt; als ob man einen Portenduère, den Sohn einer Kergarouet, zwingen könnte, sich gegen seinen Willen zu verheiraten!«

Eine Stunde später zeigte Savinien sich beim Doktor, wo sich auch, von ihrer Neugier herbeigelockt, die Erben befanden. Das Erscheinen des jungen Mannes brachte eine um so lebhaftere Sensation hervor, als es bei jedem der Anwesenden verschiedene Empfindungen erregte. Die Fräulein Crémière und Massin tuschelten miteinander, indem sie Ursula ansahen, die errötete. Die Mütter sagten zu Désiré, daß Goupil bezüglich dieser Heirat wohl recht haben könnte. Die Augen aller, die zugegen waren, richteten sich also auf den Doktor, der sich zum Empfang des Edelmannes nicht erhoben hatte und sich begnügte, ihn mit einem Kopfnicken zu begrüßen, ohne sich im Spiel zu unterbrechen, denn er machte mit Herrn Bongrand eine Partie Tricktrack. Die kühle Miene des Doktors überraschte alle.

»Ursula«, sagte er, »mach uns ein wenig Musik, liebes Kind!«

Als sie das junge Mädchen, das sich freute, eine Gelegenheit zu haben, sich zu fassen, zum Instrument sich hinbegeben und zwischen den grüngebundenen Heften suchen sahen, nahmen die Erben, unter Bezeigung ihres Beifalls, die Pein und das Stillschweigen auf sich, die ihnen jetzt so lange bevorstanden, bis sie in Erfahrung gebracht haben würden, was zwischen ihrem Onkel und den Portenduères sich anzettelte.

Es geschieht oft, daß ein an und für sich schwaches, jedoch von einem jungen Mädchen unter der Herrschaft einer tiefen Empfindung vorgetragenes Stück mehr Eindruck macht als eine große, glanzvoll von einem gewandten Orchester gespielte Ouvertüre. Außer der Idee des Tonsetzers gilt in aller Musik die Seele des ausübenden Künstlers, der infolge eines Vorzuges, der einzig dieser Kunst eignet, Sinn und Poesie auch Tonsätzen verleihen kann, die keinen großen Wert besitzen. Chopin beweist heute die Wahrheit dieser Tatsache für das undankbare Piano, wie sie schon von Paganini für die Geige bewiesen wurde. Dies ausgeprägte Genie ist weniger ein Musiker als eine sehr empfindsame Seele, die sich mit jeder Art von Musik mitteilt, selbst in ganz schlichten Akkorden. Infolge ihrer prächtigen und zugleich gefährlichen Wesensart gehörte Ursula zur Schule dieser so seltenen Begabungen; aber der alte Schmücke, der Lehrer, der jeden Sonnabend kam und der während Ursulas Aufenthalt in Paris alle Tage bei ihr gewesen war, hatte die Begabung seiner Schülerin zur Vollendung gebracht. ›Der Traum Rousseaus‹, das von Ursula gewählte Stück, eine Jugendkomposition von Herold, entbehrte übrigens nicht einer gewissen Tiefe, die sich unter dem Spiel entwickeln konnte; sie legte die Empfindungen, die sie bewegten, hinein und rechtfertigte sehr gut die Bezeichnung ›Phantasiestück‹, welche dies Bruchstück führt. Mit süßem und träumerischem Spiel sprach ihre Seele zu der des jungen Mannes und hüllte ihn wie in ein Gewölk fast greifbarer Gedanken. Savinien saß an der Seite des Pianos, den Ellbogen auf den Deckel und den Kopf auf die linke Hand gestützt, und bewunderte Ursula, deren auf das Holzwerk gerichtete Augen eine geheimnisvolle Welt zu befragen schienen. Man mußte sie wohl aus tiefster Seele lieben. Die wahren Empfindungen haben ihren Magnetismus, und Ursula wollte in gewisser Hinsicht ihre Seele zeigen, wie eine Gefallsüchtige sich putzt, um zu gefallen. Savinien drang also in dies köstliche Reich ein, hingerissen von diesem Herzen, das, um sich selbst zu erklären, seine Macht der einzigen Kunst entlieh, die ohne Beihilfe des Wortes, der Farbe oder der Gestalt zum Gedanken selbst spricht. Die Offenherzigkeit übt auf den Mann die gleiche Gewalt wie die Kindheit, er fühlt sich durch sie angezogen und erfährt einen unwiderstehlichen Zauber; und nie war Ursula offenherziger als in diesem Augenblick, wo sie in ein neues Leben hineingeboren wurde. Der Pfarrer kam und entriß den Edelmann seinen Träumereien, indem er ihn bat, den vierten zum Whist abzugeben. Ursula setzte ihr Spiel fort, die Erben brachen auf, Désiré ausgenommen, der hinter die Absichten seines Großonkels, des Vicomtes und Ursulas zu kommen suchte.

»Sie haben so viel Talent wie Seele, Fräulein«, sagte Savinien, als das junge Mädchen das Piano schloß, um sich an die Seite ihres Paten zu setzen. »Wer ist wohl Ihr Lehrer?«

»Ein Deutscher, der gerade in der Nähe der Rue Dauphine wohnt, am Quai Conti«, sagte der Doktor. »Wenn er Ursula während unseres Aufenthaltes in Paris nicht jeden Tag eine Stunde gegeben hätte, wäre er heute gekommen.«

»Er ist nicht nur ein großer Musiker«, sagte Ursula, »sondern auch ein rührend naiver Mensch.«

»Diese Stunden müssen sehr viel kosten«, äußerte Désiré.

Die Spieler tauschten ein ironisches Lächeln. Als die Partie zu Ende war, nahm der Doktor, der bis dahin seine Sorgen gehabt hatte, wenn er Savinien betrachtete, die Miene jemandes an, der eine peinliche Pflicht zu erfüllen hat.

»Mein Herr«, sagte er zu ihm, »ich weiß Ihnen für die Empfindung, die Sie bewog, mir einen so schnellen Besuch zu machen, großen Dank; doch Ihre Frau Mutter legt mir sehr wenig rühmliche Hintergedanken unter, und ich würde ihr das Recht geben, sie für wahr zu halten, wenn ich Sie nicht bäte, nicht wieder zu mir zu kommen, trotz der Ehre, die mir Ihre Besuche geben würden, und dem Vergnügen, das ich daran fände, den Verkehr mit Ihnen zu pflegen. Meine Ehre und meine Ruhe erheischen, daß wir jede nachbarliche Beziehung aufgeben. Sagen Sie Ihrer Frau Mutter, daß, wenn ich sie nicht mehr bitte, meinem Mündel und mir die Ehre zu geben, nächsten Sonntag bei uns zu speisen, es darum geschieht, weil ich mit Sicherheit weiß, daß sie an diesem Tage verhindert sein würde.«

Der Greis bot dem jungen Vicomte die Hand, der sie ehrerbietig drückte und sagte:

»Sie haben recht, mein Herr.«

Nicht ohne Ursula gegrüßt zu haben in einer Weise, die mehr Traurigkeit als Enttäuschung verriet, zog er sich zurück.

Désiré entfernte sich gleichzeitig mit dem Edelmann, doch war es ihm nicht möglich, ein Wort mit ihm zu wechseln, denn Savinien begab sich in größter Eile nach Hause.

Das Zerwürfnis zwischen den Portenduères und Doktor Minoret spielte für einige Tage in den Gesprächen der Erben eine große Rolle, die dem Genie von Dionis alle Ehre zuteil werden ließen und ihre Erbschaft nunmehr als gesichert betrachteten. So errichteten in einem Zeitalter, wo die Stände sich ausgleichen und die Gleichheitsmanie alle einzelnen auf gleichen Boden stellt und alles bedroht, selbst die militärische Unterordnung, das letzte Bollwerk der Macht in Frankreich, in einer Zeit, wo die Leidenschaft also kein anderes Hindernis zu überwinden hat als die persönlichen Abneigungen oder das fehlende Gleichgewicht zwischen den Vermögensverhältnissen, die Hartnäckigkeit einer alten Bretonin und die Würde des Doktor Minoret zwischen den beiden Liebenden Schranken, die, wie immer, die Liebe weniger zerstörten als festigten. Für jeden verliebten Menschen ist jedes Weib so viel wert, wie es ihn kostet; nun, Savinien sah einen Kampf, Anstrengungen, Ungewißheiten, die ihm bereits dies geliebte junge Mädchen gab: er wollte sie erobern. Vielleicht gehorchen unsere Empfindungen den Gesetzen der Natur, die sich auf die Dauer ihrer Schöpfungen beziehen: langes Leben, lange Kindheit!

Am nächsten Morgen hatten Ursula und Savinien, als sie sich erhoben, den gleichen Gedanken. Eine solche Übereinstimmung, daß aus ihr die Liebe hervorgehen könnte, wenn sie nicht schon deren köstlichster Beweis wäre! Als das junge Mädchen ein klein wenig die Vorhänge auseinandernahm, um für ihre Augen gerade so viel Raum zu gewinnen, wie nötig war, Savinien zu sehen, gewahrte sie über dem Drehriegel seines Fensters das Gesicht ihres Geliebten. Wenn man die unendlichen Dienste erwägt, die die Fenster den Liebenden leisten, erscheint es durchaus natürlich, sie zum Gegenstand einer Steuer zu machen. Nachdem sie auf solche Weise gegen die Härte ihres Paten protestiert hatte, ließ Ursula die Vorhänge wieder sinken und öffnete ihre Fenster, um die Jalousien zu schließen, durch die hindurch sie dann spähen konnte, ohne gesehen zu werden. Wohl sieben-, achtmal stieg sie im Laufe des Tages zu ihrem Gemach hinauf, und immer fand sie den jungen Mann, wie er schrieb, Papiere zerriß und von neuem zu schreiben begann; ohne Zweifel an sie!

Am nächsten Vormittag, als Ursula erwachte, brachte ihr die Bougival folgenden Brief:

›An Fräulein Ursula

Liebes Fräulein,

ich gebe mich keiner Einbildung darüber hin, welches Mißtrauen ein junger Mensch einflößen muß, der sich in eine Lage gebracht hat, der ich einzig durch die Vermittlung Ihres Vormundes entronnen bin: ich muß in Zukunft stärkere Garantien geben als jeder andere; und so, mein Fräulein, werfe ich mich in tiefer Demut Ihnen zu Füßen, um Ihnen meine Liebe zu bekennen. Diese Erklärung wird nicht von einer Leidenschaft eingegeben: sie entspringt einer Gewißheit, die das ganze Leben umfaßt. Eine törichte Leidenschaft für meine junge Tante, Frau von Kergarouet, hat mich ins Gefängnis gebracht; dürfen Sie nicht den Beweis für die Aufrichtigkeit meiner Liebe darin finden, daß jene Erinnerung mir gänzlich geschwunden und jenes Bild durch das Ihre aus meinem Herzen getilgt ist? Seit ich Sie in Bouron schlafend und so anmutig in Ihrem kindlichen Schlaf erblickt habe, haben Sie von meinem Herzen Besitz genommen wie eine Königin, die Besitz ergreift von ihrem Reich. Ich will keine andere Frau als Sie. Sie sind im Besitz aller der Vorzüge, in deren Besitz ich die wünsche, die meinen Namen tragen soll. Die Erziehung, die Sie genossen haben, und die Würde Ihres Herzens erheben Sie auf die höchste Lebensstufe. Aber ich traue mir selbst nicht den Versuch zu, Ihnen ein Bild von Ihnen selbst zu geben, ich vermag nichts, als Sie zu lieben. Nachdem ich Sie gestern gehört, habe ich mich folgender Worte erinnert, die wie für Sie geschrieben sind:

›Geschaffen, die Herzen anzuziehen und die Augen zu bezaubern, zugleich sanft und klug, geistreich und verständig, gebildet, als hätte sie ihr Leben am Hofe verbracht, schlicht wie ein Einsiedler, der niemals die Welt kennengelernt hat, das Feuer ihrer Seele gemildert in ihren Augen durch eine himmlische Bescheidenheit.‹

Ich kenne den Preis dieser schönen Seele, die sich an Ihnen in den geringsten Dingen offenbart. Hier das, was mir die Kühnheit gibt, Sie zu bitten, mich, wenn Sie noch niemand lieben, Ihnen durch meine Bemühungen und meine Aufführung den Beweis geben zu lassen, daß ich Ihrer würdig bin. Es handelt sich um mein Leben, Sie dürfen nicht zweifeln, daß alle meine Kräfte darauf verwandt werden, nicht bloß Ihnen zu gefallen, sondern auch Ihre Achtung zu verdienen, die mir nicht geringer gilt als die der ganzen Welt. In dieser Hoffnung, Ursula, und wenn Sie mir gestatten, Sie in meinem Herzen eine Angebetete zu nennen, wird Nemours das Paradies für mich sein, und die schwierigsten Unternehmungen werden mir nur ein Genuß sein, den ich Ihnen zuschreibe, wie man alles Gott zuschreibt. Lassen Sie mich also wissen, ob ich mich nennen darf

Ihren Savinien.‹

Ursula küßte diesen Brief; und nachdem sie ihn wieder gelesen und mit der tiefsten Ergriffenheit in der Hand gehalten hatte, kleidete sie sich an, um ihren Paten aufzusuchen.

»Mein Gott, bald wäre ich gegangen, ohne mein Gebet zu sprechen«, sagte sie, indem sie sich zurückbegab, um zu ihrem Gebet niederzuknien.

Kurz darauf stieg sie in den Garten hinab und fand hier ihren Vormund, den sie Saviniens Brief lesen ließ. Beide ließen sich auf der Bank unter dem Schlinggewächs gegenüber dem chinesischen Gartenhaus nieder. Ursula wartete auf ein Wort des Greises, und dieser überlegte viel zu lange für ein ungeduldiges Mädchen. Schließlich ergab sich aus dem gemeinsamen Gespräch folgender Brief, den der Doktor ohne Zweifel zum Teil diktiert hatte:

›Mein Herr,

ich kann mich durch den Brief, mit dem Sie mir Ihre Hand anbieten, nur sehr geehrt fühlen; aber bei meinem Alter und nach den Gesetzen meiner Erziehung habe ich ihn meinem Vormund mitteilen müssen, der all meine Familie ist und den ich zugleich wie einen Vater und einen Freund liebe. Hier also die harten Vorhaltungen, die er mir gemacht hat und die als meine Antwort gelten müssen.

Ich bin, Herr Vicomte, ein armes Mädchen, deren künftiges Vermögen gänzlich nicht allein von dem guten Willen meines Paten abhängt, sondern außerdem noch von den gewagten Maßnahmen, die er treffen muß, den bösen Willen seiner Erben zu meinen Gunsten zu täuschen. Obwohl die eheliche Tochter von Joseph Mirouet, Kapellmeister im 45. Infanterieregiment, da er der natürliche Schwager meines Vormundes ist, könnte man, jedoch ohne Grund, einem jungen Mädchen einen Prozeß machen, das ohne Verteidigung bleiben würde. Sie sehen, mein Herr, daß mein geringes Vermögen nicht mein größtes Unglück ist. Ich habe Ursache, demütig zu sein. Es geschieht für Sie, nicht für mich, daß ich Ihnen derartiges unterbreite, das ja oft für liebende und einander ergebene Herzen nicht ins Gewicht fällt. Aber bedenken Sie auch, mein Herr, daß, wenn ich es Ihnen unterbreitete, ich in den Verdacht kommen würde, Ihre Liebe alle Hindernisse überschreiten machen zu wollen, welche die Welt und besonders Ihre Mutter für unüberwindlich halten. Ich werde in vier Monaten sechzehn Jahre alt sein. Vielleicht sehen Sie ein, daß wir, der eine wie der andere, zu jung und unerfahren sind, gegen die Mißhelligkeiten eines Lebens ankämpfen zu können, das wir ohne ein anderes Vermögen als das, welches ich der Güte des verstorbenen Herrn von Jordy verdanke, begönnen. Mein Vormund wünscht übrigens, mich vor meinem zwanzigsten Jahr nicht zu verheiraten. Wer weiß, was das Schicksal Ihnen in diesen vier Jahren, den schönsten Ihres Lebens, vorbehält! Zerstören Sie es sich also nicht um eines armen Mädchens willen.

Nachdem ich Ihnen, mein Herr, die Gründe meines teuren Vormundes dargelegt habe, der, weit entfernt davon, meinem Glück im Wege zu stehen, nach allem Vermögen zu ihm beitragen will und den Wunsch hegt, seinen nun bald hinfälligen Schutz durch eine Liebe ersetzt zu sehen, die der seinigen gleichkommt, bleibt mir nur noch übrig, Ihnen zu sagen, wie sehr mich Ihr Anerbieten und die ihm beigefügten herzlichen Verbindlichkeiten bewegt haben. Die Umsicht, die diese Antwort diktiert, ist die eines Greises, der das Leben gründlich kennt; doch der Dank, den ich Ihnen zum Ausdruck bringe, ist der eines jungen Mädchens, von dessen Seele noch keine andere Empfindung Besitz ergriffen hat.

So, mein Herr, darf ich mich, in aller Wahrheit, nennen

Ihre Dienerin
Ursula Mirouet.‹

Savinien antwortete nicht. Machte er Versuche bei seiner Mutter? Hatte dieser Brief seine Liebe erlöschen lassen? Tausend derartige Fragen, alle unlösbar, peinigten Ursula auf das schrecklichste und also mittelbar auch den Doktor, der unter der geringsten Gemütsbewegung seines teuren Kindes litt. Oft stieg Ursula zu ihrem Schlafgemach hinauf und spähte zu Savinien hinüber, den sie dann in Gedanken versunken an seinem Tisch sitzen und oft die Augen nach ihrem Fenster hin richten sah. Ende der Woche, noch nicht zu spät, erhielt sie von Savinien folgenden Brief, dessen Verzögerung sich durch die Steigerung seiner Liebe erklärte.

›An Fräulein Ursula Mirouet

Teure Ursula, ich bin ein wenig Bretone; und habe ich einmal meinen Entschluß gefaßt, so bringt mich nichts dazu, ihn zu ändern. Ihr Vormund, den Gott noch lange erhalten möge, hat recht; allein habe ich darum unrecht, Sie zu lieben? So wollte ich einzig von Ihnen wissen, ob Sie mich lieben. Sagen Sie es mir, und sei es auch nur mit einem Zeichen, und dann werden diese vier Jahre die schönsten meines Lebens werden! Einer meiner Freunde hat meinem Großonkel, dem Vizeadmiral von Kergarouet, einen Brief zugestellt, in welchem ich ihn um seine Befürwortung für den Eintritt in die Marine bitte. Dieser gute Greis hat mir, von meinem Unglück gerührt, geantwortet, daß der gute Wille des Königs durch die Vorschriften gehemmt werde für den Fall, daß ich einen höheren Dienstgrad wollte. Trotzdem wird der Minister mich nach dreimonatigen Studien in Toulon als Steuermann ausfahren lassen; dann kann ich nach einem Zug gegen Algier, mit dem wir in Krieg liegen, ein Examen machen und Offiziersaspirant werden. Endlich werde ich, wenn ich mich gelegentlich des Unternehmens, das gegen Algier vorbereitet wird, auszeichne, sicherlich Unterleutnant zur See; aber in wieviel Zeit? Niemand kann das sagen. Man wird einzig die Verordnungen so dehnen, daß es möglich sein wird, den Namen Portenduère für die Marine zu erneuern. Ich kann Sie nur von Ihrem Paten erhalten, das sehe ich ein; und Ihre Achtung für ihn macht Sie meinem Herzen nur noch teurer. Vor einer Antwort möchte ich also eine Zusammenkunft mit ihm haben: von seiner Antwort wird meine ganze Zukunft abhängen. Was auch kommen möge: Sie sollen wissen, reich oder arm, Tochter eines Regimentskapellmeisters oder eines Königs, daß Sie für mich die sind, auf die die Stimme meines Herzens hinweist. Teure Ursula, wir leben in einer Zeit, wo die Vorurteile, die uns ehemals getrennt haben würden, nicht genug Kraft besitzen, unsere Ehe zu verhindern. Ihnen also alle Empfindungen meines Herzens, und Ihrem Onkel Garantien, die ihm für Ihr Glück bürgen! Er weiß nicht, daß ich Sie in gewissen Augenblicken mehr geliebt habe, als seit fünfzehn Jahren er Sie liebt … Auf heut abend.‹

»Hier, lieber Pate!« sagte Ursula, als sie ihm mit einer stolzen Bewegung diesen Brief hinhielt.

»Ah, liebes Kind«, rief der Doktor, nachdem er den Brief gelesen hatte, »ich bin zufriedener als du. Der Edelmann hat mit diesem Entschluß alle seine Vergehungen wieder gutgemacht.«

Nach dem Diner zeigte sich Savinien bei dem Doktor, der zu dieser Zeit mit Ursula auf der Terrasse beim Fluß promenierte. Der Vicomte hatte aus Paris seine Kleider erhalten, und der Liebhaber hatte nicht versäumt, seine natürlichen Vorzüge durch ein so sorgsames und elegantes Äußeres zu erhöhen, als hätte es sich darum gehandelt, der schönen, stolzen Gräfin von Kergarouet zu gefallen. Als sie ihn von der Treppe her nahen sah, preßte die arme Kleine den Arm ihres Onkels, als wolle sie sich festhalten, um nicht in einen Abgrund zu stürzen, und der Doktor verspürte die tiefen, schweren Herzschläge, die ihr Erbeben verursachten.

»Laß uns allein, liebes Kind«, sagte er zu seinem Mündel, die sich, nachdem sie ihre Hand Savinien überlassen hatte, der einen ehrerbietigen Kuß auf sie drückte, auf die Stufe des chinesischen Gartenhauses niederließ.

»Mein Herr, werden Sie dieses teure Wesen einem Kapitän zur See geben?« fragte der junge Vicomte mit gedämpfter Stimme den Doktor.

»Nein«, lächelte Minoret, »wir könnten nur zu lange warten; aber … einem Leutnant zur See.«

Freudentränen feuchteten die Augen des jungen Mannes, der sehr herzlich die Hand des Greises drückte.

»Ich werde also aufbrechen«, antwortete er, »werde studieren und in sechs Monaten das lernen, was die Schüler der Marineschule in sechs Jahren.«

»Abreisen?« sagte Ursula, indem sie von der Treppe zu ihnen her eilte.

»Ja, mein Fräulein, um Sie zu verdienen. Je mehr ich mich beeifere, um so mehr werde ich meine Neigung bezeugen.«

»Wir haben heute den dritten Oktober«, sagte sie, während sie ihn mit unendlicher Liebe ansah, »fahren Sie nach dem neunzehnten.«

»Ja«, sagte der Greis, »wir werden Saint-Savinien feiern.«

»Lebewohl also«, rief der junge Mann. »Ich muß diese Woche nach Paris gehen, um dort die nötigen Schritte zu tun, meiner Vorbereitungen wegen, Bücher zu kaufen, mathematische Instrumente, mich um die Gunst des Ministers zu bemühen und möglichst gute Bedingungen zu erreichen.«

Ursula und ihr Pate geleiteten Savinien bis zur Gittertür. Nachdem sie ihn hatten zu seiner Mutter zurückkehren sehen, sahen sie ihn in Begleitung Tiennettes, die einen kleinen Koffer trug, fortgehen.

»Warum zwingen Sie ihn, da Sie reich sind, bei der Marine zu dienen?« fragte Ursula ihren Paten.

»Ich glaube, nächstens bin ich es noch, der seine Schulden gemacht hat«, sagte der Doktor lächelnd. »Ich zwinge ihn nicht, aber die Uniform, liebes Herz, und das in einem Gefecht gewonnene Kreuz der Ehrenlegion tilgen manchen Fleck. In vier Jahren kann er es zum Kommandeur eines Schiffes gebracht haben, und das ist alles, was ich von ihm verlange.«

»Aber er kann umkommen«, sagte sie, indem sie dem Doktor ein bleiches Gesicht zeigte.

»Die Liebenden haben, wie die Betrunkenen, einen Gott für sich«, antwortete der Doktor scherzend.

Ohne Wissen ihres Paten schnitt die arme Kleine unter Beihilfe der Bougival während der Nacht einen hinreichenden Teil ihres langen, schönen Haares ab, um eine Kette daraus anfertigen zu lassen; darauf verführte sie am übernächsten Tage ihren Musiklehrer, den alten Schmücke, der ihr versprach, darüber zu wachen, daß die Haare nicht vertauscht würden und daß die Kette am nächsten Sonntag fertig wäre. Nach seiner Rückkehr tat Savinien dem Doktor und seinem Mündel kund, daß er sein Engagement unterzeichnet habe. Er mußte am fünfundzwanzigsten in Brest sein. Nachdem er von dem Doktor zum Diner für den achtzehnten eingeladen war, verbrachte er zwei Tage fast ganz bei diesem; und trotz den verständigsten Ermahnungen konnten die beiden Liebenden sich nicht enthalten, ihr gutes Einvernehmen vor den Augen des Pfarrers, des Friedensrichters, des Arztes von Nemours und der Bougival zu verraten.

»Kinder«, sagte ihnen der Greis, »ihr spielt euer Glück aus und solltet euer Geheimnis vor euch selbst hüten.«

Endlich kam Savinien am Tage des Festes nach der Messe, während welcher sie ein paar Blicke gewechselt hatten, von Ursula belauert, über die Straße herüber und in diesen kleinen Garten, wo sie sich beide fast allein befanden. Aus Nachsicht las der gute Mann seine Zeitung im chinesischen Gartenhaus. »Teure Ursula«, sagte Savinien, »wollen Sie mir ein Fest bereiten, ein viel größeres, als es mir selbst von meiner Mutter werden könnte, wenn sie mich ein zweites Mal zur Welt brächte?«

»Ich weiß, worum Sie mich bitten wollen«, unterbrach ihn Ursula. »Warten Sie, hier ist meine Antwort«, fügte sie hinzu, indem sie aus der Tasche ihrer Schürze die aus ihren Haaren gefertigte Kette hervorzog und sie ihm unter einem nervösen Erbeben darreichte, das der Ausdruck einer unermeßlichen Freude war. »Tragen Sie sie«, sagte sie, »aus Liebe zu mir. Möge mein Geschenk die Macht haben, alle Gefahren von Ihnen abzuwenden, indem es Sie daran erinnert, daß mein Leben dem Ihren verbunden ist.«

›Ah, die kleine Heuchlerin, sie gibt ihm eine Kette aus ihren Haaren‹, sagte sich der Doktor. ›Wie hat sie sich die genommen? In ihre schönen, blonden Flechten hineinzuschneiden! … Aber sie würde ihm ja wohl mein Blut schenken!‹

»Werden Sie es nicht sehr übelnehmen, wenn ich Sie vor meiner Abreise um ein förmliches Versprechen bitte, nie einen anderen Mann zu nehmen als mich?« sagte Savinien, indem er die Kette küßte und Ursula, ohne einer Träne wehren zu können, anblickte.

»Wenn ich Ihnen nicht schon zuviel gesagt habe, ich, die doch kam, um die Mauern von Sainte-Pelagie anzusehen, als Sie drinnen waren«, antwortete sie errötend, »so wiederhole ich es Ihnen, Savinien: ich werde immer nur Sie lieben, werde immer nur Ihnen gehören.«

Da er Ursula halb von dem Schlinggewächs verborgen sah, konnte der junge Mann nicht gegen die Freude an, sie ans Herz zu drücken und sie auf die Stirn zu küssen; aber sie stieß so etwas wie einen schwachen Schrei aus und fiel auf die Bank, und als Savinien sich um sie bemühte und sie um Verzeihung bat, sah er den Doktor vor ihnen stehen.

»Mein Freund«, sagte er, »Ursula ist so außerordentlich empfindsam, daß ein bitteres Wort sie töten würde. Ihr gegenüber müssen Sie den Ausbruch der Liebe mäßigen. Ah, wenn Sie sie sechzehn Jahre geliebt hätten, würden Sie mit einem Wort von ihr zufrieden sein«, fügte er hinzu, um sich für das Wort zu rächen, mit dem Savinien seinen letzten Brief geschlossen hatte.

Zwei Tage später reiste Savinien ab. Trotz den Briefen, die er Ursula regelmäßig schrieb, war sie die Beute einer Krankheit ohne wahrnehmbare Ursache. Wie jenen schönen von einem Wurm angefressenen Früchten nagte ihr ein Gedanke am Herzen. Sie verlor den Appetit und ihre gute Farbe. Als ihr Pate sie zum erstenmal fragte, was ihr wäre, sagte sie:

»Ich möchte gern das Meer sehen.«

»Es hält schwer, dich im Dezember einen Seehafen sehen zu lassen«, antwortete ihr der Greis.

»Werde ich also hinkommen?« fragte sie.

Als sich große Stürme erhoben, erfuhr Ursula davon heftige Gemütsbewegungen, da sie, trotz allen gelehrten Unterscheidungen, die ihr Pate, der Pfarrer, der Friedensrichter zwischen den Meer- und Landstürmen anstellten, glaubte, Savinien befinde sich in der Gewalt solches Orkans. Für einige Tage erfreute der Friedensrichter sie mit einem Stich, der einen Seekadetten in Uniform darstellte. Sie las die Zeitungen und bildete sich ein, daß sie Mitteilungen über die Expedition brächten, zu der Savinien abgereist war. Sie verschlang die Seeromane von Cooper und wollte die Marineausdrücke lernen. Diese Beweise für Gedankenbeharrlichkeit, mit der von anderen Weibern oft gespielt wird, waren bei Ursula so natürlich, daß sie im Traum jeden Brief von Savinien erblickte und nicht verfehlte, ihn am nämlichen Morgen anzukündigen, indem sie den vorausgegangenen Traum erzählte.

»Jetzt«, sagte sie zum Doktor, als sich dieser Umstand zum viertenmal ereignet hatte, ohne daß der Pfarrer und der Arzt davon überrascht gewesen wären, »bin ich beruhigt: wie weit Savinien auch entfernt von mir ist oder wenn er verwundet ist: ich werde es in demselben Augenblick wissen.«

Der alte Arzt blieb in ein tiefes Sinnen versunken. Als der Friedensrichter und der Pfarrer den Ausdruck seines Gesichtes wahrnahmen, hielten sie es für Schmerz.

»Was ist Ihnen?«, fragten sie, als Ursula sie verlassen hatte.

»Wird sie am Leben bleiben?« antwortete der alte Arzt. »Eine so zarte und reizbare Blume, wird sie den Schmerzen des Herzens Widerstand leisten können?«

Dessenungeachtet arbeitete die ›kleine Träumerin‹, wie der Pfarrer sie getauft hatte, mit Eifer; sie begriff die Wichtigkeit einer vornehmen Bildung für eine Frau von Welt, und all die Zeit, die sie nicht dem Gesange widmete, der Harmonie- und Kompositionslehre, brachte sie damit zu, die Bücher zu lesen, die ihr Abbé Chaperon aus der reichhaltigen Bibliothek ihres Paten auswählte. Während sie dieses beschäftigte Leben führte, litt sie, ohne zu klagen. Manchmal verbrachte sie ganze Stunden damit, Saviniens Fenster anzusehen. Sonntags nach der Messe folgte sie Frau von Portenduère und betrachtete sie mit Zärtlichkeit, denn trotz ihrer Härte liebte sie in ihr Saviniens Mutter. Ihre Frömmigkeit verdoppelte sich, jeden Morgen begab sie sich zur Messe, denn sie glaubte fest, daß ihre Träume eine Gnade Gottes wären. Erschreckt durch die infolge dieses Liebesheimwehs hervorgerufenen Aufregungen, versprach der Pate an Ursulas Geburtstag, sie nach Toulon zu führen, um die Abfahrt der Algierexpedition zu sehen, ohne daß Savinien, der sie mitmachte, davon unterrichtet würde. Der Friedensrichter und der Pfarrer beteuerten dem Doktor, über das Ziel der Reise, die Ursulas Gesundheit wegen unternommen zu sein schien und die die Erben Minorets sehr beunruhigte, zu schweigen. Nachdem sie Savinien in Seekadettenuniform wiedergesehen hatte, nachdem sie das schöne Schiff des Admirals bestiegen, dem der Minister den jungen Portenduère empfohlen hatte, begab sich Ursula auf die Bitte ihres Freundes nach Nizza, um die dortige Luft zu atmen, und bereiste die Mittelmeerküste bis Genua, wo sie von der Ankunft der Flotte vor Algier und der glücklichen Landung erfuhr. Der Doktor hatte die Reise durch Italien hindurch fortsetzen wollen, sowohl um Ursula zu zerstreuen, als in gewisser Hinsicht ihre Erziehung zu vollenden, ihren Gedankenkreis durch den Vergleich der Sitten, der Länder zu erweitern und durch die Reize des Erdstriches, wo die Meisterwerke der Kunst leben und wo so viele Kulturen ihre glänzenden Spuren hinterlassen haben: doch die Nachricht von dem seitens des Thrones den Wahlen der berühmten Kammer von 1830 entgegengesetzten Widerstande rief den Doktor nach Frankreich zurück, wohin er sein Mündel in einem Zustand blühender Gesundheit und tief erfreut über ein reizendes kleines Modell, des Schiffes, auf dem Savinien diente, zurückführte.

Die Wahlen von 1830 stärkten den Erben das Rückgrat, die, infolge der Bemühungen von Désiré Minoret und Goupil, in Nemours ein Komitee bildeten, dessen Erfolg in Fontainebleau die Ernennung des liberalen Kandidaten war. Massin übte auf die Landwähler einen gewaltigen Einfluß aus. Fünf Pächter des Posthalters waren Wähler. Dionis repräsentierte mehr als elf Stimmen. Da sie sich bei dem Notar zusammenfanden, gewöhnten sich Crémière, Massin, der Posthalter schließlich daran, sich dort zu sehen. Bei der Rückkehr des Doktors war der Salon von Dionis also das Feldlager der Erben geworden. Der Friedensrichter und der Maire, die sich dann, um den Liberalen von Nemours Widerpart zu halten, verbunden hatten, waren, nachdem sie ungeachtet der Anstrengungen der in der Umgebung gelegenen Schlösser von der Opposition eine Niederlage erlitten hatten, zu einer um so geschlosseneren Einigung gelangt. Als Bongrand und Abbé Chaperon dem Doktor das Ergebnis dieses Widerstreites, der zum erstenmal in Nemours zwei Parteien entstehen ließ und Minorets Erben Wichtigkeit verlieh, berichteten, brach Karl+X. von Rambouillet nach Cherbourg auf. Désiré Minoret, der den Standpunkt der Pariser Advokatenschaft teilte, hatte von Nemours unter dem Kommando Goupils fünfzehn seiner Freunde kommen lassen, denen der Posthalter Pferde gegeben hatte, damit sie schneller nach Paris gelangten. Sie trafen in der Nacht des 28. bei Désiré ein. Mit dieser Schar trugen Goupil und Désiré zur Einnahme des Stadthauses bei. Désiré Minoret wurde Ritter der Ehrenlegion und zum Staatsanwaltsgehilfen von Fontainebleau ernannt. Goupil erhielt das Julikreuz.

Dionis wurde als Ersatz für den ›Herrn‹ Levrault zum Maire von Nemours gewählt, und der Gemeinderat setzte sich zusammen aus Minoret-Levrault, als Beigeordnetem, aus Massin, Crémière und allen Anhängern des Salons Dionis. Bongrand behielt seine Stellung nur durch den Einfluß seines Sohnes, der Königlicher Staatsanwalt von Melun geworden war und dessen Ehe mit Fräulein Levrault damals wahrscheinlich erschien.

Als er die Dreiprozentigen auf fünfundvierzig stehen sah, fuhr der Doktor mit der Post nach Paris und legte fünfhundertvierzigtausend Franken in auf den Überbringer lautenden Staatsscheinen an. Der Rest seines Vermögens, der sich ungefähr auf zweihundertsiebzigtausend Franken belief, trug ihm, nachdem er ihn, auf seinen Namen lautend, in gleicher Weise angelegt hatte, fünfzehntausend Franken Rente. In gleicher Weise legte er das von dem alten Professor Ursula vermachte Kapital an, auch die achttausend Franken, die in neun Jahren als Zinsen zum Kapital hinzugeschlagen waren, so daß sich für sein Mündel, nachdem er zur Abrundung des kleinen Einkommens eine kleine Summe hinzugetan hatte, vierzehnhundert Franken Rente ergaben. Auf den Rat ihres Herrn hin hatte die alte Bougival dreihundertfünfzig Franken Rente, indem sie in gleicher Weise fünftausend und einige Franken Ersparnisse anlegte. Diese klugen zwischen dem Doktor und dein Friedensrichter überlegten Unternehmungen vollzogen sich dank der politischen Unruhen in der tiefsten Verschwiegenheit. Als die Ruhe annähernd wieder hergestellt war, kaufte der Doktor ein kleines, dem seinen benachbartes Haus und ließ es, wie auch seine Hofmauer, niederreißen, um an ihrer Stelle eine Remise und einen Stall zu errichten. Ein Kapital von tausend Franken Rente für ein Nebengebäude anzuwenden, erschien allen Erben Minorets als eine Verrücktheit. Diese sogenannte Verrücktheit war der Beginn eines neuen Abschnittes in des Doktors Leben; in einem Augenblicke, wo Pferde und Wagen fast verschenkt wurden, brachte er von Paris drei prächtige Pferde und eine Kalesche mit.

Als Anfang November 1830 der Greis bei Regenwetter zum erstenmal in der Kalesche zur Messe fuhr und ausstieg, um Ursula die Hand zu reichen, liefen alle Einwohner auf dem Kirchplatz zusammen, sowohl um des Doktors Kutsche zu sehen und seinen Kutscher auszufragen, als sein Mündel zu glossieren, deren maßlosem Ehrgeiz Massin, Crémière, der Posthalter und ihre Frauen die Narrheiten ihres Onkels schuld gaben.

»He, Massin, die Kalesche!« rief Goupil. »Eure Erbschaft fährt gut, wie?«

»Du hast wohl einen schönen Lohn gefordert, Cabirolle?« sagte der Posthalter zu dem Sohn eines seiner Schaffner, der bei den Pferden geblieben war. »Denn es ist doch zu erwarten, daß du bei einem Mann von vierundachtzig Jahren nicht viel Hufeisen verbrauchst. Wieviel haben die Pferde gekostet?«

»Viertausend Franken. – Die Kalesche ist, schon gebraucht, mit zweitausend Franken bezahlt worden; aber sie ist schön, die Räder sind patentiert.«

»Wie sagen Sie, Cabirolle?« fragte Frau Crémière.

»Er erzählt ›bei meiner Tante‹«, antwortete Goupil, »von einer Idee der Engländer, die diese Räder erfunden haben. Warten Sie mal, sehen Sie: man sieht gar nichts mehr, es ist eingekapselt; hübsch, man bleibt nicht hängen, es gibt nicht mehr das häßliche viereckige Eisenende, das über die Achse hinausragt.«

»Was heißt das: ›bei meiner Tante‹?« fragte Frau Crémière in aller Unschuld.

»Wie?« sagte Goupil. »Das reizt Sie also nicht?« Es handelt sich um ein nicht wiederzugebendes Wortspiel. Goupil hatte das ›sont à patente‹ Cabirolles zuerst in ›à ma tante‹ verdreht und jetzt in ›tente‹, dann verdreht er es noch einmal in ›à patte entre‹. (Der Übersetzer)

»Ah, ich verstehe!« sagte sie.

»Also, nein, Sie sind eine ehrbare Frau«, sagte Goupil, »ich will Sie nicht zum besten haben; das wahre Wort ist: geh mit der Pfote 'rein, weil der Bolzen drin ist.«

»Ja, Madame«, sagte Cabirolle, der auf die Darlegung Goupils hineingefallen war, weil der Schreiber sie mit so ernsthafter Miene vorgebracht hatte.

»Auf jeden Fall ist's eine schöne Kutsche«, äußerte Crémière, »und man muß schon reich sein, wenn man so eine kauft.«

»Sie fährt gut, die Kleine«, sagte Goupil. »Aber sie hat recht, sie lehrt Sie, wie man das Leben genießt. Warum haben Sie keine schönen Pferde und keine Kaleschen, Papa Minoret? Sie wollen sich ausstechen lassen? An Ihrer Stelle würde ich für meine Person eine fürstliche Kutsche haben.«

»Sagen Sie, Cabirolle«, fragte Massin, »verleitet die Kleine unseren Onkel zu solchem Luxus?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Cabirolle, »aber sie ist gewissermaßen die Herrin im Hause. Es kommen jetzt von Paris Lehrer über Lehrer. Sie soll jetzt ja wohl die Malerei studieren.«

»Ich werde die Gelegenheit benutzen, mein Porträt abnehmen zu lassen«, sagte Frau Crémière.

In der Provinz sagt man noch ›abnehmen lassen‹ statt ›ein Porträt anfertigen lassen‹.

»Der alte Deutsche ist jedenfalls noch nicht wieder entlassen worden«, sagte Frau Massin.

»Er ist heute hier«, antwortete Cabirolle.

»Je mehr, desto besser«, sagte Frau Crémière, und alles lachte. Wieder ein unübertragbares Wortspiel. Frau Crémière sagt für ›Abondance de biens ne nuit pas‹: ›de chiens‹. (Der Übersetzer)

»Jetzt«, rief Goupil, »dürfen Sie nicht mehr auf die Erbschaft zählen. Ursula ist bald siebzehn Jahre alt, sie ist reizender als je; Reisen bilden die Jugend, und die kleine Schäkerin versteht ihren Onkel zu nehmen. Es kommen die Woche über fünf, sechs Pakete für sie, und die Schneiderinnen und Modistinnen kommen und versuchen an ihr hier ihre Roben und Geschäfte. Warten Sie mal, bis Ursula aus der Messe kommt, und sehen Sie sich ihren kleinen Halsschal an, ein echter Kaschmir für sechshundert Franken.«

Wäre der Blitz mitten in die Gruppe der Erben geschlagen, er hätte keine stärkere Wirkung hervorbringen können als diese letzten Worte Goupils, der sich die Hände rieb. –

Der alte grüne Salon des Doktors war von einem Pariser Tapezierer erneuert worden. Man beurteilte den Greis nach dem Aufwand, den er machte, und klagte ihn an, sein Vermögen verheimlicht zu haben und mehr als sechzigtausend Livres Rente zu besitzen oder auch, um Ursula zu gefallen, seine Kapitalien zu vertun. Man machte aus ihm abwechselnd einen reichen Kauz und einen ausschweifenden Menschen. Das Wort ›Er ist ein alter Verrückter!‹ faßte die Meinung der ganzen Gegend zusammen. Diese falsche Richtung im Urteil der Stadt hatte den Vorteil, daß die Erben getäuscht wurden, die von der Liebe Saviniens zu Ursula, der wahren Ursache von des Doktors Aufwand, nichts ahnten; denn es hatte dem Doktor Freude gemacht, sein Mündel an die Rolle einer Vicomtesse zu gewöhnen und, jetzt im Besitz von mehr als fünfzigtausend Livres Rente, sein Idol zu schmücken.

An dem Tage, da Ursula siebzehn Jahre alt wurde, im Februar 1832, sah sie, als sie sich am Morgen erhob, an seinem Fenster Savinien in Leutnantsuniform.

›Was, und davon hab ich nichts gewußt?‹ sagte sie sich.

Nach der Eroberung von Algier, wo Savinien sich durch den Beweis seines Mutes, der ihm das Kreuz einbrachte, ausgezeichnet hatte, war die Korvette, auf der er diente, mehrere Monate auf dem Meer geblieben, weshalb es ihm unmöglich gewesen war, dem Doktor zu schreiben; außerhalb wollte er den Dienst nicht verlassen, ohne erst mit ihm beratschlagt zu haben. In dem eifrigen Bestreben, der Marine einen berühmten Namen zu erhalten, hatte die neue Regierung aus der Juliverwirrung Vorteil gezogen und Savinien den Leutnantsgrad verliehen. Mit einem vierzehntägigen Urlaub langte der junge Offizier von Toulon mit der Post zum Geburtstag Ursulas an, um bei gleicher Gelegenheit die Ansicht des Doktors zu erfahren.

»Er ist da!« rief das Patenkind, indem es in das Zimmer des Doktors stürzte.

»Sehr gut«, antwortete er. »Ich ahne den Grund, weshalb er den Dienst aufgibt, und er kann jetzt in Nemours bleiben.«

»Ah, das ist ein schönes Geburtstagsgeschenk!« sagte sie und umarmte den Doktor.

Auf ein Zeichen hin, das sie dem Edelmann machte, kam Savinien sofort; sie wollte ihn bewundern, denn er schien sich ihr zu seinem Vorteil verändert zu haben. Tatsächlich prägt der Militärdienst den Bewegungen, dem Gang, der Miene der Männer eine mit Würde gepaarte Entschlossenheit auf und eine gewisse Geradheit, die selbst dem oberflächlichsten Beobachter es möglich macht, einen Militär in Zivilkleidung als einen solchen zu erkennen: nichts zeigt besser, daß der Mann zum Befehlen bestimmt ist. Ursula liebte deshalb Savinien nur noch mehr und hatte eine kindliche Freude darüber, nachdem sie ihm den Arm gegeben, in dem kleinen Garten mit ihm zu promenieren und ihn von dem Anteil erzählen zu lassen, den er ›in seiner Eigenschaft als Kadett‹ an der Einnahme von Algier gehabt. Offenbar, Savinien war es, der Algier eingenommen hatte. Sie sähe, sagte sie, alles rot, als sie die Dekoration Saviniens betrachtete. Der Doktor, der, während er sich ankleidete, von seinem Zimmer aus die beiden überwachte, kam und gesellte sich zu ihnen. Ohne sich dem Vicomte ganz zu eröffnen, sagte er ihm dann, daß für den Fall, daß Frau von Portenduère seiner Verheiratung mit Ursula zustimme, das Vermögen seines Patenkindes den Gehalt der höheren Dienstgrade, zu denen er gelangen könne, überflüssig mache.

»Ach!« sagte Savinien, »es wird viel Zeit brauchen, den Widerstand meiner Mutter zu brechen. Vor meiner Abreise hat sie mich, als sie sich zwischen die Entscheidung gestellt sah, mich bei ihr bleiben zu lassen, wenn sie meiner Verheiratung mit Ursula zustimme, oder mich nur von Zeit zu Zeit wiederzusehen und mich den Gefahren meiner Laufbahn ausgesetzt zu wissen, gehen lassen.«

»Aber, Savinien, wir werden ja zusammen sein«, sagte Ursula, indem sie seine Hand ergriff, die sie mit einer gewissen Ungeduld schüttelte.

Sich zu sehen und nicht mehr zu verlassen war für sie die ganze Liebe; darüber hinaus sah sie weiter nichts; und ihre reizende Geste, das Ungestüm ihrer Sprechweise drückten eine solche Unschuld aus, daß der Doktor und Savinien davon gerührt waren. Das Abschiedsgesuch wurde eingereicht, und Ursulas Geburtstag erhielt durch die Gegenwart ihres Verlobten den schönsten Glanz. Einige Monate später, gegen den Mai hin, gewann das häusliche Leben bei Doktor Minoret seinen einstigen ruhigen Verlauf wieder, doch mit einem Hausgast mehr. Die häufigen Besuche des jungen Vicomte erfuhren um so eiliger ihre Auslegung dahin, daß er der Zukünftige sei, als, sei es gelegentlich der Messe, sei es auf Spaziergängen, sein und Ursulas Benehmen, obgleich mit Zurückhaltung, den Bund ihrer Herzen verriet. Dionis machte die Erben darauf aufmerksam, daß der gute Doktor von Frau von Portenduère nicht mehr seine Zinsen verlange und daß die alte Dame schon seit drei Jahren seine Schuldnerin wäre.

»Sie wird sich gezwungen sehen nachzugeben, der Mißheirat ihres Sohnes zuzustimmen«, sagte der Notar. »Wenn das Unglück geschieht, so ist es wahrscheinlich, daß ein großer Teil des Vermögens Ihres Onkels, mit Basil gesprochen, ein unwiderstehlicher Lockvogel sein wird.«

Die Erben, die ahnten, daß ihr Onkel Ursula ihnen viel zu sehr vorziehe, als daß er ihr Glück nicht auf ihre Kosten sicherte, wurden jetzt von einer ebenso versessenen wie tiefen Unruhe erfaßt. Wie sie seit der Julirevolution jeden Abend sich bei Dionis trafen, verwünschten sie hier die beiden Liebenden, und es verging kein Abend, wo sie nicht, freilich vergeblich, nach den Mitteln gesucht hätten, dem Greis entgegenzuarbeiten. Zélie, die offenbar gleich dem Doktor aus dem Tiefstand der Renten Nutzen gezogen und ihre mächtigen Kapitalien vorteilhaft untergebracht hatte, war die Erbittertste, sowohl gegen die Waise wie gegen die Portenduères. Eines Abends, als Goupil, der sich jedoch hütete, sich mit diesen Abenden herumzulangweilen, sich eingestellt hatte, um sich über die Angelegenheiten der Stadt, die hier erörtert wurden, auf dem laufenden zu halten, hatte Zélie wieder einmal einen besonders heftigen Ausbruch ihres Hasses: sie hatte am Vormittag den Doktor, Ursula und Savinien in der Kalesche von einem Ausflug in die Umgebung zurückkehren sehen, und zwar in einer Vertrautheit, die alles sagte.

»Dreißigtausend Franken geb ich, wenn Gott unseren Onkel zu sich riefe, bevor die Heirat dieses Portenduère mit der Zierpuppe zustande kommt!« rief sie.

Goupil begleitete dann Herrn und Frau Minoret bis mitten auf ihren großen Hof und sagte zu ihnen, nachdem er sich umgesehen und vergewissert hatte, daß sie allein waren:

»Wollen Sie mir die Mittel zur Verfügung stellen, daß ich Dionis' Notariat kaufen und die Ehe des Herrn von Portenduère mit Ursula vereiteln kann?«

»Wie denn?« fragte der Koloß.

»Halten Sie mich für so dumm, daß ich Ihnen meinen Plan verraten sollte?« entgegnete der Erste Schreiber.

»Nun gut, mein Junge, bringe sie auseinander, und wir werden sehen«, sagte Zélie.

»Ich lasse mich mit solchen Gewerben nicht auf ein ›Wir werden sehen‹ hin ein! Der junge Mann ist ein Hitzkopf und könnte mich umbringen; ich muß scharf beschlagen und muß ihm auf Degen und Pistole gewachsen sein. Verschaffen Sie mir das Notariat, und ich halte Ihnen Wort.«

»Verhindere diese Heirat, und ich verschaffe es dir«, antwortete der Posthalter.

»Seit neun Monaten haben Sie die Absicht, mir elende fünfzehntausend Franken zu leihen, daß ich die Stelle Lecœurs, des Gerichtsvollziehers, kaufen kann, und Sie verlangen, daß ich Ihnen auf dies Wort hin glauben soll? Gehen Sie, Sie kommen um die Erbschaft Ihres Onkels; und von Rechts wegen.«

»Wenn sich's bloß um die fünfzehntausend Franken und die Stelle Lecœurs handelte, wollte ich nichts sagen«, entgegnete Zélie, »aber Ihnen für fünfzigtausend Taler gutsagen …!«

»Aber ich werde zahlen«, sagte Goupil, indem er Zélie einen verführerischen Blick zuwarf, der sich mit dem herrischen der Posthalterin traf. Das war wie Gift gegen Dolch.

»Wir wollen abwarten«, sagte Zélie.

›Wenn man nur das Genie zum Bösen hat!‹ dachte Goupil. ›Habe ich sie erst‹, sagte er sich, als er ging, ›so werd ich sie ausquetschen wie Zitronen.‹ –

In dem Umgang, den er mit dem Doktor, dem Friedensrichter und dem Pfarrer pflegte, bewies ihnen Savinien seinen vortrefflichen Charakter. Die so von jedem anderen Interesse freie, so beständige Liebe des jungen Mannes zu Ursula interessierte die drei Freunde so lebhaft, daß sie in ihren Gedanken diese beiden Kinder nicht mehr trennten. Bald gab die Eintönigkeit dieses patriarchalischen Lebens und die Sicherheit, die die beiden Liebenden hinsichtlich ihrer Zukunft hatten, ihrer Neigung das Ansehen der Geschwisterlichkeit. Oft ließ der Doktor Ursula und Savinien allein. Er hatte den entzückenden jungen Mann richtig beurteilt, der, wenn er kam, Ursula die Hand küßte, was er, wenn er mit ihr allein war, nie getan haben würde; so war er von Achtung durchdrungen gegenüber der Unschuld und Treuherzigkeit dieses Kindes, dessen oft erfahrene außerordentliche Empfindsamkeit ihm gezeigt hatte, daß ein rauher Ausdruck, eine kalte Miene oder der Wechsel von Freundlichkeit und Rauheit sie töten könnte. Die größeren Freiheiten der beiden Liebenden ereigneten sich abends in der Gegenwart der Greise. Zwei an stillen Freuden reiche Jahre gingen so hin, ohne ein anderes Ereignis als die vergeblichen Versuche des jungen Mannes, die Einwilligung seiner Mutter zu seiner Ehe mit Ursula zu erlangen. Er sprach manchmal ganze Vormittage, seine Mutter hörte seine Gründe und Bitten an, ohne mit etwas anderem zu antworten als dem Stillschweigen der Bretonin oder mit einer Ablehnung. Mit neunzehn Jahren hatte die schmucke Ursula, die eine ausgezeichnete Musikerin und gut erzogen war, nichts mehr hinzuzulernen: sie war vollkommen. So gewann ihre Schönheit, ihre Anmut und Bildung einen Ruf, der weit verbreitet war. Eines Tages hatte der Doktor die Marquise d'Aiglemont abzuweisen, die Ursula für ihren älteren Sohn im Auge hatte. Sechs Monate später wurde Savinien, trotz des tiefen Schweigens, das Ursula, der Doktor und Frau d'Aiglemont bewahrten, zufällig von diesem Umstand unterrichtet. Von so viel Feingefühl gerührt, benutzte er dies Verhalten, die Hartnäckigkeit seiner Mutter zu besiegen, die ihm antwortete:

»Wenn die d'Aiglemonts eine Mißheirat eingehen wollen, ist das auch für uns ein Grund?«

Im Dezember 1834 ging es mit dem frommen, guten Greis ersichtlich zurück. Als man ihn mit gelbem, verfallenem Gesicht, matten Augen aus der Kirche kommen sah, sprach die ganze Stadt von dem nahen Tode des alten Mannes; er war damals achtundachtzig Jahre alt.

»Sie werden sehen, wie es steht«, sagte man zu den Erben.

Tatsächlich hatte das Hinscheiden des Greises das Anziehende eines Problems. Doch der Doktor fühlte sich nicht krank, er hatte Illusionen, und weder die arme Ursula noch Savinien, noch der Friedensrichter, noch der Pfarrer wollten ihn, aus Zartgefühl, über seine Lage aufklären; der Arzt von Nemours, der ihn jeden Abend besuchte, wagte nicht, ihm etwas zu verordnen. Der alte Minoret fühlte keinerlei Schmerz, es war ein sanftes Erlöschen. Der Verstand blieb dabei sicher, genau und sehr stark. Bei so gearteten Greisen herrscht die Seele über den Körper und gibt ihm die Kraft, aufrecht zu sterben. Um seine letzte Stunde nicht zu beschleunigen, enthob der Pfarrer sein Beichtkind davon, sonntags in der Kirche die Messe zu hören, und gestattete ihm, die Gebete zu Hause zu lesen; denn der Doktor erfüllte seine religiösen Pflichten aufs genaueste: je mehr er sich dem Grabe näherte, um so größer war seine Liebe zu Gott. Die ewigen Klarheiten lichteten ihm mehr und mehr alle Schwierigkeiten.

Zu Beginn des neuen Jahres erreichte Ursula von ihm, daß er die Pferde, die Kutsche verkaufte und daß er Cabirolle entließ. Der Friedensrichter, dessen Besorgnisse bezüglich Ursulas Zukunft durch die halben vertraulichen Mitteilungen des Greises nicht entfernt beruhigt waren, schnitt die delikate Frage der Erbschaft an und legte seinem alten Freunde eines Abends die Notwendigkeit nahe, Ursula mündig zu machen. Das Mündel würde dann in der Lage sein, eine vormundschaftliche Abrechnung entgegenzunehmen und einen Besitz anzutreten, was ihre Ausstattung ermöglichen würde. Trotz dieser Einleitung teilte der Greis, der den Friedensrichter indessen schon um Rat befragt hatte, diesem nichts von seinen geheimen Verfügungen hinsichtlich Ursulas mit; doch war er mit ihrer Mündigsprechung einverstanden. Je mehr der Friedensrichter sich darauf legte, die von seinem alten Freunde gewählten Mittel und Wege, Ursula ein Vermögen zu geben, in Erfahrung zu bringen, um so mißtrauischer wurde der Doktor. Schließlich scheute Minoret tatsächlich, sich dem Friedensrichter wegen seiner auf den Überbringer lautenden Rente von sechsunddreißigtausend Franken anzuvertrauen.

»Warum«, sagte ihm Bongrand, »wollen Sie sich dem Zufall aussetzen?«

»Zwischen zwei Zufällen«, entgegnete der Doktor, »vermeidet man den gewagtesten.«

Bongrand erledigte die Angelegenheit der Mündigsprechung hinreichend glatt, daß sie an dem Tage, wo Fräulein Mirouet die Zwanzig vollendet hatte, abgeschlossen war. Diese Geburtstagsfeier sollte das letzte Fest des alten Doktors sein, der, offenbar in einer Vorahnung seines bevorstehenden Endes, den Tag mit großem Aufwand feierte, indem er einen kleinen Ball gab, zu dem er die jungen Leute der vier Familien Dionis, Crémière, Minoret und Massin einlud. Savinien, Bongrand, der Pfarrer, dessen beide Vikare, der Arzt von Nemours und die Damen Zélie Minoret, Massin und Crémière, auch Schmücke waren die Gäste zum großen Diner, das dem Ball voraufging.

»Ich fühle, daß es mit mir zu Ende geht«, sagte der Greis am Abend zu dem Notar. »Ich bitte Sie daher, morgen zu kommen, um die Vormundschaftsrechnung abzufassen, die ich Ursula erstatten will, damit sich meine Erbschaft nicht verwickelt. Gott sei Dank, ich habe meinen Erben nicht um einen Heller unrecht getan und habe nur über meine Einkünfte verfügt. Die Herren Crémière, Massin und Minoret, mein Neffe, sind Mitglieder des von Ursula angeordneten Familienrates; sie werden der Abfassung des Rechenschaftsberichtes beiwohnen.«

Diese Worte, die von Massin gehört und auf dem Ball weitergegeben wurden, verbreiteten Freude unter den drei Familien, die seit vier Jahren in beständiger Ungewißheit lebten, sich bald für reich, bald für enterbt hielten.

»Eine ›Zunge‹, die abstirbt«, äußerte Crémière.

Als gegen zwei Uhr morgens sich nur noch Savinien, Bongrand und Pfarrer Chaperon im Salon befanden, sagte der alte Doktor, indem er ihnen die in ihrem Ballkleid entzückende Ursula zeigte, die sich soeben von den beiden jungen Damen Crémière und Massin verabschiedet hatte:

»Ihnen, meine Freunde, vertraue ich sie an! In wenigen Tagen bin ich nicht mehr da, um sie zu schützen: stellt euch alle zwischen sie und die Welt, bis sie sich verheiratet hat … Ich sorge mich um sie.«

Diese Worte machten einen peinlichen Eindruck. Der Rechenschaftsbericht, der einige Tage später im Familienrat erstattet wurde, stellte den Doktor Minoret als rückständigen Schuldner von zehntausendsechshundert Franken fest, teils bezüglich der Rückstände der Eintragung von vierzehnhundert Franken Rente, deren Erwerbung sich durch die Anlegung von Kapitän von Jordys Legat erklärte, als auch bezüglich eines kleinen Kapitals von fünftausend Franken, die aus Geschenken herrührten, welche der Doktor seinem Mündel seit fünfzehn Jahren gemacht hatte, bei festlichen Gelegenheiten und zu ihren Geburtstagen.

Diese authentische Rechnungsübergabe war vom Friedensrichter empfohlen worden, der die Folgen vom Tod des Doktors fürchtete und unglücklicherweise damit recht hatte. Am Tage nach der Rechenschaftserstattung, die Ursula in den Besitz von zehntausendsechshundert Franken und vierzehnhundert Franken Rente setzte, wurde der Greis von einem Schwächezustand befallen, der ihn zwang, das Bett zu hüten. Trotz der Verschwiegenheit, in die sich das Haus des Doktors hüllte, verbreitete sich in der Stadt das Gerücht von seinem Ableben, und die Erben liefen über die Straße wie die Kugeln eines Rosenkranzes, dessen Schnur gerissen ist. Massin, der sich erkundigen kam, erfuhr von Ursula selbst, daß der alte Mann zu Bett läge. Unglücklicherweise hatte der Arzt von Nemours erklärt, daß der Augenblick, wo Minoret bettlägerig würde, den Anfang von seinem Ende bedeute. Seitdem kamen die Erben ungeachtet der herrschenden Kälte nicht von der Straße weg und waren auf dem Kirchplatz oder vor den Haustüren damit beschäftigt, über das so lange erwartete Ereignis zu reden und den Augenblick abzupassen, wo der Pfarrer dem alten Doktor unter den besonderen Veranstaltungen, wie sie in den Provinzstädten üblich sind, die Sakramente bringen würde. So schlossen sich denn auch, als zwei Tage danach Abbé Chaperon in Begleitung seines Vikars und der Chorknaben unter Vortritt des Sakristans, der das Kreuz trug, die Grand' Rue überschritt, die Erben ihm an, um das Haus zu besetzen, jede Unterschlagung zu verhindern und ihre gierigen Hände auf die gemutmaßten Schätze zu legen. Als der Doktor zwischen der Geistlichkeit hindurch wahrnahm, wie die Erben, weit davon entfernt, zu beten, auf den Knien lagen und ihn mit Blicken beobachteten, die dem Schimmer der Kerzen an Lebhaftigkeit nichts nachgaben, konnte er ein boshaftes Lächeln nicht unterdrücken. Der Pfarrer wandte sich um, sah sie und sprach dann seine Gebete sehr langsam. Der Posthalter gab seine unbequeme Haltung als erster auf, seine Frau folgte; Massin fürchtete, daß Zélie und ihr Mann die Hand an irgendeine Kleinigkeit legen könnten, und ging ihnen in den Salon nach, und bald waren alle Erben dort beieinander.

»Er ist ein zu ehrenwerter Mann, als daß er die Letzte Ölung betröge«, äußerte Crémière, »also können wir wohl beruhigt sein.«

»Ja, wir werden jeder ungefähr zwanzigtausend Franken Rente haben«, antwortete Frau Massin.

»Ich denke mir«, sagte Zélie, »daß er seit drei Jahren nichts mehr angelegt hat; er liebte es, Schätze anzuhäufen.«

»Der Schatz ist sicher im Keller?« wandte Massin sich an Crémière.

»Ja, aber wie finden wir ihn?« sagte Minoret-Levrault.

»Aber nach dem, was er auf dem Ball erzählt hat«, rief Frau Massin, »gibt's ja gar keinen Zweifel mehr.«

»Jedenfalls«, sagte Crémière, »wie machen wir's? Teilen wir? Versteigern wir? Oder losen wir aus? Denn schließlich kommen wir alle in Betracht.«

Es erhob sich eine Erörterung, die sich schnell erbitterte und immer lauter wurde. Nach einer halben Stunde hallte ein wirrer Stimmenlärm, aus dem sich das grelle Organ Zélies hervorhob, auf den Hof und bis auf die Straße hinaus.

»Er muß gestorben sein«, sagten die auf der Straße versammelten Neugierigen.

Das Gelärm drang bis zu den Ohren des Doktors, der folgende von Crémière ausgerufenen oder vielmehr gebrüllten Worte vernahm:

»Aber das Haus, das Haus hat einen Wert von dreißigtausend Franken! Ich nehme es, ich, für dreißigtausend Franken!«

»Nun gut, wir werden so viel bezahlen, wie es wert ist«, entgegnete Zélie scharf.

»Herr Pfarrer«, sagte der Greis zu Abbé Chaperon, der, nachdem er ihn mit den Sakramenten versehen, noch bei seinem Freunde weilte, »sorgen Sie, daß ich in Frieden sterbe. Meine Erben sind, wie die des Kardinals Ximenes, imstande, mein Haus vor meinem Tode zu plündern, und ich kann mich nicht wieder in Gang bringen. Gehen Sie und bedeuten Sie sie, daß ich niemand im Hause haben will.«

Der Pfarrer und der Arzt gingen hinab, wiederholten den Befehl des Sterbenden, und in einer Anwandlung von Ungehaltenheit fügten sie heftig tadelnde Worte hinzu.

»Frau Bougival«, sagte der Arzt, »schließen Sie die Gittertür und lassen Sie niemanden herein; es scheint, daß man nicht einmal in Ruhe sterben kann. Bereiten Sie einen Umschlag von Senfteig, damit wir den Füßen des Herrn ein Senfpflaster auflegen.«

»Ihr Onkel ist nicht tot, er kann noch lange leben«, sagte Abbé Chaperon, indem er die Erben verabschiedete, die mit ihren Kindern gekommen waren. »Er braucht die tiefste Ruhe und will nur sein Mündel bei sich haben. Was für ein Unterschied zwischen dem Betragen dieses jungen Mädchens und dem Ihren!«

»Alter Heuchler!« sagte Crémière. »Ich werde Wache stehen. Möglichenfalls wird etwas gegen unsere Interessen angezettelt.«

Der Posthalter war schon in den Garten hinein verschwunden; er hatte die Absicht, gemeinschaftlich mit Ursula bei seinem Onkel zu wachen und im Hause als Aushilfe Zutritt zu bekommen. Wie ein Wolf, ohne daß seine Schuhe das geringste Geräusch machten, denn der Korridor und die Treppe waren mit Teppichen bedeckt, kam er zurück. Ohne gehört zu werden, gelangte er bis zur Kammertür seines Onkels. Der Pfarrer, der Arzt waren gegangen, die Bougival bereitete das Senfpflaster.

»Sind wir ganz allein?« sagte der Greis zu seinem Mündel. Ursula erhob sich auf den Zehen, um auf den Hof hinabzusehen.

»Ja«, sagte sie. »Der Herr Pfarrer hat die Gittertür selber hinter sich zugemacht, als er ging.«

»Mein geliebtes Kind«, sagte der Sterbende, »meine Stunden, selbst meine Minuten sind gezählt. Ich bin nicht umsonst Arzt gewesen: das Senfpflaster des Doktors besagt, daß ich nicht mehr bis zum Abend lebe. Weine nicht, Ursula«, sagte er, als er sich von dem Weinen seines Patenkindes unterbrochen sah, »sondern merke gut auf: Es handelt sich darum, daß du Savinien heiratest. Sobald die Bougival mit dem Senfpflaster dasein wird, steige zum chinesischen Gartenhaus hinab, hier ist der Schlüssel; hebe den Marmor des Rokokobüfetts, darunter wirst du einen versiegelten Brief mit deiner Adresse finden: nimm ihn, komm zurück und zeig ihn mir, denn ich sterbe nicht ruhig, eh ich ihn nicht in deinen Händen sehe. Wenn ich tot bin, sagst du's nicht gleich, sondern läßt Herrn von Portenduère kommen, ihr lest zusammen den Brief; und nun schwöre mir in deinem und in seinem Namen, meinen Letzten Willen auszuführen. Wenn er meinem Willen nachgekommen sein wird, verkündet ihr meinen Tod, und die Komödie der Erben kann beginnen. Gebe Gott, daß diese Scheusale dir nichts Übles antun.«

»Ja, lieber Pate.«

Den Rest hörte der Posthalter nicht mehr. Auf den Zehen eilte er davon, denn er erinnerte sich, daß sich das Schloß des Kabinetts nach der Bibliothek zu befand. Er war dabeigewesen, als seinerzeit zwischen dem Baumeister und dem Schlosser gestritten worden war; der letztere hatte behauptet, daß, wenn man in das Haus durch das nach dem Fluß zu gelegene Fenster eindringe, man das Schloß aus Vorsicht von der Seite der Bibliothek her anbringen müsse, da das Kabinett eins der Lustzimmer für den Sommer sein solle. Blind vor Gier, mit sausenden Ohren schraubte Minoret vermittels eines Messers mit der Eilfertigkeit eines Diebes das Schloß los. Er drang in das Kabinett ein, entnahm das Paket, ohne sich damit aufzuhalten, die Siegel zu erbrechen, brachte das Schloß wieder an, setzte alles wieder instand, eilte zurück und setzte sich ins Speisezimmer, um abzuwarten, bis die Bougival mit dem Senfpflaster hinaufgegangen wäre, damit er dann das Haus verlassen könne. Er bewerkstelligte seine Flucht um so bequemer, als die arme Ursula es für notwendiger hielt, zuzusehen, wie das Pflaster angebracht wurde, als den dringlichen Aufforderungen ihres Paten zu gehorchen.

»Der Brief! der Brief!« rief mit hinsterbender Stimme der Greis. »Gehorche mir, hier ist der Schlüssel. Ich will dich mit dem Brief in der Hand sehen.«

Diese Worte wurden mit einem so verzweifelten Blick ausgestoßen, daß die Bougival zu Ursula sagte:

»Aber tun Sie doch, was Ihr Pate will; Sie können ja seinen Tod verursachen.«

Sie küßte ihn auf die Stirn, nahm den Schlüssel und stieg hinab; doch gleich, von dem durchdringenden Schrei der Bougival herbeigerufen, lief sie zurück. Der Greis umfaßte sie mit einem Blick, sah ihre Hände leer, wandte sich in seiner sitzenden Lage herum, wollte sprechen und verschied unter einem furchtbaren letzten Seufzer, mit vor Schreck wilden Augen. Die arme Kleine, die den Tod zum ersten Mal sah, sank auf die Knie und brach in Tränen aus. Die Bougival selbst schloß die Augen des Greises und legte ihn auf sein Bett zurück. Als sie, wie sie es ausdrückte, den Toten bereitet hatte, eilte die alte Amme, um Herrn Savinien zu benachrichtigen; allein die Erben, die sich, von Neugierigen umgeben, am Ausgang der Straße hielten, eilten mit der Geschwindigkeit von Raubvögeln herbei, ganz wie Raben, die abwarten, bis ein Pferd eingescharrt ist, um dann die Erde aufzukratzen und sich mit Kralle und Schnabel zugleich einzuwühlen.

Während das alles geschah, war der Posthalter nach Hause gelaufen, um zu erfahren, was das geheimnisvolle Paket enthielt. Hier ist, was er fand:

›Meiner teuren Ursula Mirouet,
Tochter meines natürlichen Schwagers Joseph Mirouet
und der Dinah Grollmann.

Nemours, 15. Januar 1830

Mein kleiner Engel, meine natürliche Zuneigung, die Du so gut gerechtfertigt hast, hat zum Grund gehabt, nicht allein den Eid, den ich Deinem armen Vater geleistet habe, zu erfüllen, sondern auch Deine Ähnlichkeit mit Ursula Mirouet, meiner Frau, an deren Anmut Du mich beständig erinnert hast, wie an ihren Geist, ihre Treuherzigkeit und ihr anziehendes Wesen. Deine Eigenschaft als Tochter des natürlichen Sohnes meines Schwiegervaters könnte zu Deinen Gunsten gemachte testamentarische Verfügungen der Beanstandung unterwerfen …‹

»Der alte Lump!« rief der Posthalter.

›Deine Adoption wäre der Gegenstand eines Prozesses geworden. Und endlich habe ich auch immer den Gedanken, Dich zu heiraten, um Dir mein Vermögen zuzuwenden, zurückgewiesen; denn ich hätte lange leben und Dein zukünftiges Glück stören können, das nur durch Frau von Portenduère hinausgeschoben wird. Diese reiflich erwogenen Schwierigkeiten und der Umstand, daß ich Dir das für eine gute Erziehung notwendige Vermögen hinterlassen wollte …‹

»Der Schurke, er hat an alles gedacht!«

›... ohne in irgend etwas meinen Erben zu schaden …‹

»Der Jesuit! Als ob uns nicht sein ganzes Vermögen zukäme!«

›... so habe ich für Dich die Frucht der Ersparnisse bestimmt, die ich achtzehn Jahre hindurch gemacht habe und die ich durch die Fürsorge meines Notars, in der Absicht, Dich so glücklich zu machen, als man es durch den Reichtum werden kann, beständig habe Zins tragen lassen. Ohne Geld würden Deine Erziehung und Dein feines Gedankenleben Dein Unglück sein. Übrigens mußt Du für den reizenden jungen Mann, der Dich liebt, eine gute Mitgift haben. Du wirst also in der Mitte des dritten Bandes der ›Pandekten‹, Folio, in rotes Maroquin gebunden, der der letzte Band der ersten Reihe ist, über dem Bücherschrank, im letzten Stand, drei Rentenpapiere zu drei vom Hundert finden, jeden zu zwölftausend Franken …‹

»Welcher Abgrund von Niedertracht!« rief der Posthalter. »Ah, Gott läßt nicht zu, daß ich so betrogen werde!«

›Nimm sie sofort, und ebenso das wenige von im Augenblick meines Todes ersparten Rückständen, das Du im nächsten Band finden wirst. Bedenke, mein angebetetes Kind, daß Du blindlings einem Gedanken gehorchen mußt, der das Glück eines ganzen Lebens ausgemacht hat und der mich nötigen würde, die Hilfe Gottes anzurufen, wenn Du mir nicht gehorchtest. Doch da ich ein Bedenken Deines teuren Gewissens voraussehe, von dem ich weiß, daß es sich nur zu sehr zu quälen versteht, wirst Du hier beigefügt ein Testament in aller Form über diese Papiere zugunsten des Herrn Savinien von Portenduère finden. Also sei es, daß Du sie selbst in Besitz nimmst, sei es, daß sie Dir von dem kommen, den Du liebst: sie werden Dein rechtmäßiges Eigentum sein.

Dein Pate Denis Minoret‹

Diesem Brief war auf einem mit einer Stempelmarke versehenen Papier folgendes beigefügt:

›Dies ist mein Testament.

Ich, Denis Minoret, Doktor der Medizin, wohnhaft in Nemours, gesund an Geist und Körper, so wie es durch das Datum dieses Testamentes bewiesen wird, empfehle meine Seele Gott, den ich bitte, mir meinen langen Irrtum zugunsten meiner aufrichtigen Reue zu verzeihen. Sodann vermache ich, da ich in Herrn Savinien von Portenduère eine wahre Zuneigung zu mir erkannt habe, ihm sechsunddreißigtausend Franken beständiger Rente zu drei vom Hundert, die er, vor allen meinen Erben hierin bevorzugt, aus meiner Hinterlassenschaft erhalten soll.

Ausgefertigt und geschrieben durchaus mit eigener Hand zu Nemours am 11. Januar 1831.

Denis Minoret‹

Ohne Zaudern suchte der Posthalter, der, um ganz ungestört zu sein, sich in die Kammer seiner Frau eingeschlossen hatte, dort die Zündholzschachtel, erhielt aber zwei Hinweise des Himmels, insofern zwei Zündhölzchen hintereinander nicht brennen wollten. Das dritte fing Feuer. Er verbrannte im Kamin sowohl den Brief wie das Testament. Mit einem Zuviel von Vorsicht verbarg er die Reste des Papieres und des Wachses in der Asche. Dann gelangte er, verlockt von dem Gedanken, die sechsunddreißigtausend Franken ohne Wissen seiner Frau zu besitzen, in vollem Lauf bei seinem Onkel an, gestachelt von der einzigen einfachen Idee, die sein dumpfer Kopf fassen konnte. Als er das Haus seines Onkels von den drei Familien, die endlich Herr des Platzes waren, wimmeln sah, bangte ihn, er könne einen Plan, über den nachzudenken er sich nicht Zeit ließ, da er an nichts als an Hindernisse dachte, nicht verwirklichen.

»Was macht ihr denn hier?« wandte er sich an Massin und Crémière. »Glaubt ihr, daß wir das Haus und seine Werte der Plünderung überlassen? Wir sind die Erben, wir können uns hier nicht festsetzen! – Sie, Crémière, laufen also zu Dionis und sagen ihm, daß er kommen und den Tod feststellen soll. Ich kann, obwohl Beisitzender, den Tod meines Onkels nicht bescheinigen. – Sie, Massin, gehen und bitten Vater Bongrand, die Siegel anzulegen. – Und Sie leisten Ursula Gesellschaft, meine Damen«, sagte er zu seiner Frau, zu Frau Massin und Frau Crémière. »So wird nichts abhanden kommen. Schließt besonders die Gittertür, daß sich niemand entfernt.«

Die Frauen, die das Zutreffende dieser Anordnung einsahen, eilten in Ursulas Zimmer und fanden dieses edle, so fürchterlich beargwöhnte Geschöpf, das Gesicht tränenüberströmt, auf den Knien im Gebet zu Gott. Minoret, der ahnte, daß die drei Erbinnen nicht lange bei Ursula bleiben würden, begab sich in die Bibliothek, erblickte dort den Band, öffnete ihn, nahm die drei Papiere und fand in dem andern dreißig Banknoten. Trotz seinem rohen Wesen glaubte der Koloß in jedem Ohr eine Turmglocke läuten zu hören, so toste ihm unter dem Diebstahl das Blut. Trotz der strengen Jahreszeit war sein Hemd von Schweiß durchnäßt; und endlich schlotterten ihm die Knie derart, daß er im Salon über einen Sessel fiel, als ob er einen Keulenschlag über den Kopf erhalten hätte.

»Ah, wie eine Erbschaft dem großen Minoret die Zunge löst!« hatte Massin gesagt, als er durch die Stadt lief. »Haben Sie's gehört?« wandte er sich an Crémière. »›Gehen Sie dahin! Gehen Sie dorthin!‹ Wie er das Manöver versteht!«

»Ja, für so ein dickes Vieh hat er seine Haltung …«

»Halt!« rief Massin aufgeregt. »Seine Frau ist da, sie sind zu zweien zuviel! Besorgen Sie die Aufträge, ich kehre sogleich um.«

In dem Augenblicke, wo der Posthalter sich setzte, nahm er also an der Gittertür das hochrote Gesicht des Aktuars wahr, der mit der Geschwindigkeit eines Spürhundes zum Sterbehaus zurückkehrte.

»Nun, was gibt's?« fragte der Posthalter, indem er das Fenster öffnete, seinen Miterben.

»Nichts. Ich komme zurück wegen der Siegel«, antwortete Massin, indem er ihn ansah wie eine wilde Katze.

»Ich möchte, sie wären schon angelegt und wir könnten alle nach Hause gehen«, antwortete Minoret.

»Meiner Treu, wir setzen einen Siegelwächter her. Die Bougival ist im Interesse des Zieraffen zu allem fähig. Wir setzen Goupil hierher.«

»Den?« sagte der Posthalter. »Er fängt den Frosch, und wir haben 's Nachsehen.«

»Wart mal!« antwortete Massin. »Heut abend findet die Totenwache statt, und die Siegel werden in einer Stunde angelegt; also bewachen sie unsere Frauen. Morgen mittag haben wir das Begräbnis. Die Aufnahme des Inventars kann erst in acht Tagen stattfinden.«

»Aber«, sagte der Koloß mit einem Lächeln, »bringen wir doch diesen Zieraffen in Trab, und dann können wir den Tambour der Mairie die Wache über die Siegel und das Haus übernehmen lassen.«

»Gut!« rief der Aktuar. »Übernehmen Sie diese Angelegenheit, Sie sind das Oberhaupt der Minorets.«

»Meine Damen, meine Damen«, sagte Minoret, »bleiben Sie, bitte, alle im Salon; es handelt sich jetzt nicht darum, zum Essen zu gehen, sondern zur Wahrung unserer Interessen sollen die Siegel angebracht werden.«

Dann nahm er seine Frau beiseite und teilte ihr den Einfall Massins bezüglich Ursulas mit. Sogleich griffen die Frauen, die voller Rachsucht waren und an der Zierpuppe endlich Vergeltung üben wollten, den Plan, sie davonzujagen, mit Begeisterung auf.

Bongrand erschien und war empört über den Vorschlag, den Zélie und Frau Massin ihm machten, in seiner Eigenschaft als Freund des Verstorbenen Ursula zu ersuchen, das Haus zu verlassen.

»Gehen Sie selber und vertreiben Sie sie von ihrem Vater, ihrem Paten, ihrem Onkel, ihrem Wohltäter, ihrem Vormund! Gehen Sie selber, die Sie diese Erbschaft nur seiner großmütigen Gesinnung verdanken, packen Sie sie an den Schultern und werfen Sie sie vor aller Stadt auf die Straße! Sie halten sie für imstande, Sie zu bestehlen? Gut, setzen Sie jemand hierher, der die Siegel überwacht, Sie sind in Ihrem Recht. Wissen Sie aber zunächst, daß ich an ihr Zimmer kein Siegel anlegen werde; sie ist dort zu Hause, alles, was sich dort befindet, ist ihr Eigentum; ich werde sie über ihre Rechte aufklären und ihr sagen, daß sie alles, was ihr gehört, zusammentun soll … Oh, in Ihrer Gegenwart«, fügte er hinzu, als er das Murren der Erben vernahm.

»He!« sagte der Steuereinnehmer zu dem Posthalter und den Frauen, die von Bongrands empörter Ansprache starr waren.

»Das ist einer vom Magistrat!« rief der Posthalter.

Halb ohnmächtig, den Kopf nach hinten gebogen, mit gelösten Flechten, auf einem kleinen Kanapee sitzend, ließ Ursula von Zeit zu Zeit ein Schluchzen vernehmen. Ihre Augen waren trüb, die Lider geschwollen, und sie befand sich in einer moralischen und physischen Entkräftung, die, mit Ausnahme der Erben, den rohsten Menschen gerührt haben würde.

»Ah, Herr Bongrand, eben erst mein Geburtstag und jetzt Tod und Trauer!« sagte sie mit jener schönen Seelen eigenen Poesie. »Sie wissen selbst, was er war: in zwanzig Jahren nicht ein einziges ungeduldiges Wort zu mir! Ich glaubte, er müßte hundert Jahre alt werden! Er war meine Mutter«, rief sie, »und eine gute Mutter!«

Nach diesen Worten schossen ihr zwischen Anfällen von Schluchzen die heißen Tränen aus den Augen, dann fiel sie wie leblos zurück.

»Liebes Kind«, erwiderte der Friedensrichter, der auf der Treppe die Erben hörte, »Sie haben ein ganzes Leben vor sich, ihn zu beweinen, und nur einen Augenblick für Ihre Angelegenheiten: bringen Sie in Ihrem Zimmer alles zusammen, was im Hause Ihnen gehört. Die Erben zwingen mich, die Siegel anzulegen.«

»Ah, seine Erben können wohl alles nehmen«, rief Ursula, indem sie sich in einer Anwandlung wilder Empörung aufrichtete. »Hier ist alles, was ich Kostbares besitze«, sagte sie, indem sie sich auf die Brust schlug.

»Und was?« fragte der Posthalter, der, zugleich mit Massin, sein schreckliches Gesicht zeigte.

»Die Erinnerung an seine Vorzüge, an sein Leben, an alle seine Worte, ein Abbild seiner gütevollen Seele«, sagte sie mit strahlendem Gesicht und leuchtenden Augen, während sie mit einer stolzen Bewegung die Hand hob.

»Und Sie haben hier auch einen Schlüssel!« rief Massin, indem er wie eine Katze herbeiglitt und einen Schlüssel ergriff, der bei der Bewegung Ursulas aus ihrer Bluse hervorgeglitten war.

»Es ist«, sagte sie errötend, »der Schlüssel zu seinem Kabinett; er schickte mich dorthin, als er aushauchte.«

Indem sie ein häßliches Lächeln tauschten, sahen die beiden Erben mit dem Ausdruck eines entehrenden Verdachtes den Friedensrichter an. Ursula, die diesen, seitens des Posthalters berechneten, bei Massin unwillkürlichen, Blick abfing und ahnte, wurde bleich, als ob alles Blut aus ihr gewichen wäre; ihre Augen schleuderten jenen Blitz, der vielleicht nur auf Kosten des Lebens hervorspringt, und mit erstickter Stimme rief sie:

»Ah, Herr Bongrand, alles, was sich in diesem Zimmer befindet, danke ich der Güte meines Paten. Mag man mir alles nehmen, ich habe nichts bei mir als meine Kleidung, ich werde gehen und nicht wieder zurückkehren!«

Sie begab sich in die Kammer ihres Vormunds, aus der sie keine Bitte – denn die Erben schämten sich ein wenig ihres Betragens – mehr hervorzubringen vermochte. Sie sagte der Bougival, sie solle ihr zwei Zimmer im Gasthof ›Zur alten Post‹ bestellen, bis sie in der Stadt irgendeine Wohnung gefunden hätte, wo sie beide leben könnten. Dann kehrte sie auf ihr Zimmer zurück, um von dort ihr Gebetbuch zu holen, und verbrachte betend und weinend fast die ganze Nacht bei dem Pfarrer, dem Vikar und Savinien. Der Edelmann kam, nachdem seine Mutter sich schlafen gelegt, und kniete wortlos neben Ursula, die ihm ein trauriges Lächeln schenkte und ihm dankte, daß er treulich gekommen war, ihr Leid zu teilen.

»Liebes Kind«, sagte Herr Bongrand, indem er Ursula ein umfangreiches Paket übergab, »eine der Erbinnen Ihres Onkels hat aus Ihrer Kommode alles genommen, was für Sie notwendig war, denn die Siegel werden erst in einigen Tagen entfernt. Sie werden dann, was Ihnen gehört, wiederfinden. In Ihrem Interesse hab ich die Siegel an Ihr Zimmer gelegt.«

»Dank, mein Herr«, antwortete sie, indem sie sich zu ihm begab und ihm die Hand drückte. »Sehen Sie ihn doch noch einmal an: möchte man nicht sagen, er schliefe nur?«

Der Greis bot in diesem Augenblick jene vorübergehende Schönheit, die sich auf das Gesicht der Toten legt, die schmerzlos verschieden sind; es schien zu leuchten.

»Hat er Ihnen, bevor er starb, nicht ein Geheimnis anvertraut?« sagte der Friedensrichter Ursula ins Ohr.

»Nichts«, sagte sie. »Er hat mir nur von einem Brief gesprochen …«

»Gut, der wird sich finden«, antwortete Bongrand. »Es ist für Sie also sehr günstig, daß Sie die Versiegelung gewollt haben.«

Mit dem frühsten Tage sagte Ursula diesem Hause, wo ihre glückliche Kindheit dahingegangen war, Lebewohl, besonders der bescheidenen Kammer, von der aus ihre Liebe begonnen hatte und die ihr so teuer war, daß sie mitten in ihrem schwersten Kummer Tränen des Bedauerns fand, diesen friedlichen, wohltuenden Aufenthalt verlassen zu müssen. Nachdem sie noch einmal abwechselnd ihr Fenster und Savinien angeblickt hatte, entfernte sie sich, um sich in der Begleitung der Bougival, die ihr Paket trug, des Friedensrichters, der ihr den Arm gereicht hatte, und Saviniens, ihres liebevollen Beschützers, zum Gasthof zu begeben. Und so schien trotz allen so klug getroffenen Maßregeln der mißtrauische Jurist recht behalten zu haben: er sah Ursula ohne Vermögen und mit den Erben in Uneinigkeit von dannen gehen.

Am Spätnachmittag des nächsten Tages war die ganze Stadt beim Leichenbegängnis des Doktor Minoret zugegen. Als man hier von dem Benehmen der Erben gegen seine Adoptivtochter erfuhr, fand es die überwiegende Mehrzahl natürlich und notwendig: es handelte sich um eine Erbschaft, der gute Mann war ein ›Geheimniskrämer‹; Ursula konnte sich im Recht glauben, die Erben verteidigten ihren Besitz, und im übrigen hatte sie sie bei Lebzeiten ihres Onkels genug gedemütigt und wie den Hund im Kegelspiel empfangen. Désiré Minoret, der in seiner Stellung, wie die Neider des Posthalters sagten, gerade keine Wunder verrichtete, traf zur Seelenmesse ein. Außerstande, sich am Leichenzug zu beteiligen, lag Ursula zu Bett, von einem Nervenfieber befallen, das ebenso von der Beleidigung, die ihr die Erben angetan, wie von ihrer tiefen Trauer herrührte.

»Sehen Sie doch, wie dieser Heuchler weint!« sagte eine der Erbinnen, indem sie auf den über den Tod des Doktors tief betrübten Savinien hindeutete.

»Es handelt sich darum, zu wissen, ob er einen Grund hat zu weinen«, bemerkte Goupil. »Lachen Sie nicht zu früh, die Siegel sind noch nicht entfernt.«

»Bah!« machte Minoret, der wußte, woran er sich hielt. »Sie haben uns immer um nichts und wieder nichts erschreckt.«

In dem Augenblick, wo der Leichenzug aus der Kirche herauskam und sich zum Friedhof hinbewegte, erfuhr Goupil einen bitteren Verdruß: er hatte Désirés Arm nehmen wollen, aber der Staatsanwaltsgehilfe lehnte ab und verleugnete seinen Kameraden vor ganz Nemours.

›Nur ruhig Blut, ich werde mich schon rächen‹, dachte der Erste Schreiber, dem das Herz in der Brust schwoll wie ein Schwamm. Bevor die Siegel entfernt und das Inventar aufgenommen wurde, brauchte der Staatsanwalt, der gesetzliche Beschützer der Waisen, Zeit, Bongrand mit seiner Vertretung zu beauftragen. Die Erbschaft Minoret, von der man seit zehn Tagen sprach, wurde jetzt also eröffnet und mit aller Strenge der juristischen Formalitäten festgestellt. Dionis kam dabei auf seine Rechnung, Goupil ließ mit Lust und Liebe seine Niedertracht spielen; und da es eine fette Sache war, wurden es der Sitzungen viele. Fast immer frühstückte man nach der Sitzung. Notar, Schreiber, Erben und Zeugen tranken die kostbarsten Weine des Kellers.

In der Provinz, und besonders in den kleinen Städten, wo jeder sein Haus hat, hält es recht schwer, eine Wohnung zu finden. Auch ist, kauft man hier ein Geschäft, immer zugleich das Haus mit eingeschlossen. Der Friedensrichter, den der Staatsanwalt mit den Interessen der Waise betraute, sah kein anderes Mittel, damit Ursula aus dem Gasthof herauskäme, als daß er ihr in der Grand' Rue, beim Winkel der Loingbrücke, den Kauf eines kleinen Hauses vermittelte, das eine mittelgroße Tür hatte, die sich auf einen Flurgang öffnete. Es hatte zu ebener Erde nur einen Raum mit zwei Fenstern nach der Straße hinaus, hinter dem sich eine Küche befand, deren Glastür sich auf einen inneren Hof von ungefähr dreißig Fuß im Geviert öffnete. Eine kleine Treppe, die ihr Licht vom Fluß her durch vom Nachbar gestattete Fenster empfing, führte zum ersten Stockwerk, das aus drei Zimmern bestand und über dem sich noch zwei Mansardenräume befanden. Der Friedensrichter nahm von der Bougival zweitausend Franken Ersparnisse, um die Anzahlung für das Haus zu leisten, das sechstausend Franken kostete, für das übrige erreichte er Stundung. Um Raum für die Bücher zu schaffen, die Ursula zurückkaufen wollte, ließ Bongrand die Wand zwischen zwei Zimmern des ersten Stockes niederreißen, da er wahrgenommen hatte, daß die Tiefe des Hauses dem von der Bibliothek in Anspruch genommenen Raum entsprach. Savinien und der Friedensrichter trieben die Arbeiter, die das Häuschen säuberten, es strichen und alles erneuerten, mit so viel Erfolg an, daß gegen Ende März die Waise den Gasthof verlassen konnte und in diesem kärglichen Anwesen eine Kammer fand, welche der glich, aus der die Erben sie vertrieben hatten, denn sie war im Besitz ihrer Möbel, die nach Beseitigung der Siegel vom Friedensrichter zurückgewonnen worden waren. Die Bougival, die über der Kammer wohnte, konnte, wenn eine am Kopfende des Bettes ihrer jungen Herrin angebrachte Klingel in Bewegung gesetzt wurde, zu ihr herabsteigen. Der für die Bibliothek bestimmte Raum, das Zimmer zu ebener Erde und die Küche standen noch leer, waren nur erst gestrichen und mit frischen Tapeten beklebt und warteten auf die Erwerbungen, die das Patenkind gelegentlich des Verkaufs des Mobiliars ihres Paten zu machen gedachte. Obgleich Ursulas Wesen ihnen bekannt war, fürchteten der Pfarrer und der Friedensrichter die Folgen, die der so plötzliche Übergang zu einer von dem Lebensüberfluß, an den der verstorbene Doktor sie hatte gewöhnen wollen, entblößten Lebensweise auf sie haben könnte. Was Savinien anbetraf, so vergoß er darum Tränen. Doch hatte er im geheimen den Handwerkern und dem Tapezierer mehr als eine Summe gegeben, daß Ursula wenigstens in der Ausstattung keinen Unterschied zwischen ihrer früheren und ihrer neuen Kammer fände. Das junge Mädchen aber, das all ihr Glück aus Saviniens Augen schöpfte, zeigte die sanfteste Ergebenheit in ihr Los. In dieser Hinsicht entzückte sie ihre beiden alten Freunde und bewies ihnen zum tausendsten Mal, daß einzig Leiden des Herzens sie treffen konnten. Der Schmerz, den ihr der Verlust ihres Paten kostete, war zu tief, als daß sie die Bitternis dieses Wechsels in ihren äußeren Lebensumständen empfunden hätte, der ihrer Verheiratung immerhin neue Hindernisse in den Weg stellte. Die Betrübnis, die Savinien empfand, als er sie in so eingeschränkten Verhältnissen sah, schuf ihm so viel Leid, daß sie sich für verpflichtet hielt, ihm, als sie am Vormittag ihres Einzuges in das neue Haus aus der Messe kam, ins Ohr zu flüstern:

»Liebe will Geduld, wir müssen warten!«

Sobald die Aufnahme des Inventars stattgefunden hatte, hielt Massin, auf den Rat Goupils, den sein heimlicher Haß gegen Minoret zu ihm geführt hatte, weil er mehr von der Berechnung des Wucherers als von Zélies Schlauheit erhoffte, Frau und Herrn von Portenduère, deren Rückzahlung fällig war, zur Erfüllung ihrer Verpflichtung an. Die alte Dame war wie betäubt, als die Mahnung an sie erging, den Erben binnen vierundzwanzig Stunden hundertneunundzwanzigtausendfünfhundertsiebzehn Franken fünfundfünfzig Centimes zu zahlen und die Zinsen vom Tag der Forderung an, bei Gefahr der Immobiliarpfändung. Um bezahlen zu können, eine Anleihe aufzunehmen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Savinien befragte einen Advokaten in Fontainebleau.

»Sie haben es mit schlimmen Leuten zu tun, die sich auf einen Vergleich nicht einlassen wollen: sie haben die Absicht, die Sache bis zum Äußersten zu treiben, um in Besitz des Gutes Bordières zu gelangen«, sagte ihm der Advokat. »Das beste wäre, um die Kosten zu vermeiden, den Verkauf in einen freiwilligen zu verwandeln.«

Diese trübselige Nachricht versetzte die alte Bretonin, der ihr Sohn in schonender Weise vorhielt, daß, wenn sie bei Lebzeiten Minorets in seine Heirat eingewilligt hätte, der Doktor seinen Besitz dem Mann Ursulas gegeben haben würde, in die äußerste Niedergeschlagenheit. Heute, sagte er ihr, würde ihr Haus, anstatt im Elend zu sein, glänzend dastehen. Obgleich diese Worte nicht im Ton eines Vorwurfs gesprochen waren, griff diese Schlußfolgerung die alte Dame nicht minder an als der Gedanke an die bevorstehende gewaltsame Enteignung. Als sie dies Unheil erfuhr, war Ursula, kaum vom Fieber und dem Schlag, den ihr die Erben versetzt hatten, wieder hergestellt, starr vor Schmerz. Zu lieben und sich außerstande zu fühlen, dem, den man liebt, Hilfe zu bringen, ist eins der furchtbarsten Leiden, die die Seele edler und feinfühlender Frauen überwältigen können.

»Ich wollte das Haus meines Onkels kaufen, ich werde das Ihrer Mutter erwerben«, sagte sie zu ihm.

»Ist das denn möglich?« fragte Savinien. »Sie sind minderjährig und können Ihre Rente nur unter Formalitäten verkaufen, mit denen der Staatsanwalt nicht einverstanden sein wird. Wir werden nicht versuchen, Widerstand zu leisten. Die ganze Stadt sieht den Zusammenbruch eines adligen Hauses mit Vergnügen. Diese Bürger sind wie Jagdhunde. Glücklicherweise habe ich noch zehntausend Franken, mit denen ich meiner Mutter Lebensunterhalt bis zum Ausgang dieser erbärmlichen Sache sichern kann. Schließlich ist ja die Inventaraufnahme noch nicht abgeschlossen: Herr Bongrand hofft noch irgend etwas für Sie zu finden. Er ist ebenso verwundert wie ich, daß Sie so ohne jedes Vermögen geblieben sind. Der Doktor hat sich teils ihm, teils mir gegenüber so oft über die schöne Zukunft ausgesprochen, die er Ihnen bereitet hätte, daß uns dieser Ausgang unverständlich ist.«

»Bah!« sagte sie. »Wenn ich nur die Bibliothek und die Möbel meines Paten kaufen kann, damit sie nicht verstreut werden und in fremde Hände geraten, bin ich mit meinem Schicksal zufrieden.«

»Aber welchen Preis werden diese nichtswürdigen Erben für das, was Sie haben wollen, fordern?«

Man sprach von Montargis bis Fontainebleau von nichts als von den Erben Minoret und der Million, nach der sie suchten; doch selbst die peinlichst genauen Nachforschungen, die man nach Entfernung der Siegel im Hause anstellte, führten zu keinem Ergebnis. Die hundertneunundzwanzigtausend Franken der Schuldforderung Portenduère, die fünfzehntausend Franken Rente zu drei vom Hundert, damals zu sechsundsiebzig, die ein Kapital von dreihundertachtzigtausend Franken gab, das Haus und sein reiches Mobiliar zu vierzigtausend Franken geschätzt, gaben eine Gesamtsumme von sechshunderttausend Franken, die allgemein für ein recht hübsches Trostgeld angesehen wurden. Minoret hatte es damals mit einigen Gewissensunruhen. Die Bougival und Savinien, die, ebenso wie der Friedensrichter, bei dem Glauben an das Vorhandensein irgendeines Testamentes verharrten, stellten sich am Ende jeder Sitzung ein und fragten Bongrand nach dem Ergebnis der Nachforschungen. Der Freund des Greises rief zuweilen in dem Augenblick, wo die Leute vom Gericht und die Erben gingen: »Ich begreife nichts von alledem!« Da für viele obenhin urteilende Leute zweihunderttausend Franken für jeden Erben ein schönes Provinzvermögen ausmachen, fiel es niemandem ein, nachzuprüfen, wie der Doktor seinen Haushalt mit nur fünfzehntausend Franken hatte führen können, da er die Zinsen der Schuldforderung Portenduère unberührt ließ. Bongrand, Savinien und der Pfarrer stellten sich diese Frage nur im Interesse Ursulas und machten, wenn sie sie aussprachen, den Posthalter mehr als einmal erblassen.

»Sie haben doch alles gründlich genug durchstöbert, sie um Geld, ich um ein Testament zu finden, das zugunsten des Herrn von Portenduère lauten müßte«, äußerte der Friedensrichter an dem Tage, an welchem die Inventaraufnahme abgeschlossen war. »Man hat die Asche durchwühlt, die Marmorplatte in die Höhe gehoben, die Pantoffeln befühlt, das Holz des Bettes durchbohrt, die Matratzen entleert, in die Decken und Bettdecken gestochen, die Bettkissen gewendet, Blatt für Blatt die Papiere, die Schubladen nachgesehen, den Boden des Kellers aufgegraben, und ich habe sie zu diesen Verheerungen angespornt.«

»Was ist also Ihre Ansicht?« fragte der Pfarrer.

»Das Testament hat einer der Erben unterschlagen.«

»Und die Werte?«

»Gehen Sie ihnen doch nach! Ahnen Sie doch etwas von der Aufführung so tückischer, gerissener, habgieriger Menschen wie die Massins, die Crémières! Sehen Sie doch klar in einem Vermögen wie dem Minorets, der aus der Erbschaft zweihunderttausend Franken bezieht, der, sagt man, sein Postpatent, sein Haus und seine Interessen an der Post für dreihundertfünfzigtausend Franken verkaufen will! … Was für Summen! Die Ersparnisse seiner dreißig und einige tausend Livres Rente in Landbesitz nicht zu zählen … Armer Doktor!«

»Vielleicht ist das Testament in der Bibliothek versteckt?« sagte Savinien.

»Darum hab ich die Kleine auch nicht davon abgebracht, sie zu kaufen! Aber ist es nicht eine Verrücktheit, sie ihr einziges Geld in Bücher stecken zu lassen, die sie niemals öffnen wird?«

Die ganze Stadt glaubte das Patenkind im Besitz unauffindbarer Kapitalien; doch als man positiv wußte, daß ihre vierzehnhundert Franken Rente und ihre wiedererhaltenen Sachen ihr ganzes Vermögen ausmachten, erregte das Haus des Doktors und sein Mobiliar allgemeine Neugier. Die einen meinten, daß Summen in Bankscheinen in den Möbeln versteckt wären, die anderen, daß der Greis welche in seinen Büchern versteckt hätte. Und so bot der Verkauf das Schauspiel sonderbarer Vorsichtsmaßregeln, die von den Erben getroffen wurden. Dionis, der den Taxator machte, erklärte bei jedem ausgerufenen Gegenstand, daß die Erben bloß dem Verkauf des Möbelstückes zustimmten, nicht aber das, was es an Wertstücken enthalten könnte, mit verkauften; außerdem unterwarfen es alle, ehe es ausgehändigt wurde, einer gierigen Untersuchung, klopften und tasteten daran herum; schließlich verfolgten sie es mit gierigen Blicken, wie sie ein Vater seinem Sohn nachschicken könnte, wenn er ihn nach Indien abfahren sieht.

»Ah, Fräulein«, sagte die Bougival ganz bestürzt, als sie von der ersten Sitzung zurückkehrte, »ich gehe nicht mehr hin. Herr Bongrand hat recht, Sie würden so ein Schauspiel nicht ertragen können. Alles wimmelt. Man geht und kommt allenthalben wie auf der Straße; die schönsten Möbel dienen zu allem möglichen; sie steigen darauf, und es ist ein Gewirr, daß eine Henne ihre Küchelchen nicht finden könnte! Man denkt, man ist auf einer Brandstätte. Auf dem Hofe werden Geschäfte abgeschlossen, die Schränke stehen offen, nichts drin! Oh, der arme, liebe Mann! Wie gut, daß er tot ist; der Verkauf würde ihn das Leben kosten.«

Bongrand, der für Ursula die Lieblingsmöbel des Verstorbenen kaufte, die geeignet waren, das Haus zu schmücken, zeigte sich nicht mehr bei dem Verkauf der Bibliothek. Klüger als die Erben, deren Habgier ihm einen zu hohen Preis abverlangt haben würde, hatte er einen Antiquar von Melun beauftragt, der eigens zu diesem Zwecke nach Nemours kam und sich schon mehrere Teile hatte zusprechen lassen. Infolge des Mißtrauens der Erben wurde die Bibliothek Werk für Werk verkauft. Dreitausend Bände wurden untersucht, einer nach dem anderen durchstöbert, bei den beiden umgeschlagenen Deckelseiten gehalten und geschüttelt, um Papiere draus herausfallen zu lassen, die etwa drin versteckt sein könnten; endlich wurden ihre Deckel geprüft und die Blätter am Anfang und am Ende des Buches. Die Gesamtheit der Zusprechungen belief sich für Ursula ungefähr auf sechstausendfünfhundert Franken, die Hälfte ihres Anspruches an die Erbschaft. Die Bibliotheksschränke wurden nur nach einer sorgsamen Untersuchung ausgeliefert, die ein berühmter Kunsttischler, der sich auf geheime Fächer verstand und aus Paris herbestellt war, vornahm. Als der Friedensrichter Anordnung traf, daß die Bibliotheksschränke und die Bücher zu Fräulein Mirouet gebracht wurden, erhoben sich bei den Erben unbestimmte Befürchtungen, die sich erst später wieder verloren, als man Ursula so arm sah wie zuvor. Minoret kaufte das Haus seines Onkels, das seine Miterben bis auf fünfzigtausend Franken trieben, da sie sich einbildeten, der Posthalter hoffe einen Schatz in den Mauern zu finden. So enthielten auch die Kaufbedingungen diesbezügliche Vorbehalte. Vierzehn Tage nach der Liquidation der Erbschaft richtete sich Minoret, der seine Posthalterei und Grundstücke dem Sohn eines reichen Landwirtes verkauft hatte, in dem Hause seines Onkels ein, wo er beträchtliche Summen für die Möblierung und für Ausbesserungen ausgab. So verdammte Minoret sich selbst, nur wenige Schritte von Ursula entfernt zu leben.

»Ich hoffe«, hatte er an dem Tage, da die Mahnung an Savinien und seine Mutter unterzeichnet worden war, gesagt, »daß wir uns diese Adligen da vom Halse schaffen werden! Die anderen jagen wir ihnen nach.«

»Die Alte mit den vierzig Ahnen«, antwortete ihm Goupil, »Wird nicht Zeuge ihres Zusammenbruches sein wollen; sie wird nach der Bretagne sterben gehen und dort ohne Zweifel für ihren Sohn eine Frau finden.«

»Das glaub ich nicht«, entgegnete der Notar, der am Morgen den Kontrakt der von Bongrand vermittelten Erwerbung abgefaßt hatte; »Ursula kauft das Haus der Witwe Richard.«

»Dies verwünschte Frauenzimmer weiß nicht, worauf es nur noch kommen soll, uns lästig zu fallen!« rief der Posthalter sehr unklugerweise.

»Aber was macht es Ihnen denn aus, wenn sie in Nemours wohnt?« fragte Goupil, dem die ärgerliche Bewegung, die dem einfältigen Koloß entschlüpfte, auffiel.

»Sie wissen nicht«, antwortete Minoret, der rot wie Klatschmohn anlief, »daß mein Sohn so dumm ist, in sie verliebt zu sein. Ich würde gern hundert Taler dafür geben, wenn Ursula Nemours verließe.«

Aus dieser ersten Bewegung begriff ein jeder, wie die arme, resignierte Ursula dem reichen Minoret unbequem sein mußte. Die Unruhe der Erbschaftsliquidation, der Verkauf seiner Grundstücke und die Gänge, die sich durch die ungewohnten Geschäfte notwendig machten, die Debatten, die er mit seiner Frau gelegentlich der kleinsten Einzelheiten und der Erwerbung von des Doktors Haus hatte, in dem Zélie im Interesse ihres Sohnes großbürgerlich zu leben gedachte, all dieser Aufruhr, der mit der Ruhe seines gewohnten Lebens in solchem Widerspruch stand, hinderte den großen Minoret, an sein Opfer zu denken. Doch einige Tage nach seinem Einzug in die Rue des Bourgeois, gegen Mitte Mai, hörte er, als er von einem Spaziergang zurückkehrte, den Klang des Pianos, sah, wie einen Drachen, der einen Schatz bewacht, die Bougival am Fenster und vernahm plötzlich in sich eine aufdringliche Stimme.

Die Darlegung, warum einem Menschen von der Charakterbeschaffenheit des ehemaligen Posthalters der Anblick Ursulas, die nicht entfernt den zu ihrem Nachteil begangenen Diebstahl ahnte, unerträglich wurde; wie das Schauspiel dieser Größe in allem Unglück ihm den Wunsch erregte, dies junge Mädchen aus der Stadt zu entfernen; und wie dieser Wunsch den Charakter des Hasses und der Leidenschaft annahm, würde vielleicht eine ganze moralische Abhandlung ausmachen. Vielleicht hielt er sich nicht für den rechtmäßigen Besitzer der sechsunddreißigtausend Livres Rente, solange die, der sie gehörten, zwei Schritte von ihm entfernt wohnte. Vielleicht glaubte er dunkel an einen Zufall, der zur Entdeckung des Diebstahls führen könnte, solange die, die er beraubt hatte, noch da war. Vielleicht erregte in dieser in gewissem Sinn primitiven und groben Natur, die bis dahin nichts Ungesetzliches getan hatte, die Anwesenheit Ursulas Gewissensbisse. Und vielleicht setzten ihm diese Gewissensbisse um so stärker zu, als er so viel Besitz rechtmäßig erworben hatte. Ohne Zweifel maß er diese Regungen seiner Gewissensbisse einzig der Anwesenheit Ursulas bei, indem er sich einbildete, mit dem jungen Mädchen auch diese lästigen Unruhen verschwinden zu sehen. Und schließlich steht das Verbrechen vielleicht so in einem System seiner eigenen Entwicklung. Der Beginn des Bösen will seinen Verlauf, eine erste Wunde schreit nach dem Hieb, der tötet. Vielleicht führt verhängnisvoll der Diebstahl zum Mord. Minoret hatte den Raub ohne die mindeste Überlegung begangen; so schnell war alles aufeinander gefolgt, daß die Überlegung erst hinterher kam. Nun, wenn man die Physiognomie und den Hals dieses Menschen verstanden hat, so wird man die ungeheure Wirkung verstehen, die auf ihn irgendein Gedanke hervorbringen mußte. Der Gewissensbiß ist mehr als ein Gedanke; er entspringt einer Empfindung, die sich nicht mehr verbirgt als die Liebe und die ihre Tyrannei übt. Aber ebenso wie Minoret ohne die geringste Überlegung sich des für Ursula bestimmten Vermögens bemächtigt hatte, ebenso mechanisch wollte er sie von Nemours forttreiben, sobald er sich durch den Anblick dieser unschuldigen Betrogenen verwundet fühlte. In seiner Einfältigkeit dachte er nicht an die Folgen; von dem Instinkt seiner Gier getrieben wie ein wildes Tier, das keine List des Jägers voraussieht und auf seine Geschwindigkeit vertraut, auf seine Kraft, schritt er von Gefahr zu Gefahr. Bald nahmen die reichen Bürger, die sich bei dem Notar Dionis trafen, eine Veränderung in den Manieren, in der Haltung des ehemals so sorglosen Menschen wahr.

»Ich weiß nicht, was Minoret hat, er ist so stutzig«, sagte seine Frau, der er seinen verwegenen Handstreich zu verschweigen sich entschlossen hatte.

Alle Welt erklärte die Langeweile Minorets – denn in diesem Gesicht glich die Gedankenarbeit der Langenweile – durch das Aufhören jeglicher Beschäftigung, durch den plötzlichen Übergang seines tätigen zum bürgerlichen Leben.

Während Minoret damit umging, Ursulas Leben zu zerstören, ließ die Bougival keinen Tag hingehen, ohne ihrem Milchkind eine Anspielung auf das Vermögen zu machen, das sie haben müßte, oder ohne ihr kärgliches Los mit dem zu vergleichen, das der verstorbene Herr ihr zugedacht hatte und von dem er zu ihr, der Bougival, gesprochen.

»Schließlich sag ich das«, sprach sie, »nicht aus Eigennutz; aber sollte es sein, daß mir der verstorbene Herr, der doch so gut war, nicht irgendeine Kleinigkeit hinterlassen hätte?«

»Bin ich nicht da?« antwortete Ursula, indem sie der Bougival verbot, darüber zu sprechen.

Sie wollte nicht durch den Gedanken an irgendwelches Interesse die zärtlichen, traurigen und süßen Erinnerungen beflecken, die sich auf die edle Gestalt des Doktors bezogen, von dem eine in Schwarz und Weiß ausgeführte Skizze, die ihr Zeichenlehrer angefertigt hatte, ihren kleinen Salon zierte. Für ihre unverbrauchte, unverbildete Einbildungskraft genügte der Anblick dieser Skizze für immer, sich ihren Paten wieder vorzustellen, an den sie unaufhörlich dachte, besonders da sie von seinen Lieblingsgegenständen umgeben war: seinem gepolsterten Rokokolehnsessel, den Möbeln seines Kabinetts und seinem Tricktrack sowie dem Piano, das er ihr geschenkt. Die beiden alten Freunde, die ihr blieben, Abbé Chaperon und Herr Bongrand, die einzigen Personen, die sie bei sich empfangen wollte, waren, inmitten all dieser ihrem Leid fast lebenden Dinge, wie zwei lebende Erinnerungen ihres vergangenen Lebens, mit denen die Liebe, die der Pate ihr geweiht hatte, ihre Gegenwart verknüpfte. Bald verlieh die unmerklich sich lindernde Schwermütigkeit der Gedanken in gewisser Hinsicht ihren Stunden das Gepräge und brachte all dies in einen unbeschreiblichen Einklang: in der ungewöhnlichen Sauberkeit, in der genausten Symmetrie, mit der die Möbel aufgestellt waren, in ein paar Blumen, die ihr täglich Savinien brachte, in zierlichen Nichtigkeiten drückte sich ein überirdischer Friede aus, den die Gewohnheiten des jungen Mädchens den Dingen mitteilten und der ihr Heim so freundlich gestaltete. Nach dem Frühstück und nach der Messe förderte sie ihre Studien und Gesangsübungen; danach saß sie an dem nach der Straße hin befindlichen Fenster und stickte. Um vier Uhr fand Savinien auf der Rückkehr von einem Spaziergang, den er bei jeder Witterung unternahm, ihr Fenster halb offen und setzte sich auf den äußeren Rand, um ein halb Stündchen mit ihr zu plaudern. Abends wurde sie vom Pfarrer und vom Friedensrichter besucht, doch wollte sie nie, daß Savinien die beiden begleitete. Und endlich nahm sie auch den Vorschlag Frau von Portenduères nicht an, die ihr Sohn dahin gebracht hatte, Ursula zu sich nehmen zu wollen. Das junge Mädchen und die Bougival lebten im übrigen äußerst sparsam: sie gaben, alles einbeschlossen, nicht mehr als sechzig Franken monatlich aus. Die alte Amme war unermüdlich: sie wusch und plättete, sie kochte nur zweimal in der Woche und hob das gekochte Fleisch auf, das Herrin und Dienerin dann kalt aßen; denn Ursula wollte siebenhundert Franken im Jahr sparen, damit sie den Rest vom Preis des Hauses bezahlen konnte. Diese strenge Lebensführung, diese Bescheidenheit und ihre Bescheidung auf ein ärmliches, schlichtes Leben, nachdem sie ein so luxuriöses Dasein genossen hatte, in dem jeder ihrer Einfälle mit aller Zärtlichkeit berücksichtigt worden war, machten auf gewisse Leute einen günstigen Eindruck. Ursula gelangte dahin, daß ihr Achtung entgegengebracht und daß nicht über sie geredet wurde. Einmal befriedigt, ließen ihr die Erben übrigens Gerechtigkeit widerfahren. Savinien bewunderte die Charakterstärke eines so jungen Mädchens. Von Zeit zu Zeit richtete Frau von Portenduère beim Verlassen der Messe einige wohlwollende Worte an Ursula, sie lud sie zweimal zum Diner und kam selber sie besuchen. Wenn das auch noch nicht das Glück war, so doch die Ruhe. Doch ein Erfolg, der die alte Advokateneinsicht des Friedensrichters zeigte, ließ die noch geheime und im Zustand der Absicht befindliche Verfolgung zum Ausbruch gelangen, auf die Minoret gegen Ursula sann. Als alle Angelegenheiten der Erbschaft erledigt waren, nahm der Friedensrichter auf Ursulas Bitte hin die Sache der Portenduères in die Hand und versprach ihr, diese aus der Verlegenheit zu ziehen; als er sich aber zu der alten Dame begab, deren Widerstand gegen Ursulas Glück ihn wütend machte, ließ er sie wissen, daß er sich ihren Interessen einzig Fräulein Mirouet zu Gefallen widme. Er wählte einen seiner früheren Schreiber in Fontainebleau als Advokaten für die Portenduères und leitete das Gesuch auf Aufhebung des Verfahrens selbst. Er wollte aus der Pause, die zwischen der Aufhebung des Verfahrens und Massins neuem Prozeß verstrich, Vorteil ziehen, um den Pachtkontrakt zu sechstausend Franken zu erneuern, von dem Pächter ein Übergeld zu erlangen und Zahlung für das letzte Jahr. Von da an kam bei Frau von Portenduère wieder die Whistpartie zwischen ihm, dem Pfarrer, Savinien und Ursula in Gang, welche letztere Bongrand und Abbé Chaperon jeden Abend abholten und mitbrachten. Im Juni ließ Bongrand die Nichtigkeitserklärung des von Massin gegen die Portenduères angestrengten Verfahrens verkünden. Sofort unterzeichnete er den neuen Pachtvertrag, erhielt von dem Pächter zweiunddreißigtausend Franken und einen Pachtzins von sechstausend Franken für achtzehn Jahre; dann begab er sich am Abend, ehe diese Maßnahmen ausgeplaudert waren, zu Zélie, von der er wußte, wie sehr sie beschäftigt war, ihre Gelder unterzubringen, und schlug ihr die Erwerbung von Bordières für zweihundertzwanzigtausend Franken vor.

»Ich würde das Geschäft sofort machen«, sagte Minoret, »wenn ich wüßte, daß die Portenduères Nemours verließen und anderswo lebten.«

»Aber warum?« fragte der Friedensrichter.

»Wir wollen hier in Nemours keine Adligen.«

»Ich glaube von der alten Dame vernommen zu haben, daß sie nach Erledigung ihrer Angelegenheiten mit dem, was ihr übrigbliebe, nur noch in der Bretagne leben könnte. Sie sprach davon, daß sie ihr Haus verkaufen wollte.«

»Gut, verkaufen Sie mir's«, sagte Minoret.

»Aber du sprichst, als ob das gleich so ginge«, sagte Zélie. »Was willst du mit zwei Häusern anfangen?«

»Wenn ich mit Ihnen nicht noch heute abend über Bordières abschließe«, versetzte der Friedensrichter, »wird unser Pachtvertrag bekannt, die Sache wird in drei Tagen von neuem anhängig gemacht, und mir entgeht diese Abwicklung, die mir am Herzen liegt. Auch kann ich auf der Stelle nach Melun gehen, wo die Pächter, die ich kenne, mir Bordières unbesehen abkaufen würden. Sie verlieren also die Gelegenheit, Ihr Geld in Landbesitz zu drei vom Hundert im Gebiet des Rouvre anzulegen.«

»Nun gut; aber warum wenden Sie sich an uns?« fragte Zélie.

»Weil Sie Geld haben, während meine früheren Klienten einige Tage brauchen, um mir hundertneunundzwanzigtausend Franken zu zahlen. Ich will keine Schwierigkeiten.«

»Sie verlassen Nemours, und ich gebe sie Ihnen!« sagte Minoret abermals.

»Sie begreifen, daß ich den Willen der Portenduères nicht bestimmen kann«, antwortete Bongrand. »Doch ich bin dessen gewiß, daß sie nicht in Nemours bleiben werden.«

Auf diese Versicherung hin versprach Minoret, den Zélie übrigens mit dem Ellbogen anstieß, das Geld, um die Schulden der Portenduères an die Erben des Doktors zu begleichen. Der Kaufkontrakt wurde dann bei Dionis aufgesetzt, und der darüber erfreute Friedensrichter ließ die Bedingungen des neuen Pachtvertrages Minoret annehmen, der, ebenso wie Zélie, etwas zu spät merkte, daß das für das letzte Jahr im voraus Gezahlte ihnen verlorengegangen war. Ende Juni brachte Bongrand Frau von Portenduère die Generalquittung ihres Vermögens, einhundertneunundzwanzigtausend Franken, und veranlaßte sie, sie in Staatspapieren anzulegen, was ihr sechstausend Franken Rente zu fünf vom Hundert einbringen würde, die zehntausend Franken Saviniens hinzugerechnet. Und so gewann die alte Dame, anstatt ihrer Einkünfte verlustig zu gehen, aus ihrer Liquidation zweitausend Franken Rente. Die Familie von Portenduère blieb also in Nemours.

Minoret hielt sich für betrogen, denn der Friedensrichter hätte wissen müssen, daß ihm Ursulas Anwesenheit unerträglich war, und er zog daraus ein lebhaftes Rachegefühl, das seinen Haß gegen sein Opfer noch steigerte. Jetzt begann das heimliche, doch in seinen Wirkungen furchtbare Drama des Kampfes zweier Empfindungen: die, welche Minoret dazu trieb, Ursula aus Nemours zu entfernen, und die, die Ursula die Kraft verlieh, die Verfolgungen zu ertragen, deren Ursache für eine gewisse Zeit undurchdringlich war: eine seltsame, ganz sonderbare Lage, auf die alle voraufgegangenen Ereignisse hinausgelaufen waren, die sie vorbereitet und der sie zum Vorspiel gedient hatten.

Frau Minoret, der ihr Mann Silberzeug und ein vollständiges Tafelservice zu ungefähr zwanzigtausend Franken zum Geschenk gemacht hatte, gab jeden Sonntag, dem Tage, wo ihr Sohn, der Staatsanwaltsgehilfe, einige Freunde aus Fontainebleau mitbrachte, ein glänzendes Diner. Für diese verschwenderischen Diners ließ Zélie von Paris einige Seltenheiten kommen, wodurch sie den Notar Dionis nötigte, dieses Gepränge nachzumachen. Goupil, den die Minorets als eine anrüchige Person, die ihren Glanz befleckte, von dieser Geselligkeit fernzuhalten sich bemühten, wurde nur gegen Ende Juli eingeladen, einen Monat nach der Einrichtung des bürgerlichen Lebens, das von den ehemaligen Posthaltersleuten geführt wurde. Der Erste Schreiber, der dieser überlegten Vernachlässigung wegen bereits empfindlich war, sah sich genötigt, Désiré mit Sie anzureden, der mit seiner Amtsübung eine würdige und bis in seine Familie hinein hochmütige Miene angenommen hatte.

»Sie erinnern sich also nicht mehr an Esther, da Sie Fräulein Minoret so lieben?« fragte Goupil den Staatsanwaltsgehilfen.

»Erstens ist Esther tot, mein Herr. Und dann habe ich niemals an Ursula gedacht«, entgegnete der Beamte.

»Nun, was sagen Sie dazu, Vater Minoret?« rief Goupil recht unverschämt.

Minoret, der sich von einem so gefürchteten Menschen in flagranti auf der Lüge ertappt sah, hätte seine Haltung verloren, wäre nicht der Plan gewesen, weswegen er Goupil in der Erinnerung an den früher ihm von dem Ersten Schreiber gemachten Vorschlag, die Heirat Ursulas und des jungen Portenduère zu hintertreiben, zu dem Diner eingeladen hatte. Statt weiterer Antwort führte er den Schreiber kurzerhand in den Garten.

»Sie sind bald achtundzwanzig Jahre alt, mein Lieber«, sagte er zu ihm, »und ich sehe Sie noch immer nicht auf dem Wege, zu einem Vermögen zu gelangen. Ich will Ihnen wohl, denn schließlich sind Sie doch der Freund meines Sohnes gewesen. Hören Sie: wenn Sie die kleine Mirouet, die übrigens vierzigtausend Franken besitzt, bestimmen, Ihre Frau zu werden, so werde ich Ihnen, so wahr ich Minoret heiße, die Mittel geben, ein Notariatsbureau in Orléans zu kaufen.«

»Nein«, sagte Goupil, »ich würde da nicht so beachtet; aber in Montargis.«

»Nein«, entgegnete Minoret, »aber in Sens …«

»Gut, Sens!« rief der häßliche Schreiber. »Dort ist ein Erzbischof, ich bin einem frommen Landstrich nicht abgeneigt: mit ein bißchen Heuchelei macht man dort seinen Weg um so besser. Übrigens ist die Kleine fromm, sie wird dort Erfolg haben.«

»Es versteht sich«, sagte Minoret, »daß ich die hunderttausend Franken erst am Hochzeitstag unserer Verwandten gebe, deren Leben ich aus Rücksicht auf meinen verstorbenen Onkel sicherstellen möchte.«

»Und warum nicht ein bißchen für mich?« sagte Goupil, der hinter Minorets Verhalten irgendeine Heimlichkeit argwöhnte, boshaft. »Danken Sie's nicht meinen Auskünften, daß Sie vierundzwanzigtausend Franken glatte Rente, ohne die Enklaven vom Schloß Rouvre, beisammen haben? Mit Ihren Wiesen und Ihrer Mühle auf der anderen Seite des Loing kommen noch sechzehntausend Franken hinzu! Also, dicker Papa, wollen Sie offenes Spiel mit mir spielen?«

»Ja.«

»Nun gut, um Sie meine Haken spüren zu lassen, zettelte ich für Massin die Erwerbung von Rouvre, seinen Parks, seinen Gärten, seinen Schonungen und seiner Waldung an.«

»Nimm dich davor in acht!« kam Zélie dazwischen.

»Nun gut«, sagte Goupil, indem er ihr einen Viperblick zuwarf, »Wenn ich will, hat Massin das alles morgen für zweihunderttausend Franken.«

»Laß uns, liebe Frau«, sagte jetzt der Koloß, indem er Zélie an den Arm nahm und sie zurückgeleitete; »ich bin mit ihm im Einverständnis … Wir haben soviel Geschäfte gehabt«, fuhr Minoret fort, als er zu Goupil zurückkam, »daß wir nicht an Sie denken konnten; aber ich rechne sehr auf Ihre Freundschaft, daß wir Rouvre bekommen.«

»Ein ehemaliges Marquisat«, sagte Goupil boshaft, »das unter Ihren Händen bald fünfzigtausend Livres Rente wert sein wird, mehr als zwei Millionen, wie die Güter jetzt stehen.«

»Und unser Staatsanwaltsgehilfe freit dann die Tochter eines Marschalls von Frankreich oder die Erbin einer alten Familie, die ihn in Paris in die Regierung bringt«, sagte der Posthalter, während er seine mächtige Tabaksdose öffnete und Goupil eine Prise anbot.

»Nun gut, spielen wir also offenes Spiel?« rief Goupil, indem er mit den Fingern schnippte.

Minoret drückte Goupils Hände und antwortete:

»Ehrenwort!«

Wie alle schlauen Leute glaubte der Erste Schreiber, Minoret zum Glück, daß seine Heirat mit Ursula ein Vorwand wäre, um sich mit ihm auszusöhnen, da er ihnen Massin in den Weg stellte. ›Nicht er ist es‹, sagte er sich, ›der diese Schnurre erfunden hat; ich kenne meine Zélie, sie hat ihm seine Rolle diktiert. Bah, lassen wir Massin fahren! Noch vor Ablauf von drei Jahren bin ich Abgeordneter von Sens‹, dachte er.

Als er dann Bongrand sah, der kam, um drüben seinen Whist zu spielen, stürzte er auf die Straße hinaus.

»Sie interessieren sich so für Ursula Mirouet, mein lieber Herr Bongrand«, sagte er zu ihm, »ihre Zukunft kann Ihnen also nicht gleichgültig sein. Hier das Programm: Sie heiratet einen Notar, der sein Bureau in einer Kreishauptstadt hat. Dieser Notar, der notwendigerweise in drei Jahren Abgeordneter sein wird, würde ihr hunderttausend Franken Mitgift bringen.«

»Sie hat mehr«, sagte Bongrand trocken. »Seit ihrem Unglück steht es mit Frau von Portenduère nicht mehr gut, erst gestern hatte sie sich schrecklich verändert, der Kummer tötet sie; es bleiben Savinien sechstausend Franken Rente, Ursula hat vierzigtausend Franken, ich werde ihr das Kapital auf Massins Weise, doch in allen Ehren in die Höhe bringen, und in zehn Jahren werden sie ein kleines Vermögen haben.«

»Savinien wird eine Dummheit machen; er kann, wenn er will, Fräulein von Rouvre heiraten, eine einzige Tochter, der ihr Onkel und ihre Tante zwei prächtige Erbschaften hinterlassen werden.«

»›Hat einen die Liebe, dann, Klugheit, leb wohl‹, hat Lafontaine gesagt. Aber wer ist denn Ihr Notar? Denn nach allem …« fragte Bongrand neugierig.

»Ich«, antwortete Goupil und machte den Friedensrichter erzittern.

»Sie?« entgegnete Bongrand, ohne seinen Abscheu zu verbergen.

»Ah, gut! Ihr Diener, mein Herr«, versetzte Goupil, indem er ihm einen Blick voll Galle, Haß und Herausforderung zuwarf …

»Wollen Sie die Frau eines Notars sein, der Ihnen hunderttausend Franken Mitgift bringt?« rief Bongrand, als er in den kleinen Salon eintrat, an Ursula gewandt, die neben Frau von Portenduère saß. Ursula und Savinien erbebten in ein und dem gleichen Gefühl: sie lächelnd, er ohne daß er wagte, seine Unruhe zu verbergen.

»Ich bin nicht Herrin meiner Handlungen«, antwortete Ursula, indem sie Savinien, ohne daß die alte Dame diese Geste bemerkte, die Hand hinhielt.

»Und so hab ich auch, ohne Sie zu fragen, abgelehnt.«

»Aber warum?« sagte Frau von Portenduère. »Es scheint mir, liebe Kleine, der eines Notars ist ein ganz schöner Stand.«

»Ich ziehe meine stille Armut vor«, antwortete Ursula, »denn im Vergleich mit dem, was ich vom Leben zu erwarten habe, bedeutet sie für mich reichliches Auskommen. Meine alte Amme erspart mir übrigens viele Sorgen, und ich möchte die mir zusagende Gegenwart nicht gegen eine ungewisse Zukunft austauschen.«

Am nächsten Tage schüttete die Post in zwei Herzen das Gift zweier anonymer Briefe: der eine an Frau Portenduère, der andere an Ursula gerichtet. Hier der, den die alte Dame erhielt:

›Sie lieben Ihren Sohn, Sie wollen ihn verheiraten, wie es der Name, den er trägt, erfordert, und Sie begünstigen seine Laune für eine kleine Ehrgeizige ohne Vermögen, indem Sie eine Ursula, die Tochter eines Regimentskapellmeisters, bei sich empfangen, während Sie ihn mit Fräulein von Rouvre verheiraten könnten, deren beide Onkel, die Herren von Ronquerolles und Ritter von Rouvre, die Absicht haben, ihre Nichte zu bevorzugen; jeder der Genannten besitzt dreißigtausend Livres Rente und wünscht sein Vermögen nicht diesem alten Narren, dem Herrn von Rouvre, zu überlassen, der alles durchbringt. Frau von Sérizy, die Tante Clementines von Rouvre, die im Feldzug gegen Algier soeben ihren einzigen Sohn verloren hat, wird außerdem ihre Nichte ohne Zweifel adoptieren. Jemand, der Ihnen wohlwill, glaubt zu wissen, daß Savinien angenommen werden würde.‹

Und hier der an Ursula gerichtete Brief:

›Teure Ursula, es gibt in Nemours einen jungen Mann, der Sie vergöttert; er kann Sie an Ihrem Fenster nicht ohne Empfindungen arbeiten sehen, die ihm beweisen, daß seine Liebe fürs Leben ist. Dieser junge Mann ist ausgestattet mit einem eisernen Willen und einer Beharrlichkeit, die nichts entmutigt: nehmen Sie darum seine Liebe günstig auf, denn seine Absichten sind rein, und in Demut bittet er Sie um Ihre Hand, in der Sehnsucht, Sie glücklich zu machen. Sein, obwohl nicht unansehnliches Vermögen ist nichts, verglichen mit dem, was er Ihnen erwerben wird, wenn Sie erst seine Frau sind. Sie werden eines Tages bei Hofe empfangen werden wie die Frau eines Ministers und eine der Ersten des Landes. Da er Sie jeden Tag sieht, ohne daß Sie ihn sehen können, setzen Sie an Ihr Fenster einen der Nelkenstöcke der Bougival, Sie werden ihm damit gesagt haben, daß er sich vorstellen darf.‹

Ursula verbrannte diesen Brief, ohne Savinien ein Wort zu sagen. Zwei Tage darauf erhielt sie einen anderen, der folgendermaßen abgefaßt war:

›Sie tun unrecht, teure Ursula, daß Sie dem, der Sie mehr als sein Leben liebt, nicht antworten. Sie glauben, daß Sie sich mit Savinien verheiraten werden: Sie täuschen sich sehr. Diese Heirat wird nicht zustande kommen. Frau von Portenduère, die Sie nicht mehr empfangen wird, begibt sich heute vormittag trotz ihres gegenwärtig leidenden Zustandes zu Fuß nach Rouvre, um dort für Savinien um die Hand Fräulein von Rouvres zu bitten. Savinien wird schließlich nachgeben. Was könnte er für einen Einwand haben? Die Onkel sichern ihrer Nichte ihr Vermögen im Ehekontrakt zu. Dies Vermögen besteht in sechzigtausend Livres Rente.‹

Dieser Brief verwüstete Ursulas Herz, er lehrte sie die Martern der Eifersucht kennen, ein ihr bis dahin unbekanntes Leiden, das in ihrem so reichen, dem Schmerz so leicht zugänglichen Wesen die Trauer des Augenblickes verschüttete, die Zukunft und selbst die Vergangenheit. In dem Augenblick, wo sie dies verhängnisvolle Papier hatte, saß sie da, im Lehnstuhl des Doktors, den Blick ins Leere gerichtet und in schmerzliche Grübeleien verloren. Mit einem Schlage fühlte sie die Flammen eines schönen Lebens in kalten Todeshauch verwandelt. Ach, noch schlimmer: es war in Wirklichkeit das grausame Erwachen der Toten, die erfahren, daß es keinen Gott gibt, im Meisterwerke jenes hervorragenden Genies, das Jean Paul heißt. Viermal versuchte die Bougival, Ursula zum Frühstück zu nötigen, sie sah, wie sie ihr Brot nahm und es wieder fallen ließ, ohne es an die Lippen zu bringen. Als sie es wagte, ihr Vorhaltungen zu machen, antwortete Ursula mit einer Handbewegung und, ebenso herrisch, wie ihre Rede bis jetzt immer freundlich gewesen war, mit dem außergewöhnlichen Zuruf: »Still!« Die Bougival, die ihre Herrin durch das Fenster der Verbindungstür überwachte, sah, wie sie abwechselnd rot wurde, als sei sie vom Fieber verzehrt, und fahl, als wenn auf das Fieber Schüttelfrost folgte. Dieser Zustand verschlimmerte sich vier Stunden hindurch, bis Ursula sich allmählich erhob, um nachzusehen, ob Savinien käme, und Savinien nicht kam. Eifersucht und Zweifel nehmen der Liebe all ihre Scham. Ursula, die sich bis dahin nicht eine Geste erlaubt hätte, aus der ihre Leidenschaft zu erraten gewesen wäre, setzte den Hut auf, tat ihren kleinen Schal um und eilte in den Flurgang hinaus, um Savinien entgegenzugehen, doch ein Rest von Schamgefühl ließ sie dann doch in den kleinen Salon zurückkehren. Sie weinte hier. Als sich am Abend der Pfarrer zeigte, hielt ihn die arme Amme in der Haustür an:

»Ach, Herr Pfarrer, ich weiß nicht, was das Fräulein nur hat; sie …«

»Ich weiß es«, antwortete der Pfarrer traurig, womit er der erschrockenen Amme den Mund schloß.

Abbé Chaperon teilte dann Ursula mit, woran sie noch nicht hatte denken wollen: Frau von Portenduère war nach Rouvre dinieren gegangen.

»Und Savinien?«

»Gleichfalls.«

Ursula wurde von einem nervösen Erzittern befallen, das sich Abbé Chaperon mitteilte, als hätte er die Ladung einer Leidener Flasche erhalten; außerdem verspürte er eine andauernde Herzerregung.

»Wir werden also heute abend nicht zu ihr gehen«, sagte der Pfarrer. »Aber, liebes Kind, es würde klug von Ihnen sein, überhaupt nicht mehr zu ihr zu gehen. Die alte Dame würde Sie auf eine Weise empfangen, die Ihren Stolz verwunden müßte. Wir, die wir sie so weit gebracht hatten, daß sich zu ihr von Ihrer Heirat sprechen ließ, wissen nicht, woher der Wind weht, der ihre so plötzliche Gesinnungsänderung bewirkt hat.«

»Ich bin auf alles gefaßt, und nichts kann mich mehr erstaunen«, sagte Ursula tief erschüttert. »In solchen äußersten Fällen empfindet man einen großen Trost in dem Bewußtsein, daß man sich gegen Gott nicht vergangen hat.«

»Unterwerfen Sie sich, meine teure Tochter, ohne jemals über die Wege der Vorsehung zu grübeln«, sagte der Pfarrer.

»Ich möchte nie den Charakter Herrn von Portenduères in ungerechter Weise beurteilen …«

»Warum sagen Sie nicht mehr Savinien?« fragte der Pfarrer, der in Ursulas Sprechweise eine leichte Bitterkeit bemerkte.

»Meines teuren Savinien«, sagte sie weinend. »Ja, mein guter Freund«, fuhr sie schluchzend fort, »eine Stimme in mir sagt mir noch, daß er ebenso edel von Gemüt wie von Abkunft ist. Er hat mir nicht nur gelobt, daß er einzig mich liebe, er hat es mir durch unendliche Aufmerksamkeiten und mit der heldenhaften Art bewiesen, wie er seine heiße Leidenschaft zurückgehalten hat. Vor kurzem, als er die Hand nahm, die ich ihm hinhielt, nachdem mir Herr Bongrand diesen Advokaten zum Mann vorgeschlagen, gab ich sie ihm, ich schwör es Ihnen, zum ersten Mal. Wenn er mit einem Scherz anfing, als er mir damals einen Kuß über die Straße herüberschickte, so hat seine Neigung seither doch, Sie wissen es, stets die engsten Grenzen geachtet; aber ich kann es Ihnen, der Sie, außer dort, wohin nur die Engel Einblick haben, in meinem Herzen lesen, sagen: diese Neigung ist in meinem Fall die Quelle manches Glückes gewesen. Er hat mir die Kraft gegeben, meine Armut auf mich zu nehmen, vielleicht hat er mir den Gram über den furchtbaren Verlust gelindert, dessen Trauer sich mehr in meiner äußeren Kleidung zum Ausdruck bringt, als er noch in meiner Seele herrscht. Ach, ich tat unrecht! Ja, die Liebe war bei mir stärker als der Dank für meinen Paten, und Gott hat das gestraft. Nun, was denn? Ich habe in mir die Frau Saviniens respektiert: ich war zu stolz, und vielleicht ist es dieser Stolz, den Gott trifft. Wie Sie mir gesagt haben: Gott allein muß der Anfang und der Ausgang unserer Handlungen sein.«

Der Pfarrer war gerührt, als er ihre Tränen über das bleiche Gesicht rinnen sah. Je größer die Sehnsucht des armen Mädchens gewesen war, um so tiefer fiel sie.

»Aber«, fuhr sie fort, »nun ich wieder die arme Waise bin, werde ich auch die Empfindungen einer solchen wiederzugewinnen wissen. Und schließlich: soll ich für den, den ich liebe, ein Stein am Halse sein? Was tut er hier in Nemours? Wer bin ich, daß ich Ansprüche an ihn erheben könnte? Lieb ich ihn denn nicht mit einer so göttlichen Freundschaft, daß sie bis zum letzten meines Glückes, meiner Hoffnungen geht? … Sie wissen ja, wieviel Vorwürfe ich mir gemacht habe, meine Liebe auf ein Grab zu setzen, sie abhängig zu wissen von dem Todestage dieser alten Dame. Wenn Savinien durch eine andere reich und glücklich wird, so besitze ich genausoviel, daß ich meinen Eintritt in ein Kloster bestreiten kann, und ich werde sofort gehen. Es dürfen in dem Herzen eines Weibes nicht zwei Lieben sein, wie es im Himmel nicht zwei Herren gibt. Und das geistliche Leben hat mich von je angezogen.«

»Er konnte doch seine Mutter nicht allein nach Rouvre gehen lassen«, sagte sanft der gute Pfarrer.

»Sprechen wir nicht mehr davon, mein lieber Herr Chaperon. Ich werde ihm noch heute abend schreiben und ihm seine Freiheit geben. Es freut mich, daß ich einen Grund habe, die Fenster dieses Zimmers zu schließen.«

Und sie legte dem Greis den anonymen Brief vor und sagte ihm, daß sie ihren unbekannten Liebhaber nicht verfolgen lassen wollte.

»Oh, es war auch ein an Frau von Portenduère gerichteter anonymer Brief, der sie bewogen hat, nach Rouvre zu gehen«, rief der Pfarrer. »Ohne Zweifel werden Sie von einem schlechten Menschen verfolgt.«

»Und warum? Weder Savinien noch ich haben jemand etwas Böses getan, und wir stören hier niemanden mehr.«

»Schließlich, liebe Kleine, werden wir aus dieser Krise Vorteil ziehen. Sie hebt unsere kleine Gesellschaft auf, und so können wir die Bibliothek unseres armen Freundes ordnen. Die Bücher blieben in Haufen; Bongrand und ich werden sie aufstellen, denn wir beabsichtigen, hier noch Nachforschungen anzustellen. Setzen Sie Ihr Vertrauen auf Gott; aber denken Sie auch daran, daß Sie in dem guten Friedensrichter und mir zwei ergebene Freunde haben.«

»Das ist viel«, sagte sie, während sie den Pfarrer bis zur Haustür geleitete, wobei sie wie ein Vogel, der aus seinem Nest auslugt, einen langen Hals machte, in der Hoffnung, Savinien doch noch zu sehen.

In diesem Augenblick blieben Minoret und Goupil, die von einem Wiesenspaziergang zurückkehrten, bei ihnen stehen, und der Erbe des Doktors sagte zu Ursula:

»Was ist Ihnen, liebe Cousine? Denn ich bin doch noch Ihr Vetter, nicht wahr? Sie scheinen so verändert?«

Goupil warf Ursula so glühende Blicke zu, daß es sie erschreckte; ohne zu antworten, kehrte sie ins Haus zurück.

»Sie ist menschenscheu«, wandte Minoret sich an den Pfarrer.

»Fräulein Mirouet tut recht daran, wenn sie an der Haustür nicht mit Männern plaudert; sie ist zu jung dazu …«

»Oh!« machte Goupil. »Sie wissen doch, daß es ihr an Liebhabern nicht fehlt.«

Der Pfarrer beeilte sich zu grüßen und richtete seine Schritte in aller Eile in die Rue des Bourgeois hinein.

»Nun gut«, sagte der Erste Schreiber zu Minoret. »Das heizt ein! Sie ist schon bloß noch wie eine Tote; aber vor Ablauf von vierzehn Tagen wird sie die Stadt verlassen haben. Sie werden sehen.«

»Es ist besser, Sie zum Freund als zum Feind zu haben«, sagte Minoret, den das abscheuliche Lächeln erschreckte, das Goupils Gesicht den teuflischen Ausdruck verlieh, den Joseph Brideau dem Mephistopheles Goethes gegeben hat.

»Ich glaub's wohl«, antwortete Goupil. »Wenn sie mich nicht heiratet, werd ich sie zu Tode ärgern.«

»Mach es, Kleiner, und ich gebe dir so viel Geld, daß du dich als Notar in Paris auftun kannst; du könntest dann eine reiche Frau heiraten …«

»Armes Mädchen! Was hat sie Ihnen denn getan?« fragte der Schreiber überrascht.

»Sie ärgert mich!« sagte Minoret plump.

»Warten Sie bis Montag, Sie werden dann sehen, wie ich ihr aufspiele«, sagte Goupil, während er den Gefühlsausdruck des ehemaligen Posthalters studierte.

Am nächsten Tage ging die Bougival zu Savinien und sagte ihm, indem sie ihm einen Brief hinhielt:

»Ich weiß nicht, was Ihnen das liebe Kind geschrieben hat; aber sie ist heute morgen wie eine Tote.«

Wer sollte aus diesem an Savinien gerichteten Briefe nicht die Pein ahnen, mit der Ursula die Nacht über gerungen hatte?

›Mein teurer Savinien, Ihre Mutter will Sie mit Fräulein von Rouvre verheiraten, hat man mir gesagt, und vielleicht hat sie recht. Sie stehen zwischen einem fast ärmlichen und einem sehr reichen Leben, zwischen der Verlobten Ihres Herzens und einer Frau von Welt, zwischen dem Gehorsam gegen Ihre Mutter und Ihrer Wahl, denn ich glaube noch immer, daß Sie mich gewählt haben. Savinien, wenn Sie vor einem Entschluß stehen, so will ich, daß er in aller Freiheit gefaßt werde: ich gebe Ihnen Ihr Wort zurück, das Sie gegeben haben, nicht mir, sondern Ihnen selbst in einem Augenblicke, der niemals meinem Gedächtnis entschwinden wird und der, wie alle die Tage, die seitdem dahingegangen sind, rein war und von einer himmlischen Süße. Diese Erinnerung genügt mir für ein ganzes Leben. Wenn Sie auf Ihrem Eid bestehen, dann wird ein dunkler, schrecklicher Gedanke mein Leben beunruhigen. Inmitten unserer Entbehrungen, die bis heute so heiter hingenommen wurden, könnten Sie später denken, daß es für Sie soviel besser gewesen wäre, den Gesetzen der Welt gehorcht zu haben. Wenn Sie imstande wären, diesen Gedanken zum Ausdruck zu bringen, so wäre das für mich ein schmerzliches Todesurteil; sprächen Sie ihn aber nicht aus, so würde ich aus der geringsten Verdüsterung Ihrer Stirn Argwohn schöpfen. Teurer Savinien, ich habe Sie stets allem auf der Welt vorgezogen. Ich konnte es, da mein Pate, obschon eifersüchtig, mir sagte: "Liebe ihn, meine Tochter; ihr werdet euch sicher eines Tages der eine dem anderen angehören." Als ich nach Paris kam, liebte ich Sie ohne Hoffnung, und diese Empfindung genügte mir. Ich weiß nicht, ob ich wieder dazu gelangen werde, doch ich werde es versuchen. Was sind wir übrigens in diesem Augenblick? Ein Bruder und eine Schwester. Lassen wir's dabei. Heiraten Sie dieses glückliche Mädchen, dem die Freude werden wird, Ihrem Namen den Glanz hinzuzufügen, dessen er bedarf und den ich nach dem Urteil Ihrer Mutter beeinträchtige. Sie werden niemals von mir hören. Die Welt wird Ihren Schritt billigen. Ich werde Ihnen niemals Vorwürfe machen und werde Sie immer lieben. Also Lebewohl!‹

»Warten Sie!« rief der Edelmann.

Er ließ die Bougival Platz nehmen und schrieb eilig diese kurzen Worte:

›Meine teure Ursula, Ihr Brief bricht mir das Herz, weil Sie sich ganz unnötig soviel Leid verursacht und weil zum ersten Mal unsere Herzen aufgehört haben, sich zu verstehen. Wenn Sie nicht meine Frau sind, so deshalb, weil ich mich noch nicht ohne die Zustimmung meiner Mutter verheiraten kann. Übrigens, sind achttausend Livres Rente in einem hübschen Landhaus am Ufer des Loing nicht ein Vermögen? Wir haben ausgerechnet, daß wir mit der Bougival im Jahr fünftausend Livres sparen! Sie haben mir eines Abends im Garten Ihres Onkels gestattet, Sie als meine Verlobte zu betrachten, und Sie können nicht allein die Bande lösen, die uns verknüpfen. Muß ich Ihnen also noch sagen, daß ich gestern Herrn von Rouvre rundweg erklärt habe, daß ich, wenn ich frei wäre, mein Vermögen nicht von einer jungen Person empfangen wollte, die mir fremd bleiben würde? Meine Mutter will Sie nicht mehr empfangen, ich gehe des Glückes unserer Abendgesellschaft verlustig; aber entziehen Sie mir nicht den kurzen Augenblick, wo ich Sie an Ihrem Fenster sprechen kann … Auf heut abend. Nichts vermag uns zu trennen.‹

»Gehen Sie, liebe Alte! Sie soll nicht einen Augenblick unnötig in Unruhe sein …«

Um vier Uhr nachmittags traf Savinien auf der Rückkehr von dem Spaziergang, den er alle Tage eigens machte, um vor dem Hause Ursulas vorbeizukommen, seine Geliebte ein wenig bleich von den so plötzlichen Gemütserschütterungen an.

»Ich glaube, bis jetzt habe ich es noch gar nicht gewußt, was es für eine Freude bedeutet, Sie zu sehen«, sagte sie zu ihm.

»Sie haben mir gesagt«, antwortete Savinien lächelnd, »denn ich erinnere mich aller Ihrer Worte: ›Die Liebe will Geduld, wir wollen warten!‹ Sie haben also, teures Kind, die Liebe vom Vertrauen getrennt? … Ah, hier ist das Ende unseres Streites! Sie behaupten, mich mehr zu lieben als ich Sie. Habe ich jemals an Ihnen gezweifelt?« fragte er sie, während er ihr einen Feldblumenstrauß darbot, dessen Anordnung seine Gedanken zum Ausdruck brachte.

»Sie haben keine Ursache, an mir zu zweifeln«, antwortete sie. »Übrigens wissen Sie nicht alles«, fügte sie mit beunruhigter Miene hinzu.

Sie hatte auf der Post alle Briefe zurückweisen lassen. Aber ohne daß sie eine Ahnung davon hatte, durch welchen Zauber es geschehen war, hatte sie, einige Augenblicke, nachdem Savinien, den sie aus der Rue des Bourgeois in die Grand' Rue hatte einbiegen sehen, sich entfernt, in ihrem Lehnstuhl ein Papier gefunden, auf dem geschrieben war: ›Zittern Sie! Der verschmähte Liebhaber wird böser als ein Tiger werden.‹ Trotzdem er sie darum beschworen, hatte sie aus Vorsicht Savinien das schreckliche Geheimnis ihrer Furcht nicht anvertrauen wollen. Nur die unaussprechliche Freude, Savinien wiederzusehen, nachdem sie geglaubt, ihn verloren zu haben, konnte sie über den tödlichen Schreck hinwegbringen, der sie ergriff. Für jedermann bedeutet ein unbestimmtes Unglück eine fürchterliche Seelenqual. Das Leiden nimmt dann das Ausmaß des Unbekannten an, das sicherlich mit dem unendlichen Wesen der Seele gleichbedeutend ist. Aber für Ursula war es die größte Pein. Sie fuhr beim mindesten Geräusch furchtbar zusammen, sie mißtraute der Stille, und sie hatte die Wände im Verdacht, im Komplott zu sein. Schließlich störte es ihren Schlaf. Goupil, der von ihrer zarten, blumenhaften Konstitution nichts wußte, hatte mit dem Instinkt des Bösewichts das Gift gefunden, das sie brechen, sie töten mußte. Doch verging der folgende Tag ohne weiteren Zwischenfall. Ursula spielte sehr spät Piano; schlaftrunken und so gut wie beruhigt legte sie sich schlafen. Gegen Mitternacht aber wurde sie von einem von einer Klarinette, einer Oboe, einer Flöte, einem Klapphorn, einer Posaune, einem Fagott, einem Flageolett und einem Triangel ausgeführten Ständchen geweckt. Das arme Kind, schon darüber bestürzt, Leute auf der Straße zu sehen, erfuhr einen furchtbaren Herzensschreck, als sie eine heisere, gemeine Mannesstimme rufen hörte:

»Für die schöne Ursula Mirouet von ihrem Liebhaber.«

Am nächsten Tag, einem Sonntag, war die ganze Stadt in Aufruhr, und bei ihrem Eintritt wie beim Verlassen der Kirche sah Ursula auf dem Kirchplatz zahlreiche Gruppen, die sich mit ihr beschäftigten und eine schreckliche Neugier an den Tag legten. Die Serenade setzte alle Zungen in Bewegung, denn jeder verlor sich in Vermutungen. Mehr tot als lebendig langte Ursula zu Hause an und ging nicht mehr aus; der Pfarrer hatte ihr geraten, die Abendgebete zu Hause zu sprechen. Als sie eintrat, sah sie in dem mit Ziegeln ausgelegten Flur, der von der Straße nach dem Hofe führte, einen unter der Tür durchgeschobenen Brief; sie hob ihn auf und las ihn mit dem Wunsch, in ihm eine Aufklärung zu finden. Selbst nur wenig empfindsame Wesen können sich vorstellen, was sie empfand, als sie diese schrecklichen Zeilen las:

›Entschließen Sie sich, meine reiche und angebetete Frau zu werden. Ich will Sie. Wenn ich Sie nicht lebend habe, werde ich Sie tot haben. Schreiben Sie das Unglück, das nur Sie treffen wird, Ihrer Weigerung zu.

Der Sie liebt und dem Sie eines Tages gehören werden.‹

Seltsame Sache! In dem Augenblick, wo das sanfte, zarte Opfer dieser Machenschaften zu Boden geschlagen war wie eine zerknickte Blume, wurde ihr Los von den Fräulein Massin, Dionis und Crémière beneidet.

»Sie ist doch recht glücklich«, sagten sie. »Man beschäftigt sich mit ihr, man schmeichelt ihrem Geschmack, man streitet sich um sie! Die Serenade scheint entzückend gewesen zu sein! Es war ein Klapphorn dabei!«

»Was ist ein Klapphorn?«

»Ein neues Musikinstrument! Wart mal! So groß!« sagte Angeline Crémière zu Pamela Massin.

Am Vormittag war Savinien nach Fontainebleau gegangen, um in Erfahrung zu bringen, wer um Regimentsmusiker der Garnison nachgesucht habe; aber da es für jedes Instrument zwei Mann gab, war es unmöglich, die herauszufinden, die in Nemours gewesen waren. Der Oberst ließ den Musikern verbieten, bei Privatleuten ohne Erlaubnis zu spielen. Der Edelmann hatte eine Zusammenkunft mit dem Staatsanwalt, Ursulas Vormund; er setzte ihm die ernsten Folgen, die solche Dinge auf ein junges Mädchen haben mußten, das so fein und zart war, auseinander und bat, mit allen Mitteln, die ihm das Gesetz an die Hand gab, nach dem Urheber der Serenade forschen zu lassen. Drei Tage später gaben mitten in der Nacht drei Violinen, eine Flöte, eine Gitarre und eine Oboe eine zweite Serenade. Diesmal entfernten sich die Musikanten eilig in der Richtung nach Montargis, wo sich damals eine Schauspielertruppe aufhielt. Eine gellende versoffene Stimme hatte zwischen zwei der Stücke gerufen:

»Der Tochter des Musikkapellmeisters Mirouet!«

Ganz Nemours erfuhr also das Gewerbe von Ursulas Vater, dies von dem alten Doktor Minoret so sorgsam gehütete Geheimnis.

Savinien begab sich diesmal nicht nach Montargis; er erhielt am Tage einen anonymen Brief aus Paris, in welchem er diese schreckliche Voraussagung las:

›Du wirst Ursula nicht heiraten. Wenn Du willst, daß sie am Leben bleibt, so beeile Dich, sie dem zu überlassen, der sie mehr liebt als Du; denn er hat sich zum Musiker und Künstler gemacht, um ihr zu gefallen, und will sie eher tot als Deine Frau werden sehen.‹

Der Arzt von Nemours kam jetzt dreimal am Tage zu Ursula, die diese geheimen Nachstellungen in Todesgefahr gebracht hatten. Da sie sich von einer teuflischen Hand in ein Sumpfloch getaucht fühlte, bewahrte dies liebliche Mädchen die Haltung einer Märtyrerin: sie verharrte in einem tiefen Schweigen, richtete ihre Augen gen Himmel und weinte nicht mehr; sie erwartete die Schläge, indem sie mit Inbrunst betete und für den flehte, der ihr den Tod gab.

»Ich freue mich, daß ich nicht in den Salon hinabsteigen kann«, sagte sie zu den Herren Bongrand und Chaperon, die sie so wenig wie möglich allein ließen. »›Er‹ wird hierher kommen, und ich fühle mich unwürdig, die Blicke zu empfangen, mit denen ›Er‹ gewohnt ist, mich zu segnen! Glauben Sie, daß ›Er‹ mir mißtraut?«

»Aber wenn Savinien den Urheber dieser Infamien nicht ausfindig macht, gedenkt er die Vermittlung der Pariser Polizei in Anspruch zu nehmen«, sagte Bongrand.

»Die Unbekannten müssen wohl wissen, daß sie mich zu Tode getroffen haben«, antwortete sie; »sie verhalten sich ruhig.« Der Pfarrer, Bongrand und Savinien verloren sich in Mutmaßungen und Annahmen. Savinien, Tiennette, die Bougival und zwei dem Pfarrer ergebene Personen legten sich aufs Spionieren und waren eine Woche lang auf ihrem Posten; allein keinerlei Unbedachtsamkeit verriet Goupil, der alles allein ins Werk setzte. Der Friedensrichter kam zuerst auf den Gedanken, daß der Urheber der Schandtat über sein Werk erschrocken sei. Ursula gewann die Blässe, die Schwäche der jungen, schwindsüchtigen Engländerinnen. Jeder atmete von seinen Sorgen auf. Es kamen weder Serenaden noch Briefe mehr. Savinien schrieb das Aufhören dieser abscheulichen Mittel den geheimen Nachforschungen des Gerichtes zu, dem er die Briefe, die Ursula, seine Mutter und er selbst erhalten, eingeschickt hatte. Dieser Waffenstillstand war nicht von langer Dauer. Als der Arzt des Nervenfiebers Ursulas Herr geworden war, fand man in dem Augenblick, wo sie wieder Mut gefaßt hatte, eines Morgens gegen Mitte Juli an ihrem Fenster eine Strickleiter befestigt. Der Postillion, der während der Nacht Dienst gehabt hatte, erklärte, daß ein kleiner Mensch in dem Moment, wo er vorbeigekommen sei, im Begriff gewesen wäre, herabzusteigen; und trotz seiner Absicht, anzuhalten, hätten ihn seine Pferde, im Schwung den Abhang bei der Brücke hinunter, an deren Ecke sich Ursulas Haus befand, fort- und aus Nemours hinausgetragen. Eine Ansicht, die von dem Salon von Dionis ausging, schrieb diese Machenschaften dem Marquis von Rouvre zu, der sich damals, da Massin Wechsel von ihm hatte, in einer äußerst peinlichen Lage befand und der durch eine schnelle Verheiratung seiner Tochter mit Savinien, sagte man, das Schloß Rouvre seinen Gläubigern entziehen wollte. Auch sähe Frau von Portenduère mit Vergnügen, sagte man, alles, was Ursula ins Gerede, in Verruf brächte und sie entehre; doch angesichts dieses jungen Hinscheidens fühlte die alte Dame sich gleichsam besiegt. Den Pfarrer Chaperon traf diese letzte Schändlichkeit so lebhaft, daß er ziemlich ernst erkrankte und für einige Tage das Zimmer hüten mußte. Die arme Ursula, die infolge dieses widerlichen Angriffes einen Rückfall erlitten hatte, erhielt durch die Post einen Brief des Pfarrers, der, als man die Schrift erkannte, nicht abgewiesen wurde.

›Liebes Kind, verlassen Sie Nemours und vereiteln Sie auf diese Weise die Bosheit Ihrer Feinde. Vielleicht geht man damit um, das Leben Saviniens zu gefährden. Ich werde Ihnen davon mehr sagen, wenn ich Sie besuchen kommen darf.‹

Das Blatt war unterzeichnet: ›Ihr ergebener Chaperon.‹

Als Savinien, der wie rasend wurde, den Pfarrer aufsuchte, las der arme Priester den Brief wieder und wieder, so war er über die Geschicklichkeit erschrocken, mit der seine Handschrift und Unterschrift nachgeahmt worden waren; denn er hatte nichts geschrieben, und wenn er geschrieben hätte, würde er sich nicht der Post bedient haben, um an Ursula einen Brief gelangen zu lassen. Der gefährliche Zustand, in den diese letzte Abscheulichkeit Ursula versetzte, nötigte Savinien, sich von neuem zum Staatsanwalt zu begeben und ihm den gefälschten Brief des Pfarrers zu überbringen.

»Mit Mitteln, die das Gesetz nicht vorgesehen hat, wird hier ein Mord begangen, und gegen eine Waise, die das Gesetz Ihnen zum Mündel gegeben hat«, sagte der Edelmann zu dem Beamten.

»Wenn Sie Mittel finden, die Sache zu unterdrücken«, antwortete ihm der Staatsanwalt, »so werde ich sie annehmen; aber ich weiß keins! Der nichtswürdige Anonyme hat den besten Vorschlag gemacht. Man muß Fräulein Mirouet zu den Damen der ›Anbetung des heiligen Sakramentes‹ schicken. Inzwischen wird Sie auf mein Ansuchen der Polizeikommissar von Fontainebleau ermächtigen, zu Ihrer Verteidigung Waffen zu tragen. Ich bin selber nach Rouvre gegangen, und Herr von Rouvre ist über den Verdacht, der über ihn umgeht, sehr empört. Minoret, der Vater meines Gehilfen, hat es auf sein Schloß abgesehen. Fräulein von Rouvre heiratet einen reichen polnischen Grafen. Endlich aber begab sich Herr von Rouvre an dem Tage, wo ich ihn aufsuchte, vom Land fort, um einer Schuldhaft zu entgehen.«

Désiré, der von seinem Chef befragt wurde, wagte ihm seine Gedanken nicht zu sagen: er kannte Goupil! Einzig Goupil war dazu imstande, ein Werk durchzuführen, das das Strafgesetzbuch streifte, ohne doch auf einen seiner Artikel hineinzufallen. Die Straflosigkeit, das Geheimnis, der Erfolg steigerten die Verwegenheit Goupils. Der schreckliche Schreiber ließ durch Massin, der sein Diener geworden war, den Marquis von Rouvre verfolgen, um den Edelmann zu zwingen, die Reste seines Landbesitzes Minoret zu verkaufen. Nachdem er Unterhandlungen mit einem Notar in Sens angeknüpft hatte, war er entschlossen, einen neuen Vorstoß zu versuchen, Ursula zu gewinnen. Er gedachte es einigen jungen Pariser Leuten nachzutun, die ihre Frau und ihr Vermögen einer Entführung verdankten. Die Minoret, Massin und Crémière erwiesen Dienste, der Schutz von Dionis, des Maire von Nemours, gestatteten ihm, die Sache zu vertuschen. Er entschloß sich auf der Stelle, die Maske zu lüften, da er Ursula in dem Zustand der Schwäche, in den er sie versetzt hatte, für außerstande hielt, ihm zu widerstehen. Trotzdem hielt er es für geboten, bevor er in seiner schändlichen Sache den letzten Streich tat, eine Auseinandersetzung in Rouvre zu haben, wohin er Minoret begleitete, als dieser sich nach Unterzeichnung des Kontraktes zum erstenmal dorthin begab. Minoret hatte einen vertraulichen Brief erhalten, in welchem sein Sohn ihn um Angaben über das, was sich mit Bezug auf Ursula ereignete, bat, bevor er sie selber mit dem Staatsanwalt aufsuchte, um sie, zum Schutz gegen eine neue Infamie, in ein Kloster zu bringen. Der Staatsanwaltschaftsgehilfe verpflichtete seinen Vater, ihm im Falle, daß diese Nachstellung das Werk eines ihrer Freunde wäre, einen klugen Rat zu geben. Wenn das Gericht auch nicht immer strafen könne, so wisse es doch schließlich alles und behalte es im Auge. Minoret hatte ein großes Ziel erreicht. Hinfort unbeanstandbarer Besitzer des Schlosses Rouvre, eines der schönsten im Gâtinais, hatte er alles in allem aus schönen, reichen, um den Park herum gelegenen Domänen vierzig und einige tausend Franken Einkünfte beisammen. Der Koloß konnte sich über Goupil lustig machen. Schließlich, er rechnete jetzt damit, auf dem Lande zu leben, wo ihn die Erinnerung an Ursula nicht mehr belästigen würde.

»Mein Kleiner«, sagte er zu Goupil, während er auf der Terrasse spazierte, »laß meine Cousine in Ruhe!«

»Bah! …« sagte der Schreiber, der dies sonderbare Verhalten nicht verstehen konnte, denn auch die Dummheit hat ihre Tiefe.

»Oh, ich bin nicht undankbar: du hast mich für zweihundertachtzigtausend Franken in den Besitz dieses schönen, aus Ziegeln und behauenem Stein erbauten Schlosses gebracht, des dazugehörigen Gutes, der Ausgedinge, des Parkes, der Gärten und des Waldes … Nun gut … ja, meiner Treu! ich gebe dir zehn vom Hundert, zwanzigtausend Franken, mit denen du dir ein Gerichtsvollzieherbureau in Nemours kaufen kannst. Und ich garantiere dir die Heirat mit der kleinen Crémière, mit der älteren.«

»Die, welche Klapphorn spricht?« rief Goupil.

»Aber meine Cousine gibt ihr dreißigtausend Franken«, fuhr Minoret fort. »Siehst du, mein Kleiner, du bist zum Gerichtsvollzieher geboren, wie ich zum Posthalter geschaffen war, und man muß immer seiner Bestimmung folgen.«

»Nun gut«, sagte der von der Höhe seiner Hoffnungen herabgestürzte Goupil, »hier sind Marken, zeichnen Sie mir zwanzigtausend Franken, damit ich bares Geld auftreiben kann.«

Für ein Halbjahr hatte Minoret achtzehntausend Franken zu empfangen, auf Grund von Eintragungen, von denen seine Frau nichts wußte; er glaubte, Goupil auf diese Weise loszuwerden, und zeichnete. Als der Erste Schreiber den dummen, riesigen Machiavell in der Rue des Bourgeois in einem Anfall von Herrenfieber erblickte, warf er ihm zum Abschied ein »Auf Wiedersehen!« und einen Blick zu, der jeden anderen erzittern gemacht hätte außer dem albernen Emporkömmling, der von der Höhe einer Terrasse die Gärten und prächtigen Dächer eines im Zeitstil Ludwigs XIII. erbauten Schlosses überblickte.

»Wartest du nicht auf mich?« rief er, als er Goupil sich zu Fuß entfernen sah.

»Sie werden mich auf Ihrem Wege wiederfinden, Papa!« antwortete ihm der zukünftige Gerichtsvollzieher, der nach Rache dürstete und den es drängte, das Wort zu wissen, das ihm das Rätsel lösen sollte, das die sonderbaren Winkelzüge im Benehmen des dicken Minoret seinem Geiste aufgaben.

Seit dem Tage, wo die schändlichste Verleumdung ihr Leben besudelt hatte, ging Ursula mit schnellen Schritten dem Tode entgegen, die Beute einer jener unerklärlichen Krankheiten, die ihren Sitz in der Seele haben. In einer äußersten Blässe, in ihrer langsamen, schwachen, seltenen Rede, ihren matten, sanften Blicken, auf ihrer Stirn verriet sich, tief in ihr, ein verzehrender Gedanke. Sie glaubte, jene geistige, keusche Blumenkrone, die zu allen Zeiten die Völker auf dem Haupt der Jungfrauen haben erblicken wollen, verloren zu haben. In der Leere und dem Schweigen, die in ihr waren, vernahm sie die schändenden Vorwürfe, die boshaften Auslegungen, das Lachen der kleinen Stadt. Die Last wurde zu drückend für sie, und ihre Unschuld war viel zu zart, als daß sie solche Verletzung zu überleben vermochte. Sie beklagte sich nicht mehr, stets hatte sie ein schmerzliches Lächeln auf den Lippen, und oft richtete sich ihr Blick gen Himmel, wie um den Herrn der Engel gegen die Ungerechtigkeit der Menschen anzurufen. Als Goupil nach Nemours zurückkehrte, war Ursula am Arm der Bougival und des Arztes von Nemours aus ihrer Kammer zum Erdgeschoß herabgestiegen. Es handelte sich um ein ungeheures Ereignis. Als Frau von Portenduère gehört hatte, daß dies junge Mädchen sterbe wie ein Hermelin und daß ihre Ehre reiner wäre als selbst die von Clarissa Harlowe, kam sie sie besuchen und sie zu trösten. Der Anblick ihres Sohnes, der die ganze vergangene Nacht davon gesprochen hatte, sich das Leben nehmen zu wollen, beugte die alte Bretonin. Frau von Portenduère fand es übrigens ihrer Würde entsprechend, einem jungen, so reinen Mädchen Mut zu machen, und erblickte in ihrem Besuch ein Gegengewicht gegen all das Schlechte, was die kleine Stadt getan hatte. Ihre Auffassung, ohne Zweifel gewichtiger als die der Menge, würde ein Zeichen für die Macht des Adels sein. Dieser von Abbé Chaperon angekündigte Schritt hatte bei Ursula eine Umwälzung bewirkt und dem verzweifelnden Arzte Hoffnung gegeben, der davon sprach, den Rat der berühmtesten Pariser Ärzte einzuholen. Man hatte Ursula in den Lehnstuhl ihres Vormundes gesetzt, und so leuchtete das Wesen ihrer Schönheit, daß sie in ihrer Trauer und ihrem Leiden schöner erschien als je in ihren früheren glücklichen Zeiten. Als Savinien, an der Seite seiner Mutter, erschien, bekam die junge Kranke Farbe.

»Stehen Sie nicht auf, liebes Kind«, sagte die alte Dame mit gebietender Stimme. »So krank und schwach ich selber bin, wollte ich Sie doch besuchen kommen, um Ihnen zu sagen, was ich über das Geschehene denke: Ich achte Sie als das reinste, frömmste und bezauberndste Mädchen des Gâtinais und finde Sie für würdig, einen Edelmann zu beglücken.«

Anfangs vermochte Ursula nicht zu antworten; sie ergriff die welken Hände von Saviniens Mutter und küßte sie unter Tränen.

»Ach, Madame!« antwortete sie mit schwacher Stimme. »Ich hätte nie die Kühnheit gehabt, daran zu denken, mich über meinen Stand zu erheben, wenn ich nicht durch Versprechungen dazu ermutigt worden wäre, und mein einziger Besitz war eine Neigung ohne Grenzen; aber man hat die Mittel gefunden, mich für immer von dem zu trennen, den ich liebe: man hat mich seiner unwürdig gemacht … Nie«, sagte sie mit einem Ausdruck in ihrer Stimme, der die Anwesenden schmerzlich traf, »nie werde ich zugeben, jemandem, sei es, wer es sei, eine entwürdigte Hand zu reichen, eine welk gewordene Ehre. Ich liebte zu sehr … ich darf es in dem Zustand, in dem ich mich befinde, aussprechen: ich liebte ein menschliches Wesen fast ebensosehr wie Gott. So, Gott …«

»Nicht doch, nicht doch, liebe Kleine, vergehen Sie sich nicht an Gott! Nicht doch, meine Tochter«, sagte die alte Dame, nicht ohne Anstrengung, »messen Sie einem nichtswürdigen Scherz, auf den niemand etwas gibt, nicht solche Bedeutung bei. Ich verspreche Ihnen: Sie werden leben und glücklich sein.«

»Du wirst glücklich sein!« sagte Savinien, indem er vor Ursula hinkniete und ihr die Hände küßte. »Meine Mutter hat dich ›meine Tochter‹ genannt.«

»Genug!« sagte der Arzt, der den Puls seiner Kranken befühlte. »Töten Sie sie nicht vor Freude.«

In diesem Augenblick stieß Goupil, der die Flurtür offen gefunden, die Tür des kleinen Salons auf und zeigte sein schreckliches, von Rachegedanken, die unterwegs in seinem Innern aufgeschossen waren, belebtes Gesicht.

»Herr von Portenduère!« sagte er mit einer Stimme, die dem Zischen einer in ihr Loch getriebenen Viper glich.

»Was wollen Sie?« antwortete Savinien, sich erhebend.

»Auf ein Wort!«

Savinien ging auf den Flur hinaus, und Goupil führte ihn in den kleinen Hof.

»Schwören Sie mir beim Leben Ursulas, die Sie lieben, und bei Ihrer Edelmannsehre, auf die Sie halten, daß es immer zwischen uns sei, als hätte ich Ihnen nichts von dem gesagt, was ich Ihnen sagen will, und ich werde Sie über die Ursachen der gegen Fräulein Mirouet gerichteten Verfolgungen aufklären.«

»Hören sie damit auf?«

»Ja.«

»Kann ich Vergeltung üben?«

»Am Urheber, ja; aber am Werkzeug, nein.«

»Warum?«

»Aber … das Werkzeug bin ich …«

Savinien erbleichte.

»Ich komme, um Ursula auf einen Augenblick zu sehen …« erwiderte der Schreiber.

»Ursula?« sagte der Edelmann, indem er Goupil ansah.

»Fräulein Mirouet«, fuhr Goupil fort, den der Ton Saviniens ein achtungsvolles Benehmen annehmen ließ. »Ich möchte mit all meinem Blute rückgängig machen, was geschehen ist. Ich bereue … Wenn Sie mich im Duell oder auf andere Weise töten, was hätten Sie von meinem Blut? Könnten Sie es trinken? Es würde Sie sofort vergiften.«

Der kalte Verstand dieses Menschen und der Drang, alles zu erfahren, bändigten die Blutwallungen Saviniens; er sah ihn mit einem festen Blick an, der den halb buckligen Menschen die Augen senken machte.

»Wer hat dich als Werkzeug benutzt?«

»Schwören Sie?«

»Du willst, daß dir nichts geschehen soll?«

»Ich will, daß Sie und Fräulein Mirouet mir verzeihen.«

»Sie wird dir verzeihen, aber ich: niemals!«

»Aber werden Sie vergessen?«

Welche furchtbare Gewalt hat die auf das eigene Interesse gestützte Überlegung! Hier waren zwei Menschen, von denen jeder den andern zerfleischen wollte, in einem kleinen Hofe einander in nächster Nähe, genötigt, miteinander zu sprechen, geeint durch die gleiche Empfindung.

»Ich werde dir verzeihen, aber ich werde nicht vergessen.«

»Tut nichts«, sagte Goupil kalt.

Savinien verlor die Geduld. Er verabreichte diesem Gesicht eine Ohrfeige, daß der Hof widerhallte und Goupil beinahe über den Haufen geworfen wurde, er selbst aber strauchelte.

»Ich habe nur das, was ich verdiene«, sagte Goupil; »ich habe eine Dummheit gemacht! Ich hielt Sie für adliger, als Sie sind. Sie haben einen Vorteil mißbraucht, den ich Ihnen bot … Sie sind jetzt in meiner Gewalt!« sagte er, indem er Savinien einen feindseligen Blick zuwarf.

»Sie sind ein Mörder!« sagte der Edelmann.

»Nicht mehr, als das Messer ein Mörder ist«, entgegnete Goupil.

»Ich bitte es Ihnen ab«, warf Savinien hin.

»Sie sind also genug gerächt?« sagte Goupil mit einer grimmigen Ironie. »Lassen Sie's dabei?«

»Verzeihung und gegenseitiges Vergessen«, antwortete Savinien.

»Ihre Hand?« sagte der Schreiber, indem er dem Edelmann die seinige hinhielt.

»Hier ist sie«, antwortete Savinien, der diese Schande aus Liebe zu Ursula hinunterschluckte. »Aber sprechen Sie nun: Wer hat Sie angestiftet?«

Goupil betrachtete sozusagen die beiden Waagschalen, auf deren einer die Ohrfeige Saviniens und auf deren anderer sein Haß gegen Minoret lagen. Zwei Sekunden zögerte er, aber schließlich rief in ihm eine Stimme: ›Du wirst Notar werden!‹ und er antwortete:

»Verzeihung und Vergessen? Ja, auf beiden Seiten, mein Herr«, und drückte dem Edelmann die Hand.

»Wer hat Ursula also verfolgt?« fragte Savinien.

»Minoret! Er wollte sie ins Grab gebracht sehen … Warum? Das weiß ich nicht; aber wir werden hinter den Grund kommen. Bringen Sie mich in all das nicht hinein, ich werde für Sie nichts tun können, wenn Sie mir mißtrauen. Anstatt Ursula anzugreifen, werd ich sie verteidigen; anstatt Minoret zu dienen, werd ich versuchen, seine Pläne zu vereiteln. Ich habe nichts im Auge als ihn zu ruinieren, ihn zugrunde zu richten. Und ich werde ihn unter meine Füße treten, werde auf seinem Kadaver tanzen, werde mir aus seinen Knochen ein Dominospiel machen! Morgen wird man an allen Hauswänden von Nemours, Fontainebleau, Rouvre mit roter Kreide lesen: ›Minoret ist ein Dieb!‹ Oh, ich werde ihn, verdamm mich! explodieren lassen wie einen Mörser. Jetzt sind wir durch eine Indiskretion verbunden; nun gut, wenn Sie es wollen, werde ich mich vor Fräulein Mirouet aufs Knie werfen, ihr erklären, daß ich die unsinnige Leidenschaft, die mich trieb, sie zu töten, verfluche, werde sie bitten, mir zu verzeihen. Das wird ihr guttun! Der Friedensrichter und der Pfarrer sind da, diese zwei Zeugen genügen; aber Herr Bongrand muß sich auf seine Ehre verpflichten, mir in meiner Karriere nicht zu schaden. Ich habe jetzt eine.«

»Warten Sie einen Augenblick«, antwortete Savinien, der von dieser Enthüllung ganz betäubt war.

»Ursula, liebes Kind«, sagte er, als er in den Salon eintrat, »den Urheber von all Ihren Leiden schaudert vor seiner Tat, er bereut und will Sie um Verzeihung bitten, in Gegenwart dieser Herren, unter der Bedingung, daß alles vergessen sein soll.«

»Wie, Goupil?« sagten zugleich der Pfarrer, der Friedensrichter und der Arzt.

»Wahren Sie ihm das Geheimnis«, sagte Ursula, indem sie den Finger an die Lippen legte.

Goupil vernahm dies Wort, sah die Erregung Ursulas und fühlte sich bewegt.

»Mein Fräulein«, sagte er in eindringlichem Ton, »ich wünschte, daß jetzt ganz Nemours es hören könnte, wie ich Ihnen bekenne, daß eine unglückselige Leidenschaft mir den Kopf verwirrt und diese Verbrechen eingegeben hat, die den Tadel aller ehrenwerten Leute verdienen. Das, was ich hier sage, werde ich überall wiederholen und das durch so böse Scherze verursachte Leid beklagen; vielleicht aber können sie dazu dienen, Ihr Glück zu beschleunigen«, sagte er, während er sich erhob, nicht ohne einige Bosheit, »da ich Frau von Portenduère hier sehe.«

»Das ist sehr gut, Goupil«, sagte der Pfarrer. »Das Fräulein hat Ihnen verziehen, doch dürfen Sie niemals vergessen, daß Sie beinahe zum Mörder geworden sind.«

»Herr Bongrand«, fuhr Goupil fort, indem er sich an den Friedensrichter wandte, »ich werde heut abend mit Lecœur seines Bureaus wegen verhandeln; ich hoffe, daß mir diese Wiederherstellung von Ihrer Seite aus nicht schaden wird und daß Sie meine Forderung vor dem Gericht und dem Ministerium unterstützen werden.«

Der Friedensrichter nickte nachdenklich Zustimmung, und Goupil ging, um des besten der beiden Gerichtsvollzieherbureaus von Nemours wegen zu verhandeln. Alle andern blieben bei Ursula und bemühten sich den Abend über, die Ruhe und den Frieden ihrer Seele neu erstehen zu lassen, in die die Genugtuung sie versetzt hatte, die der Schreiber ihr gegeben und die schon Veränderungen in ihr bewirkte.

»Ganz Nemours wird das erfahren«, sagte Bongrand.

»Sie sehen, liebes Kind, daß Gott Sie noch nicht zu sich rufen will«, sagte der Pfarrer …

Ziemlich spät kehrte Minoret von Rouvre zurück und aß zu Abend. Gegen neun Uhr, bei sinkender Sonne, befand er sich in seinem chinesischen Gartenhaus und verdaute neben seiner Frau, mit der er Pläne wegen Désirés Zukunft faßte, sein Mahl. Mit Désiré stand es, seit er der Obrigkeit angehörte, gut; er arbeitete, man hatte Aussicht, ihn als Nachfolger des Staatsanwaltes von Fontainebleau zu sehen, der, wie man sagte, nach Melun ging. Man mußte ihm eine Frau suchen, eine arme Tochter aus einer alten Adelsfamilie; dann konnte er in Paris bei der Regierung ankommen. Vielleicht konnten sie ihn zum Abgeordneten von Fontainebleau wählen lassen, wo Zélie, nachdem sie die schöne Jahreszeit in Rouvre gewohnt, den Winter zuzubringen gedachte. Indem er sich innerlich Beifall spendete, daß er alles so gut geordnet hatte, dachte Minoret nicht mehr an Ursula, obgleich gerade in diesem Augenblick sich das von ihm so plump eröffnete Drama in einer furchtbaren Weise entwickelte.

»Herr von Portenduère ist da und möchte Sie sprechen«, meldete Cabirolle.

»Lassen Sie ihn eintreten«, antwortete Zélie.

Die Schatten der Abenddämmerung hinderten Frau Minoret, das plötzliche Erblassen ihres Mannes zu bemerken, der erzitterte, als er auf dem Fußboden der Galerie, wo vordem die Bibliothek des Doktors gewesen war, das Geräusch von Saviniens Schritten vernahm. Die unbestimmte Vorahnung eines Unglücks tobte durch die Adern des Ausbeuters. Savinien erschien und blieb, den Hut auf, den Stock in der Hand, die Arme über der Brust verschränkt, vor den beiden Eheleuten stehen.

»Ich komme, Herr und Frau Minoret, um die Gründe zu erfahren, die Sie bestimmten, auf eine so ruchlose Weise ein junges Mädchen zu peinigen, das, wie ganz Nemours weiß, meine zukünftige Gattin ist; warum haben Sie versucht, ihr Glück zu vernichten; warum wollten Sie ihren Tod; und warum haben Sie sie den Insulten eines Goupil ausgesetzt? … Antworten Sie!«

»Ist es komisch von Ihnen, Herr Savinien«, sagte Zélie, »zu kommen und uns um die Gründe einer Sache zu fragen, die wir für unentwirrbar halten! Was geht mich Ursula an! Seit dem Tode Onkel Minorets hab ich nicht mehr an sie gedacht als an mein erstes Hemd! Ich habe Goupil nicht ein Wort ihretwegen eingeflüstert, diesem komischen Sonderling, dem ich nicht die Interessen meines Hundes anvertrauen würde. – Nun gut, wirst du antworten, Minoret? Willst du dich von dem Herrn aufhalten und dich solcher Ruchlosigkeiten beschuldigen lassen, mit denen du nichts zu tun hast? Als ob ein Mann, der achtundvierzigtausend Livres in Landbesitz hat, der zu einem Schloß gehört, das eines Prinzen würdig wäre, sich zu derartigen Dummheiten erniedrigte! Raff dich doch zusammen und sitze nicht da wie ein Jammerlappen!«

»Ich weiß nicht, was der Herr will«, antwortete Minoret endlich mit seinem Stimmchen, dessen Beben bei seiner Höhe leicht bemerkbar war. »Welchen Grund sollte ich haben, diese Kleine zu verfolgen? Ich habe zu Goupil vielleicht gesagt, daß mich ihr Verbleiben in Nemours verdrösse; mein Sohn Désiré war in sie vernarrt, und ich wollte nicht, daß sie seine Frau würde. Das ist alles.«

»Goupil hat mir alles gestanden, Herr Minoret!«

Es trat eine schreckliche Stille ein, unter der die drei Personen sich prüften. Zélie hatte in dem dicken Gesicht ihres Kolosses eine nervöse Bewegung wahrgenommen.

»Ich will von Ihnen, die Sie zwar nichts sind als Insekten, eine öffentliche Genugtuung haben, und ich werde sie haben«, fuhr der Edelmann fort. »Nicht von Ihnen selbst, einem Mann von siebenundsechzig Jahren, werde ich für die Fräulein Mirouet zugefügten Untaten Rechenschaft verlangen, aber von Ihrem Sohne. Das erstemal, als der junge Herr Minoret Nemours betrat, sind wir uns begegnet; ich will, daß er sich mit mir schlägt, und er wird sich schlagen, oder er wird so empfindlich abgestraft, daß er sich nicht mehr sehen lassen kann; wenn er nicht nach Nemours kommt, werde ich nach Fontainebleau gehen! Ich werde Genugtuung erhalten! Es soll nicht gesagt werden, daß Sie in feiger Weise ein armes junges Mädchen zu entehren versucht hätten, ohne daß es Beistand gefunden hätte.«

»Aber die Verleumdungen eines Goupil … sind … nicht …« brachte Minoret hervor.

»Wollen Sie«, unterbrach ihn Savinien, »daß ich Sie ihm Angesicht gegen Angesicht gegenüberstelle? Glauben Sie: lassen Sie die Angelegenheit nicht ruchbar werden; sie besteht zwischen Ihnen, Goupil und mir; lassen Sie sie, wie sie ist, und Gott soll in dem Duell entscheiden, das ich Ihrem Sohn vorzuschlagen die Ehre haben werde.«

»Aber das geht ja nicht!« rief Zélie. »Ah! Sie denken, daß ich Désiré sich mit Ihnen schlagen lassen werde, mit einem ehemaligen Seeoffizier, dessen Handwerk es ist, Degen und Pistole zu führen! Wenn Sie sich über Minoret zu beklagen haben, hier ist Minoret, nehmen Sie Minoret, schlagen Sie sich mit Minoret! Aber mein Junge, der, wie Sie zugestehen, an all dem unschuldig ist, sollte darunter leiden? … Sie sollen eher sonst was besehen, Herrchen! – Vorwärts, Minoret, du sitzt da, stumpfsinnig wie ein großer Gimpel! Du bist hier zu Hause und läßt dem Herrn vor deiner Frau den Hut auf dem Kopfe! Sie werden sich davonmachen, Herrchen! Jeder ist Herr in seinem Hause. Ich weiß nicht, was Sie mit Ihrem Zeug da wollen; machen Sie kehrt; und wenn Sie sich an Désiré vergreifen, bekommen Sie's mit mir zu tun, Sie und Ihre Trine von Ursula da!«

Sie schellte lebhaft, um ihre Leute herbeizurufen.

»Denken Sie an das, was ich Ihnen gesagt habe!« wiederholte Savinien, der, ohne sich um Zélies Tirade zu bekümmern, ging und dieses Damoklesschwert über dem Paar hängen ließ.

»Ah, so was! Minoret«, wandte Zélie sich an ihren Mann, »wirst du mir erklären, was das bedeutet? Ein junger Mann kommt nicht ohne allen Grund in ein bürgerliches Haus, um solch einen Tanz aufzuführen und das Blut eines Haussohnes zu fordern!«

»Es ist irgendein Streich dieses ekligen Affen Goupil, dem ich versprochen habe, ihm zum Notariat zu verhelfen, wenn er mir zu einem guten Preis Rouvre verschaffte. Ich habe ihm zu zehn vom Hundert zwanzigtausend Franken in Wechseln gegeben, und er ist offenbar nicht damit zufrieden.«

»Ja, aber welchen Grund kann er vorher gehabt haben, Ursula Serenaden und Niederträchtigkeiten anzuhängen?«

»Er hat sie zur Frau gewollt.«

»Ein Mädchen ohne einen Sou, er? Diese Katze? Warte, Minoret, du machst mir Dummheiten! Und du bist natürlich zu dumm und läßt dich damit einfangen, mein Junge. Da steckt was dahinter, und du wirst es mir sagen.«

»Es ist nichts.«

»Es ist nichts? Und ich sage dir: du lügst, und wir werden sehen!«

»Willst du mich in Ruhe lassen?«

»Ich werde den Hahn dieser Giftfontäne, die du kennst, Goupil, aufdrehen, und du wirst schlecht dabei wegkommen.«

»Wie du willst.«

»Ich weiß ganz genau, was ich will! Und was ich vor allem will, ist, daß man mir Désiré zufrieden läßt; wenn ihm ein Unglück zustoßen sollte, verstehst du, werde ich etwas tun, was mich aufs Schafott bringt. Désiré! … Aber … Und du tust so, als ob gar nichts wäre!«

Ein auf solche Weise begonnener Zwist zwischen Minoret und seiner Frau konnte nicht ohne anhaltenden häuslichen Streit abgehen. Und so sah der törichte Dieb den Kampf zwischen sich und Ursula durch seine eigene Schuld anwachsen und sich von Seiten eines neuen, furchtbaren Gegners her zuspitzen. Als er am nächsten Tage ausging, Goupil aufzusuchen, den er mit Geld zu beruhigen gedachte, las er an den Hauswänden: ›Minoret ist ein Dieb!‹ Alle, denen er begegnete, bedauerten ihn und erkundigten sich bei ihm, wer der Urheber dieser anonymen Veröffentlichung wäre, und jeder verzieh ihm seine gewundenen Antworten, da man seiner Bedeutungslosigkeit gedachte. Die Dummköpfe ziehen aus ihrer Schwäche mehr Vorteil als die geistvollen Leute aus ihrer Kraft. Ohne ihm zu helfen, sieht man's mit an, wie ein großer Mann gegen das Schicksal ankämpft, aber einen Krämer, der Bankrott macht, unterstützt man. Weiß man, warum? Man hält sich für überlegen, wenn man Toren protegiert, und es verdrießt einen, einem genialen Menschen nicht gleichzustehen. Ein geistvoller Mensch wäre verloren gewesen, wenn er, wie Minoret, mit betroffener Miene absurde Antworten gestammelt hätte. Zélie und ihr Gesinde tilgten die rächerische Aufschrift, wo sie sie fanden; aber sie blieb in Minorets Gesicht haften. Obgleich Goupil am vorigen Tage mit dem Gerichtsvollzieher übereingekommen war, weigerte er sich in sehr unverschämter Weise, seinen Vertrag zu erfüllen.

»Mein lieber Lecœur, ich konnte, sehen Sie, das Notariat des Herrn Dionis kaufen, und ich bin in der Lage, Ihnen andere Käufer zu verschaffen. Stecken Sie Ihren Vertrag wieder ein, es sind bloß zwei Bogen Stempelpapier verloren. Hier sind siebzig Centimes.«

Lecœur hatte viel zuviel Angst vor Goupil, als daß er sich beklagt hätte. Ganz Nemours erfuhr sogleich, daß Minoret Dionis seine Garantie gegeben hätte, Goupil die Erwerbung des Notariats zu erleichtern. Der zukünftige Notar schrieb Savinien einen Brief, in dem er seine Geständnisse bezüglich Minorets in Abrede stellte und dem jungen Adligen sagte, seine neue Stellung, die von dem höchsten Gerichtshof angenommenen Gesetze und seine Achtung vor dem Rechte verböten ihm, sich zu schlagen. Im übrigen machte er den jungen Edelmann darauf aufmerksam, er solle sich in Zukunft gut mit ihm stellen, denn er verstehe sich ausgezeichnet darauf, jemandem ein Bein zu stellen; und er getraue sich, ihm beim ersten Angriff das Bein zu brechen.

Die Häuserwände von Nemours sprachen nicht mehr. Doch der Zwist zwischen Minoret und seiner Frau dauerte weiter, und Savinien bewahrte ein grausames Schweigen. Die Heirat Fräulein Massins mit dem zukünftigen Advokaten war zehn Tage nach diesen Ereignissen stadtbekannt. Fräulein Massin hatte achtzigtausend Franken und ihre Häßlichkeit für sich, Goupil seine Ungestalt und sein Notariat: die Vereinigung erschien also wahrscheinlich und angemessen.

Zwei heimliche Unbekannte ergriffen Goupil um Mitternacht, als er die Massins verließ, auf der Straße, verprügelten ihn und verschwanden. Goupil bewahrte das tiefste Stillschweigen über diesen nächtlichen Auftritt und stellte es einer alten Frau in Abrede, die ihn, als sie aus dem Fenster sah, erkannt zu haben glaubte.

Diesem großen kleinen Ereignisse wurde von dem Friedensrichter, der eine geheimnisvolle Macht Goupils über Minoret wahrnahm und sich gelobt hatte, hinter die Sache zu kommen, nachgespürt.

Obwohl die öffentliche Meinung der kleinen Stadt die vollständige Unschuld Ursulas erkannt hatte, genas Ursula nur langsam. In diesem Zustand körperlicher Abspannung, welche die Seele und den Geist frei ließ, wurde ihre Seele der Schauplatz von Erscheinungen, deren Ergebnisse übrigens schrecklich waren und wohl die Wissenschaft hätten beschäftigen können, wenn diese sonst ihre Aufmerksamkeit auf derartige geheime Dinge richten würde. Zehn Tage nach dem Besuch Frau von Portenduères unterlag Ursula einem Traum, der die Eigenschaft eines übernatürlichen Gesichtes hatte, sowohl hinsichtlich der moralischen Gegebenheiten, wie, sozusagen, der physischen. Der verstorbene Minoret, ihr Pate, erschien ihr und gab ihr ein Zeichen, mit ihm zu kommen; sie kleidete sich an, folgte ihm mitten in der Finsternis bis in das Haus der Rue des Bourgeois, wo sie alles bis ins geringste vorfand, wie es am Todestage ihres Paten gewesen war. Der Greis trug die Kleidung, die er am Tage vor seinem Tode getragen hatte, sein Gesicht war bleich, seine Bewegungen waren lautlos; trotzdem vernahm Ursula seine Stimme vollkommen, obgleich schwach und wie von einem fernen Echo hergetragen. Der Doktor führte sein Mündel bis in das Kabinett des chinesischen Gartenhauses, wo er sie den Marmor des kleinen Boule-Möbels emporheben ließ, wie sie ihn am Tage seines Todes emporgehoben hatte; doch anstatt dort nichts zu finden, sah sie den Brief, den ihr der Pate von dort wegzunehmen aufgetragen hatte; sie erbrach den Brief, las ihn und gleicherweise das zu Saviniens Gunsten gemachte Testament.

»Die Züge der Schrift«, sagte sie dem Pfarrer, »leuchteten, als seien sie von Sonnenstrahlen geschrieben worden; sie brannten mir in die Augen.«

Als sie ihren Onkel ansah, um ihm zu danken, nahm sie auf seinen farblosen Lippen ein wohlwollendes Lächeln wahr. Dann zeigte ihr die Erscheinung mit ihrer schwachen, trotzdem aber deutlichen Stimme Minoret, wie er auf dem Korridor die vertrauliche Mitteilung mit anhörte, wie er das Schloß abschrauben ging und die Papiere wegnahm. Dann ergriff er sein Mündel mit der rechten Hand und nötigte sie, mit seinen Totenschritten mitzugehen und Minoret bis zur Post zu folgen. Ursula durchschritt die Stadt, trat in die Post ein, in das ehemalige Schlafzimmer von Zélie, wo die Erscheinung sie den Räuber sehen ließ, wie er den Brief aufbrach, ihn las und verbrannte.

»Er konnte«, sagte Ursula, »erst mit dem dritten Zündholz Feuer bekommen und die Papiere verbrennen, und er hat die Spuren unter der Asche vergraben. Dann führte mich der Pate in unser Haus zurück, und ich sah Herrn Minoret-Levrault, wie er sich in die Bibliothek schlich, wo er im dritten Bande der ›Pandekten‹ die drei Scheine, jeden zu zwölftausend Livres Rente, nahm, ebenso das Zinsgeld in Banknoten. ›Er ist‹, sagte mir dann der Pate, ›der Urheber der Peinigungen, die dich an den Rand des Grabes gebracht haben; doch Gott will, daß du glücklich wirst. Du wirst noch nicht sterben, sondern Savinien heiraten! Wenn du mich liebst, wenn du Savinien liebst, wirst du dein Vermögen von meinem Neffen zurückfordern. Schwör es mir!‹«

Strahlend wie der Heiland bei der Himmelfahrt hatte die Erscheinung Minorets in dem Zustand der Beklemmung, in dem sich Ursula befand, ihrer Seele eine solche Gewalt angetan, daß sie, um von dem Alp frei zu werden, alles, was ihr Onkel wollte, versprochen hatte. Mitten in der Kammer stehend, das Gesicht dem Porträt ihres Paten zugewandt, das sie seit ihrer Krankheit dorthin gebracht, war sie aufgewacht. Sie legte sich wieder zu Bett, entschlief nach einer lebhaften Gemütsbewegung und erinnerte sich bei ihrem Erwachen an die seltsame Erscheinung, wagte jedoch nicht darüber zu sprechen. Ihr ausgezeichneter Verstand und ihr Feingefühl sträubten sich vor der Enthüllung eines Traumes, dessen Ende und Ursache ihre Geldinteressen waren; sie schrieb ihn natürlich der Plauderei zu, mit welcher die Bougival sie eingeschläfert hatte und in der von der Freigebigkeit ihres Paten die Rede gewesen war und von der Gewißheit, welche die Amme in dieser Hinsicht bewahrte. Doch der Traum kam wieder, und unter Steigerungen, die ihn für sie äußerst schrecklich machten. Zum zweitenmal legte sich die eisige Hand ihres Paten ihr auf die Schulter und verursachte ihr einen schrecklichen Schmerz, eine unbeschreibliche Empfindung.

»Man muß den Toten gehorchen!« sagte er mit Grabesstimme.

»Und aus seinen weißen, leeren Augen«, sagte sie, »rannen Tränen.«

Das drittemal nahm der Tote sie bei ihren langen Zöpfen und zeigte ihr, wie Minoret mit Goupil sprach und ihm Geld versprach, wenn er Ursula nach Sens entführe. Ursula faßte dann den Entschluß, ihre Träume Abbé Chaperon mitzuteilen.

»Herr Pfarrer«, sagte sie eines Abends, »glauben Sie, daß die Toten wiedererscheinen können?«

»Liebes Kind, die heilige Geschichte, die profane Geschichte, die moderne Geschichte bieten mehrere Zeugnisse dafür; aber die Kirche hat daraus niemals einen Glaubensartikel gemacht, und was die Wissenschaft anbetrifft, so spottet sie in Frankreich darüber.«

»Was glauben Sie?«

»Gottes Macht, mein Kind, ist unendlich.«

»Hat mein Pate mit Ihnen über solche Dinge gesprochen?«

»Ja, oft. Er hatte über diesen Gegenstand seine Ansichten vollständig geändert. Seine Bekehrung datiert seit dem Tage, er hat es mir wohl zwanzigmal gesagt, wo in Paris ein Weib Sie für ihn zu Gott beten gehört und den roten Punkt gesehen hat, den Sie in Ihrem Almanach vor den Tag des heiligen Savinien gesetzt hatten.«

Ursula stieß einen durchdringenden Schrei aus, der den Priester erbeben machte; sie erinnerte sich des Auftrittes, wo nach seiner Rückkehr nach Nemours ihr Pate in ihrer Seele gelesen und sich des Almanachs bemächtigt hatte.

»Wenn das so ist«, sagte sie, »sind meine Gesichte möglich. Mein Pate ist mir erschienen wie Jesus seinen Jüngern. Er ist von einem gelben Licht umgeben, spricht! Ich wollte Sie bitten, für die Ruhe seiner Seele eine Messe zu lesen und die Hilfe Gottes anzuflehen, damit diese Erscheinungen aufhören, die mich ganz aufreiben.«

Sie erzählte den hauptsächlichsten Einzelheiten nach ihre drei Träume und bestand auf der Grundwahrheit der Tatsachen, der Freiheit ihrer Bewegungen, dem Somnambulismus ihres inneren Wesens, das, sagte sie, sich unter der Führung der Erscheinung ihres Onkels mit einer außerordentlichen Leichtigkeit von der Stelle bewegte. Was den Priester, der die Wahrhaftigkeit Ursulas kannte, seltsam berührte, war die genaue Beschreibung des ehemals von Zélie Minoret benutzten Zimmers in der Post, wohin Ursula nie gekommen war und von dem sie außerdem nie hatte sprechen hören.

»Auf welche Weise können diese seltsamen Erscheinungen also entstanden sein?« fragte Ursula. »Was dachte mein Pate darüber?«

»Ihr Pate, liebes Kind, ging von Hypothesen aus. Er hatte die Möglichkeit des Bestehens einer geistigen Welt erkannt, einer Welt der Ideen. Wenn die Ideen eine dem Menschen eigentümliche Schöpfung sind, wenn sie aus einem Leben bestehen, das ihnen eigen ist, so müssen sie unseren äußeren Sinnen unzugängliche Gestalten besitzen, die aber für unsere inneren Sinne erfaßbar sind, wenn sie bestimmten Bedingungen entsprechen. So können die Ideen Ihres Paten Sie einhüllen, und vielleicht haben Sie sie mit ihrer Erscheinung ausgestattet. Weiter bestehen jene Handlungen, wenn Minoret sie begangen hat, in Ideen; denn jede Handlung ist das Ergebnis mehrerer Ideen. Nun, wenn die Ideen sich in der geistigen Welt bewegen, hat Ihr Geist sie wahrnehmen können, indem er in sie eindrang. Diese Erscheinungen sind nicht seltsamer als die des Gedächtnisses, und die des Gedächtnisses sind ebenso überraschend und unerklärlich wie die des Pflanzenduftes, der vielleicht die Idee der Pflanze ist.«

»Mein Gott, wie bereichern Sie die Welt! Aber einen Toten sprechen zu hören, ihn schreiten, handeln zu sehen: ist es denn möglich?«

»In Schweden hat«, antwortete Abbé Chaperon, »Swedenborg bis zur äußersten Glaubhaftigkeit erwiesen, daß er mit Toten verkehrte. Aber, übrigens, kommen Sie in die Bibliothek, und Sie können in dem Leben des berühmten Herzogs von Montmorency, der in Toulon enthauptet wurde und der gewiß nicht der Mann war, Flausen auszuhecken, eine Geschichte lesen, die der Ihrigen fast gleichgeartet ist und die sich hundert Jahre zuvor in Cardan ereignet hat.«

Ursula und der Pfarrer stiegen zum ersten Stock hinauf, und der gute Mann suchte ihr eine kleine Ausgabe in Duodezformat, 1666 in Paris gedruckt, die ›Geschichte Heinrichs von Montmorency‹, hervor, die von einem zeitgenössischen Geistlichen geschrieben war, der den Fürsten gekannt hatte.

»Lesen Sie«, sagte der Pfarrer, indem er ihr den Band mit den aufgeschlagenen Seiten 175 und 176 reichte. »Ihr Pate hat diese Stelle oft gelesen, und da! hier finden sich noch Spuren von seinem Tabak.«

»Und er – ist nicht mehr!« sagte Ursula, während sie das Buch nahm und folgende Stelle las:

›Die Belagerung von Privas war bemerkenswert durch den Verlust einiger Personen vom Kommando: zwei Feldmarschälle fanden dabei ihren Tod, und zwar der Marquis d'Uxelles an einer Wunde, die er in den Laufgräben erhielt, und der Marquis von Portes, durch einen Musketenschuß in den Kopf. An dem Tag, wo er den Tod fand, sollte er Marschall von Frankreich werden. Ungefähr im Augenblick des Todes des Marquis ward der Herzog von Montmorency, der in seinem Zelte schlief, durch eine Stimme aufgeweckt, die der des Marquis glich und ihm Lebewohl sagte. Die Liebe, die er für eine Person empfunden, die ihm so nahegestanden hatte, bewirkte, daß er die Erscheinung dieses Traumes seiner Einbildungskraft zuschrieb; und die Arbeit der Nacht, die er seiner Gewohnheit nach in den Laufgräben verbracht, war die Ursache, daß er ohne weitere Furcht wieder einschlief. Doch dieselbe Stimme unterbrach ihn noch einmal, und die Erscheinung, die er nur im Schlaf gesehen hatte, zwang ihn von neuem, aufzuwachen und deutlich die gleichen Worte zu hören, die sie vor ihrem Verschwinden gesprochen hatte. Der Herzog erinnerte sich jetzt wieder, daß an einem Tage, als sie den Philosophen Pitrat über die Trennung der Seele vom Körper hatten sprechen hören, sie sich versprachen, der eine dem andern Lebewohl zu sagen, wenn der, welcher zuerst stürbe, die Erlaubnis dazu hätte. Daraufhin schickte er, da er sich der Befürchtung nicht erwehren konnte, die Ankündigung möchte wahr sein, eilig einen seiner Diener zum Quartier des Marquis, das von dem seinen weit entfernt war. Doch noch ehe der Mann zurück war, ließ man ihn von seiten des Königs holen, der ihn durch geeignete Personen von dem Unglück, das ihn getroffen, schonend in Kenntnis setzen ließ.

Ich überlasse es den Doktoren, über den Sinn dieses Ereignisses zu disputieren, das ich den Herzog von Montmorency mehrere Male habe erzählen hören und von dem ich glaubte, daß seine Seltsamkeit und seine Wahrheit des Berichtes würdig wären.‹

»Aber was muß ich dann tun?« fragte Ursula.

»Mein Kind«, sagte der Pfarrer, »es handelt sich um so ernste Dinge und um so vorteilhafte, daß Sie ein vollkommenes Stillschweigen bewahren müssen. Jetzt, wo Sie mir das Geheimnis dieser Erscheinungen anvertraut haben, werden sie vielleicht nicht wieder sich ereignen. Übrigens sind Sie jetzt kräftig genug, um zur Kirche zu gehen; nun wohl, morgen werden Sie sich hinbegeben, Gott danken und ihn bitten, Ihrem Paten seine Ruhe zu geben. Seien Sie im übrigen dessen versichert, daß Sie Ihr Geheimnis behutsamen Händen anvertraut haben.«

»Wenn Sie wüßten, mit welcher Angst ich einschlafe! welche Blicke mir der Pate zuwarf! Das letztemal hängte er sich an mein Kleid, um mich länger zu sehen. Ich wachte mit tränenüberströmtem Gesicht auf.«

»Seien Sie in Frieden, er wird nicht mehr kommen«, sagte ihr der Pfarrer.

Ohne einen Augenblick zu verlieren, begab sich Abbé Chaperon zu Minoret und bat ihn, ihm einen Augenblick im chinesischen Gartenhaus Gehör zu schenken und daß sie dabei allein blieben.

»Kann uns auch niemand hören?« sagte Abbé Chaperon.

»Niemand«, antwortete Minoret.

»Mein Herr, mein Charakter ist Ihnen ja bekannt«, sagte der gute Mann, indem er auf Minorets Gesicht einen milden, doch aufmerksamen Blick richtete. »Ich habe über ernste Sachen mit Ihnen zu sprechen, außerordentliche Sachen, die nur Sie betreffen und betreffs deren Sie versichert sein dürfen, daß ich das strengste Stillschweigen bewahren werde; aber es ist mir unmöglich, Sie nicht davon zu unterrichten. Zu der Zeit, da Ihr Onkel lebte, befand sich hier«, sagte der Priester, indem er auf die Stelle des Möbels hinwies, »ein kleines Boule-Büfett mit einer Marmorplatte« (Minoret erbleichte), »und unter diesen Marmor hatte Ihr Onkel einen Brief für sein Mündel gelegt …«

Der Pfarrer erzählte Minoret, ohne den geringsten Umstand auszulassen, genau das Verhalten Minorets. Als der ehemalige Posthalter die Einzelheit von den beiden Zündhölzern, die, bevor sie Feuer gefangen, ausgegangen waren, vernahm, fühlte er, wie ihm die Haare zu Berge stiegen.

»Wer hat denn solche Dummheiten ausgeheckt?« sagte er zu dem Pfarrer mit erstickter Stimme, als dieser seine Erzählung beendet hatte.

»Der Tote selbst!«

Diese Antwort verursachte Minoret ein leichtes Erzittern, da auch er den Doktor im Traum gesehen hatte.

»Gott ist höchst gütig, meinetwegen Wunder geschehen zu lassen, Herr Pfarrer«, antwortete Minoret, dem die Gefahr den einzigen Witz eingab, den er in seinem Leben machte.

»Alles, was Gott tut, ist natürlich«, entgegnete der Priester.

»Ihre Phantasie da erschreckt mich nicht«, sagte der Koloß, der ein wenig seine Kaltblütigkeit wiedergewonnen hatte.

»Ich komme nicht, um Sie zu erschrecken, mein lieber Herr, denn niemals werde ich über diese Sache zu jemand sprechen, sei es, wer es sei«, sagte der Pfarrer. »Sie allein wissen die Wahrheit. Es ist eine Angelegenheit zwischen Ihnen und Gott.«

»Aber halten Sie mich denn eines so furchtbaren Verbrechens für fähig, Herr Pfarrer?«

»Ich glaube nur an die Verbrechen, die man mir bekennt, die man bereut«, sagte der Priester in apostolischem Ton.

»Ein Verbrechen?« rief Minoret.

»Ein in seinen Folgen furchtbares Verbrechen.«

»Worin?«

»In dem, was der menschlichen Gesellschaft entgeht. Die Verbrechen, die nicht hier unten gebüßt werden, werden es im anderen Leben. Gott selbst rächt die Unschuld.«

»Glauben Sie, daß Gott sich mit solchen Lappalien beschäftigt?«

»Wenn er nicht die Welten in all ihren Einzelheiten mit einem einzigen Blick sähe, wie Sie in Ihren Augen eine ganze Landschaft fassen, war er nicht Gott.«

»Herr Pfarrer, Sie gaben mir Ihr Wort, daß Sie diese Einzelheiten nur von meinem Onkel haben?«

»Ihr Onkel ist Ursula dreimal erschienen, um sie ihr zu wiederholen. Von ihren Träumen erschöpft, hat sie mir diese Enthüllungen unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut; sie findet sie so gegen alle Vernunft, daß sie niemals davon sprechen wird. Sie können in dieser Hinsicht beruhigt sein.«

»Aber ich bin vollkommen ruhig, Herr Chaperon.«

»Ich wünsche es«, sagte der alte Pfarrer. »Wenn ich auch die Ungereimtheit dieser im Traum vernommenen Mitteilungen nicht unerwogen lasse, hielt ich es doch für notwendig, sie Ihnen der Seltsamkeit ihrer Einzelheiten wegen bekanntzugeben. Sie sind ein anständiger Mann und haben Ihr schönes Vermögen viel zu rechtmäßig erworben, als daß Sie irgend etwas ihm auf dem Wege des Diebstahls hinzufügen sollten. Im übrigen sind Sie ein fast primitiver Mann, Sie werden zu sehr von Gewissensbissen gequält. Wir tragen in uns ein Gefühl für das Rechte, der zivilisierte Mensch wie der wildeste, und das gestattet uns nicht, unter den Gesetzen der Gesellschaft, in der wir leben, in Frieden unrecht erworbenes Gut zu genießen; denn die Gesellschaften sind nach der von dem Gott der Welten selbst eingesetzten Ordnung gebildet. Die Gesellschaften sind hierin göttlichen Ursprunges. Der Mensch findet keine Ideen, erfindet keine Formen, er ahmt die ewigen Beziehungen nach, die ihn von allen Seiten umgeben. Und so sehen Sie, wie es kommt: jeder Mensch, der zum Schafott geht und das Geheimnis seines Verbrechens mit sich trägt, läßt sich den Kopf nicht abschneiden, ohne daß er ein Geständnis macht, zu dem er durch eine geheimnisvolle Macht getrieben wird. Wenn Sie, mein lieber Herr Minoret, also ruhig sind, so freue ich mich darüber.«

Minoret war so starr vor Schreck, daß er den Pfarrer hinauszugeleiten vergaß. Als er sich allein glaubte, geriet er in eine sanguinische Wut, es entfuhren ihm die sonderbarsten Lästerungen, und er legte Ursula die widerwärtigsten Bezeichnungen bei.

»Na, was hat sie dir denn getan?« sagte seine Frau, die, nachdem sie dem Pfarrer das Geleit gegeben, auf den Fußspitzen herbeikam. Zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben vor Wut außer sich und durch ihre fortwährend wiederholten Fragen zum Äußersten gebracht, schlug Minoret sie, und zwar so, daß er, als sie braun und blau geschlagen hinfiel, genötigt war, sie auf die Arme zu nehmen und sie, voller Beschämung, selber zu Bett zu bringen. Er selbst fiel in eine kurze Krankheit, und der Arzt war genötigt, ihm zweimal zur Ader zu lassen. Als er wieder auf war, sah ihm eine Zeitlang jeder an, daß er sich verändert hatte. Minoret ging allein spazieren, und oft bewegte er sich durch die Straßen wie ein Mensch, der sich in innerer Unruhe befindet. Wenn er einem zuhörte, war er zerstreut, er, der nie zwei Gedanken in seinem Kopf gehabt hatte. Endlich redete er eines Abends in der Grand' Rue den Friedensrichter an, der ohne Zweifel Ursula aufsuchen ging, um sie zu Frau von Portenduère mitzunehmen, wo die Whistpartie wieder zustande gekommen war.

»Herr Bongrand, ich habe meiner Cousine etwas von großer Wichtigkeit zu sagen«, sagte er, indem er den Richter am Arm faßte, »und es freut mich sehr, daß ich Sie treffe, Sie könnten ihr zu Rate gehen.«

Sie fanden Ursula bei ihren Studien; kühl, mit achtunggebietender Miene erhob sie sich, als sie Minoret erblickte.

»Liebes Kind, Herr Minoret will Sie in geschäftlichen Angelegenheiten sprechen«, sagte der Friedensrichter. »Nebenbei, vergessen Sie nicht, mir Ihre Renteneintragung zu geben; ich gehe nach Paris und werde dort Ihr und der Bougival Halbjahrsgeld einkassieren.«

»Liebe Cousine«, sagte Minoret, »unser Onkel hatte Sie an ein besseres Leben gewöhnt, als Sie es hier führen.«

»Man kann sich bei wenig Geld sehr glücklich fühlen«, sagte sie.

»Ich glaubte, daß Geld Ihrem Glück zustatten käme, und ich komme, Ihnen dem Gedächtnis meines Onkels zu Ehren welches anzubieten.«

»Sie hatten eine ganz natürliche Gelegenheit, es zu achten«, sagte Ursula streng. »Sie konnten sein Haus so lassen, wie es war, und es mir verkaufen, denn Sie haben es zu einem so hohen Preis nur in der Hoffnung gekauft, noch Schätze vorzufinden …«

»Schließlich«, sagte Minoret augenscheinlich bedrückt, »wenn Sie zwölftausend Livres Rente hätten, wären Sie in der Lage, sich vorteilhafter zu verheiraten.«

»Ich besitze sie nicht.«

»Aber wenn ich sie Ihnen gäbe, unter der Bedingung, in der Bretagne, dem Lande der Frau von Portenduère, die alsdann in Ihre Heirat mit ihrem Sohne einwilligen würde, Landbesitz zu kaufen? …«

»Herr Minoret«, sagte Ursula, »ich habe kein Anrecht auf eine so ansehnliche Summe, und ich wüßte nicht, wie ich sie von Ihnen annehmen sollte. Wir sind zu weitläufig verwandt und noch weniger einander freund. Ich habe durch Verleumdung schon zu viel Unrecht erfahren, als daß ich Anlaß zu schlechter Nachrede geben sollte. Woraufhin verdiente ich dies Geld? Welchen Grund könnten Sie geltend machen, mir ein solches Geschenk zu machen? Diese Fragen, die ich an Sie zu richten berechtigt bin, würde jeder auf seine Weise beantworten, man würde hierin die Wiedergutmachung eines Schadens erblicken, und ich will keinen erlitten haben. Ihr Onkel hat mich nicht in einer unedlen Gesinnung erzogen. Man darf nur von seinen Freunden annehmen: ich wüßte aber nicht, daß ich Neigung zu Ihnen hätte, und ich wäre notwendigerweise undankbar; ich will mich nicht dem aussetzen, es an Dank fehlen zu lassen.«

»Sie weisen es zurück?« rief der Koloß, dem nie der Gedanke hätte in den Kopf kommen können, daß man ein Vermögen zurückweisen könnte.

»Ich weise es zurück«, wiederholte Ursula.

»Aber in welcher Form wollten Sie dem Fräulein ein solches Vermögen anbieten?« fragte der ehemalige Advokat, Minoret mit einem festen Blick ansehend. »Sie haben eine Absicht dabei. Haben Sie eine?«

»Nun gut, die Absicht ist, sie aus Nemours zu entfernen, damit mein Sohn mich in Ruhe läßt; er ist in sie verliebt und will sie heiraten.«

»Gut, wir werden das sehen«, antwortete der Friedensrichter, der seine Brille zurechtrückte. »Lassen Sie uns Zeit zu überlegen.«

Er geleitete Minoret nach Hause und gab seinen Sorgen Désirés wegen Ausdruck, ein wenig Ursulas Übereilung tadelnd, und er versprach, sie dazu zu bringen, Vernunft anzunehmen. Sobald Minoret zu Hause war, begab Bongrand sich zum Posthalter, lieh dessen Kabriolett und Pferd, eilte nach Fontainebleau, fragte nach dem Staatsanwaltschaftsgehilfen und erfuhr, daß er bei dem Unterpräfekten zu Abend eingeladen wäre. Erfreut zeigte sich der Friedensrichter dort. Désiré spielte eine Partie Whist mit der Frau des Staatsanwaltes, der Frau des Unterpräfekten und dem Oberst des Regimentes der Garnison.

»Ich kann Ihnen eine erfreuliche Neuigkeit mitteilen«, wandte Bongrand sich an Désiré. »Sie lieben Ihre Cousine Ursula Mirouet, und Ihr Vater widersetzt sich Ihrer Heirat nicht mehr.«

»Ich liebe Ursula Mirouet?« lachte Désiré. »Wie kommen Sie auf Ursula Mirouet? Ich erinnere mich, bei dem verstorbenen Minoret, meinem ehemaligen Großonkel, einige Male dies kleine Mädchen gesehen zu haben, das ja gewiß sehr schön ist; aber sie ist übertrieben fromm; und wenn ich, wie alle Welt, ihren Reizen habe Gerechtigkeit widerfahren lassen, so hat mir diese ein wenig fade Blondine doch nie den Kopf verdreht«, sagte er mit einem Lächeln gegen die Unterpräfektin hingewandt (die Unterpräfektin war nach dem veralteten Ausdruck des vorigen Jahrhunderts eine pikante Brünette). »Wer schickt Sie, mein lieber Herr Bongrand? Jedermann weiß, daß mein Vater unbeschränkter Gebieter über achtundvierzigtausend Livres Rente in Grundstücken ist, die sich seinem Schloß Rouvre anschließen, und jedermann weiß, daß ich achtundvierzigtausend triftige Gründe habe, das Mündel nicht zu lieben. Heiratete ich eine Dame, die nichts hat, würden mich diese Damen für einen großen Dummkopf halten.«

»Sie haben Ihrem Vater niemals mit Bezug auf Ursula zugesetzt?«

»Niemals.«

»Sie hören es, Herr Staatsanwalt?« wandte sich der Friedensrichter an den Beamten, der ihnen zugehört hatte und sie in eine Fensternische führte, wo sie sich ungefähr eine Viertelstunde lang unterhielten.

Eine Stunde später ließ der Friedensrichter, nach Nemours zurückgekehrt, durch die Bougival Minoret holen, der sofort kam.

»Fräulein …« sagte Bongrand zu Minoret, als er ihn eintreten sah.

»Nimmt an?« unterbrach ihn Minoret.

»Nein, noch nicht«, antwortete der Friedensrichter, indem er an seine Brille faßte, »sie hatte mit Bezug auf Ihren Sohn Bedenken, denn es ist ihr gelegentlich einer ähnlichen Leidenschaft schlimm mitgespielt worden, und sie weiß, was ihr die Ruhe wert ist. Können Sie ihr schwören, daß Ihr Sohn vor Liebe außer sich ist und daß Sie keine andere Absicht haben, als unsere teure Ursula vor gewissen ähnlichen Streichen zu bewahren?«

»Oh, ich schwöre es«, sagte Minoret.

»O halt, Papa Minoret!« rief der Friedensrichter, eine Hand aus der Hosentasche ziehend, um Minoret, der erbebte, auf die Schulter zu klopfen. »Leisten Sie nicht so leichthin einen falschen Eid!«

»Einen falschen Eid?«

»Entweder Sie oder Ihr Sohn, der soeben in Fontainebleau bei dem Unterpräfekten in Gegenwart von vier Personen und des Staatsanwaltes geschworen hat, niemals an seine Cousine Ursula Mirouet gedacht zu haben. Also haben Sie andre Gründe, ihr ein so großes Kapital anzubieten? Ich sah, daß Sie auf gut Glück etwas vorschoben, und habe mich selbst nach Fontainebleau aufgemacht.«

Minoret stand von seiner eigenen Dummheit ganz verdutzt.

»Aber es ist ja doch nichts Schlimmes, Herr Bongrand, wenn man einer Verwandten anbietet, ihr eine Heirat zu ermöglichen, die ihr Glück zu machen scheint, und wenn man dabei nach Vorwänden sucht, ihre Bescheidenheit zu überwinden.«

Minoret, den die Gefahr auf eine fast zulässige Entschuldigung brachte, trocknete sich die Stirn, auf der dicke Schweißtropfen standen.

»Die Gründe meiner Weigerung sind Ihnen bekannt«, antwortete Ursula, »ich bitte Sie, nicht mehr zu kommen. Obgleich mir Herr von Portenduère nichts darüber mitgeteilt hat, hegt er für Sie Gefühle der Verachtung, sogar des Hasses, die mir verbieten, Sie bei mir zu sehen. Mein einziges Vermögen ist – ich erröte nicht, es zu bekennen – mein Glück; ich will es also nicht bloßstellen, denn Herr von Portenduère wartet nur den Eintritt meiner Großjährigkeit ab, um mich zu heiraten.«

»Das Sprichwort ›Geld macht alles‹ lügt also«, sagte der dicke, große Minoret mit einem Blick auf den Friedensrichter, dessen ihn beobachtende Augen ihm sehr peinlich waren.

Er erhob sich, ging, fand aber die Luft draußen ebenso bedrückend wie in dem kleinen Salon.

›Auf jeden Fall muß das ein Ende haben‹, sagte er zu sich selbst, als er nach Hause zurückkehrte.

»Ihre Papiere, liebe Kleine?« sagte der Friedensrichter, der über die Ruhe Ursulas nach einem so seltsamen Ereignis sehr erstaunt war.

Indem sie ihm die Papiere brachte und auch die der Bougival, fand Ursula den Friedensrichter, wie er mit großen Schritten auf und ab ging.

»Sie haben keine Idee, was dieser dicke Tölpel mit diesem Schritte beabsichtigt?« sagte er.

»Keine, die ich sagen dürfte«, antwortete sie.

Herr Bongrand sah sie mit erstaunter Miene an.

»Dann haben wir denselben Gedanken«, antwortete er. »Halt, heben Sie die Nummern dieser beiden Papiere auf, für den Fall, daß ich sie verlöre: man muß immer vorsichtig sein.«

Bongrand schrieb sodann selber auf eine Karte die Nummer von Ursulas Papier und die von dem der Amme.

»Leben Sie wohl, liebes Kind; ich werde zwei Tage abwesend sein, aber am dritten kehre ich zurück, zu meiner Gerichtssitzung.«

Noch in selbiger Nacht hatte Ursula eine Erscheinung, die sich auf seltsame Weise vollzog. Es schien ihr, als stände ihr Bett auf dem Friedhofe von Nemours und als befände sich das Grab ihres Onkels am Fußende des Bettes. Der weiße Grabstein, auf dem sie die Inschrift las, blendete sie heftig, während er sich wie der längliche Deckel eines Albums auftat. Sie stieß durchdringende Schreie aus, doch die Erscheinung des Doktors erhob sich langsam. Sie sah zuerst den gelben Kopf und das weiße Haar, das von einer Art Aureole umgeben strahlte. Unter der freien Stirn waren die Augen wie zwei Strahlen, und er erhob sich, wie von einer höheren Gewalt gezogen. Ursula zitterte schrecklich in ihrer körperlichen Hülle, ihr Haar war wie ein brennendes Gewand, und es war da etwas, sagte sie später, wie ein anderes Selbst, das sich in ihr regte.

»Gnade«, rief sie, »lieber Pate!«

»Gnade? Dazu ist es nicht mehr an der Zeit«, sagte er, nach dem dunklen Ausdruck des armen Mädchens, als es diesen neuen Traum Abbé Chaperon erzählte, mit Grabesstimme. »Er ist aufmerksam gemacht worden, hat aber die Mahnungen unbeachtet gelassen. Die Tage seines Sohnes sind gezählt. Wenn er in einer bestimmten Zeit nicht alles gestanden, alles zurückgegeben hat, wird er seinen Sohn zu beklagen haben, der eines schrecklichen gewaltsamen Todes sterben wird. Er möge es wissen!«

Die Erscheinung zeigte eine Reihe von Buchstaben, die an der Wand funkelten, als wären sie mit Feuer geschrieben, und sagte:

»Hier ist sein Urteil!«

Als ihr Onkel sich wieder in sein Grab niederlegte, vernahm Ursula das Geräusch des wieder zurückfallenden Steins und dann in der Ferne einen seltsamen Lärm von Pferden und den Schrei eines Menschen.

Am nächsten Tage war Ursula sehr matt. Sie konnte nicht aufstehen, so hatte der Traum sie angegriffen. Sie bat ihre Amme, sofort zu Abbé Chaperon zu gehen und ihn herzubringen. Nachdem er seine Messe gesprochen, kam der gute Mann; doch war er von der Erzählung Ursulas nicht überrascht: er hielt den Raub für erwiesen und versuchte nicht mehr, sich das anomale Erleben seiner teuren ›kleinen Träumerin‹ zu erklären. Eilig begab er sich von Ursula zu Minoret.

»Mein Gott, Herr Pfarrer«, sagte Zélie zu dem Priester, »das Wesen meines Mannes ist so gereizt, ich weiß nicht, was er hat. Bis jetzt war er wie ein Kind, aber seit zwei Monaten ist er nicht wiederzuerkennen. Ist es doch so weit gekommen, daß er mich geschlagen hat, mich, die ich doch so gut zu ihm bin. Der Mann muß sich ganz und gar verändert haben. Sie werden ihn zwischen den Felsen finden, wo er sich fast immer aufhält. Was soll man nur tun?«

Trotz der Hitze – man stand damals im September 1836 – schritt der Priester am Kanal entlang und schlug, als er Minoret am Fuß eines der Felsen erblickte, einen Pfad ein.

»Sie quälen sich zu sehr, Herr Minoret«, sagte der Priester, indem er sich dem Schuldigen zeigte. »Sie gehören mir, denn Sie leiden. Unglücklicherweise muß mein Kommen Ihre Sorgen vermehren. Ursula hat diese Nacht einen schrecklichen Traum gehabt. Ihr Onkel hat den Stein seines Grabes gehoben, um Ihrer Familie Unglück zu prophezeien. Ich komme gewiß nicht, um Ihnen Furcht einzujagen, aber Sie müssen wissen, ob das, was er gesagt hat …«

»Wahrhaftig, Herr Pfarrer, nirgends, nicht mal zwischen diesen Felsen, werd ich in Ruhe gelassen … Ich will nichts davon wissen, was in der anderen Welt passiert.«

»Ich ziehe mich zurück, mein Herr; ich habe diesen Weg bei dieser Hitze nicht zu meinem Vergnügen gemacht«, sagte der Priester, der sich die Stirn wischte.

»Nun gut, was hat der gute Mann also gesagt?« fragte Minoret.

»Sie sind in Gefahr, Ihren Sohn zu verlieren. Wenn er Dinge erzählt hat, die nur Sie allein wissen, so kann einen das wohl vor Dingen, von denen wir nicht wissen, bang machen. Geben Sie zurück, lieber Herr, geben Sie zurück! Geben Sie sich nicht um ein wenig Geld der Verdammnis preis.«

»Aber was zurückgeben?«

»Das Vermögen, das der Doktor Ursula bestimmt hatte. Sie haben diese drei Papiere genommen, ich weiß das jetzt. Sie haben angefangen, das arme Mädchen zu verfolgen, und Sie haben ihr schließlich eine Mitgift angeboten; Sie verfallen in Lüge, Sie verwirren sich in Verstrickungen und begehen jeden Augenblick Fehler. Sie sind ungeschickt, Ihr Mitverschworener Goupil, der Sie auslacht, hat Ihnen schlechte Dienste geleistet. Beeilen Sie sich, denn Sie sind durch kluge, scharfsichtige Leute, die Freunde Ursulas, beobachtet. Geben Sie zurück! Und wenn Sie nicht Ihren Sohn retten, der vielleicht nicht bedroht ist, so retten Sie Ihre Seele, retten Sie Ihre Ehre. Ist es möglich, in einer Gesellschaft, die wie die unsrige eingerichtet ist, in einer kleinen Stadt, wo einer auf den andern achtet und wo alles, wenn man es auch nicht weiß, geahnt wird: ist es da möglich, daß Sie ein auf unrechtem Wege erlangtes Vermögen verheimlichen? Gehen Sie, mein lieber Sohn, ein Schuldloser würde mich nicht so lange reden lassen.«

»Gehen Sie zum Teufel!« rief Minoret. »Ich weiß nicht, was Sie alle von mir wollen. Die Felsen hier sind mir lieber, sie lassen mich in Ruhe.«

»Leben Sie wohl. Sie sind von mir gewarnt, mein lieber Herr, ohne daß weder das arme Kind noch ich nur ein Wort irgend jemand gesagt hätten. Aber nehmen Sie sich in acht! … Es gibt einen Mann, der sein Auge auf Sie richtet. Gott erbarme sich Ihrer!«

Der Pfarrer entfernte sich. Nachdem er aber einige Schritte getan, wandte er sich noch einmal um, nach Minoret zu sehen. Minoret hielt den Kopf zwischen den Händen, denn der Kopf drückte ihn. Minoret war nicht recht bei sich. Zunächst hatte er die drei Papiere aufgehoben und nicht gewußt, was mit ihnen anzufangen; er wagte es nicht einmal, sie anzurühren, denn er hatte Angst, daß man ihn dabei bemerken könnte; er wollte sie auch nicht verkaufen und suchte nach einem Mittel, sie zu übertragen. Er stellte, er! phantastische geschäftliche Überlegungen an, die sich immer mit der Übertragung dieser verwünschten Papiere beschäftigten. In dieser fürchterlichen Lage dachte er trotzdem daran, seiner Frau alles zu bekennen, um jemand zu haben, der ihm riete. Zélie, die ihr Schiff so gut geführt hatte, würde wissen, wie sie ihm aus der Verlegenheit half. Die Renten zu drei vom Hundert standen damals auf achtzig Franken, es handelte sich, mit den Rückständen, um fast eine Million! Eine Million zurückgeben, ohne daß irgendein Beweis dafür vorlag, daß er sie gestohlen! … Das war keine Kleinigkeit. Und so blieb Minoret den September und einen Teil des Oktober über die Beute seiner Gewissensbisse, seiner Unentschlossenheit. Zum großen Erstaunen der Stadt magerte er ab.

Ein furchtbarer Umstand beschleunigte das Geständnis, das Minoret Zélie zu machen vorhatte: das Damoklesschwert bewegte sich über ihren Häuptern. Gegen Mitte Oktober erhielten Herr und Frau Minoret von ihrem Sohn Désiré folgenden Brief:

›Meine liebe Mutter, wenn ich Sie während meiner letzten Ferien nicht besucht habe, so geschah es zunächst deshalb, weil ich den Herrn Staatsanwalt während seiner Abwesenheit zu vertreten hatte, dann aber, weil ich wußte, daß Herr von Portenduère auf meinen Aufenthalt in Nemours wartete, um mit mir Streit anzufangen. Vielleicht weil er es müde ist, eine Genugtuung, die er von unserer Familie haben will, stets verweigert zu sehen, ist der Vicomte nach Fontainebleau gekommen, wo er sich mit einem seiner Pariser Freunde getroffen hat, nachdem er sich der Mitwirkung des Vicomte von Soulanges, Eskadronchefs bei den Husaren, die wir hier in Garnison haben, vergewissert hat. Er hat sich in Begleitung dieser beiden Herren sehr höflich bei mir vorgestellt und mir gesagt, daß mein Vater unzweifelhaft der Urheber der nichtswürdigen, gegen Ursula Mirouet, seine Zukünftige, gerichteten Verfolgungen sei; er hat mir die Beweise dafür gegeben, indem er mir die von Goupil vor Zeugen gemachten Geständnisse mitteilte und das Benehmen meines Vaters bekanntgab, der sich anfangs geweigert hätte, die Goupil gemachten Versprechungen zu halten, um ihn dann für seine perfiden Erfindungen zu belohnen, und der, nachdem er ihm die Mittel, das Gerichtsvollzieheramt von Nemours zu erstehen, geliefert, aus Furcht seine Garantie Herrn Dionis für den Preis von dessen Notariat geboten und endlich Goupil etabliert hätte. Da der Vicomte sich nicht mit einem Manne von sechsundsechzig Jahren schlagen könne und die Ursula zugefügten Beleidigungen durchaus rächen wolle, verlange er von mir formelle Genugtuung. Sein im stillen gefaßter, wohlüberlegter Entschluß wäre unerschütterlich. Sollte ich das Duell verweigern, so sei er entschlossen, mir im Salon zu begegnen, angesichts von Personen, an deren Achtung mir sehr viel gelegen wäre, und mich so schwer zu insultieren, daß ich mich, wenn ich nicht meiner Laufbahn verlustig gehen wollte, schlagen müßte. In Frankreich wird ein Feigling allgemein geringgeachtet. Übrigens würden seine Beweggründe, Genugtuung zu fordern, von achtenswerten Männern dargelegt werden. Er hat gesagt, daß es ihm leid täte, daß es zu einem derartigen Äußersten gekommen sei. Nach seinen Zeugen wäre es das klügste für mich, ein Renkontre zu regeln, wie es zwischen Ehrenmännern der Brauch ist, ohne daß Ursula Mirouet als Ursache gälte. Schließlich könnten wir, um jeden Skandal in Frankreich zu vermeiden, mit unseren Zeugen eine Reise über die nächste Grenze machen. So würde sich alles zum besten ausgleichen. Sein Name, hat er gesagt, sei zehnmal mein Vermögen wert, und sein künftiges Glück erlaube ihm, in diesem Kampfe, der tödlich sein würde, mehr aufs Spiel zu setzen als ich. Er hat mich aufgefordert, meine Zeugen zu wählen und diese Angelegenheit zu ihrer Erledigung zu bringen. Meine Zeugen sind gewählt und sind gestern mit den seinigen zusammengetroffen, und sie haben einmütig dahin entschieden, daß ich Genugtuung schulde. In acht Tagen reise ich also mit meinen beiden Freunden nach Genf. Auch Herr von Portenduère, Herr von Soulanges und Herr von Trailles begeben sich dorthin. Wir schlagen uns auf Pistolen; alle Bedingungen des Duells sind festgesetzt: wir schießen jeder dreimal, und dann wird alles, mit welchem Ausgang auch, beendet sein. Um eine so schmutzige Sache nicht ruchbar werden zu lassen, denn es ist mir unmöglich, die Handlungsweise meines Vaters zu rechtfertigen, schreibe ich Ihnen im letzten Augenblick. Der heftigen Ausbrüche wegen, denen Sie sich hingeben könnten und die der Sache nicht angemessen wären, werde ich Sie nicht besuchen. Um in der Welt meinen Weg zu machen, muß ich mich an ihre Gesetze halten; und da, wo der Sohn eines Vicomte zehn Gründe hat, sich zu schlagen, hat der Sohn eines Posthalters hundert. Ich werde zur Nachtzeit durch Nemours kommen und Ihnen noch ein Lebewohl ausrichten lassen.‹

Als sie diesen Brief gelesen, gab es zwischen Zélie und Minoret einen Auftritt, der mit dem Geständnis des Diebstahls und aller Umstände, die sich darauf bezogen, sowie der seltsamen Szenen endete, zu denen er überall, selbst in der Welt der Träume, geführt hatte. Die Million bestrickte Zélie ebensosehr, wie sie Minoret bestrickt hatte.

»Halte dich ruhig hier«, sagte Zélie zu ihrem Gatten, ohne die geringsten Vorstellungen gegen seine Dummheiten zu erheben; »ich werde alles auf mich nehmen. Wir werden das Geld behalten, und Désiré wird sich nicht schlagen.«

Frau Minoret warf den Schal über, setzte den Hut auf und eilte mit dem Brief ihres Sohnes zu Ursula, die sie allein antraf, denn es war gegen Mittag.

Trotz ihrer Zuversicht fühlte Zélie Minoret sich von dem kühlen Blick getroffen, mit dem die Waise sie empfing; doch sie schalt sich sozusagen ihrer Feigheit wegen und nahm einen ungezwungenen Ton an.

»Hier, Fräulein Mirouet, tun Sie mir den Gefallen und lesen Sie diesen Brief, und sagen Sie mir, was Sie darüber denken«, rief sie, indem sie Ursula den Brief des Staatsanwaltsgehilfen hinreichte.

Ursula überkamen tausend einander widerstreitende Empfindungen, als sie diesen Brief las, der ihr zeigte, wie sehr sie geliebt wurde, welche Sorge Savinien der Ehre derer wegen sich machte, die er zur Frau erwählte; doch sie war gleichzeitig viel zu fromm und viel zu barmherzig, als daß sie die Ursache des Todes oder der Leiden ihres grausamsten Feindes hätte sein wollen.

»Ich verspreche Ihnen, Madame, dies Duell zu verhindern, Sie können ruhig sein; aber ich bitte Sie, mir diesen Brief zu lassen.«

»Sehen Sie, mein Engelchen, könnten wir's nicht besser einrichten? Hören Sie mich an. Wir haben zusammen achtundvierzigtausend Livres Rente von Rouvre, das ein wahrhaft königliches Schloß ist, und weiter sind wir in der Lage, Désiré vierundzwanzigtausend Livres Rente in Staatspapieren zu geben, im ganzen zweiundsiebzigtausend Franken im Jahr. Sie werden zugestehen, daß es nicht viel Partien gibt, die sich mit ihm messen können. Sie sind eine kleine Ehrgeizige, und Sie haben recht«, sagte Zélie, als sie die lebhaft abweisende Handbewegung Ursulas bemerkte. »Ich komme, um Sie für Désiré um Ihre Hand zu bitten; Sie werden den Namen Ihres Paten tragen, und das heißt ihn ehren. Wie Sie bemerkt haben, ist Désiré ein hübscher junger Mann; er ist in Fontainebleau sehr gern gesehen und wird bald Königlicher Staatsanwalt sein. Sie sind entzückend; Sie werden bewirken, daß er nach Paris kommt. In Paris geben wir Ihnen auch ein hübsches Haus, denn mit zweiundsiebzigtausend Franken Rente und dem Gehalt aus seiner Stellung werden Sie und Désiré zur höchsten Gesellschaft gehören. Befragen Sie Ihre Freunde, und Sie werden sehen, was sie Ihnen sagen werden.«

»Ich habe nur mein Herz zu befragen, Madame.«

»Tatata! Sie wollen mir von diesem kleinen Herzensbrecher Savinien sprechen? Meiner Treu, Sie werden seinen Namen, sein auf gezwirbeltes Schnurrbärtchen und seine schwarzen Haare sehr teuer kaufen. Er ist noch ein unerfahrenes Kerlchen, Sie werden in einem Haushalt mit siebentausend Franken Rente weit kommen, und ein Mensch, der in zwei Jahren in Paris hunderttausend Franken Schulden gemacht hat! Vor allem, Sie wissen das noch nicht, alle Männer gleichen sich, liebes Kind! und, ohne mich brüsten zu wollen, mein Désiré gilt einen Königssohn.«

»Sie vergessen, Madame, die Gefahr, die Ihr Sohn in diesem Augenblicke läuft und die nur durch den Wunsch Herrn von Portenduères abgewendet werden kann, mir gefällig zu sein. Gegen diese Gefahr gäbe es kein Mittel, wenn er erführe, daß Sie mir schimpfliche Anerbietungen machen … Wissen Sie, Madame, daß ich mich in den mäßigen Vermögensverhältnissen, auf die Sie anspielen, glücklicher fühlen werde als in der Üppigkeit, mit der Sie mich blenden wollen. Aus noch unbekannten Gründen, denn alles wird bekannt werden, Madame, hat Herr Minoret, als er seine schmählichen Nachstellungen gegen mich richtete, die Neigung, die mich Herrn von Portenduère verbindet, an die Öffentlichkeit gebracht, und die sich bekennen darf, da seine Mutter sie zweifellos segnen wird: ich darf Ihnen also sagen, daß diese gestattete und gesetzmäßige Neigung mein ganzes Leben ist. Keinerlei Los, wie glänzend und wie hoch auch immer, kann mich wanken machen. Ich liebe, ohne daß ein Zurück oder eine Änderung möglich wäre. Es wäre ein Verbrechen, für das ich gestraft werden würde, heiratete ich einen Mann, dem ich eine Seele entgegenbrächte, die ganz Savinien gehört. Aber jetzt will ich Ihnen, da Sie mich dazu zwingen, Madame, mehr sagen: Selbst wenn ich Herrn von Portenduère nicht mehr liebte, könnte ich mich trotzdem nicht entschließen, Leiden und Freuden des Lebens mit Ihrem Herrn Sohn zu teilen. Hat Herr Savinien Schulden gemacht, so haben Sie oft genug die des Herrn Désiré bezahlt. Unseren Charakteren eignet nicht die Übereinstimmung und der Unterschied, die gestatteten, zusammen ohne heimliche Bitterkeit zu leben. Vielleicht vermöchte ich ihm gegenüber nicht die Duldsamkeit zu üben, die die Frauen ihren Gatten schulden, und würde ihm bald zur Last werden. Geben Sie es auf, an eine Vereinigung zu denken, deren ich nicht würdig bin und auf die ich verzichten kann, ohne Sie im mindesten zu betrüben, denn es kann Ihnen mit solchen Mitteln nicht fehlen, viel schönere junge Mädchen als mich zu finden und von höherer Lebensstellung als die meine und reichere.«

»Sie schwören mir, meine Kleine«, sagte Zélie, »zu verhindern, daß die beiden jungen Leute ihre Reise machen und sich schlagen?«

»Es wird, seh ich voraus, das größte Opfer sein, das Herr von Portenduère mir bringen kann; aber mein Hochzeitskranz soll nicht aus blutbefleckten Händen entgegengenommen werden.«

»Nun gut, ich danke Ihnen, liebe Cousine, und wünsche Ihnen alles Glück.«

»Und ich, Madame«, sagte Ursula, »daß Sie die gute Zukunft Ihres Sohnes verwirklichen können.«

Diese Antwort rührte der Mutter des Staatsanwaltsgehilfen ans Herz, in deren Erinnerung sich die Voraussagungen von Ursulas letztem Traum wieder erhoben; sie stand, ihre kleinen Augen auf Ursulas so weiße, so reine und in ihrem Halbtrauerkleid so schöne Gestalt gerichtet; denn um die sogenannte Cousine gehen zu lassen, hatte Ursula sich erhoben.

»Sie glauben also an Träume?« sagte sie.

»Ich habe viel davon zu leiden, als daß ich nicht an sie glauben sollte.«

»Aber dann …« sagte Zélie.

»Leben Sie wohl, Madame«, grüßte Ursula Frau Minoret, denn sie vernahm den Schritt des Pfarrers.

Abbé Chaperon war überrascht, Frau Minoret bei Ursula vorzufinden. Die Unruhe, die sich auf dem schmalen, runzligen Gesicht der ehemaligen Posthalterin ausprägte, veranlaßte den Priester natürlich, wechselweise die beiden Frauen zu beobachten.

»Glauben Sie an Gespenster?« wandte Zélie sich an den Pfarrer.

»Glauben Sie an Einkünfte Wortspiel ›revenants‹ und ›revenus‹; war nicht wiederzugeben. (Der Übersetzer)?« entgegnete der Priester lächelnd.

›Es sind Schlauköpfe, all die Leute hier‹, dachte Zélie. ›Sie wollen uns aufziehen. Dieser alte Priester, dieser alte Friedensrichter und dieser drollige kleine Savinien sind im Einverständnis. Es gibt so viele Träume, als ich Haare in der hohlen Hand habe.‹

Nach zwei kurzen, kühlen Verbeugungen ging sie.

»Ich weiß, warum Savinien nach Fontainebleau gegangen ist«, sagte Ursula zu Abbé Chaperon, unterrichtete ihn über das Duell und bat ihn, seinen ganzen Einfluß geltend zu machen, es zu verhindern.

»Und Frau Minoret hat Ihnen die Hand ihres Sohnes angeboten?« sagte der alte Priester.

»Ja.«

»Wahrscheinlich hat Minoret sein Verbrechen seiner Frau gestanden«, fügte der Pfarrer hinzu.

Der Friedensrichter, der in diesem Augenblick kam, erfuhr den Schritt und das Anerbieten, das Zélie soeben gemacht hatte, deren Haß gegen Ursula ihm bekannt war, und er sah den Pfarrer an, als wollte er sagen: ›Kommen Sie, ich möchte mit Ihnen über Ursula sprechen, ohne daß sie uns hört.‹

»Savinien soll erfahren, daß Sie achtzigtausend Franken Rente und den Hahn von Nemours ausgeschlagen haben!« sagte er.

»Ist es denn ein Opfer?« sagte sie. »Gibt es Opfer, wenn man wahrhaft liebt? Liegt endlich ein Verdienst darin, den Sohn eines Mannes auszuschlagen, den wir verachten? Mögen andere sich etwas auf die Tugend ihres Widerstandes einbilden, so darf das doch nicht die Gesinnung eines Mädchens sein, das von Jordy, Abbé Chaperon und unserem teuren Doktor erzogen wurde!« sagte sie, indem sie das Porträt ansah.

Bongrand ergriff Ursulas Hand und küßte sie.

»Wissen Sie«, sagte der Friedensrichter zum Pfarrer, als sie auf der Straße waren, »was Frau Minoret soeben getan hat?«

»Was?« antwortete der Pfarrer, indem er den Richter mit einer feinen Miene ansah, die nichts als neugierig tat.

»Sie wollte eine Wiedererstattung bewerkstelligen.«

»Sie meinen also?« sagte Abbé Chaperon.

»Ich glaube es nicht, sondern bin dessen sicher; und da, sehen Sie!«

Der Friedensrichter zeigte auf Minoret, der ihnen, auf dem Heimweg befindlich, entgegenkam, denn als sie sich von Ursula wegbegaben, hatten die beiden alten Freunde die Grand' Rue von Nemours eingeschlagen.

»Wenn ich vor Gericht plädieren mußte, habe ich natürlich Gewissensbisse studiert, aber ich habe noch nie so etwas gesehen wie den da! Was hat ihn denn so schlaff gemacht, diese blassen Backen, deren Haut wie eine Trommel vor feister Gesundheit beinahe platzte? Was hat seine Augen so dunkel umrändert und ihre bäuerliche Lebhaftigkeit stumpf gemacht? Hätten Sie jemals gedacht, daß auf dieser Stirn Falten möglich sein könnten und daß dieser Koloß in seinem Gehirn jemals Unruhe haben könnte? Endlich spürt er sein Herz! Ich kenne mich auf Gewissensbisse aus, wie Sie sich auf Reue auskennen, mein teurer Pfarrer: die, die ich bis jetzt beobachtet habe, erwarteten ihre Strafe oder unterwarfen sich ihr, um mit der Welt quitt zu werden, sie entsagten oder schnaubten nach Rache; doch hier sind Gewissensbisse ohne Sühne, der Gewissensbiß an sich, der gierig seine Beute zerfleischt.«

»Sie wissen noch nicht«, sagte der Friedensrichter, indem er Minoret anhielt, »daß Fräulein Mirouet soeben die Hand Ihres Sohnes ausgeschlagen hat?«

»Aber«, sagte der Pfarrer, »beruhigen Sie sich, sie wird sein Duell mit Herrn von Portenduère verhindern.«

»Ah, es ist meiner Frau gelungen?« sagte Minoret. »Dann bin ich froh; ich lebte kaum noch.«

»Sie haben sich in der Tat sehr verändert, so sehr, daß Sie sich selbst nicht mehr gleichen«, sagte der Richter.

Minoret sah abwechselnd Bongrand und den Pfarrer an, um zu wissen, ob der Priester eine Indiskretion begangen hätte; doch Abbé Chaperons Gesicht zeigte eine Unbeweglichkeit, eine stille Traurigkeit, die den Schuldigen beruhigte.

»Und das ist um so erstaunlicher«, sagte der Friedensrichter, »als Sie nichts als Zufriedenheit empfinden müßten. Denn Sie sind doch schließlich der Besitzer von Rouvre, haben auch Bordières, alle Ihre Pachtgüter, Ihre Mühlen, Ihre Wiesen … Und Sie haben außerdem hunderttausend Livres Rente mit Ihren Staatsanleihen.«

»Ich habe keine Staatspapiere«, sagte Minoret schnell.

»Bah!« machte der Friedensrichter. »Sehen Sie, es ist damit wie mit der Liebe Ihres Sohnes zu Ursula, die bald verachtet, bald zur Frau verlangt wird. Nachdem Sie versucht haben, Ursula vor Kummer sterben zu lassen, wollen Sie sie zur Schwiegertochter! Mein lieber Herr, Sie haben was in Ihrem Beutel …«

Minoret versuchte zu antworten, suchte nach Worten und konnte nichts finden als:

»Sie sind merkwürdig, Herr Friedensrichter. – Leben Sie wohl, meine Herren.«

Und langsamen Schrittes bog er in die Rue des Bourgeois ein.

»Er hat das Vermögen unsrer armen Ursula gestohlen; aber woher nehmen wir Beweise?«

»Möge Gott zu ihnen verhelfen! …« sagte der Pfarrer.

»Gott hat in uns ein Gefühl versenkt, das schon in diesem Menschen spricht«, antwortete der Friedensrichter. »Aber wir nennen das Indizienbeweise, und die menschliche Gerechtigkeit erfordert etwas mehr.«

Abbé Chaperon bewahrte das Schweigen des Priesters. Wie es unter solchen Umständen geschieht, dachte er öfter, als er wollte, an den von Minoret so gut wie zugestandenen Raub und an Saviniens durch das geringe Vermögen Ursulas hinausgeschobenes Glück; denn die alte Dame erkannte im stillen mit ihrem Beichtvater, wie unrecht sie daran getan, nicht bei Lebzeiten des Doktors in die Heirat ihres Sohnes eingewilligt zu haben. Am nächsten Tage wurde der Abbé, als er nach der Messe vom Altar herabstieg, von einem Gedanken getroffen, der in ihm die Gewalt einer Stimme annahm; er gab Ursula einen Wink, sie solle auf ihn warten, und begab sich, ohne gefrühstückt zu haben, zu ihr.

»Mein Kind«, sagte ihr der Pfarrer, »ich möchte die beiden Bände sehen, in die Ihr Pate in Ihren Träumen seine Papiere und Banknoten hineingelegt haben will.«

Ursula stieg mit dem Pfarrer zur Bibliothek hinauf und entnahm ihr den dritten Band der ›Pandekten‹. Als er ihn öffnete, bemerkte der Greis nicht ohne Erstaunen den Eindruck, den die Papiere auf den Blättern hinterlassen hatten, da sie weniger Widerstand als der Umschlag boten. Und dann erkannte er in dem andern Bande ein Auseinanderklaffen zweier Folioseiten, wie es durch das lange Zwischenlagern eines Paketes hervorgerufen wird, und auch dessen Spur auf den Seiten.

»Kommen Sie doch mal, Herr Bongrand!« rief die Bougival dem Friedensrichter zu, der vorbeiging.

Bongrand traf genau in dem Augenblick ein, wo der Pfarrer seine Brille aufsetzte, um drei von der Hand des verstorbenen Minoret auf ein von dem Buchbinder innen auf den Deckel geklebtes koloriertes Vorsatzblatt geschriebene Zahlen zu lesen, und Ursula kam hinzu und sah das gleichfalls.

»Was mag das bezeichnen? Unser guter Doktor war viel zu sehr Bibliophile, als daß er die Innenseite eines Buchdeckels verunstaltet hätte«, sagte Abbé Chaperon. »Hier sind drei Zahlen, geschrieben zwischen eine erste, der ein M, und eine andere Nummer, der ein U voraufgeht.«

»Was sagen Sie?« antwortete Bongrand. »Lassen Sie mich das doch sehen! Mein Gott«, rief der Friedensrichter, »müßte das nicht einem Atheisten die Augen öffnen und ihm die Vorsehung beweisen? Die menschliche Gerechtigkeit ist, glaub ich, die Offenbarung eines göttlichen Gedankens, der über der Welt schwebt!«

Er ergriff Ursulas Hand und küßte sie auf die Stirn.

»Oh, mein Kind, Sie werden glücklich und reich, und zwar durch mich!«

»Was ist Ihnen?« sagte der Pfarrer.

»Mein lieber Herr«, rief die Bougival, indem sie den Richter bei seinem blauen Überrock faßte, »oh, lassen Sie mich Sie umarmen für das, was Sie da eben sagten!«

»Erklären Sie sich, damit Sie uns nicht eine taube Freude machen!« sagte der Pfarrer.

»Wenn ich, um reich zu werden, irgend jemand Leid verursachen muß«, sagte Ursula, die einen Kriminalprozeß voraussah, »will ich …«

»Ach, denken Sie«, unterbrach der Richter Ursula, »an die Freude, die Sie unserem lieben Savinien machen werden.«

»Aber sind Sie nicht gescheit?« sagte der Pfarrer.

»Nein, mein lieber Pfarrer«, sagte der Friedensrichter. »Hören Sie … Die Eintragungen im Staatsschuldbuch haben ebenso viele Serien als das Alphabet Buchstaben, und jede Nummer trägt den Buchstaben ihrer Serie; aber die auf den Vorzeiger lautenden Renteneintragungen können keinen Buchstaben haben, da sie ja auf niemandes Namen gehen: so beweist Ihnen das, was Sie sehen: daß an dem Tag, wo der gute Mann seine Gelder beim Staat untergebracht hat, er die Nummer seiner Eintragung von fünfzehntausend Livres Rente notierte, die den Buchstaben M (Minoret) trägt, und die Nummern ohne Buchstaben der drei auf den Überbringer lautenden Eintragungen und der Ursula Mirouets, deren Nummer 23+534 ist und die, wie Sie sehen, unmittelbar auf die Eintragung von fünfzehntausend Franken folgt. Dieses Zusammentreffen beweist, daß die Nummern die der fünf an dem gleichen Tage erworbenen Eintragungen sind und daß sie für den Fall, daß sie verlorengehen sollten, von dem guten Mann notiert wurden. Ich hatte ihm geraten, das Vermögen Ursulas in auf den Überbringer lautenden Eintragungen anzulegen, und er hat wohl seine Gelder, die, welche er für Ursula bestimmte, und die, die seinem Mündel gehörten, am gleichen Tage eintragen lassen. Ich gehe zu Dionis, um das Inventar zu befragen; und wenn die Nummer der Eintragung, die er auf seinen Namen hat bewerkstelligen lassen, 23+533 ist, Buchstabe M, so sind wir sicher, daß er durch denselben Wechselagenten am gleichen Tage angelegt hat: primo, seine Gelder auf eine einzige Eintragung; secundo, seine Ersparnisse in drei auf den Überbringer lautenden Eintragungen, ohne Buchstaben, in der Serie numeriert; tertio, die Gelder seines Mündels: das Buch der Übertragungsurkunden wird uns die unwiderleglichen Beweise bieten. Ah, Duckmäuser Minoret, ich zwicke dich! – Motus, liebe Kinder!«

Der Friedensrichter überließ den Pfarrer, die Bougival und Ursula der tiefen Bewunderung der Wege, auf denen Gott die Unschuld zu ihrem Triumphe führte.

»Hier offenbart sich der Finger Gottes«, rief Abbé Chaperon.

»Wird es ihm schlecht gehen?« sagte Ursula.

»Ah, Fräulein«, rief die Bougival, »ich werde ihm einen Strick schicken, daß er sich aufhängt.«

Schon war der Friedensrichter bei Goupil, dem ausdrücklichen Nachfolger von Dionis, und trat mit gleichgültiger Miene in das Bureau ein.

»Ich habe«, sagte er zu Goupil, »mit Bezug auf die Erbschaft Minoret eine kleine Erkundigung einzuziehen.«

»Worum handelt es sich?« antwortete Goupil.

»Hat der gute Mann eine oder mehrere Renteneintragungen zu drei vom Hundert hinterlassen?«

»Er hat fünfzehntausend Livres Rente zu drei vom Hundert hinterlassen«, sagte Goupil, »in einer einzigen Eintragung, ich habe es selber geschrieben.«

»Sehen Sie also das Inventar nach«, sagte der Richter.

Goupil nahm einen Aktenfaszikel, blätterte darin, zog die Schrift näher heran, suchte, fand und las: »›Item, eine Eintragung‹ … Hier, lesen Sie! … ›unter Nummer 23+533, Buchstabe M‹.«

»Seien Sie so gut und geben Sie mir einen Auszug dieses Artikels des Inventars, in einer Stunde, ich warte darauf.«

»Was wollen Sie aber damit?« forschte Goupil.

»Wollen Sie Notar sein?« entgegnete der Friedensrichter, indem er den ausdrücklichen Nachfolger von Dionis mit einem strengen Blick ansah.

»Ich denke doch!« rief Goupil. »Ich habe genug Ärger geschluckt, um dahin zu gelangen, mich Chef nennen zu lassen. Ich bitte Sie zu glauben, Herr Friedensrichter, daß der elende Erste Schreiber, genannt Goupil, nichts gemein hat mit dem Meister Jean Sebastien Marie Goupil, Notar in Nemours, Gatte von Fräulein Massin. Diese zwei Wesen kennen sich nicht, sie ähneln sich nicht mal mehr! Sehen Sie mich nicht?«

Herr Bongrand achtete jetzt auf den Anzug Goupils, der eine weiße Halsbinde trug, ein blendend weißes Hemd mit Rubinknöpfen, eine rote Sammetweste und ein Beinkleid und einen Rock aus schönem, schwarzem Tuch, die in Paris angefertigt waren. Er hatte hübsche Schuhe an. Seine sorgfältig zurückgekämmten Haare hauchten einen guten Duft. Er schien ganz umgewandelt.

»Tatsächlich sind Sie ein anderer Mensch, Goupil«, sagte Bongrand.

»Moralisch sowohl wie physisch, mein Herr! Die Weisheit kommt mit dem Bureau; und endlich: das Vermögen ist die Quelle der Sauberkeit …«

»Moralisch wie physisch«, sagte der Richter, an seiner Brille rückend.

»Ach, mein Herr, ist ein Mann von hunderttausend Talern Rente jemals Demokrat? – Nehmen Sie mich also für einen anständigen Mann, der sich auf Takt versteht und der aufgelegt ist … seine Frau zu lieben«, fügte er hinzu, als er Frau Goupil eintreten sah. »Ich bin so verändert«, sagte er, »daß ich meine Cousine Crémière sehr geistreich finde, ich bilde sie; auch spricht ihre Tochter nicht mehr von Klapphörnern. Und endlich, halt! gestern sagte sie von Herrn Saviniens Hund, daß er außerordentlich ›Stubenarrest hätte‹: gut, ich wiederholte das Wort nicht mehr, so reizend es ist, sondern habe ihr auf der Stelle den Unterschied zwischen ›auf dem Anstand stehen‹, ›gehemmt sein‹ und ›im Arrest sein‹ Es handelt sich um ›être aux arrêts‹, ›être à l'arrêt‹, ›être en arrêt‹. (Der Übersetzer) auseinandergesetzt. Und so, sehen Sie, bin ich ein ganz anderer Mensch und würde einen Klienten davon zurückhalten, eine Gemeinheit zu begehen.«

»Beeilen Sie sich«, sagte Bongrand. »Machen Sie, daß ich das in einer Stunde habe, und der Notar Goupil wird einige von den Schandtaten des Ersten Schreibers wieder gutgemacht haben.«

Nachdem er den Arzt von Nemours gebeten hatte, ihm sein Pferd und sein Kabriolett zu leihen, ging der Friedensrichter und holte die beiden anklägerischen Bände sowie Ursulas Eintragung und eilte, ausgerüstet mit dem Auszug aus dem Inventar, nach Fontainebleau zum Staatsanwalt. Bongrand bewies mit leichter Mühe, daß die drei Eintragungen von irgendeinem Erben unterschlagen worden sein müßten und alsdann Minorets Straffälligkeit.

»Sein Verhalten liegt am Tage«, sagte der Staatsanwalt.

Aus Klugheitsrücksichten setzte der Beamte sofort einen Widerspruch gegen die Übertragungsurkunde der drei Eintragungen an das Schatzamt auf, beauftragte den Friedensrichter, zu gehen und den Rentenbetrag der drei Eintragungen zu recherchieren und in Erfahrung zu bringen, ob sie verkauft worden wären. Während der Friedensrichter in Paris arbeitete, schrieb der Staatsanwalt in höflicher Weise an Frau Minoret, sie solle vor der Staatsanwaltschaft erscheinen. Die wegen des Duells ihres Sohnes beunruhigte Zélie kleidete sich an, ließ die Pferde vor die Kutsche spannen und traf in fiocchi aufgedonnert. (Der Übersetzer) in Fontainebleau ein. Der Plan des Staatsanwaltes war so einfach wie furchtbar. Indem er die Frau vom Manne trennte, wollte er durch den Schrecken, den die Justiz einflößt, die Wahrheit erfahren. Zélie traf den Beamten in seinem Kabinett und war durch folgende unverblümte Worte ganz niedergeschmettert:

»Madame, ich glaube nicht, daß Sie an der in Sachen der Erbschaft Minoret gemachten Unterschlagung beteiligt sind, auf deren Spur sich die Justiz in diesem Augenblick befindet; aber Sie können Ihrem Manne die Gerichte ersparen, wenn Sie ein restloses Geständnis über das machen, was Sie wissen. Die Strafe, der Ihr Mann sich aussetzt, ist übrigens nicht das einzige, was zu fürchten steht: es muß die Amtsentsetzung Ihres Sohnes vermieden werden, Sie dürfen ihm nicht den Hals brechen. In wenigen Augenblicken wäre es zu spät; die Gendarmerie sitzt schon im Sattel, und der Haftbefehl geht nach Nemours ab.«

Zélie wurde es schlecht. Als sie wieder zu sich gekommen war, gestand sie alles. Nachdem der Beamte dieser Frau mit leichter Mühe: gezeigt hatte, daß sie Mitschuldige war, sagte er ihr, daß man vorsichtig zu Werke gehen müsse, wenn sie nicht ihren Sohn und ihren Gatten verlieren wollte.

»Sie haben es mit dem Menschen, nicht mit dem Beamten zu tun«, sagte er. »Es ist weder von dem Opfer Klage eingereicht noch der Diebstahl bekanntgegeben; allein Ihr Mann hat schreckliche Verbrechen begangen, Madame, die vor ein weniger gelindes Tribunal gehören, als ich es bin. Wie die Sache steht, ist es unumgänglich, daß Sie gefangengehalten werden … Oh, bei mir und auf mein Wort«, sagte er, als er Zélie beinahe in Ohnmacht fallen sah; »bedenken Sie, daß es meine harte Pflicht wäre, einen Haftbefehl zu beantragen und eine Untersuchung anstellen zu lassen; aber ich handle in diesem Augenblick als Vormund Fräulein Mirouets, und ihre wohlverstandenen Interessen erfordern einen Vergleich.«

»Ah!« sagte Zélie.

»Schreiben Sie an Ihren Mann folgende Worte«, und er diktierte Zélie, die er in seinem Bureau Platz nehmen ließ, folgenden Brief:

›Maine Freunt, ich bün arrätier, un ich hab ahles gesagd. Schüke tie Aintrachungen tie unse Ongel Härrn fon Portenduère in ten Destamend wälches tu ferbrant has hinderlaßen had, tenn der Härr Gönigliche Stadsahnwald had ain Wietersbruch ahn tas Schazambt gericht.‹

»Sie ersparen ihm auf diese Weise Ableugnungen, die ihn verderben würden«, sagte der Staatsanwalt, über die Orthographie lächelnd. »Wir werden die Zurückgabe in geeigneter Weise bewerkstelligen. Meine Frau wird Ihnen den Aufenthalt bei mir so angenehm wie möglich machen, und ich lege Ihnen nahe, nicht ein Wort mehr zu sagen und nicht niedergeschlagen zu erscheinen.«

Nachdem die Mutter seines Gehilfen einmal gestanden hatte und eingesperrt war, ließ der Beamte Désiré kommen, teilte ihm Punkt für Punkt den Diebstahl, den sein Vater heimlich zu Ursulas Nachteil und zum offenbaren seiner Miterben begangen hatte, mit und zeigte ihm den von Zélie geschriebenen Brief. Désiré bat, als der erste sich nach Nemours begeben zu dürfen, um seinen Vater die Zurückgabe vornehmen zu lassen.

»Alles ist sehr ernst«, sagte der Beamte. »Da das Testament vernichtet worden ist, könnten, wenn die Sache ruchbar wird, die Erben Massin und Crémière, Ihre Verwandten, einschreiten. Ich habe jetzt hinreichende Beweise gegen Ihren Vater. Ich gebe Ihnen Ihre Mutter frei, die diese Maßnahme hinreichend über ihre Pflichten belehrt hat. Ihr gegenüber werde ich tun, als hätte ich Ihrer Bitte, sie freizulassen, nachgegeben. Gehen Sie mit ihr nach Nemours und leiten Sie all diese Schwierigkeiten zum guten Ausgang. Fürchten Sie niemand. Herr Bongrand ist Fräulein Mirouet zu sehr zugetan, als daß er jemals eine Indiskretion beginge.«

Zélie und Désiré fuhren sogleich nach Nemours ab. Drei Stunden nach der Abfahrt des Gehilfen erhielt der Staatsanwalt durch einen Eilboten folgenden Brief, dessen Orthographie, damit über einen vom Unglück getroffenen Mann nicht gelacht würde, richtiggestellt ist:

›An den Herrn Königlichen Staatsanwalt
bei dem Gerichtshof von Fontainebleau.

Mein Herr,

Gott ist nicht so nachsichtig gewesen, wie Sie sich uns gegenüber gezeigt haben; wir sind von einem nicht wieder gutzumachenden Unglück betroffen. Bei der Ankunft an der Brücke von Nemours hat sich ein Zugstrang abgehakt. Meine Frau war ohne Diener hinten in der Kutsche; die Pferde witterten den Stall; mein Sohn wollte, aus Sorge vor ihrer Ungeduld, nicht, daß der Kutscher abstiege, und sprang selbst herunter, um den Zugstrang wieder einzuhaken. In dem Augenblicke, wo er sich umwandte, um neben seine Mutter wieder einzusteigen, gingen die Pferde durch, Désiré hat sich nicht rechtzeitig gegen die Brüstung gedrückt, der Wagentritt hat ihm die Beine gebrochen, er ist gefallen, das Hinterrad ist über ihn weggegangen. Der Eilbote, der nach Paris geht, um die ersten Chirurgen zu holen, wird Ihnen diesen Brief zugelangen lassen, den mein Sohn mich mitten in seinen Schmerzen schreiben läßt, damit wir Ihnen unsere völlige Unterwerfung unter Ihre Entscheidungen in der Sache, die ihn zu seiner Familie herführte, bekanntgeben. Ich werde Ihnen bis zu meinem letzten Atemzuge dankbar sein für die Art und Weise, wie Sie vorgegangen sind, und werde Ihr Vertrauen rechtfertigen.

François Minoret‹

Dies furchtbare Ereignis erregte ganz Nemours. Die erschütterte Menge an der Gittertür von Minorets Hause sagte Savinien, daß eine höhere Macht seine Vergeltung in ihre Hand genommen hatte. Der Edelmann begab sich eilig zu Ursula, wo der Pfarrer ebenso wie das junge Mädchen mehr erschrocken als überrascht waren. Am folgenden Tage kam, nachdem der erste Verband angelegt war und die Pariser Ärzte und Chirurgen ihre Meinung einstimmig dahin abgegeben hatten, daß es unvermeidlich sei, beide Beine abzunehmen, Minoret niedergeschlagen, fahl, abgemagert, in Begleitung des Pfarrers zu Ursula, wo sich Bongrand und Savinien befanden.

»Mein Fräulein«, sagte er zu ihr, »ich bin Ihnen gegenüber schwer schuldig; aber wenn all mein Vergehen nicht ganz wieder gutgemacht werden kann, so will ich doch wenigstens eines sühnen. Meine Frau und ich haben gelobt, Sie in den völligen Besitz unseres Landbesitzes von Rouvre zu setzen für den Fall, daß uns unser Sohn erhalten bleibt, wie für den, daß wir das furchtbare Unglück haben sollten, ihn zu verlieren.«

Dieser Mensch brach bei den letzten Worten in Tränen aus. »Ich kann Sie versichern, meine teure Ursula«, sagte der Pfarrer, »daß Sie einen Teil dieser Schenkungen annehmen können und annehmen müssen.«

»Verzeihen Sie uns!« sagte der Koloß demütig, indem er sich vor dem erstaunten jungen Mädchen auf die Knie warf. »In einigen Stunden wird die Operation durch den ersten Chirurgen des Hôtel-Dieu vollzogen; aber ich verlasse mich nicht mehr auf menschliches Wissen, ich glaube an die Allmacht Gottes! Wenn Sie mir verzeihen, wenn Sie gehen und Gott bitten, uns unseren Sohn zu erhalten, wird er die Kraft haben, diese Pein zu ertragen, und wir haben, dessen bin ich gewiß, das Glück, ihn zu behalten.«

»Gehen wir alle in die Kirche!« sagte Ursula, und sie erhoben sich.

Als sie aber aufgestanden war, stieß sie einen durchdringenden Schrei aus, sank auf ihren Sessel zurück und fiel in Ohnmacht. Als sie wieder zu sich gekommen, sah sie ihre Freunde, außer Minoret, der hinausgestürzt war, um einen Arzt zu holen, alle die Augen auf sie gerichtet, voller Unruhe, dastehen und ihr Wort erwarten. Dieses Wort erfüllte aller Herzen mit Schrecken.

»Ich habe meinen Paten an der Pforte gesehen«, sagte sie, »er machte mir ein Zeichen, daß keine Hoffnung wäre.«

Am Tag nach der Operation starb Désiré wirklich, hingerafft vom Fieber und der heftigen Stauung der Säfte, die solche Operationen zur Folge haben. Frau Minoret, deren Herz kein anderes Gefühl als das der Mutterschaft kannte, verfiel nach dem Begräbnis ihres Sohnes in Irrsinn und wurde von ihrem Mann zu Doktor Blanche gebracht, wo sie 1841 gestorben ist.

Drei Monate nach diesen Ereignissen, Januar 1837, heiratete mit Einverständnis der Frau von Portenduère Ursula Savinien. Minoret trug dazu bei, indem er kontraktlich Fräulein Mirouet seinen Besitz in Rouvre und vierundzwanzigtausend Franken Staatsschuldenrente übertrug, während er von seinem Vermögen nichts als das Haus seines Onkels und sechstausend Franken Rente behielt. Er wurde der mildtätigste, frömmste Mann von Nemours; er ist Kirchenvorsteher des Kirchspieles und die Fürsorge der Unglücklichen geworden.

»Die Armen haben mir mein Kind ersetzt«, sagte er.

Wenn man am Wegrand in den Ländern, wo man die Eiche köpft, irgendeinen alten, ausgebleichten und wie vom Blitz getroffenen Baum gesehen hat, der doch noch treibt, mit klaffenden Seiten und die Axt erflehend, so hat man eine Vorstellung von dem alten Posthalter mit seinem weißen Haar, gebrechlich, mager, in welchem die Alten der Gegend in nichts mehr den glücklichen Dummkopf wiedererkennen, den man am Eingang dieser Erzählung seinen Sohn erwarten sah. Er schnupft nicht mehr wie früher, er trägt irgendein Mehr als seinen Körper. Man empfindet in jeder Hinsicht, daß der Finger Gottes sich auf dies Gesicht gelegt hat, um ein schreckliches Beispiel zu stiften. Nachdem dieser Greis das Mündel seines Onkels so sehr gehaßt hatte, hat er, wie der Doktor Minoret, seine Zuneigung jetzt so sehr auf Ursula gerichtet, daß er zum Verwalter ihres Besitztums in Nemours geworden ist.

Herr und Frau von Portenduère verbringen fünf Monate des Jahres in Paris, wo sie in dem Faubourg Saint-Germain ein prächtiges Haus gekauft haben. Nachdem sie ihr Haus in Nemours den Barmherzigen Schwestern gegeben, die dort eine Freischule halten sollten, zog Frau von Portenduère, die Mutter, nach Rouvre, um dort zu wohnen; Oberkastellanin ist die Bougival. Cabirolle Vater, der ehemalige Kondukteur der ›Ducler‹, ein Mann von sechzig Jahren, hat die Bougival, die eine Rente von zwölfhundert Franken besitzt, außer den beträchtlichen Einkünften ihrer Stellung, geheiratet. Cabirolle, der Sohn, ist Herrn von Portenduères Kutscher.

Wenn man auf den Champs-Élysées eine von diesen reizenden kleinen, niedrigen Kutschen, die ›Schnecken‹ genannt werden und die mit flachsfarbener Seide ausgelegt ist und blaue Verzierungen hat, vorbeifahren sieht, kann man in ihr, das Gesicht von Locken eingerahmt, mit Augen wie strahlende Vinca-Blüten und liebevoll leicht gegen einen schönen, jungen Mann gelehnt, eine reizende blonde Frau bewundern; wenn man die Anwandlung eines neidvollen Begehrens verspürt, so mag man daran denken, daß dies schöne, von Gott geliebte Paar im voraus dem Unglück des Lebens sein Teil gezahlt hat. Diese beiden liebenden Gatten sind dann wahrscheinlich der Vicomte von Portenduère und seine Frau. Es gibt nicht zwei ähnliche Familien in Paris.

»Das ist das reizendste Glück, das ich jemals gesehen habe«, sagte von ihnen kürzlich die Frau Gräfin von Estorade.

Segnet also diese glücklichen Kinder, anstatt sie zu beneiden, und sucht eine Ursula Mirouet, ein junges, von drei Greisen und der besten der Mütter, der Not, auferzogenes junges Mädchen.

Goupil, der sich gegen jedermann dienstwillig zeigt und den man mit Recht für den geistreichsten Mann von Nemours hält, besitzt die Achtung der kleinen Stadt; aber er ist an seinen Kindern gestraft, die häßlich, rachitisch und wasserköpfig sind. Dionis, sein Vorgänger, spielt seine Rolle in der Abgeordnetenkammer, deren er eine der schönsten Zierden ist, zur großen Genugtuung des Königs der Franzosen, der Frau Dionis auf allen seinen Bällen empfängt. Frau Dionis erzählt ganz Nemours die Einzelheiten ihrer Aufnahme in den Tuilerien und von der Herrlichkeit des Hofes des Königs der Franzosen; sie thront in Nemours vermittels des Thrones, der damals ja volkstümlich war. Bongrand ist Präsident am Gericht von Melun; sein Sohn ist auf dem Wege, ein sehr achtbarer Oberstaatsanwalt zu werden. Frau Crémière sagt noch immer die reizendsten Sachen von der Welt. Sie fügt bei ›Tambour‹ ein g hinzu, sozusagen, weil ihre Feder spritzt. Am Tag vor der Hochzeit ihrer Tochter hat sie dieser, indem sie die Unterweisung, die sie ihr gab, abschloß, gesagt, daß eine Frau die ›fleißige Raupe‹ ihres Hausstandes sein und daß sie in ihm auf alles mit ›Sphinxaugen‹ achten müsse. Goupil hat übrigens eine Sammlung von solchen Kuriositäten seiner Cousine angelegt: ›Cremieriana‹.

»Der schmerzliche Verlust des guten Abbé Chaperon hat uns tief berührt«, sagte letzten Winter die Frau Vicomtesse von Portenduère, die ihn während seiner Krankheit gepflegt hatte. Der ganze Umkreis wohnte seinem Leichenbegängnis bei. Nemours hat Glück gehabt, denn der Nachfolger dieses frommen Mannes ist der verehrungswürdige Pfarrer von Saint-Lange geworden.


Nachwort aus Urheberrechtsgründen gelöscht. Re.

 


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