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Die aufgeregten Erben

Wenn man von Paris her Nemours naht, kommt man am Kanal des Loing vorbei, dessen Uferböschungen dieser kleinen Stadt zugleich Feldhügel und malerische Spazierwege darbieten. Seit 1830 hat man leider diesseits der Brücke mehrere Häuser errichtet. Sollte diese Art von Vorstadt anwachsen, so würde das Gepräge der Stadt dadurch seine anmutige Eigenart einbüßen. Doch 1829, als die Ränder der Landstraße noch frei waren, konnte der Posthalter, ein großer, dicker Mann von ungefähr sechzig Jahren, als er auf dem höchsten Punkt der Brücke saß, eines schönen Morgens vollständig das überschauen, was in der Sprache seines Berufes der Landstraßenschwanz genannt wird. Der Septembermond entfaltete seine Pracht, über Pflanzen und Steinen flimmerte die Atmosphäre, kein Wölkchen trübte das klare Ätherblau, das selbst am Horizont die außerordentliche Reinheit des Luftgehaltes anzeigte, so daß Minoret-Levrault, so hieß der Posthalter, genötigt war, um nicht geblendet zu werden, die Hand über die Augen zu halten. Wie jemand, der keine Geduld hat zu warten, betrachtete er bald die reizenden Wiesen, die sich zur Rechten der Landstraße breiteten und auf denen seine Grummeternte heranwuchs, bald den bewaldeten Hügelrücken, der sich links von Nemours gegen Bouron hinzieht. Er vernahm in dem Tal des Loing, wo die Hügel die Geräusche der Landstraße wiedergaben, den Galopp seiner eigenen Pferde und den Peitschenknall seines Postillions. Muß man nicht schon ein Posthalter sein, um angesichts einer Wiese, auf der sich Tiere befinden, wie sie ein Paul Potter malte, unter einem Himmel von Raffael, einem nach der Weise von Hobbema von Bäumen beschatteten Kanal gegenüber Ungeduld zu zeigen? Wer Nemours kennt, weiß, daß die Natur dort so schön ist wie die Kunst, deren Aufgabe es ist, sie zu vergeistigen: dort birgt die Landschaft Gedanken und regt zum Denken an. Doch beim Anblick Minoret-Levraults würde ein Künstler sich von der Landschaft abgewandt und diesen Bürger gezeichnet haben, so eigenartig war er in seiner Alltäglichkeit. Man stelle alles zusammen, was das Tier ausmacht, so wird man Kaliban erhalten, und das ist gewiß eine große Sache. Da, wo die Gestalt vorherrscht, tritt die Empfindung zurück. Einen lebendigen Beweis für diesen Grundsatz bot der Posthalter, eine von jenen Physiognomien, denen gegenüber es dem Denker schwerfällt, unter dem groben Inkarnat, das von einer brutalen Entwicklung des Fleisches erzeugt wird, die Seelenspur zu finden. Seine blaue Tuchmütze mit dem kleinen Schirm und ihren Melonenrippen betonte einen Kopf, dessen massiger Umfang bewies, daß die Wissenschaft Galls das Kapitel der Ausnahmen noch nicht in Angriff genommen hat. Die grauen und gleichsam blankgeputzten Haare, die unter der Mütze hervorkamen, würden euch angezeigt haben, daß diesen Haarschopf eine andere Ursache gebleicht hatte als geistige Anstrengungen und Kummer. Auf beiden Seiten dieses Kopfes sah man breite, an ihren Rändern von den ätzenden Kräften einer überreichlichen Blutfülle, die bei der geringsten körperlichen Anstrengung hervorspritzen zu wollen schien, schier benarbte Ohren. Die Gesichtsfarbe bot unter einer von der Gewohnheit, dem Sonnenbrand zu trotzen, herrührenden braunen Schicht bläuliche Töne. Die grauen, beweglichen, tief unter zwei schwarzen Gestrüppen liegenden Augen glichen denen der Kalmücken, die 1815 zu uns kamen; wenn sie zuweilen blitzten, so konnte das nur von einem habsüchtigen Gedanken herrühren. Die an ihrer Wurzel eingedrückte Nase stülpte sich an ihrem Ende jäh in die Höhe. Dicke Lippen, die zu einem fast abschreckenden Doppelkinn stimmten, dessen kaum zweimal in der Woche hergerichteter Bart auf einem schlechten Tuch aufstand wie von einer abgenutzten Schnur gehalten; ein obschon sehr kurzer, faltiger Fetthals; mächtige Wampen vervollständigten das Gepräge einer dumpfen Kraft, wie sie die Bildhauer ihren Karyatiden geben. Minoret-Levrault glich diesen Statuen, ungefähr mit dem Unterschied, daß sie ein Gebäude tragen, während er genug damit zu tun hatte, sich selbst zu tragen. Man kann auf viele solche Atlasse ohne Weltkugel treffen. Die Brust dieses Mannes war ein Block; man hätte von einem auf seinen Hinterbeinen aufgerichteten Stier sprechen können. Die gewaltigen Arme endeten in dicken, harten, breiten, kräftigen Händen, die sich darauf verstanden, Peitsche, Zügel, Forke zu handhaben, und deren kein Postillion zu spotten wagte. Der mächtige Bauch dieses Riesen ruhte auf Schenkeln, die so dick waren wie der Körper eines ausgewachsenen Mannes, und wurde von Elefantenbeinen getragen. Der Zorn mußte diesen Mann selten ankommen, dann aber, wenn er ausbrach, schrecklich und unter der Gefahr des Schlagflusses. Obgleich heftig und unfähig zu überlegen, hatte dieser Mensch nichts getan, was das Unheilverkündende, Drohende seines Gesichtsausdruckes gerechtfertigt hätte. Dem, der vor dem Riesen zagte, sagten seine Postillione: »Oh, er ist nicht bösartig!«

Der Meister von Nemours, um uns dieser vielgebrauchten ländlichen Abkürzung zu bedienen, trug ein Jagdwams von flaschengrünem Sammet, ein Beinkleid von grünem Zwillich mit grünen Streifen, eine weite, gelbe Weste aus Ziegenleder, in deren Tasche man eine unförmige, mit einem schwarzen Kreis umgebene Tabaksdose wahrnahm. Eine Stumpfnase und eine dicke Tabaksdose ist ein Gesetz, das kaum eine Ausnahme erleidet.

Geboren unter der Revolution, Miterleber des Kaiserreiches, hatte Minoret-Levrault sich nie mit Politik befaßt; was aber seine religiösen Anschauungen betraf, so hatte er die Kirche nur betreten, um sich trauen zu lassen; und was seine Grundsätze im Privatleben betraf, so befanden sie sich im Bürgerlichen Gesetzbuch: alles, was das Gesetz nicht verbot oder nicht erreichen konnte, hielt er für ausführbar. Nie hatte er die Zeitung des Departements Seine-et-Oise gelesen oder irgendwelche auf seinen Beruf bezügliche Vorschriften. Er galt für einen tüchtigen Landwirt; aber seine Kenntnis war eine lediglich praktische. So strafte bei Minoret-Levrault das Sittliche die Physis nicht Lügen. Auch sprach er nur selten; und bevor er das Wort ergriff, nahm er immer eine Prise Tabak, um sich Zeit zu lassen, nicht Gedanken, aber Worte zu finden. Wäre er schwatzhaft gewesen, so hätte das nicht zu ihm gestimmt. Wenn man bedenkt, daß dieser Elefant ohne Rüssel und Intelligenz Minoret-Levrault heißt: muß man sich da nicht mit Sterne an die geheime Macht der Namen erinnern, die so oft des Charakters spotten, so oft ihn ankünden? Ungeachtet solcher offenbaren Unfähigkeit hatte er es in sechsunddreißig Jahren – die Revolution kam zustatten auf eine Rente von dreißigtausend Livres aus Weideplätzen, Fruchtäckern und Waldungen gebracht. Wenn Minoret, bei dem Postwesen von Nemours und dem des Gâtinais in Paris interessiert, noch arbeitete, so geschah es weniger aus Gewohnheit als für einen einzigen Sohn, dem er eine gute Zukunft bereiten wollte. Dieser nach dem Ausdruck der Bauern ein Herr gewordene Sohn hatte eben das Studium der Rechte beendet und sollte nach seiner Rückkehr den Eid als berufsmäßiger Advokat leisten. Herr und Frau Minoret-Levrault – denn über diesen Koloß weg richtete sich der Blick aller Welt auf diese Frau, ohne die ein so stattliches Vermögen unmöglich gewesen wäre – hatten ihrem Sohn die Wahl seiner Laufbahn freigestellt: Notar in Paris, oder irgendwo Staatsanwalt, oder, einerlei wo, Obersteuereinnehmer, Wechselagent oder Posthalter. Man kann sich wohl vorstellen, bis zu welchem Grade das Selbstgefühl des Sohnes eines Mannes gehen mußte, über den es von Montargis bis Essonne hieß. »Vater Minoret kennt sein Vermögen selbst nicht!« Dies Wort hatte vier Jahre zuvor eine neue Bestätigung erfahren, als Minoret sich, nachdem er sein Wirtshaus verkauft, prächtige Pferdeställe und ein neues Haus gebaut und die Post von der Grand' Rue nach der Brücke verlegt hatte. Dies neue Anwesen hatte zweihunderttausend Franken gekostet, eine Summe, die auf dreißig Meilen in der Runde von dem Klatsch verdoppelt wurde. Die Post von Nemours braucht eine große Anzahl von Pferden, sie geht über Paris bis Fontainebleau und versorgt dann noch die Straßen von Montargis bis Montereau; überall ist die Umsteigestation weit entfernt, und die sandige Landstraße von Montargis rechtfertigt das vorgetäuschte dritte Pferd, das immer bezahlt und niemals erblickt wird.

Ein Mensch, wie Minoret gebaut, reich wie Minoret und Haupt eines derartigen Anwesens, konnte sich also ohne jede Ironie den Meister von Nemours nennen. Obgleich er sich damals weder um Gott noch um den Teufel bekümmert hatte und er praktischer Materialist wie praktischer Landwirt, praktischer Egoist, praktischer Geizhals war, hatte Minoret bis dahin ein ungetrübtes Glück genossen, soweit man ein bloß materielles Leben als ein Glück ansehen darf. Wenn ein Physiolog das am oberen Ende des Rückgrates befindliche kahle, das kleine Gehirn beengende Fleischpolster dieses Menschen gesehen, wenn er besonders sein dünnes, blasses Stimmchen gehört hätte, das zu seinem Hals in einem so lächerlichen Widerspruch stand, so würde er vollkommen verstanden haben, warum dieser große, dicke, massige Landwirt seinen einzigen Sohn vergötterte und warum er ihn vielleicht so lange erwartet hatte, wie es schon genugsam der Name Désiré anzeigte, den das Kind erhalten hatte. Schließlich werden, wenn die Liebe, indem sie eine reiche Organisation verrät, beim Manne ein vielheißend Ding ist, die Philosophen die Ursachen von Minorets Untauglichkeit verstehen. Die Mutter, der der Sohn glücklicherweise sehr ähnelte, wetteiferte mit dem Vater, was Verzärtelung anbetraf. Kein Kind hätte diesem Götzendienst widerstehen können. Und so verstand es Désiré, die Kasse der Mutter zu melken und aus Vaters Beutel zu schöpfen, indem er jeden der Urheber seiner Tage glauben machte, daß er sich nur an ihn wende. Désiré, der in Nemours, wie ein königlicher Prinz in der Hauptstadt seines Vaters, eine unendlich überlegene Rolle spielte, hatte in Paris alle Einfälle, die er in seinem Nestchen nicht durchführen konnte, übertreffen wollen und jedes Jahr mehr als zwölftausend Franken draufgehen lassen. Als Entgelt für diese Summe hatte er aber Ideen gewonnen, auf die er in Nemours niemals gekommen wäre; er hatte den Provinzmenschen abgestreift, die Macht des Geldes begriffen und im Richterstande ein Mittel, vorwärtszukommen, erkannt. Im letzten Jahr hatte er, indem er sich mit Künstlern, Journalisten und ihren Mätressen verband, zehntausend Franken mehr verausgabt. Ein recht beunruhigender, vertraulicher Brief hätte wohl das Postenstehen des Posthalters erklären können, den sein Sohn um seine Unterstützung für eine Heirat gebeten hatte; doch hatte Mutter Minoret-Levrault, die damit beschäftigt war, den Triumph und die Rückkehr des Rechtslizentiaten zu feiern und ein glänzendes Frühstück zu rüsten, ihren Mann auf die Landstraße hinausgeschickt und ihm gesagt, er solle, wenn er die Postkutsche nicht sähe, zu Pferde steigen. Die Postkutsche, die diesen einzigartigen Sohn bringen sollte, langte in Nemours gewöhnlich gegen fünf Uhr morgens an, und es schlug neun! Was konnte die Ursache einer derartigen Verzögerung sein? Hatten sie umgeworfen? War Désiré noch am Leben? Hatte er vielleicht ein Bein gebrochen?

Drei Batterien Peitschengeknall brechen los und zerreißen die Luft wie Musketensalven, die roten Röcke der Postillione tauchen auf, zehn Pferde wiehern! Der Meister nimmt die Mütze ab und schwenkt sie; er ist bemerkt worden. Der am besten sichtbare Postillion, der zwei Kaleschen-Apfelschimmel führt vor fünf dicken Eilwagengäulen her, wahren Minorets des Stalles, und drei Gäulen einer Berline, gibt seinem Reitpferd die Sporen und langt bei dem Meister an.

»Hast du die ›Ducler‹ gesehen?«

Auf den großen Landstraßen gibt man den Postwagen ziemlich phantastische Namen: man sagt die ›Caillard‹, die ›Ducler‹ (die Kutsche von Nemours nach Paris), das ›Grand-Bureau‹. Ein ganz neues Unternehmen ist die ›Concurrence‹! Zur Zeit des Unternehmens der Lecomte hießen deren Kutschen die ›Komtesse‹. »›Caillard‹ hat die ›Komtesse‹ nicht eingeholt, aber ›Grand-Bureau‹ hat ihr immerhin weidlich zu schaffen gemacht! – Die ›Caillard‹ und ›Grand-Bureau‹ sind in die ›Françaises‹ (französische Personenwagen) eingebrochen.« Seht ihr den Postillion ganz ausgedörrt vor Durst und er schlägt ein Glas Wein aus, so fragt den Kondukteur; er schaut mit witternder Nase aus und antwortet euch: »Die ›Concurrence‹ ist voran!« – »Und wir sehen sie nicht«, sagt der Postillion. »Der Schurke wird seine Passagiere nicht haben essen lassen!« – »Vielleicht hat er selber gegessen?« antwortet der Kondukteur. »Hau also auf ›Polignac‹ los!« Alle schlechten Pferde heißen ›Polignac‹. Das sind die Scherze und ist die hauptsächliche Unterhaltung zwischen den Postillionen und den Kondukteuren auf ihren Kutschen. Soviel Berufe in Frankreich, soviel verschiedenes Rotwelsch.

»Hast du in die ›Ducler‹ hineingesehen?«

»Herr Désiré?« unterbrach der Postillion seinen Meister. »Eh, Sie haben uns ja wohl gehört, unsere Peitschen haben Ihnen ja genug angekündigt; wir dachten uns gleich, daß Sie auf der Landstraße wären.«

»Warum hat die Eilpost aber vier Stunden Verspätung?«

»Zwischen Essonne und Ponthierry ist die Felge eines Hinterrades gebrochen. Aber es war nicht weiter schlimm; bei der Steigung hat Cabirolle die Sache glücklicherweise bemerkt.«

In diesem Augenblick redete eine Frau im Sonntagsstaat – denn die Glocke von Nemours rief die Einwohner zur Sonntagsmesse –, redete eine Frau von ungefähr sechsunddreißig Jahren den Posthalter an:

»Nun, lieber Vetter!« sagte sie, »Sie wollten mir's nicht glauben! Unser Onkel ist mit Ursula in der Grand' Rue, und sie gehen zur Hauptmesse.«

Ungeachtet der auf die Lokalfarbe bezüglichen Gesetze der modernen Dichtung ist es unmöglich, die Wahrheit so weit zu treiben, daß man die erschreckliche, mit Flüchen vermischte Beleidigung wiedergeben könnte, die diese äußerlich so wenig dramatische Neuigkeit dem breiten Munde Minoret-Levraults entfahren ließ; seine dünne Stimme wurde ein Zischen, und sein Gesicht bot den Eindruck dar, den das Volk so treffend einen Sonnenstich nennt.

»Ist das gewiß?« sagte er, nachdem sich der erste Ausbruch seines Zornes gelegt hatte.

Die Postillione fuhren vorüber, nachdem sie ihren Meister, der sie weder zu sehen noch zu hören schien, gegrüßt hatten. Anstatt seinen Sohn zu erwarten, ging Minoret-Levrault mit seiner Base die Grand' Rue hinauf.

»Hab ich's Ihnen nicht immer gesagt?« fuhr sie fort. »Wenn dem Doktor Minoret gründlich der Kopf verdreht sein wird, wird ihn diese kleine Scheinheilige in die Pietisterei hineintreiben; und wer den Verstand beherrscht, beherrscht den Geldbeutel, sie wird unsere Erbschaft bekommen.«

»Aber Frau Massin …!« sagte der Posthalter stumpfsinnig. »Ah, auch Sie«, unterbrach Frau Massin ihren Vetter, »auch Sie wollen mir also sagen wie Massin: ›Kann denn ein Mädelchen von fünfzehn Jahren solche Pläne aushecken und durchführen: einen Mann von dreiundachtzig Jahren, der den Fuß niemals in die Kirche gesetzt hat, außer bei seiner Verheiratung, der vor den Priestern einen derartigen Abscheu hat, daß er nicht einmal das Kind am Tage seiner ersten Kommunion in die Kirche begleitet hat, dazu zu bringen, seine Gesinnung aufzugeben?‹ Nun gut, warum bringt aber Doktor Minoret, wenn er die Priester so verabscheut, seit fünfzehn Jahren fast alle Abende in der Woche mit dem Abbé Chaperon zusammen zu? Der alte Heuchler hat es noch nie versäumt, Ursula zwanzig Franken für eine Altarkerze zu geben, wenn sie das geweihte Brot hinträgt. Entsinnen Sie sich denn des Geschenkes nicht mehr, das Ursula der Kirche gemacht hat, um dem Pfarrer für die Vorbereitung auf ihre Kommunion zu danken? Sie hat dazu ihr ganzes Geld verwendet, und ihr Pate hat es ihr wiedergegeben, aber doppelt. Ihr Männer gebt auf gar nichts acht! Als ich von diesen Einzelheiten hörte, hab ich gesagt: ›Lebt wohl, Körbe! Der Wein ist gelesen!‹ Ein Erbonkel beträgt sich nicht so, wenn er einer kleinen, von der Straße aufgelesenen Rotznase gegenüber keine Absichten hat.«

»Bah, liebe Base!« entgegnete der Posthalter, »der gute Mann führt Ursula wohl ganz zufällig zur Kirche. Es ist schönes Wetter, unser Onkel macht einen Spaziergang.«

»Lieber Vetter, unser Onkel hält ein Gebetbuch in der Hand, und er zeigt eine scheinheilige Miene. Sie werden ja sehen.«

»Sie wollen ihr Spiel verdecken«, antwortete der dicke Posthalter, »denn die Bougival hat mir gesagt, daß zwischen dem Doktor und Abbé Chaperon niemals von Religion die Rede gewesen ist. Übrigens ist der Pfarrer von Nemours der anständigste Mann von der Welt, er würde einem Armen sein letztes Hemd geben; er ist einer schlechten Handlung nicht fähig; und um eine Erbschaft betrügen …«

»Heißt stehlen«, sagte Frau Massin.

»'s ist schlimm!« rief Minoret-Levrault, über die Bemerkung seiner geschwätzigen Base außer sich.

»Ich weiß«, antwortete Frau Massin, »daß Abbé Chaperon, wenn auch ein Priester, ein anständiger Mann ist; aber für die Armen ist er zu allem fähig! Er wird bei unserem Onkel minieren, minieren und minieren, und der Doktor wird ins Muckertum geraten. Wir haben uns ruhig verhalten, und das hat ihn verdorben. Ein Mann, der niemals an was geglaubt hat und der Grundsätze hatte! Oh, das ist auf uns abgesehen! Bei meinem Mann ist das Unterste zuoberst.«

Frau Massin, deren Worte ebenso viele Pfeile waren, die sich ihrem dicken Vetter einbohrten, machte ihn trotz seines Umfanges so schnell schreiten wie sie selbst; zum großen Erstaunen der Leute, die sich zur Messe begaben. Sie wollte Onkel Minoret einholen und ihn dem Posthalter zeigen.

Vom Gâtinais her wird Nemours von einem Hügel beherrscht, an dem entlang sich die Landstraße von Montargis und der Loing hinstrecken. Die Kirche, auf deren Steinwerk die Zeit reichlich ihren schwarzen Mantel geworfen hatte – denn ohne Zweifel ist sie im vierzehnten Jahrhundert durch die Guisen, die Herzöge von Nemours wurden, wieder aufgebaut –, erhebt sich am Ende des Städtchens am Fuß eines großen Brückenbogens, von dem sie wie eingerahmt wird. Für Bauwerke wie für Menschen bedeutet die Lage alles. Im Schatten einiger Bäume und gehoben durch einen schmucken Platz, macht diese einsame Kirche einen großartigen Eindruck. Als er den Platz überschritten hatte, konnte der Meister von Nemours seinen Onkel dem Ursula genannten jungen Mädchen – jedes von ihnen hatte ein Gebetbuch in der Hand – den Arm reichen und mit ihr in die Kirche eintreten sehen. Der Greis nahm in der Vorhalle den Hut ab, und sein vollkommen weißes Haupt, das wie ein schneegekrönter Berggipfel war, schimmerte im milden Dunkel der Wände.

»Nun, Minoret, was sagen Sie zu der Bekehrung Ihres Onkels?« rief der Steuereinnehmer von Nemours, der Crémière hieß.

»Was soll ich weiter sagen?« antwortete der Posthalter, indem er eine Prise Tabak anbot.

»Gut gesagt, Vater Levrault! Sie können nicht sagen, was Sie denken, wenn ein berühmter Schriftsteller recht hat, der schreibt, daß ein Mensch sein Wort denken muß, bevor er seinen Gedanken ausspricht«, rief boshaft ein junger Mann, der gerade hinzukam und der in Nemours den Mephistopheles aus ›Faust‹ spielte.

Dieser schlechte, Goupil genannte Bursche war der Erste Schreiber des Herrn Crémière-Dionis, des Notars von Nemours. Ungeachtet einer voraufgegangenen geradezu wüsten Lebensführung Goupils hatte Dionis ihn in sein Bureau aufgenommen, als der Aufenthalt in Paris, wo der Schreiber das Erbteil seines Vaters, eines wohlhabenden Pächters, der ihn für das Notariat bestimmt, vergeudet hatte, sich ihm infolge gänzlicher Mittellosigkeit verbot. Sah man Goupil, so verstand man sofort, daß er es eilig gehabt hatte, das Leben zu genießen; denn um sich Genüsse zu verschaffen, mußte er sie teuer bezahlen. Trotz seinem kleinen Wuchs hatte der Schreiber mit siebenundzwanzig Jahren eine entwickelte Brust wie ein vierzigjähriger Mann. Dünne, kurze Beine, ein breites Gesicht, das eine trübe Farbe wie der Himmel vorm Sturm hatte, überragt von einer kahlen Stirn, unterstrichen diesen Körperbau noch mehr. Auch schien sein Gesicht das eines Buckligen zu sein, der den Buckel innen hatte. Eine Seltsamkeit dieses scharfen, fahlen Gesichtes unterstützte noch den Gedanken an diesen unsichtbaren Buckel. Krumm und gewunden, wie bei vielen Buckligen, richtete sich seine Nase von rechts nach links, anstatt das Gesicht genau zu halbieren. Der nach seinen Winkeln hingezogene sardonische Mund war immer zur Ironie bereit. Das spärliche, rötliche Haar fiel in flachen Strähnen und ließ stellenweise den Schädel hervortreten. Die plumpen, schlecht am Ende der zu langen Arme sitzenden Hände waren krummfingrig und selten sauber. Goupil trug Schuhe, die eigentlich hätten weggeworfen werden müssen, und rötlich-schwarze, aus Flockseide gewirkte Strümpfe; sein schwarzer Rock und seine schwarzen Beinkleider waren fadenscheinig und starrten von Fett; seine Weste war jämmerlich und hatte zerbrochene Knöpfe; das alte Tuch, das ihm als Krawatte diente, seine ganze Tracht zeigte das zynische Elend an, zu welchem ihn seine Leidenschaften verdammten.

Dies ganze Beieinander von trübseligen Dingen wurde von zwei Ziegenaugen beherrscht, Augäpfeln mit gelben Ringen, die einen zugleich unzüchtigen und niederträchtigen Ausdruck hatten. Niemand war in Nemours so gefürchtet und respektiert wie Goupil. Mit Ansprüchen ausgerüstet, die seine Häßlichkeit mit sich brachte, besaß er jenen verabscheuungswürdigen Geist, wie er denen eigen ist, die sich alles erlauben, und er benutzte ihn, die stets getäuschten Hoffnungen seiner Eifersucht zu rächen. Er reimte satirische Couplets, die zum Karneval gesungen wurden, er richtete Polterabende ein, er war die Zeitung der Stadt. Dionis, ein schlauer, falscher Mensch und darum selber hinreichend ängstlich, behielt Goupil ebensosehr aus Furcht als wegen seiner außerordentlichen Intelligenz und seiner gründlichen Kenntnis der Interessen der ganzen Gegend. Doch mißtraute der Chef seinem Schreiber so sehr, daß er seine Kasse selber führte, ihn auch nicht bei sich wohnen ließ, sich ihn in Abstand hielt und ihm keinerlei geheime und kitzlige Angelegenheiten anvertraute. Der Schreiber aber schmeichelte seinem Chef, während er das Rachegefühl, das ihm dessen Verhalten erregte, verbarg, und mit einem Gedanken an Rache überwachte er Frau Dionis. Da er eine leichte Auffassungsgabe besaß, fiel ihm die Arbeit nicht schwer.

»Oh, du machst dich wohl schon über unser Unglück lustig?« antwortete der Posthalter dem Schreiber, der sich die Hände rieb. Da Goupil in gemeiner Weise allen Leidenschaften Désirés, der ihn seit fünf Jahren zu seinem Gefährten gemacht hatte, schmeichelte, behandelte ihn der Posthalter hochfahrend genug, ohne zu ahnen, welch furchtbarer Vorrat übler Absichten sich in Goupils innerstem Herzen bei jeder neuen Wunde anhäufte. Da er eingesehen hatte, daß ihm Geld nötiger war als alles andere, wollte der Schreiber, der sich der gesamten Bürgerschaft Nemours' überlegen fühlte, ein Vermögen erwerben und rechnete auf Désirés Freundschaft, um eines der drei Ämter der Stadt, die Kanzlei des Friedensrichters, das Bureau eines der Gerichtsvollzieher oder das von Dionis, kaufen zu können. So ertrug er die Verweise des Posthalters mit Geduld wie auch die Mißachtung Frau Minoret-Levraults und spielte seine nichtswürdige Rolle um Désiré herum, der ihn seit zwei Jahren am Ende der Ferien die von ihm verlassenen Ariadnen trösten ließ. Goupil verschlang also den Abfall der Mahlzeiten, die jener zubereitet hatte. »Wenn ich der Neffe des guten Mannes wäre, hätte er mir Gott nicht zum Miterben gegeben«, versetzte der Schreiber, während er unter einem häßlichen Grinsen drohend seine wenigen schwarzen Zähne wies.

In diesem Augenblick holte Massin-Levrault der Jüngere, der Aktuar des Friedensrichters, seine Frau ein, mit Frau Crémière, der Frau des Steuereinnehmers von Nemours, die er geleitete. Massin-Levrault, einer der abstoßendsten Bürger des Städtchens, hatte die Physiognomie eines Tataren: unter einer gedrückten Stirn zwei kleine, runde Augen, krauses Haar, einen öligen Teint, große Ohren ohne Ränder, einen fast lippenlosen Mund und einen spärlichen Bart. Seine Manieren hatten die erbarmungslose Sanftmut der Wucherer, deren Verhalten auf festen Grundsätzen beruht. Er sprach wie jemand, der vollständig heiser ist. Um ihn ganz zu zeichnen, genügt es zu sagen, daß er zur Ausfertigung von Urteilen seine ältere Tochter und seine Frau heranzog.

Frau Crémière war eine dicke Frau von zweifelhaftem Blond mit einer rotgefleckten Gesichtsfarbe, etwas zu eng in ihr Kleid eingezwängt, mit Frau Dionis befreundet, und sie galt für gebildet, weil sie Romane las. Diese Finanzfrau letzten Ranges, voller Ansprüche auf Eleganz und Schöngeistigkeit, wartete auf die Erbschaft des Onkels, um zu einer gewissen modischen Bedeutung zu gelangen, ihren Salon auszuschmücken und die Bürgerschaft zu empfangen; denn ihr Mann versagte ihr die Carcellampe, die Lithographien und sonstige Kleinigkeiten, die sie bei der Frau des Notars sah. Sie hatte eine äußerste Furcht vor Goupil, der ihre ›Capsulinguen‹ (so übertrug sie das Wort ›lapsus linguae‹) belauerte und weitertrug. Eines Tages wurde ihr von Frau Dionis gesagt, daß diese nicht wisse, was für Wasser sie für ihre Zähne gebrauchen solle. »Nehmen Sie Opiat«, hatte sie geantwortet.

Fast alle Seitenverwandten des alten Doktor Minoret hatten sich jetzt schon auf dem Platz zusammengefunden, und die Wichtigkeit des Ereignisses, das sie aufregte, war so allgemein empfunden, daß die Gruppen der mit ihren roten Regenschirmen bewaffneten und sämtlich in den grellen Farben, mit denen sie festtags die Wege so bunt beleben, gekleideten Bauern und Bäuerinnen die Augen auf die Erben Minorets richteten. In den kleinen, die Mitte zwischen den größeren Marktflecken und den Städten haltenden Ortschaften bleiben die, welche nicht zur Messe gehen wollen, auf dem Kirchplatz zurück. Man plaudert hier von Geschäften. In Nemours ist die Stunde des Gottesdienstes die einer wöchentlichen Börse, zu welcher sich oft die Herren der im Umkreis von einer halben Meile verstreuten Besitzungen einfinden. So erklärt sich das Zusammenhalten der Bauern gegen die Bürger bezüglich der Preise für Lebensmittel und Arbeitsleistungen.

»Und was würdest du denn getan haben?« wandte sich der Meister von Nemours an Goupil.

»Ich würde mich ihm ebenso notwendig gemacht haben wie die Luft, die er atmet. Aber vor allem haben Sie ihn nicht zu nehmen gewußt! Eine Erbschaft muß ebenso sorgfältig behandelt werden wie eine schöne Frau, und fehlt's daran, so entgehen sie einem alle beide. Wenn die Frau meines Chefs hier wäre«, fuhr er fort, »so würde sie Ihnen sagen, wie richtig der Vergleich ist.«

»Aber Herr Bongrand hat mir eben gesagt, daß wir uns nicht beunruhigen sollen«, entgegnete der Aktuar des Friedensrichters. »Oh, man kann das auf verschiedene Weise sagen«, erwiderte Goupil lachend. »Ich hätte wohl Ihren Pfiffikus von Friedensrichter hören mögen! Wenn er nichts mehr damit zu tun hat; wenn ich, wie er, der mit Ihrem Onkel verkehrt, wüßte, daß alles verloren ist, würde ich Ihnen sagen: ›Beunruhigen Sie sich nicht!‹«

Als er diese letzte Redewendung zutage brachte, hatte Goupil ein so komisches Lachen und gab ihr einen so deutlichen Sinn, daß die Erben argwöhnten, der Aktuar hätte sich von den Finten des Friedensrichters fangen lassen. Der Steuereinnehmer, ein kleiner, dicker Mann und so nichtssagend, wie ein Steuereinnehmer sein muß, und auch eine solche Null, wie eine geistreiche Frau sie sich nur wünschen konnte, schmetterte seinen Miterben Massin mit einem »Wie ich Ihnen gesagt habe!« nieder.

Wie doppelzüngige Leute immer auch anderen ihre Doppelzüngigkeit unterlegen, schickte Massin einen schiefen Blick zum Friedensrichter hinüber, der in diesem Augenblick in der Nähe der Kirche mit dem Marquis von Rouvre, einem ehemaligen Klienten von ihm, plauderte.

»Wenn ich das gewußt hätte!« sagte er.

»Sie würden die Protektion vereiteln, die er dem Marquis von Rouvre bewilligt, gegen den es zu einem Inhaftierungsbefehl gekommen ist und den er in diesem Augenblick mit seinen Ratschlägen beträufelt«, sagte Goupil, indem er dem Aktuar einen Rachegedanken zugleiten ließ. »Aber ziehen Sie gegen Ihren Chef gelinde Seiten auf: der Biedermann ist schlau, er muß auf Ihren Onkel Einfluß haben und kann ihn noch davon abbringen, alles der Kirche zu vermachen.«

»Bah, wir werden davon nicht sterben«, sagte Minoret-Levrault, während er seine gewaltige Tabaksdose öffnete.

»Sie werden davon nicht mehr leben«, versetzte Goupil, womit er die beiden Frauen erbeben machte, die, schneller als ihre Männer, den Verlust dieser so oft zu ihrem Wohlleben im voraus verwendeten Erbschaft empfanden. »Aber wir wollen diesen kleinen Kummer zur Feier von Désirés Rückkehr in Champagnerfluten ersäufen, nicht wahr, dicker Vater?« fügte er hinzu, indem er dem Koloß auf den Bauch klopfte und auf diese Weise, aus Furcht, er könnte vergessen werden, sich selbst einlud.

Nun möchte es Leuten, die es genau nehmen, vielleicht erwünscht sein, hier zunächst so eine Art von Verzeichnis jener drei Familienväter und ihrer Frauen zu haben, das zur Kenntnis der Grade der dem so plötzlich bekehrten Greise anhaftenden Verwandtschaft verhelfen kann. Derartige Rassenzwischenkreuzungen der Provinz können sehr wohl der Gegenstand von mehr als einer lehrreichen Betrachtung sein.

In Nemours gibt es nicht mehr als drei, vier Häuser unbekannten Kleinadels, damals mit den Portenduères an der Spitze. Diese tonangebenden Familien stehen im Umgang mit dem Adel, der Grundbesitz oder Schlösser in der Umgebung hat, aus welchem die Aiglemonts, Eigentümer des schönen Geländes von Saint-Lange, hervortraten und der Marquis von Rouvre, dessen mit Hypotheken belastete Güter von den Bürgern belauert wurden. Der Adel der Stadt war ohne Vermögen. An Stelle anderen Besitzes besaß Frau von Portenduère ein Gut von viertausendsiebenhundert Franken Rente und ihr Haus in der Stadt. Gegenüber dieser winzigen ›Vorstadt Saint-Germain‹ standen etwa zehn reiche Käuze, frühere Müller, Händler, die sich in den Ruhestand zurückgezogen hatten, endlich die Kleinbürgerschaft, Proletarier und Bauern. Dieses Bürgertum bietet, wie in den Schweizer Kantonen und in mehreren anderen kleinen Ländern, das wunderliche Schauspiel der Ausstrahlung einiger eingeborener, vielleicht gallischer Familien, die die Herrschaft über einen Landstrich haben, hier um sich greifen und alle Einwohner zu einer einzigen Vetternschaft machen. Unter Ludwig XI., zu einer Zeit, wo der dritte Stand schließlich aus seinen Zunamen wirkliche Namen gemacht hatte, von denen einige sich mit denen der Aristokratie mischten, setzte sich die Bürgerschaft von Nemours zusammen aus Minoret, Massin, Levrault und Crémière. Unter Ludwig XIII. brachten diese Familien bereits die Massin-Crémières, Levrault-Massins, Massin-Minorets, die Minoret-Minorets, die Crémière-Levraults, die Levrault-Minoret-Massins, die Massin-Levraults, die Minoret-Massins, die Massin-Massins, die Crémière-Massins hervor, das alles wieder buntscheckig unterschieden als ›der Jüngere‹, ›der Ältere‹, Crémière-François, Levrault-Jacques, Jean-Minoret, daß ein Vater Anselm des Volkes hätte verrückt werden können, wenn das Volk jemals eines Genealogen bedurft hätte. Die Variationen dieses auf vier Grundbestandteilen beruhenden Familienkaleidoskopes verzwickten sich durch Geburten und Hochzeiten auf eine Weise, daß der Stammbaum der Bürgerschaft von Nemours selbst die Gelehrten des Gothaer Almanachs in Verlegenheit gesetzt haben würde, trotz dem atomhaften Wissen, mit welchem sie in das Zickzack deutscher Verschwägerungen Ordnung bringen. Seit langem schon hatten die Minorets die Lohgerbereien, die Crémières die Mühlen, widmeten sich die Massins dem Handel, blieben die Levraults Landwirte. Zum Glück für das Land teilten sich diese drei Stämme, anstatt sich selbst weiter fortzuentwickeln, oder stießen durch Auswanderung der Kinder Steckreiser ab, die ihr Glück außerhalb versuchten: so gab es Minorets als Messerschmiede in Melun, Levraults in Montargis, Massins in Orléans und Crémières, die es in Paris zu Ansehen brachten. Verschieden waren die Schicksale dieser vom Mutterstock ausgegangenen Bienen. Es ging nicht anders, als daß reiche Massins solche, die Handwerker waren, in Nahrung setzten, genau wie deutsche Fürsten im Dienste Österreichs oder Preußens standen. Ein und dasselbe Departement sah einen Minoret, der Millionär, von einem beschützt, der Soldat war. Das gleiche Blut in den Adern und statt aller Ähnlichkeit den gleichen Namen tragend, webten diese Schiffchen ein menschliches Gewebe, von dem jedes Stück entweder eine Robe oder eine Serviette, ein prächtiger Batist oder grobes Futter war. Das gleiche Blut pulste im Kopf, in den Füßen oder im Herzen, in den fleißigen Händen, in einer leidenden Lunge oder hinter einer genialen Stirn. Treu wohnten die Stammeshäupter in der kleinen Stadt, wo die Bande der Verwandtschaft sich verknüpften, dem Spiel der durch diesen seltsamen Kognominismus dargestellten Ereignisse gemäß sich wieder zusammenzogen. In welches Land man sich begebe: man braucht bloß die Namen zu ändern, um dieser Tatsache wieder zu begegnen, nur ohne die Poesie, die ihr die Feudalität aufgedrückt und die Walter Scott mit soviel Talent erneuert hat. Richten wir unseren Blick etwas höher hinauf, prüfen wir die Menschheit im Verlauf der Geschichte. Alle heute fast sämtlich erloschenen adligen Familien des elften Jahrhunderts, abgesehen von der königlichen Rasse der Capets, haben mit Notwendigkeit zusammen die Geburt eines Rohan, Montmorency, Baufremont, Montemart von heute bewirkt; und schließlich sind alle mit Notwendigkeit in dem Blut des letzten Edelmanns, der wirklicher Edelmann ist, enthalten. Mit anderen Worten: jeder Bürger ist Vetter eines Bürgers, jeder Adlige Vetter eines Adligen. Wie die erhabene Genealogie der Bibel berichtet, können in tausend Jahren drei Familien, Sem, Ham und Japhet, mit ihrer Nachkommenschaft den Erdball bedecken. Eine Familie kann eine Nation werden und unglücklicherweise eine Nation eine einzige schlichte Familie. Um das zu beweisen, genügt es, auf die Untersuchung über die Vorzeit und die Anhäufung der Geschlechter, nach welcher die Zeit in der umgekehrten, mit sich selbst multiplizierten geometrischen Progression wächst, die Erwägung jenes Weisen anzuwenden, der von einem Perserkönig als Belohnung für die Erfindung des Schachspiels eine Kornähre für das erste Feld des Schachbretts und für das nächste Feld immer das Doppelte verlangte und zeigte, daß das ganze Königreich nicht imstande sein würde, ihn zu bezahlen. Das von dem Gewebe des Bürgertums umgebene des Adels, dieser Widerstreit von zweierlei Arten von Blut, von denen sich der eine Teil auf den Grundbesitz, der andere auf die geduldige Arbeit und die Kniffe des Handels stützt, führte zur Revolution von 1789. Die beiden beinahe vereinigten Blutarten finden sich heute den besitzlosen Seitenzweigen gegenüber. Was wird daraus werden? Unsere politische Zukunft ist schwanger von dieser Antwort.

Die Familie dessen, der sich unter Ludwig XV. schlechtweg Minoret nannte, war so zahlreich, daß eins der fünf Kinder, derselbe Minoret, dessen Kirchenbesuch heute ein solches Aufsehen erregte, nach Paris ging, um dort sein Glück zu suchen, und sich nur ab und zu in seiner Vaterstadt zeigte, wohin er ohne Zweifel kam, um bei dem Tod der Großeltern sich seinen Erbschaftsanteil zu holen. Nachdem er wie alle mit einem festen Willen ausgestatteten jungen Leute, die sich in der glänzenden Pariser Gesellschaft eine Stellung erobern wollen, viel erlitten hatte, schuf sich der Sohn der Minorets ein weit glänzenderes Los, als er es anfangs wohl erträumt haben mochte; denn er widmete sich gleich von Anfang an der Medizin, einem der Berufe, zu denen Talent und Glück gehört und wohl noch mehr Glück als Talent. Unterstützt von Dupont (aus Nemours), infolge eines glücklichen Zufalls mit Abbé Morellet befreundet, den Voltaire ›Mords-les‹ nannte, von den Enzyklopädisten begünstigt, schloß er sich als getreuer Anhänger an den großen Arzt Bordeu an, den Freund Diderots. D'Alembert, Helvétius, der Baron von Holbach, Grimm, vor denen Minoret ein kleiner Bursche war, nahmen schließlich wohl gleichfalls wie Bordeu Anteil an ihm, der gegen 1777 eine hinreichend gute Kundschaft von Deisten, Enzyklopädisten, Sensualisten, Materialisten besaß, oder wie man die reichen Philosophen jener Zeit sonst nennen will. Obgleich er nur wenig zum Marktschreier taugte, erfand er doch den berühmten Balsam von Lelièvre, der vom ›Mercure de France‹ so gepriesen wurde und dessen Annonce sich beständig am Ende dieser Zeitschrift, die das wöchentliche Organ der Enzyklopädisten war, befand. Der Apotheker Lelièvre, ein gewandter Mann, sah dort ein Geschäft, wo Minoret nichts als ein neues Heilmittel für das Arzneibuch gesehen hatte; doch er teilte, in der Chemie ein Schüler von Rouelle wie der Doktor in der Medizin der von Bordeu, seinen Erlös mit Minoret redlich. Man wäre sonst weniger Materialist gewesen. Der Doktor heiratete aus Liebe, im Jahre 1778, also zu einer Zeit, wo die ›Neue Heloise‹ im Schwange war und wo man sich manchmal aus Liebe heiratete. Es war die Tochter des ausgezeichneten Klavierspielers Valentin Mirouet, eine berühmte Musikerin, schwach und zart, die an der Revolution starb. Minoret stand in einem vertrauten Verhältnis zu Robespierre, dem er vorher eine goldene Medaille für eine Abhandlung über folgenden Gegenstand verschafft hatte: ›Welches ist der Ursprung der Meinung, die auf die gleiche Familie einen Teil der mit der entehrenden Strafe, die ein Verbrecher erleidet, verbundenen Schande überträgt? Ist diese Auffassung schädlicher als nützlich? Und welches sind in dem Falle, daß man sich für eine bejahende Antwort entscheidet, die Mittel, die hieraus sich ergebenden Nachteile abzuwenden?‹ Die Königliche Akademie der Künste und Wissenschaften in Metz, der Minoret angehörte, muß das Original dieser Abhandlung noch besitzen. Obgleich dank dieser Freundschaft die Frau des Doktors nichts zu befürchten hatte, war ihre Angst vor dem Schafott doch so groß, daß dadurch das Herzleiden verschlimmert wurde, das sie ihrer zu großen Empfindsamkeit verdankte. Trotz allen Vorsichtsmaßregeln, die ihr Mann, der seine Frau vergötterte, traf, begegnete Ursula einem mit Verurteilten beladenen Karren, auf dem sich gerade auch Madame Roland befand, und dieser Anblick brachte ihr den Tod. Minoret, dessen Schwäche seine Ursula gewesen war, der er nichts versagt und die das Leben einer Herrin geführt hatte, war, nachdem er sie verloren, fast arm. Robespierre ließ ihn zum Oberarzt eines Hospitals ernennen.

Obgleich der Name Minorets während der durch den Mesmerismus veranlaßten lebhaften Erörterungen eine Berühmtheit erlangt hatte, die ihn von Zeit zu Zeit seinen Eltern in Erinnerung brachte, war die Revolution doch ein so großes Auflösungsmittel und störte so viele Familienbeziehungen, daß man 1813 in Nemours das Vorhandensein Doktor Minorets gänzlich vergessen hatte, als ihm eine unerwartete Begegnung den Gedanken eingab, sich wie ein Hase nach seiner heimatlichen Raststätte zurückzuziehen, um dort zu sterben.

Wem ist, wenn er Frankreich durchquert, wo das Auge so bald durch die Eintönigkeit der Ebene ermüdet wird, nicht schon das bezaubernde Erlebnis geworden, von der Höhe eines Hügelrückens, bei seiner Senkung oder wenn er eine Wendung macht, gerade wenn man eine dürre Landschaft erwartet, ein frisches, von einem Fluß bewässertes Tal und eine unter einem Felsen wie ein Bienenstock in einer alten Weide geborgene kleine Stadt zu erblicken? Während man das »Hüh!« des Postillions hört, der mit seinen Pferden hinschreitet, schüttelt man den Schlaf ab, wie einen Traum im Traum bewundert man eine schöne Landschaft, die für den Reisenden das wird, was für den Leser eine bedeutende Stelle in einem Buche, ein glänzender Gedanke der Natur. Und das ist der Eindruck, den der plötzliche Anblick von Nemours macht, wenn man von Bourgogne aus naht. Man erblickt es von dort aus im Kranze seltsamer Gestalten von kahlen grauen, weißen, schwärzlichen Felsen, wie man ihrer so viele im Wald von Fontainebleau findet und auf denen sich hier und da Bäume erheben, die sich scharf gegen den Himmel abzeichnen und dieser Art durchbrochnen Mauerwerks ein wildes Gepräge verleihen. Dort endet auch der lange Waldhügelrücken, der sich die Landstraße entlang von Nemours gegen Bouron hinzieht. Am Fuß dieses einförmigen Ringes breitet sich ein Wiesengelände, wo der Loing läuft, der Wasserflächen mit Kaskaden bildet. Die köstliche Landschaft an der Straße von Montargis hin gleicht einer Bühnendekoration, so sehr wirken ihre Eindrücke wie ausgedacht.

Eines Tages gelangte der Doktor, den ein reicher Kranker von Bourgogne hatte holen lassen und der in aller Eile nach Paris zurück wollte, nachdem er auf der letzten Station unterlassen, die Richtung anzugeben, welche er einschlagen wollte, gegen seinen Willen nach Nemours und sah, als er aus dem Schlummer erwachte, die Landschaft, in der seine Kindheit dahingegangen war. Der Doktor hatte damals mehrere seiner Freunde verloren. Der Sekretär der Enzyklopädie war Zeuge der Bekehrung La Harpes geworden, er hatte Lebrun-Pindare begraben und Marie Joseph von Chénier und Morellet und Frau Helvétius. Er hatte den halben Sturz Voltaires erlebt, der von Geoffroy, dem Fortsetzer von Frérons, angegriffen worden war. Er dachte also daran, sich zurückzuziehen. Als sein Postwagen nun mitten in der Grand' Rue von Nemours hielt, drängte es ihn, sich nach seiner Familie zu erkundigen. Minoret-Levrault war persönlich erschienen, um den Doktor zu sehen, der in dem Posthalter den Sohn seines älteren Bruders erkannte. Der Neffe stellte ihm in seiner Gattin die einzige Tochter des Vaters Levrault-Crémière vor, der ihm seit zwölf Jahren die Post und das schönste Gasthaus von Nemours hinterlassen hatte.

»Nun, lieber Neffe«, sagte der Doktor, »und habe ich noch andere Erben?«

»Meine Tante Minoret, Ihre Schwester, hat einen Massin-Massin geheiratet.«

»Ja, den Aufseher von Saint-Lange.«

»Sie ist als Witwe gestorben und hat eine einzige Tochter hinterlassen, die sich kürzlich mit einem Crémière-Crémière, einem reizenden Jungen, noch ohne Stellung, verheiratet hat.«

»Wohl, sie ist meine direkte Nichte. Nun, da mein Bruder, der Seemann, als Junggeselle gestorben ist, Kapitän Minoret bei Monte Legino fiel, ist, bis auf mich, die väterliche Linie erloschen. Hab ich Verwandte in der mütterlichen Linie? Meine Mutter war eine Jean-Massin-Levrault.«

»Von Jean-Massin-Levrault«, antwortete Minoret-Levrault, »ist nur eine Jean-Massin geblieben, die Herrn Crémière-Levrault-Dionis geheiratet hat, einen Fouragelieferanten, der auf dem Schafott endete. Seine Frau ist vor Verzweiflung gestorben und hat eine Tochter hinterlassen, die einen Levrault-Minoret geheiratet hat, einen Gutsbesitzer von Montereau, dem es gut geht; ihre Tochter hat eben einen Massin-Levrault geheiratet, einen Notariatsschreiber in Montargis, wo sein Vater Schlosser ist.« »Dann fehlt es mir ja nicht an Erben«, sagte der Doktor heiter, der dann mit seinem Neffen einen Gang durch Nemours hatte machen wollen.

Gesäumt von terrassenförmigen Gärten und schmucken Häusern, bei deren Anblick man glauben könnte, daß ihre Dächer mehr Glück beherbergen, als es sonst so leicht in der Welt nicht gibt, zieht sich der Loing in Windungen durch die Stadt. Als der Doktor aus der Grand' Rue in die Rue des Bourgeois einbog, zeigte ihm Minoret-Levrault das Eigentum Herrn Levraults, eines reichen Eisenhändlers in Paris, der, wie er sagte, vor kurzem gestorben war.

»Hier, lieber Onkel, steht ein schönes Haus zum Verkauf, es hat am Fluß einen reizenden Garten.«

»Treten wir ein«, sagte der Doktor, als er am Ende eines kleinen gepflasterten Hofes ein zwischen die Mauern zweier Nachbarhäuser, die hinter mächtigen Bäumen und Schlinggewächsen verschwanden, eingezwängtes Haus erblickte.

»Es ist auf Kellergewölben erbaut«, sagte der Doktor, als er es über eine sehr hohe, von blauen und weißen Fayencevasen, in denen gerade die Geranien blühten, gesäumte Freitreppe betrat.

Wie die meisten Provinzhäuser von einem Flurgang durchschnitten, der vom Hof zum Garten führte, hatte das Haus rechts des Flurs nur einen hellen Salon mit vier Fenstern, von denen zwei nach dem Hof und zwei nach dem Garten hinausgingen; aber Levrault-Levrault hatte eins dieser Fenster zur Mündung eines langen, aus Backsteinen gebauten Gewächshauses gewählt, das sich vom Salon bis zum Fluß hinzog, wo es in einem chinesischen Pavillon endete.

»Gut, wenn ich dies Gewächshaus überwölben und mit einem Parkett versehen lasse«, sagte der alte Minoret, »könnte ich meine Bibliothek hier unterbringen und aus diesem eigenartigen Stück Architektur ein nettes Zimmer machen.«

Auf der anderen Seite des Flures befand sich nach dem Garten zu ein mit grünen und goldenen Blumen auf nachgeahmtem schwarzem Lackfirnis ausgestatteter Speiseraum, der von der Küche durch den Treppenflur getrennt war. Der Verkehr mit der Küche wurde durch einen kleinen, hinter der Treppe angebrachten Raum vermittelt, dessen mit Eisenstäben vergitterte Fenster nach dem Hof hinaussahen. Im ersten Stockwerk befanden sich zwei Zimmerreihen und darüber noch recht wohnliche, getäfelte Mansardenräume. Nachdem er das von oben bis unten, auf der Hof- wie auf der Gartenseite mit grünem Holzgitterwerk versehene Haus, das gegen den Fluß hin von einer mit Fayencevasen bestandenen Terrasse abgeschlossen wurde, in aller Eile geprüft hatte, sagte der Doktor:

»Levrault-Levrault hat hier wohl viel Geld draufgehen lassen!« »Oh, so reich wie er war!« antwortete Minoret-Levrault. »Er war Blumenliebhaber! Eine Dummheit! ›Was bringt so was ein?‹ sagt meine Frau. Sie sehen: ein Maler aus Paris ist gekommen und hat den Flurgang mit Freskoblumen ausgemalt. Er hat überall Glasscheiben anbringen lassen. Die Decken hat er alle mit Kranzgesimsen versehen lassen, die sechs Franken der Fuß kosten. Der Speisesaal, die Fußböden sind mit Mosaik ausgelegt. Es ist rein verrückt! Das Haus hat darum nicht einen Sou mehr Wert.«

»Nun gut, lieber Neffe! Erwirb es für mich und gib mir dann Nachricht; hier ist meine Adresse, das übrige besorgt mein Notar. – Wer wohnt denn da gegenüber?« fragte er beim Heraustreten.

»Emigranten!« antwortete der Posthalter. »Ein Ritter von Portenduère.«

Als das Haus gekauft war, schrieb der berühmte Doktor, anstatt selbst zu kommen, seinem Neffen, er solle es vermieten. Das Lusthaus Levrault war von dem Advokaten von Nemours bewohnt, der damals sein Notariat seinem Ersten Schreiber Dionis verkaufte und der zwei Jahre danach verstarb und dem Arzt um die Zeit, da sich das Schicksal Napoleons entschied, die Vermietung des Hauses aufhalste. Die kaum erst angelockten Erben des Doktors hatten seinen Wunsch, zurückzukehren, für den Einfall eines reichen Kauzes genommen, und sie verzweifelten schon an ihm, da sie vermuteten, irgendwelche Neigungen hielten ihn zurück, um sie um die Erbschaft zu bringen. Nichtsdestoweniger ergriff Minoret-Levraults Frau die Gelegenheit und schrieb dem Doktor. Der Greis antwortete, daß er, sobald der Friede unterzeichnet wäre, die Straßen von Soldaten frei und die Verbindungen wieder hergestellt wären, kommen und in Nemours wohnen werde. Er kam dann einmal mit zweien seiner Kunden, dem Architekten der Hospitäler und einem Möbelhändler, welche die Ausbesserungen, die innere Einrichtung und den Transport des Mobiliars übernahmen. Frau Minoret-Levrault empfahl als Hauswärterin die Köchin des alten verstorbenen Notars, die angenommen wurde. Als die Erben wußten, daß ihr Onkel oder Großonkel Minoret wirklich in Nemours wohnen werde, wurden ihre Familien trotz den politischen Ereignissen, die damals gerade Gâtinais und Bries bedrückten, von einer verzehrenden, aber wohl verständlichen Neugier ergriffen. War der Onkel reich? War er haushälterisch, oder verschwendete er? Würde er ein schönes Vermögen oder nichts hinterlassen? Hatte er lebenslängliche Renten? Nun, man wußte, doch erst nach unendlichen Bemühungen und vermittelst unterirdischer Spionage, schließlich folgendes: Nach dem Tode von Ursula Mirouet, seiner Frau, hatte der Doktor von 1789 bis 1813, nachdem er 1805 zum beratenden Arzt des Kaisers ernannt worden war, wohl viel Geld verdient, doch kannte niemand sein Vermögen; er lebte einfach, ohne andere jährliche Ausgaben als die für eine Kutsche und eine prächtige Wohnung; er empfing niemals Besuch und speiste fast immer in der Stadt. Seine Haushälterin, die darüber außer sich war, daß er sie nicht nach Nemours mitgenommen hatte, sagte zu Zélie Levrault, der Frau des Posthalters, sie wisse, der Doktor habe vierzehntausend Livres Rente. Nun, wenn er zwanzig Jahre einen Beruf ausgeübt hatte, den der Titel eines ärztlichen Krankenhauschefs, die Eigenschaft eines kaiserlichen Arztes und die Mitgliedschaft des Institutes zu einem so einträglichen gestaltet hatten, so zeigten diese vierzehntausend Livres Rente ein Vermögen von höchstens hundertsechzigtausend Franken an. Hatte er jährlich nicht mehr als achttausend Franken erspart, so mußte der Doktor sehr viele Laster oder Tugenden befriedigt haben; doch weder die Haushälterin noch Zélie, niemand konnte dahinterkommen, warum sein Vermögen ein so bescheidenes war. Minoret, dem in seinem Viertel sehr nachgetrauert wurde, war einer der wohltätigsten Menschen in Paris, und wie Larrey wahrte er über seine Wohltaten vollkommenes Schweigen. Die Erben sahen also mit lebhafter Genugtuung das reiche Mobiliar und die reiche Bibliothek ihres Onkels ankommen, der, bereits Ritter der Ehrenlegion, vom König zum Ritter des Ordens vom heiligen Michael ernannt worden war, vielleicht infolge seines Rücktritts, der irgendeinem Günstling Platz machte. Doch als der Architekt, die Maler, die Möbelhändler alles schon in der behaglichsten Weise eingerichtet hatten, kam der Doktor nicht. Frau Minoret-Levrault, die den Möbelhändler und den Architekten in einer Weise überwachte, als handle es sich um ihr eignes Vermögen, erfuhr durch die Indiskretion eines jungen Menschen, der geschickt worden war, die Bibliothek aufzustellen, daß der Doktor für eine Waise namens Ursula sorge. Diese Neuigkeit richtete in der Stadt Nemours eine ungewöhnliche Verheerung an. Endlich bezog der Greis ungefähr Mitte Januar 1815 sein Haus und richtete sich in aller Stille mit einem von einer Amme begleiteten Mädelchen von zehn Monaten ein.

»Ursula kann nicht seine Tochter sein, er ist einundsiebzig Jahre alt!« sagten die beunruhigten Erben.

»Was sie auch sein mag«, sagte Frau Massin, »sie wird uns schon Ohrensausen machen.« (Das war so ein Nemourser Ausdruck.)

Der Doktor empfing seine Großnichte mütterlicherseits ziemlich kühl; ihr Mann hatte sich eben erst das Aktuariat des Friedensrichteramtes erkauft, und sie kam mit ihm als erste an, um mit dem Großonkel über ihre schwierige Lage zu sprechen. Massin und seine Frau waren nicht gerade besonders vermögend. Massins Vater, der Schlosser von Montargis, der genötigt gewesen war, sich mit seinen Gläubigern zu vergleichen, hatte mit seinen sechsundsechzig Jahren gearbeitet wie ein Junger und ihm nichts hinterlassen. Der Vater Frau Massins, Levrault-Minoret, war eben in Montereau infolge der Aufregung gestorben, als er während der Schlacht sein Landgut brennen, seine Felder verwüstet und seinen Viehbestand aufgezehrt sah.

»Wir werden von deinem Großonkel nichts besehen«, sagte Massin zu seiner Frau, die schon ihr zweites Kind trug.

Der Doktor gab ihm heimlich zehntausend Franken, mit denen der Aktuar des Friedensrichteramtes, ein Freund des Notars und Gerichtsvollziehers von Nemours, ein Geldleihgeschäft anfing, vermittelst dessen er die Bauern der Umgebung so schnell in die Gewalt bekam, daß ihn in diesem Augenblick Goupil im Besitz eines Kapitals von achtzigtausend Franken wußte.

Was seine andere Nichte anbetraf, so bewirkte der Doktor durch seine Verbindungen in Paris die Aufnahme Crémières in Nemours und stellte die Kaution. Obgleich Minoret-Levrault nichts brauchte, stellte die auf die Freigebigkeit des Onkels seinen beiden Nichten gegenüber neidische Zélie ihm ihren Sohn vor, der damals zehn Jahre alt war und den sie in Paris auf die Schule tun wollte, wo, wie sie sagte, die Erziehung sehr teuer wäre.

Als Fontanes Arzt erreichte der Doktor am Kolleg Louis-le-Grand für seinen Großneffen, der in die vierte Klasse kam, eine halbe Freistelle. Crémière, Massin und Minoret-Levrault, durchaus alltägliche Leute, wurden während der ersten beiden Monate, als sie versuchten, weniger den Onkel als die Erbschaft zu umgarnen, ohne weiteres durchschaut. Leute, die sich von ihrem Trieb leiten lassen, stehen ja gedankenreichen Menschen gegenüber in dem Nachteil, daß sie sofort erkannt werden: die Eingebungen des Triebes sind zu natürlich, als daß sie nicht auf der Stelle bemerkt würden, während die Entwürfe des Geistes, um erfaßt zu werden, auf beiden Seiten eine gleiche Intelligenz erfordern. Nachdem er sich die Erkenntlichkeit seiner Erben erkauft und ihnen in gewisser Weise den Mund gestopft hatte, schützte der kluge Doktor seine Beschäftigungen, seine Gewohnheiten und die Pflege vor, welche die kleine Ursula erforderte, so daß er sie nicht zu empfangen brauchte, ohne ihnen jedoch sein Haus ganz zu verschließen. Er liebte es, allein zu essen, legte sich frühzeitig schlafen und stand spät auf; er war in die Heimat gekommen, um hier Ruhe und Einsamkeit zu haben. Diese Laune erschien bei einem Greis durchaus natürlich, und so begnügten sich seine Erben, ihm sonntags zwischen ein und vier Uhr ihre wöchentlichen Besuche zu machen, denen er aber ein Ziel zu setzen suchte, indem er ihnen sagte: »Kommt mich doch nur besuchen, wenn ihr einen besonderen Anlaß dazu habt.«

Ohne daß der Doktor in schweren Fällen seinen Rat versagt hätte, besonders Bedürftigen, wollte er in dem kleinen Krankenhaus von Nemours nicht als Arzt fungieren und erklärte, daß er seinem Beruf nicht mehr nachgehe. »Ich habe genug Leute um die Ecke gebracht«, sagte er lachend zu Pfarrer Chaperon, der, weil er von seiner Wohltätigkeit wußte, für die Armen bat.

»Er ist ein prächtiges Original!« Dies auf Doktor Minoret gemünzte Wort war die unschuldige Rache der verschiedenen gekränkten Eigenliebe; denn der Arzt sammelte einen Kreis von Personen um sich, die es verdienten, von den Erben beachtet zu werden. Nun, diejenigen von den Bürgern, die sich für würdig hielten, den Hof eines Mannes mit Ordensband zu bereichern, bildeten gegen den Doktor und die von ihm Bevorzugten einen Gärungsstoff von Eifersucht, der unglücklicherweise nicht untätig blieb.

Infolge einer Seltsamkeit, die das Sprichwort ›Die Gegensätze berühren sich‹ bestätigte, waren der materialistische Doktor und der Pfarrer von Nemours sehr bald Freunde geworden. Der Greis war ein großer Liebhaber des Tricktrackspieles, des Lieblingsspieles der Männer der Kirche, und Abbé Chaperon war dem Arzt gewachsen. So wurde das Spiel das erste Band zwischen ihnen. Und dann war Minoret mildtätig, und der Pfarrer von Nemours war der Fénélon des Gâtinais. Sie hatten beide eine vielseitige Bildung; der Gottesmann konnte also als der einzige in Nemours den Atheisten verstehen. Um diskutieren zu können, müssen zwei Menschen sich zunächst verstehen. Was für ein Vergnügen hat man davon, an jemanden anzügliche Worte zu richten, der sie nicht merkt? Der Arzt und der Priester besaßen viel zuviel guten Geschmack, hatten viel zuviel in guter Gesellschaft verkehrt, als daß sie deren Regeln nicht zu gebrauchen verstanden hätten; sie waren also in der Lage, diesen Kleinkrieg miteinander zu führen, der für eine Unterhaltung unerläßlich ist. Sie haßten einer des anderen Ansichten und achteten ihre Charaktere. Wenn ähnliche Gegensätze, derartige Sympathien nicht die Elemente des vertrauteren Umganges wären, müßte man dann nicht an der Geselligkeit verzweifeln, die besonders in Frankreich irgendeinen Widerstand braucht? Aus dem Zusammenstoß der Charaktere, nicht aus dem Kampf der Gedanken erwachsen die Antipathien.

Abbé Chaperon war also der erste Freund des Doktors in Nemours. Dieser damals sechzig Jahre alte Geistliche war in Nemours Pfarrer seit der Wiedereinsetzung des katholischen Gottesdienstes. Aus Anhänglichkeit an seine Herde hatte er das Vikariat der Diözese abgelehnt. Wenn die religiös Gleichgültigen ihm dafür guten Willen entgegenbrachten, liebten ihn die Kirchentreuen um so mehr. Und so tat der Pfarrer, verehrt von seinen Pfarrkindern, geachtet von der Bevölkerung, Gutes, ohne nach den religiösen Anschauungen derer, die unglücklich waren, zu forschen. Seine kaum mit den für die notwendigsten Lebensbedürfnisse unerläßlichen Möbeln ausgestattete Pfarre war kalt und kahl wie die Wohnung eines Geizhalses. Geiz und Mildtätigkeit verraten sich durch ähnliche Wirkungen: schafft sich die Mildtätigkeit nicht den Schatz im Himmel, den sich der Geizige auf Erden schafft? Abbé Chaperon stritt sich mit seiner Magd über seine Ausgaben mit größerer Strenge als Gobseck sich mit der seinigen, wenn übrigens dieser berühmte Jude jemals eine gehabt haben sollte. Der gute Priester verkaufte oft die Silberschnallen seiner Schuhe und seiner Beinkleider, um den Erlös dafür den Armen zu geben, die ihn ohne einen Sou antrafen. Wenn sie ihn, die Henkel seiner Beinkleider in die Knopflöcher geknüpft, aus seiner Kirche kommen sahen, so gingen die Frommen der Stadt die Schnallen des Pfarrers beim Uhrmacher und Goldwarenhändler von Nemours holen und schalten ihren Seelenhirten, wenn sie sie ihm zurückbrachten. Nie kaufte er sich Wäsche und Kleider und trug seine Kleidung so lange, bis er sie nicht mehr anlegen konnte. Seine von geflickten Stellen starrende Wäsche drückte ihm die Haut wie ein Büßerhemd. Frau von Portenduère oder sonstige gute Seelen verständigten sich dann mit der Haushälterin, um ihm, während er schlief, seine Wäsche oder seine alten Kleider durch neue zu ersetzen, ohne daß der Pfarrer die Auswechslung immer gleich merkte. Er speiste zu Hause von Zinn und mit einem eisernen Besteck. Wenn er an Festtagen seine Pfarrverweser und andere Pfarrer bei sich empfing, was eine besondere Obliegenheit der Pfarrer des Bezirkes ist, so entlieh er das Silberzeug und die Tischwäsche von seinem Freunde, dem Atheisten. »Mein Silberzeug läßt grüßen!« sagte dann der Doktor.

Diese früher oder später offenbar gewordenen, immer von geistlichem Zuspruch begleiteten Guttaten geschahen mit einer wunderbaren Naivität. Und diese Lebensweise war um so verdienstlicher, als Abbé Chaperon eine ebenso umfassende wie vielseitige Bildung und ausgezeichnete Fähigkeiten besaß. In seinem Falle kamen Feinheit und Anmut, die unzertrennlichen Begleiter der Einfachheit, einer Beredsamkeit zustatten, die eines Prälaten würdig gewesen wären. Seine Manieren und sein Charakter verliehen seiner Verkehrsweise den erlesenen Geschmack alles dessen, was an einem intelligenten Menschen zugleich geistreich und treuherzig ist. Obgleich Freund eines Scherzes, war er niemals Salonpriester. Bis zur Ankunft des Doktors Minoret ließ der Gute sein Licht klaglos unterm Scheffel; doch geschah es ihm wohl nach Wunsch, es zu gebrauchen. Im Besitz einer ansehnlichen, schönen Bibliothek und von zweitausend Livres Rente bei seiner Ankunft in Nemours, hatte der Pfarrer 1829 nicht mehr als die Einkünfte seiner Pfarre, die jedes Jahr fast vollständig verteilt wurden. Da er ein ausgezeichneter Ratgeber in delikaten Angelegenheiten oder bei Unglücksfällen war, kam mehr als eine Person, die nicht mehr in die Kirche ging, in die Pfarre, um dort Trost zu suchen und Rat zu holen. Zur Vervollständigung dieses Sittenbildes mag eine kleine Anekdote genügen: Bauern, wenn es auch nur selten vorkam, jedenfalls aber schlechte Menschen sagten, sie seien gerichtlich verfolgt, oder ließen sich zum Schein gerichtlich verfolgen, um die Wohltätigkeit Abbé Chaperons anzustacheln. Sie machten ihren Frauen etwas vor, die, als sie ihr Haus mit Pfändung bedroht und ihre Kühe bereits weggeführt sahen, den armen Pfarrer mit ihren aufrichtigen Tränen täuschten, der dann die sechs- oder achthundert erbetenen Franken auftrieb, mit denen der Bauer sich dann ein Stück Land kaufte. Wenn seine Kirchenvorsteher Abbé Chaperon dann den Betrug darlegten und ihn baten, sie zu befragen, damit er nicht wieder das Opfer solcher Habgier würde, sagte er zu ihnen: »Vielleicht hätten diese Leute, um ihre dreißig Ar Land zu bekommen, irgend etwas Tadelnswertes begangen, und heißt es denn nicht noch etwas Gutes tun, wenn man etwas Schlechtes verhindert?«

Es ist vielleicht willkommen, wenn hier das Bild dieser Gestalt gegeben wird, die sich dadurch auszeichnete, daß die Wissenschaft und die Literatur durch dies Herz und diesen starken Verstand hindurchgegangen waren, ohne etwas zu verderben.

Mit sechzig Jahren hatte Abbé Chaperon gänzlich weiße Haare, so lebhaft empfand er das Unglück des Nächsten mit und so schwer hatten außerdem die Ereignisse der Revolution auf ihn gewirkt. Zweimal wegen zweimaliger Eidesverweigerung eingekerkert, hatte er zweimal, wie er es ausdrückte, sein ›in manus‹ gesagt. Er war mittleren Wuchses, weder dick noch mager. Sein sehr furchiges, sehr ausgehöhltes, farbloses Gesicht fesselte den Blick sofort durch die tiefe Ruhe seiner Linien und die Reinheit seiner Umrisse, die wie mit einem Lichtsaum umgeben schienen. Das Gesicht eines reinen Menschen hat, ich weiß nicht was für einen Strahlenglanz. Braune Augen mit lebhaften Augäpfeln belebten dies unregelmäßige, von einer mächtigen Stirn überragte Gesicht. Sein Blick übte eine Gewalt, die sich als eine die Kraft nicht ausschließende Sanftmut bezeichnen ließ. Die Bogen seiner Augen bildeten gleichsam zwei von dicken Brauen überschattete Gewölbe, die doch keine Furcht einflößten. Da er viele seiner Zähne verloren hatte, waren sein Mund entstellt und seine Wangen eingefallen; doch entbehrte diese Entstellung nicht der Anmut, und diese sehr anziehenden Falten schienen einen anzulächeln. Ohne gichtleidend zu sein, waren seine Füße sehr empfindlich, und das Schreiten fiel ihm so schwer, daß er in jeder Jahreszeit Kalbslederschuhe aus Orléans trug. Er hielt lange Beinkleider für einen Geistlichen für unpassend und zeigte sich immer in einer Kniehose aus Tuch und in dicken, schwarzen, von seiner Haushälterin gestrickten Wollstrümpfen. Er ging nicht mehr in der Soutane aus, aber in einem braunen Überrock und behielt den auch in den schlimmsten Tagen mutig getragenen Dreispitz bei. Dieser edle, schöne Greis, dessen Gesicht stets durch die Heiterkeit einer untadligen Seele verschönt war, mußte auf die Menschen dieser Erzählung einen so großen Einfluß haben, daß es zunächst nötig war, die Quelle seiner Autorität zu zeigen.

Minoret bekam drei Zeitungen: eine liberale, eine ministerielle und eine über die Grundsätze seiner Partei hinausgehende, einige periodische Sammelwerke und wissenschaftliche Zeitschriften, die seine Bibliothek anschwellen ließen. Die Zeitschriften, die Enzyklopädie und die Bücher übten ihre Anziehung aus auf einen alten Kapitän vom Leibregiment, einen voltaireanischen Edelmann und alten Junggesellen, der von sechzehnhundert Franken Pension und einer Leibrente lebte. Nachdem er einige Tage die Zeitschriften durch Vermittlung des Pfarrers gelesen hatte, hielt es Herr von Jordy für schicklich, dem Doktor seinen Besuch zu machen und ihm zu danken. Gleich bei seinem ersten Besuch gewann der alte Kapitän, ein früherer Professor der Militärschule, die volle Neigung des alten Arztes, der seinen Besuch mit aller Bereitwilligkeit erwiderte. Herr von Jordy, ein kleiner, trockener, magerer, aber trotz seines sehr bleichen Gesichtes von seinem Blut geplagter Mann, fiel sofort durch seine schöne Stirn à la Charles XII. auf, über der er seine kurzgeschorenen Haare nach Art eines solchen Königssoldaten hielt. Seine blauen und – obgleich sie hätten sagen können: ›Die Liebe ist durch uns hindurchgegangen‹ – tief melancholischen Augen interessierten beim ersten Blick, sobald von fern jene Erinnerungen in ihnen auftauchten, deren Geheimnis er übrigens so streng wahrte, daß seine alten Freunde ihn niemals auf einer Anspielung über sein vergangenes Leben überraschten noch einen jener Ausrufe von ihm vernahmen, die die Ähnlichkeit einer Katastrophe einem entreißt. Er barg das schmerzliche Geheimnis seiner Vergangenheit unter einer philosophischen Munterkeit; doch wenn er sich allein glaubte, bezeugten seine von einer weniger greisenhaften als bewußten Langsamkeit erschlafften Bewegungen einen beständigen, peinlichen Gedanken: aus welchem Grunde ihn denn Abbé Chaperon auch den ›Christen, ohne es zu wissen‹ genannt hatte. Wie er stets in blaues Tuch gekleidet ging, verrieten seine ein wenig steife Haltung und seine Kleider die alte Gewohnheit der militärischen Zucht. Seine sanfte, wohlklingende Stimme rührte einem die Seele. Seine schönen Hände, der Schnitt seines Gesichtes, das an das des Grafen von Artois erinnerte und das anzeigte, wie anmutig er in seiner Jugend gewesen war, machten das Geheimnis seines Lebens noch undurchdringlicher. Man fragte sich unwillkürlich, welches Unglück denn wohl die Schönheit, den Mut, die Anmut, das Wissen und die edelsten Eigenschaften des Herzens, die ehemals in seiner Person sich vereinigt hatten, hatte erreichen können. Herr von Jordy zuckte noch jedesmal zusammen, wenn er den Namen Robespierre hörte. Er schnupfte viel; doch seltsam: als die kleine Ursula dieser Gewohnheit wegen Widerwillen gegen ihn zeigte, gewöhnte er sich's ab. Sooft der Kapitän die Kleine nur irgend zu Gesicht bekam, betrachtete er sie unverwandt mit langen, fast leidenschaftlichen Blicken. Er war so närrisch darauf, sie spielen zu sehen, nahm solchen Anteil an ihr, daß diese Neigung die Bande zwischen ihm und dem Doktor noch enger knüpfte, ohne daß dieser doch den alten Junggesellen zu fragen gewagt hätte: »Also auch Sie haben Kinder verloren?«

Es ist die Eigenschaft dieser guten und geduldigen Wesen, daß sie mit einem bitteren Gedanken im Herzen und zugleich mit einem zarten, schmerzlichen Lächeln auf den Lippen durchs Leben gehen, in sich den Schlüssel zum Rätsel, den sie doch nicht ahnen lassen, aus Stolz, aus Verachtung, vielleicht aus Rache, niemand als Gott ihr Vertrauter und ihr Tröster. Herr von Jordy besuchte kaum jemand in Nemours, wohin er, gleich dem Doktor, gekommen war, um in Frieden zu sterben, außer dem Pfarrer, der ja seinen Pfarrkindern immer zur Verfügung stand, und Frau von Portenduère, die sich um neun Uhr zu Bett legte. So hatte er sich, des Krieges müde, trotz den Dornen, die sein Kopfkissen polsterten, schließlich gleichfalls beizeiten schlafen gelegt. Es bedeutete daher einen Glücksfall für den Arzt wie für den Kapitän, mit einem Menschen zusammenzutreffen, der die gleiche Welt kannte, der die gleiche Sprache sprach, mit dem man seine Gedanken austauschen konnte und der sich spät schlafen legte. Nachdem Herr von Jordy, Abbé Chaperon und Minoret einmal den ersten Abend zusammen verbracht hatten, fanden sie daran so viel Vergnügen, daß der Priester und der Soldat alle Abende um neun Uhr wiederkamen, in dem Augenblicke, wo die kleine Ursula schlief und der Greis frei war. Und alle drei blieben dann bis Mitternacht oder ein Uhr beieinander.

Bald ward aus dem Terzett ein Quartett. Noch ein anderer Mann, der das Leben kannte und der seiner Geschäftspraxis jene Nachsicht, jenes Wissen, jene angesammelte Erfahrung, jene Feinheit, jene Unterhaltungsgabe verdankte, die auch der Soldat, der Arzt, der Pfarrer der Praxis der Seelen, der Krankheit und dem höheren Schulunterricht verdankten: der Friedensrichter witterte die Freuden dieser Abende und suchte des Doktors Gesellschaft. Bevor er in Nemours Friedensrichter geworden war, war Herr Bongrand zehn Jahre in Melun gerichtlicher Parteivertreter gewesen, wo er, wie es in Städten, die keine Advokatur haben, Brauch ist, auch selber plädiert hatte. Mit fünfundvierzig Jahren Witwer geworden, fühlte er sich zum Nichtstun noch zu rüstig; er hatte also das ein paar Monate vor der Übersiedlung des Doktors frei gewordene Friedensrichteramt erbeten. Dem Justizminister glückt es stets, Sachwalter zu finden, besonders Leute gemächlichen Wesens, die dieses wichtige Amt versehen. Herr Bongrand lebte in Nemours bescheiden von den fünfzehnhundert Franken, die ihm seine Stellung eintrug, so daß er seine sonstigen Einkünfte an seinen Sohn wenden konnte, der in Paris die Rechte studierte, und zwar besonders das Prozeßverfahren bei dem berühmten Sachwalter Derville. Vater Bongrand glich so ziemlich einem alten, pensionierten Divisionskommandeur: er hatte jenes weniger bleiche als ausgebleichte Gesicht, auf dem die Geschäfte, getäuschte Hoffnungen, Überdruß ihre Spuren zurückgelassen, dem Nachdenken und wohl auch die beständige Verkniffenheit, wie sie Leuten eignet, die verpflichtet sind, nicht alles zu sagen, Furchen eingegraben haben; doch zeigte es sich zugleich von jenem Lächeln erhellt, das Menschen an sich haben, die wechselweise alles und nichts glauben, die gewohnt sind, ohne sich davon überraschen zu lassen, alles zu sehen und alles zu verstehen und in die Abgründe einzudringen, die der Eigennutz in den Tiefen des Herzens auftut. Unter seinem weniger weißen als entfärbten, wellenförmig über den Kopf hinweggekämmten Haar zeigte er eine scharfsinnige Stirn, deren gelber Ton im Einklang mit den Strähnen seines dünnen Haarwuchses stand. Sein in sich zusammengefaßtes Gesicht gab ihm um so mehr Ähnlichkeit mit einem Fuchs, als seine Nase kurz und spitz war. Aus seinem Mund, der gespalten war wie der eines großen Redners, sprangen helle Funken, die seine Unterhaltung so belebten, daß Goupil boshaft zu sagen pflegte: »Um ihm zuzuhören, braucht man einen Regenschirm«; oder auch wohl: »Im Friedensrichteramt regnet es Urteile.« Hinter der Brille wirkten seine Augen schlau, nahm er sie aber ab, so erschien sein abgestumpfter Blick unbedeutend. Obgleich er heiter, ja sogar beinahe jovial war, gab er sich doch in seiner Haltung etwas zu sehr das Ansehen eines wichtigen Menschen. Er hatte fast immer die Hände in den Taschen seines Beinkleides und zog sie nur dann hervor, wenn er mit einer beinahe spöttischen Bewegung, die eine feine Beobachtung verriet oder irgendein siegreiches Argument, seine Brille festrückte. Seine Gesten, seine Gesprächigkeit, seine harmlosen Ansprüche verrieten den ehemaligen Provinzsachwalter; doch waren diese kleinen Schwächen bloß seine Oberfläche; er machte sie wieder gut durch eine erworbene Gutmütigkeit, die der exakte Moralist eine der Überlegenheit eigene Nachsicht nennen würde. Wenn er ein wenig an einen Fuchs erinnerte, so galt er auch wirklich für gründlich schlau, ohne daß er doch unredlich war. Seine Schlauheit war Scharfsinnsspiel. Aber nennt man nicht die Leute schlau, die ein Ergebnis voraussehen und sich vor Fallen hüten, die man ihnen stellte? Der Friedensrichter war ein Liebhaber des Whistes, eines Spiels, auf das sich auch der Kapitän und der Doktor verstanden und das der Pfarrer sich bald aneignete.

Diese kleine Gemeinde schuf sich aus dem Salon Minorets eine kleine Oase. Der Arzt von Nemours, dem es weder an Bildung noch an Lebensart fehlte und der in Minoret eine der Berühmtheiten der Medizin verehrte, hatte Zutritt; doch die Anstrengungen, die ihm sein Beruf auferlegte und die ihn nötigten, sich beizeiten schlafen zu legen, um früh aufzustehen, gestatteten ihm nicht, so seßhaft wie die drei Freunde des Doktors zu sein. Die Vereinigung dieser fünf höheren Personen, der einzigen, die in Nemours allgemeine Bildung in hinreichendem Maße besaßen, um sich zu verstehen, erklärte, warum der alte Minoret seine Erben zurückwies: wenn er ihnen schon sein Vermögen hinterlassen mußte, so konnte er sie doch gewiß nicht in seine Gemeinschaft aufnehmen. Sei es, daß der Posthalter, der Aktuar und der Steuereinnehmer dies herausgefühlt hatten, sei es, daß sie sich der Anhänglichkeit und der Unterstützung ihres Onkels versichert hielten: zu seiner großen Befriedigung hörten sie auf, ihn zu besuchen. Und so bildeten die vier alten Whist- und Tricktrackspieler sieben oder acht Monate nach der Übersiedlung des Doktors nach Nemours eine in sich geschlossene Gesellschaft, die für jeden von ihnen eine Art unverhoffter, spätherbstlicher Brüderschaft war und deren Annehmlichkeiten darum nur um so köstlicher waren. Diese Familie erlesener Geister besaß in Ursula für jeden von ihnen nach seinem Geschmack ein Adoptivkind: der Pfarrer dachte an ihre Seele, der Friedensrichter machte sich zu ihrem Vormund, der Militär versprach sich, ihr Lehrer zu werden, und was Minoret anbetraf, so war er zugleich ihr Vater, ihre Mutter und ihr Arzt.

Nachdem er sich eingewöhnt hatte, nahm der Greis seine Gewohnheiten wieder auf und regelte sein Leben, wie sich das alles eben inmitten jeder Provinz regelt. Ursulas wegen empfing er vormittags niemanden und gab niemals Mahlzeiten; seine Freunde konnten gegen sechs Uhr abends bei ihm eintreffen und bis Mitternacht bleiben. Wer zuerst kam, fand auf dem Tisch des Salons die Zeitschriften und konnte sie lesen, bis die anderen eintrafen, oder sie gingen manchmal auch dem Doktor entgegen, wenn er seinen Spaziergang machte. Die ruhigen Gewohnheiten brachte nicht nur das Greisenalter notwendig mit sich, sie entsprangen bei dem Menschen von Welt zugleich einer klugen, stillen Überlegung, sich sein Glück nicht durch die Neugier seiner Erben noch auch durch den Kleinstadtklatsch stören zu lassen. Er wollte der veränderlichen Göttin Öffentlichkeit, deren Tyrannei, eine der unglücklicheren Eigenschaften Frankreichs, aus unserem Lande eine einzige Provinz machen will, keinerlei Zugeständnis gönnen. Und so entließ er, sobald das Kind entwöhnt war und laufen konnte, auch die Köchin, die seine Nichte, Frau Minoret-Levrault, ihm überlassen hatte, als er dahinterkam, daß sie die Posthalterin von allem, was bei ihm geschah, unterrichtete.

Die Amme der kleinen Ursula, die Witwe eines armen Handwerkers, die keinen anderen als ihren Taufnamen hatte und aus Bougival stammte, hatte ihr letztes Kind im Alter von sechs Monaten verloren in dem Augenblicke, wo sie der Doktor, der sie als ehrenwerte, gute Person kannte und von ihrer Notlage gerührt war, angenommen hatte. Ohne Vermögen, aus der Bresse stammend, wo ihre Familie in armseligen Verhältnissen lebte, hatte Antoinette Patris, die Witwe Pierres, genannt von Bougival, sich Ursula natürlich angeschlossen, wie die Ammen sich ihren Nährkindern, die sie unter Obhut haben, stets anschließen. Zu dieser blind natürlichen, mütterlichen Neigung kam die Ergebenheit für die Familie hinzu. Indem sie damit den Wünschen des Doktors zuvorkam, lernte die Bougival heimlich die Küche besorgen, wurde sauber, geschickt und paßte sich den Gewohnheiten des Greises an. Sie wandte den Möbeln und den Zimmern eine peinliche Pflege zu und war unermüdlich. Der Doktor wollte nicht nur, daß sein Privatleben ein nach außen hin abgeschlossenes wäre, sondern er hatte auch seine Gründe, seinen Erben die Kenntnis seiner Angelegenheiten zu entziehen. Seit dem zweiten Jahr nach seiner Übersiedlung hatte er daher nur noch die Bougival im Hause, auf deren Verschwiegenheit er sich unbedingt verlassen konnte; seine wahren Beweggründe verbarg er unter der zwingenden Notwendigkeit, sparen zu müssen. Zur großen Befriedigung seiner Erben stellte er sich geizig. Ohne jede Fuchsschwänzerei und rein infolge ihrer Einsamkeit und Ergebenheit war die Bougival, die in dem Augenblick, wo dies Drama beginnt, dreiundvierzig Jahre alt war, die Haushälterin des Doktors und seiner Pflegetochter, war sie die Angel, um die sich alles im Hause drehte, und schließlich Vertrauensperson. Man hatte sie die Bougival genannt, weil man die Unmöglichkeit erkannte, ihren Vornamen Antoinette ihrer Persönlichkeit anzupassen; denn Namen und Gesichter gehorchen den Gesetzen der Harmonie. Der ›Geiz‹ des Doktors war nicht gerade ein unwahres Wort, doch hatte er seine Grenzen. 1817 bestellte er zwei Zeitschriften ab und kündigte den Bezug seiner periodischen Sammelwerke. Seine jährliche Ausgabe, die ganz Nemours abschätzen konnte, überstieg nicht mehr achtzehnhundert Franken. Wie bei allen Greisen war sein Bedürfnis an Wäsche, Schuhwerk oder Kleidung fast gleich Null. Alle sechs Monate machte er eine Reise nach Paris; ohne Zweifel, um seine Einkünfte dort selbst einzukassieren oder unterzubringen. In fünfzehn Jahren sprach er nicht ein Wort, das sich auf seine geschäftlichen Angelegenheiten bezogen hätte. Sein Vertrauen auf Bongrand stellte sich erst sehr spät ein; er eröffnete sich ihm bezüglich seiner Pläne erst nach der Revolution von 1830. Das waren die einzigen der Bürgerschaft und seinen Erben damals bekannten Dinge im Leben des Doktors. Was die Politik anbetraf, so mischte er sich, da ihn sein Haus nicht mehr als hundert Franken Steuern kostete, in nichts und wies sowohl die Royalisten wie die Liberalen zurück. Sein bekannter Abscheu vor dem ›Pfaffengesindel‹ und sein Deismus machten sich so wenig aus Kundgebungen, daß er einen Handlungsreisenden, den ihm sein Großneffe Désiré Minoret-Levrault zugeschickt hatte, um ihm einen ›Curé Meslier‹ und die ›Discours‹ des Generals Foy anzubieten, an die Luft setzte. Die auf solche Weise bekundete Toleranz erschien den Liberalen von Nemours unerklärlich.

Die drei Seitenerben des Doktors, Minoret-Levrault und seine Frau, Herr und Frau Massin-Levrault junior, Herr und Frau Crémière-Crémière – die wir einfach Crémière, Massin und Minoret nennen wollen, da solche Unterscheidungen zwischen Namensvettern nur im Gâtinais notwendig sind –, diese drei Familien waren viel zu beschäftigt, als daß sie einen besonderen Kreis gebildet hätten, und besuchten sich, wie man sich in kleinen Städten besucht. Der Posthalter gab am Geburtstage seines Sohnes ein großes Festessen, einen Ball zum Karneval, einen anderen am Jahrestag seiner Hochzeit, und er lud dann die ganze Bürgerschaft von Nemours ein. Auch der Steuereinnehmer vereinigte zweimal seine Verwandten und Freunde bei sich. Der Aktuar im Friedensrichteramt, der, wie er sagte, zu arm war, als daß er sich in solche Unkosten stürzen könnte, lebte kärglich in einem mitten in der Grand' Rue gelegenen Hause, in dessen einem Teil, dem Erdgeschoß, seine Schwester, die durch eine weitere erwiesene Wohltat des Doktors Direktrice bei der Post war, zur Miete wohnte. Trotzdem trafen sich die drei Erben oder ihre Frauen das Jahr über in der Stadt, auf der Promenade, morgens auf dem Markt, vor ihren Haustüren oder sonntags nach der Messe auf dem Kirchplatz, wie in diesem Augenblick, so daß sie sich also täglich sahen. Nun, namentlich seit drei Jahren rechtfertigten des Doktors Alter, sein Geiz und sein Vermögen Anspielungen oder direkte Äußerungen bezüglich der Erbschaft, die schließlich nach und nach immer mehr zunahmen und gleicherweise den Doktor und seine Erben berühmt machten. Seit sechs Monaten verging keine Woche, wo die Freunde und Nachbarn der Erben Minorets nicht mit einem heimlichen Neid zu ihnen von dem Tag gesprochen hätten, an dem sich die Augen des guten Mannes schließen und seine Koffer sich auftun würden.

»Mag der Doktor Minoret Arzt sein und mit dem Tode auf gutem Fuß stehen, schließlich ist nur Gott ewig«, sagte einer.

»Bah, er begräbt uns noch alle; es geht ihm besser als uns«, antwortete scheinheilig der Erbe.

»Schließlich, wenn nicht Sie, erben's doch immer Ihre Kinder, wenn nicht die kleine Ursula …«

»Er wird ihr nicht alles vermachen.«

Ursula war nach den Vorhersagungen Frau Massins das Scheuel der Erben, ihr Damoklesschwert, und das Wort: »Bah, man wird ja sehen!«, der beliebte Abschluß Frau Crémières, sagte zur Genüge, daß sie ihr eher alles Schlimme als etwas Gutes wünschten.

Der Steuereinnehmer und der Aktuar, die im Vergleich zum Posthalter arme Leute waren, hatten gesprächsweise die Erbschaft des Doktors oft abgeschätzt. Wenn sie am Kanal entlang oder auf der Landstraße spazierengingen und ihren Onkel kommen sahen, blickten sie sich mit einem jämmerlichen Gesicht an.

»Er hat sich gewiß irgendein Lebenselixier aufgespart«, sagte der eine.

»Er hat ein Bündnis mit dem Teufel geschlossen«, antwortete der andere.

»Er sollte uns beide bevorzugen, denn der dicke Minoret braucht nichts.«

»Ah, Minoret hat einen Sohn, der ihm noch viel Geld schlucken wird.«

»Auf wie hoch veranschlagen Sie das Vermögen des Doktors?« fragte der Aktuar den Finanzmenschen.

»Nach zwölf Jahren zwölftausend Franken Ersparnisse jedes Jahr gibt hundertvierundvierzigtausend Franken, und dazu die nicht verbrauchten Zinsen gerechnet, macht mindestens hunderttausend Franken; aber da er, beraten von seinem Pariser Notar, sicher noch dies und jenes gute Geschäft gemacht hat und da er bis 1822 sicher vom Staat acht bis siebeneinhalb vom Hundert erhalten hat, muß der gute Mann gegenwärtig über ungefähr vierhunderttausend Franken verfügen; abgesehen von seinen vierzehntausend Livres Rente zu fünf vom Hundert, heute sechzehn vom Hundert. Wenn er morgen stirbt, ohne Ursula vorzuziehen, wird er uns also sieben- bis achthunderttausend Franken hinterlassen, Haus und Mobiliar nicht mitgerechnet.«

»Nun gut, hunderttausend für Minoret, hunderttausend für die Kleine, und für jeden von uns dreihunderttausend, das würde gerecht sein.«

»Ah, das würde uns zustatten kommen.«

»Wenn er's tun würde«, rief Massin, »so würde ich meine Stelle verkaufen und mir ein schönes Grundstück anschaffen und würde versuchen, in Fontainebleau Richter zu werden und es zum Abgeordneten zu bringen.«

»Ich für mein Teil würde eine Wechselmaklerstelle kaufen«, sagte der Steuereinnehmer.

»Unglücklicherweise haben ihn dies kleine Mädel, das er unterm Flügel hat, und der Pfarrer so gut umgarnt, daß wir nichts über ihn vermögen.«

»Immerhin, dessen können wir auf alle Fälle sicher sein, daß er der Kirche nichts hinterlassen wird.«

Jeder kann jetzt verstehen, in welchen Ängsten sich die Erben befanden, als sie ihren Onkel zur Messe gehen sahen. Eine Schädigung von Interessen zu begreifen, hat man immer Geist genug. Das Interesse macht den Geist der Bauern genauso aus wie den des Diplomaten, und auf diesem Gebiet ist vielleicht der, der nach außen hin der größte Dummkopf ist, der Stärkste. Und so blitzte die schreckliche Erwägung: ›Wenn die kleine Ursula so viel vermag, daß sie ihren Schützer in den Schoß der Kirche zieht, wird sie auch diejenige sein, die seine Erbschaft an sich bringt‹ mit feurigen Buchstaben in der Intelligenz selbst des Stumpfsinnigsten der Erben auf. Der Posthalter hatte das Rätsel, das der Brief seines Sohnes enthielt, vergessen und war auf den Kirchplatz geeilt, denn wenn der Doktor in der Kirche war, um die gewöhnlichen Meßgebete zu lesen, so handelte es sich um einen Verlust von zweihundertfünfzigtausend Franken. Man muß zugeben: die Besorgnis der Erben bezog sich auf die stärksten und gesetzmäßigsten aller sozialen Gefühle, die Interessen der Familie.

»Nun gut, Herr Minoret«, sagte der Maire (ein ehemaliger, royalistisch gewordener Müller, ein Levrault-Crémière), »wenn der Teufel alt wird, wird er Einsiedler. Ihr Onkel ist, sagt man, einer der Unseren.«

»Besser spät als niemals, lieber Vetter«, antwortete der Posthalter, der einen Versuch machte, seinen Ärger zu verbergen.

»Der hier würde lachen, wenn wir betrogen würden! Er wäre imstande, seinen Sohn mit diesem verwünschten Mädchen zu verheiraten, dem der Teufel den Hals umdrehen möge!« rief Crémière, indem er die Fäuste ballte und nach der Vorhalle hin deutete.

»Was hat denn der Vater Crémière?« sagte der Fleischer von Nemours, ein Levrault-Levrault der Ältere. »Ist er's nicht zufrieden, wenn er seinen Onkel den Weg zum Paradies einschlagen sieht?«

»Wer hätte das je gedacht!« sagte der Aktuar.

»Oh, man muß nicht immer sagen: ›Fontaine, ich will nicht von deinem Wasser trinken‹«, antwortete der Notar, der, als er die Gruppe von weitem sah, sich von seiner Frau entfernte und sie allein in die Kirche gehen ließ.

»Lassen Sie doch sehen, Herr Dionis«, sagte Crémière, indem er den Notar beim Arm faßte. »Was raten Sie uns unter solchen Umständen zu tun?«

»Ich rate Ihnen«, sagte der Notar zu den Erben gewandt, »sich zu Ihrer gewohnten Stunde schlafen zu legen und aufzustehen, Ihre Suppe zu essen und sie nicht kalt werden zu lassen, Ihre Füße in Ihre Schuhe zu stecken, Ihren Hut auf den Kopf zu setzen, endlich Ihre Lebensweise so fortzuführen, als ob weiter gar nichts wäre.«

»Das ist kein guter Trost«, wandte sich Massin an ihn, indem er ihm einen Gevatterblick zuwarf.

Trotz seinem kleinen Wuchs und seinem Leibesumfang, trotz seinem dicken, gedrungenen Gesicht war Crémière-Dionis ein feiner Hund. Um sich ein Vermögen zu machen, hatte er sich im geheimen mit Massin zusammengetan, dem er ohne Zweifel die Bauern bezeichnete, die sich in Verlegenheit befanden und deren Güter es zu verschlingen galt. Auf diese Weise suchten sich diese beiden Menschen ihre Geschäfte aus, ließen sich nichts Gutes entgehen und teilten sich den Ertrag dieses Hypothekenwuchers, der die Bodenbewirtschaftung der Bauern hemmt, ohne sie ganz zu verhindern. Und so nahm Dionis weniger für Minoret, den Posthalter, und Crémière, den Steuereinnehmer, als für seinen Freund, den Aktuar, ein lebhaftes Interesse an der Erbschaft des Doktors. Massins Anteil mußte früher oder später die Kapitalien vermehren, mit denen die beiden Gefährten im Bezirk arbeiteten.

»Wir wollen durch Herrn Bongrand zu erfahren suchen, woher dieser Schlag kommt«, antwortete der Notar leise, indem er Massin anwies, er solle sich still verhalten.

»Aber was machst du denn hier, Minoret?« rief plötzlich eine kleine Frau, die auf die Gruppe losschoß, aus deren Mitte der Posthalter sich wie ein Turm hervorhob. »Du weißt nicht, wo Désiré ist, und stehst hier aufgepflanzt und schwatzt, und ich denke, du bist zu Pferd! – Guten Tag, meine Damen und Herren!«

Diese kleine, magere, bleiche, blonde Frau im weißen, mit großen schokoladefarbenen Blumen bedeckten Kattunkleid, eine gestickte, mit Spitzen besetzte Haube auf und einen kleinen, grünen Schal über den flachen Schultern, war die Posthalterin, vor der die rohsten Postillione, das Hausgesinde und die Frachtfuhrleute zitterten; die die Kasse und die Bücher führte und, nach dem sprichwörtlichen Ausdruck der Nachbarschaft, das Haus in Hand und Auge hielt. Wie die echten Hausfrauen trug sie keinerlei Geschmeide an sich. Wie sie selbst sagte, gab sie nichts auf Flitterkram und Spielereien; sie hielt sich an das Solide und hatte, ungeachtet des Festes, ihre schwarze Schürze vorbehalten, in deren Tasche ein Schlüsselbund klapperte. Ihre kläffende Stimme zerriß die Trommelfelle. Trotz ihrer angenehm blauen Augen stand ihr harter Blick in ersichtlichem Einklang mit den dünnen Lippen ihres verkniffenen Mundes, ihrer hohen, geschweiften, sehr gebieterischen Stirn. Lebhaft war ihr Blick, lebhafter ihre Bewegungen und ihre Zunge. ›Zélie, die verpflichtet ist, Willen für drei zu haben, hat ihn immer für drei gehabt‹, sagte Goupil, der damit auf die aufeinanderfolgende Herrschaft von drei jungen, in ihrem Äußeren gepflegten Postillionen hinwies, die Zélie, nachdem jeder sieben Jahre gedient, verheiratet hatte. Auch nannte sie der boshafte Schreiber: Postillion der Erste, Postillion der Zweite und Postillion der Dritte. Doch der geringe Einfluß dieser jungen Leute im Hause und ihr vollkommener Gehorsam bewiesen, daß Zélie sich rein nur für brave Leute interessiert hatte.

»Nun gut, Zélie liebt den Eifer Wortspiel ›Zélie‹ und ›zèle‹. (Der Übersetzer)«, antwortete der Schreiber denen, die ihm diese Beobachtungen mitgeteilt hatten.

Seine boshafte Nachrede war wenig wahrscheinlich. Nach der Geburt ihres Sohnes, der, ohne daß man sehen konnte, auf welche Weise, von ihr genährt worden war, hatte die Posthalterin an nichts anderes gedacht, als ihr Vermögen zu mehren, und hatte sich rastlos der Leitung ihres gewaltigen Geschäftes gewidmet. Ein Bund Stroh oder einige Scheffel Hafer zu stehlen, Zélie in den verwickeltsten Rechnungen zu überlisten, war ein Ding der Unmöglichkeit, obgleich sie unleserlich schrieb und von der ganzen Arithmetik nichts außer der Addition und Subtraktion kannte. Sie ging nur spazieren, um ihr Heu, ihr Grummet und ihren Hafer abzuschätzen; dann schickte sie ihren Mann zur Ernte und ihre Postillione zum Garbenbinden, indem sie ihnen, auf hundert Livres genau, die Menge angab, die diese oder jene Wiese abgeben mußte.

Obgleich sie die Seele dieses großen, dicken Körpers war, der sich Minoret-Levrault nannte, und sie ihn an der Spitze seiner stumpfsinnig aufgestülpten Nase führte, kannte sie doch die Angst, die, mehr oder weniger, alle Bändiger von wilden Tieren empfinden. Und so setzte sie sich ihm gegenüber immer in einen zornigen Zustand, und die Postillione wußten an der Schelte, die sie von Minoret bekamen, wann er sich mit seiner Frau gezankt hatte, denn sein Zorn ging auf sie zurück. Frau Minoret war übrigens so geschickt wie interessiert. In der ganzen Stadt hieß es in mehr als einem Haushalt: »Wo wäre Minoret ohne seine Frau!«

»Wenn du wüßtest, was es hier gibt«, antwortete der Meister von Nemours, »so würdest du selber außer Rand und Band geraten.«

»Na, was gibt's denn?«

»Ursula hat den Doktor Minoret zur Messe geführt.«

Zélie Levraults Pupillen erweiterten sich, einen Augenblick stand sie gelb vor Wut und sagte: »Das muß ich selber sehen, wenn ich's glauben soll!« und stürzte dann in die Kirche hinein. Die Messe war hier auf ihrem Höhepunkt angelangt. Dank der allgemeinen Andacht konnte die Minoret also in jede Stuhl- und Bankreihe blicken, während sie an den Kapellen hin bis zu Ursulas Platz schritt, neben der sie, entblößten Hauptes, den Greis wahrnahm.

Wenn man an die Gesichter von Barbé-Marbois, Boissy d'Anglas, Morellet, Helvétius, Friedrich II. denkt, wird man sich sofort ein genaues Bild vom Kopf des Doktor Minoret machen können, dessen rüstiges Greisentum dem dieser berühmten Personen glich. Diese Köpfe bieten – wie gut gelungene Prägungen, denn sie fordern geradezu heraus, auf Medaillen geprägt zu werden – ein beinahe puritanisch ernstes Profil dar, einen kalten Ton, einen mathematischen Verstand, in dem gleichsam zusammengedrängten Gesicht eine gewisse Eingeschränktheit, kluge Augen, einen ernsten Mund, eine gewisse Aristokratie, weniger dem Gefühl als der Gewohnheit nach, mehr eine der Gedanken als des Charakters. Alle haben sie hohe, jedoch oben zurückweichende Stirnen, was den Hang zum Materialismus verrät. Man findet diese hauptsächliche Kopfform und diese Gesichtszüge in den Porträts aller Enzyklopädisten wieder, auch bei den Rednern der Gironde und den Menschen dieses Zeitalters, deren religiöser Glaube fast gleich Null war, die sich Deisten nannten und Atheisten waren. Der Deist ist ein Atheist unter Vorbehalt näherer Prüfung. Der alte Minoret zeigte also eine so geartete, doch von Furchen durchzogene Stirn, die außerdem infolge der Art, wie sein nach hinten übergekämmtes Silberhaar sich in leichten Locken auf seinen schwarzen Rock herabringelte, eine gewisse Naivität gewann. Wie in seiner Jugend trug er unverbrüchlich schwarze Seidenstrümpfe, Schuhe mit Goldschnallen, Kniehosen aus starker, glanzloser Seide, eine weiße, vom schwarzen Ordensband überquerte Weste und einen schwarzen, mit dem roten Bandschleifchen der Ehrenlegion geschmückten Rock. Dieser so charakteristische Kopf, dessen kühles Weiß durch die gelben Alterstöne gemildert wurde, empfing von einem Fenster her das volle Tageslicht. In dem Augenblick, als die Posthalterin anlangte, hatte der Doktor seine blauen Augen mit den rosigen Lidern und ihren weichen Umrissen gegen den Altar erhoben: eine neue Überzeugung gab ihnen einen neuen Ausdruck. Seine Brille gab in seinem Gebetbuch die Stelle an, wo er sein letztes Gebet gelesen hatte. Die Arme über der Brust verschränkt, ließ der große, hagere Greis in seiner aufrechten Haltung, die alle Macht seiner Fähigkeiten und eine gewisse Unerschütterlichkeit seines Glaubens anzeigte, seinen demütigen, von Hoffnung verjüngten Blick auf dem Altar haften, ohne die Frau seines Neffen sehen zu wollen, die sich fast gerade vor ihm aufgepflanzt hatte, als wolle sie ihm seine Rückkehr zu Gott zum Vorwurf machen.

Als sie wahrnahm, wie sich aller Blicke auf sie richteten, beeilte sich Zélie hinauszugehen und kam weniger eilig, als es sie in die Kirche getrieben hatte, auf den Kirchplatz zurück; sie zählte auf diese Erbschaft, und die Erbschaft war zweifelhaft geworden. Sie traf den Aktuar, den Steuereinnehmer und ihre Frauen noch bestürzter an als vorher: Goupil hatte sich ein Vergnügen daraus gemacht, sie zu quälen.

»Hier auf dem Kirchplatz und vor der ganzen Stadt können wir über unsere Angelegenheit nicht sprechen«, sagte die Posthalterin. »Kommt zu uns. Auch Sie bitte, Herr Dionis«, wandte sie sich an den Notar.

So wurde die voraussichtliche Enterbung der Massins, Crémières und des Postmeisters die Neuigkeit der ganzen Landschaft.

In dem Augenblick, wo die Erben und der Notar den Kirchplatz überschritten, um sich nach der Post zu begeben, ließ sich mit gewaltigem Getös der im schärfsten Tempo bei dem wenige Schritt von der Kirche entfernt gelegenen Bureau anlangende Postwagen auf der Höhe der Grand' Rue vernehmen.

»Halt, ich mach's wie du, Minoret, ich vergesse Désiré!« sagte Zélie. »Kommt, helfen wir ihm aussteigen: er ist ja bald Advokat, und es handelt sich sozusagen um seine Angelegenheiten.«

Die Ankunft einer Postkutsche ist stets eine Zerstreuung; verspätet sie sich aber, so macht man sich auf Unfälle gefaßt; darum pflanzte sich der Haufe vor der ›Ducler‹ auf.

»Da ist Désiré!« wurde allgemein gerufen.

Désiré, zugleich der Tyrann und Lustigmacher von Nemours, versetzte die Stadt durch sein Erscheinen immer in Aufregung. Beliebt bei der Jugend, der gegenüber er sich freigebig erwies, stachelte er sie durch seine Anwesenheit an; doch seine Vergnügungen waren so gefürchtet, daß mehr als eine Familie sich freute, wenn er in Paris seinen Rechtsstudien oblag. Désiré, ein schmaler, junger Mann, schwächlich und blond wie seine Mutter, deren blaue Augen und bleiche Gesichtsfarbe er geerbt hatte, lächelte von dem Kutschenschlage aus der Menge zu und stieg hurtig herab, um seine Mutter zu umarmen. Eine kurze Skizze dieses Burschen mag beweisen, wie sehr Zélie sich bei seinem Anblick geschmeichelt fühlte.

Der Student trug feine Schuhe, ein weißes Beinkleid aus englischem Stoff mit lackierten Lederstrippen, eine ihn gut kleidende, teure, kostbar befestigte Krawatte, eine hübsche, nach besonderem Muster gearbeitete Weste, in der Tasche dieser Weste eine flache Taschenuhr, von der eine Kette herabhing, endlich einen kurzen Überrock aus blauem Tuch und einen grauen Hut; doch der Emporkömmling ließ sich an den goldenen Knöpfen der Weste und an dem Ring erkennen, den er über dem Handschuh aus violettem Ziegenleder trug. Er hatte einen Spazierstock mit einem ziselierten Goldknopf.

»Du verlierst ja deine Uhr«, sagte seine Mutter, als sie ihn umarmte.

»Ich tu's mit Absicht«, sagte er, während er sich von seinem Vater umarmen ließ.

»Nun, Vetter, und sind Sie bald Advokat?« fragte Massin.

»Ich werde nach meiner Rückkehr vereidigt«, antwortete er, während er dem Haufen die freundlichen Grüße erwiderte, die man ihm zuschickte.

»Wir werden also vergnügt sein?« sagte Goupil, der ihm die Hand reichte.

»Ah, da bist du ja, alter Affe!« antwortete Désiré.

»Nach deiner Dissertation für das Referendariat ist dir das Referendariat noch immer strittig«, versetzte der Schreiber, der sich darüber, daß er vor aller Welt mit solcher Ungezwungenheit behandelt wurde, gekränkt fühlte.

»Wie, er heißt ihn schweigen?« fragte Frau Crémière ihren Gatten.

»Sie wissen ja, was ich alles habe, Cabirolle!« rief Désiré dem alten Kondukteur mit dem finnig violetten Gesicht zu. »Lassen Sie alles ins Haus bringen.«

»Deine Pferde triefen ja!« fuhr Zélie Cabirolle grob an. »Bist du denn nicht bei Verstand, daß du so mit ihnen umgehst? Du bist dümmer als sie!«

»Aber Herr Désiré wollte doch unter allen Umständen ankommen, damit Sie sich nicht länger beunruhigten …«

»Aber 's ist ihm ja weiter nichts zugestoßen; warum also riskieren, daß einem die Pferde draufgehn?« entgegnete sie.

Das Wiedersehen der Freunde, die Begrüßungen, das Gedränge der jungen Leute um Désiré herum, alle Einzelheiten der Ankunft und die Berichte über den Unfall, der die Verspätung verursachte, nahmen hinreichend viel Zeit in Anspruch, so daß der durch ihre Freunde angewachsene Trupp der Erben erst auf dem Kirchplatz anlangte, als der Gottesdienst zu Ende war. Durch eine Fügung des Zufalls, der sich ja alles erlaubt, sah Désiré gerade in dem Augenblick Ursula, als sie die Vorhalle durchschritt, und stand starr vor Staunen über ihre Schönheit. Diese Bewegung des jungen Juristen hielt den Marsch seiner Verwandten natürlich auf.

Da sie, während sie ihrem Paten den Arm gab, genötigt war, in der rechten Hand ihr Gebetbuch und in der anderen ihren Sonnenschirm zu halten, zeigte Ursula gerade in diesem Augenblicke die angeborene Anmut, welche graziösen Weibern bei schwierigeren Anlässen eine frauliche Lieblichkeit zu entfalten erlaubt. Wenn sich die Gesinnung in allem offenbart, so darf ausgesprochen werden, daß ihre Haltung eine himmlische Schlichtheit ausdrückte. Ursula trug ein nach Art eines Hausgewandes gearbeitetes, in Abständen mit blauen Schleifen geschmücktes weißes Musselinkleid. Die Pelerine, die einen breiten Saum aus dem gleichen Stoff hatte und mit ähnlichen Schleifen wie das Kleid gerafft war, ließ die Schönheit ihres Wuchses hervortreten. Ihr glanzlos weißer Hals hob sich mit einem anmutigen Ton von all dem Blau, dem Hebungsmittel der Blondinen, ab. Der blaue Gürtel mit seinen langen, flatternden Enden brachte ihre gerade Gestalt zur Geltung, die, einer der verführerischsten weiblichen Reize, sehr geschmeidig war. Sie trug einen Hut aus Reisstroh, der bescheiden mit ähnlichen Bändern wie das Kleid aufgeputzt und dessen Schleife unterm Kinn zusammengebunden war, wodurch das ausnehmend helle Weiß des Hutes hervorgehoben wurde zum Vorteil ihres schönen, blonden Teints. An jeder Seite von Ursulas Gesicht, die sich das Haar natürlich selber aufsteckte, fielen ihre seidig blonden Haare in reicher Fülle mit dicken, breiten Flechten nieder und fesselten mit ihrem schimmernden Glanz aller Blicke. Ihre zugleich sanften und stolzen grauen Augen paßten zu ihrer gutgeformten Stirn. Der rosige Hauch ihrer Wangen belebte das regelmäßige, doch nicht langweilige Gesicht; als einen seltenen Vorzug hatte ihm die Natur Klarheit der Linie und des seelischen Gepräges verliehen. Ihr natürlicher Adel verriet sich in einer wunderbaren Übereinstimmung zwischen ihren Zügen, ihren Bewegungen und dem allgemeinen Ausdruck ihrer Person, die als Modell für eine Darstellung der Zutraulichkeit oder der Bescheidenheit hätte dienen können. Obgleich ihre Gesundheit ausgezeichnet war, stach sie doch nicht plump hervor, sondern wirkte vornehm. Unter ihren lichtfarbenen Handschuhen ahnte man ihre reizenden Hände. Ihre schön geschweiften, zierlichen Füße trugen niedliche Halbstiefelchen aus bronziertem Leder, die mit braunseidenen Fransen geschmückt waren. Ihr blauer Gürtel, durch den sich eine kleine, flache Uhr und ihre blaue, mit goldenen Quastchen versehene Börse durchzeichneten, zog die Blicke aller Frauen auf sich.

»Er hat ihr eine neue Uhr geschenkt!« äußerte Frau Crémière und preßte den Arm ihres Mannes.

»Wie, das ist Ursula?« rief Désiré. »Ich kannte sie noch gar nicht.«

»Nun, lieber Onkel, Sie machen Aufsehen«, sagte der Posthalter, indem er hindeutete, wie die ganze Stadt den Greis durch zwei Reihen vorbeigehen ließ. »Jeder will Sie sehen.«

»Ist's Abbé Chaperon oder Fräulein Ursula, der Sie bekehrt hat, lieber Onkel?« erkundigte sich Massin mit jesuitischer Unterwürfigkeit, während er den Doktor und seine Pflegetochter grüßte.

»Ursula«, antwortete der Greis trocken, indem er, wie jemand, dem man lästig fällt, weiterschritt.

Obgleich am Tage zuvor, als der Greis nach Beendigung seines Whists mit Ursula, dem Arzt von Nemours und Bongrand geäußert hatte: »Ich werde morgen zur Messe gehen«, ihm der Friedensrichter bloß geantwortet hatte: »Ihre Erben werden's nicht verschlafen«, mußte dem klugen, klarblickenden Doktor beim Anblick ihrer Gesichter ein einziger Blick genügen, um die Gefühle seiner Erben zu durchschauen. Der Einbruch Zélies in die Kirche, ihr Blick, den der Doktor aufgefangen hatte, dies Beieinander aller Interessierten auf dem Kirchplatz und der Ausdruck ihrer Mienen, als sie Ursula sahen: alles verriet einen neu erwachten Haß und die gemeinsten Befürchtungen.

»Das paßt zu Ihnen, Fräulein!« sagte Frau Crémière, indem sie sich unter einer demütigen Verbeugung gleichfalls einmischte. »Ein Wunder zu wirken fällt Ihnen nicht schwer.«

»Wunder tut nur Gott, Madame«, entgegnete Ursula.

»Oh, Gott!« rief Minoret-Levrault. »Mein Schwiegervater pflegte zu sagen, daß er vielen Pferden als Decke diene.«

»Er hatte Roßkamm-Anschauungen«, sagte der Doktor streng.

»Nun«, wandte Minoret sich zu seiner Frau und seinem Sohn, »grüßt ihr den Onkel nicht auch?«

»Ich wäre der Heuchlerin gegenüber nicht Herr meiner selbst«, rief Zélie, die ihren Sohn davonführte.

»Sie täten gut, lieber Onkel«, sagte Frau Massin, »wenn Sie nicht ohne eine kleine schwarze Sammetkappe in die Kirche gingen; die Kirche ist recht kühl.«

»Bah, liebe Nichte«, sagte der gute Mann und sah seine Begleitung an, »je eher ich mich lege, um so eher werden Sie tanzen.«

Ursula mit sich führend, schritt er immer weiter und verriet so viel Eile, daß man sie allein ließ.

»Warum lassen Sie sie so hart an? Das ist nicht gut«, sagte Ursula, indem sie ihm mutig den Arm rüttelte.

»Vor wie nach meinem Anschluß an die Religion war und ist mein Haß gegen Heuchler der gleiche. Ich habe ihnen allen Gutes getan, ohne von ihnen Dank zu verlangen; aber keiner von diesen Leuten hat dir zu deinem Geburtstage, dem einzigen Fest, das ich feiere, auch nur eine Blume geschickt.«

In hinreichend großem Abstand vom Doktor und Ursula bewegte sich müden Ganges, offenbar kummerbedrückt, Frau von Portenduère. Sie gehörte zu jenen alten Frauen, in deren Kleidung sich der Geist des letzten Zeitalters kundgibt; sie tragen violett-braune Roben, mit flachen Ärmeln und von einem Schnitt, dessen Modell man nur noch auf den Porträts von Frau Lebrun erblickt; sie haben schwarze Spitzenmäntelchen und Hüte, deren altmodische Form zu ihrer langsamen, feierlichen Gangart paßt: man könnte sagen, daß sie immer mit ihren Körben gehen und daß sie sie noch bei sich fühlen, wie die, denen der Arm abgenommen wurde, zuweilen die Hand bewegen wollen, die sie nicht mehr haben. Ihre langen, blassen Gesichter mit den großen, farblosen Augen, mit der welken Stirn entbehren nicht einer gewissen traurigen Anmut, trotz den Haartouren mit ihren noch flachen Locken. Sie hüllen ihre Gesichter in alte Spitzen, die um die Wangen herum nicht mehr flattern wollen. Doch all dieser Verfall wird von einer unglaublichen Würde in Manieren und im Blick beherrscht. Die roten, faltigen Augenlider dieser alten Dame sagten zur Genüge, daß sie während der Messe geweint hatte. Sie kam daher wie jemand, der sich beunruhigt, und schien auf jemand zu warten, denn sie wandte sich um. Nun, der Umstand, daß Frau von Portenduère sich umsah, war eine ebenso ernste Sache wie die Bekehrung des Doktor Minoret.

»Auf wen wartet Frau von Portenduère?« sagte Frau Massin, indem sie die von den Antworten des Greises ganz starren Erben einholte.

»Sie sucht den Pfarrer«, erwiderte der Notar Dionis, der sich wie ein Mensch gegen die Stirn schlug, dem plötzlich eine Erinnerung oder ein entglittener Gedanke kommt. »Ich habe Ihre Sache, habe sie! Die Erbschaft ist gerettet! Gehen wir seelenvergnügt bei Frau Minoret frühstücken!«

Jedermann kann sich den Eifer vorstellen, mit dem die Erben dem Notar zur Post folgten. Goupil begleitete seinen Kameraden, Arm in Arm mit ihm, und flüsterte ihm mit seinem garstigen Lächeln ins Ohr: »Es gibt Krabben.«

»Mir einerlei!« erwiderte der Sohn der Familie und zuckte die Achseln. »Ich bin wahnsinnig in Florine verliebt, das himmlischste Wesen der Welt.«

»Was ist denn mit Florine weiter los?« fragte Goupil. »Ich bin dir viel zu gut, als daß ich dich von gewissen Kreaturen schröpfen ließe.«

»Florine ist die Passion des berühmten Nathan, und meine Verrücktheit nützt mir nichts, denn sie hat ausdrücklich abgelehnt, mich zu heiraten.«

»Solche verrückt schönen Mädchen haben manchmal sehr gescheite Köpfe«, äußerte Goupil.

»Wenn du sie nur mal sähst, würdest du nicht solche Ausdrücke gebrauchen«, sagte Désiré schmachtend.

»Wenn ich sähe, daß du dir deine Zukunft wegen etwas verdirbst, was nichts weiter als Einbildung ist«, versetzte Goupil mit einer Hitze, die auf Bongrand vielleicht Eindruck gemacht hätte, »würde ich diese Puppe zerbrechen, wie Varney Amy Robsard in ›Kenilworth‹ zerbricht! Deine Frau muß eine d'Aiglemont werden, ein Fräulein von Rouvre, und sie muß dich zum Abgeordneten machen. Meine Zukunft beruht auf der deinen, und ich lasse dich keine Dummheiten machen.«

»Ich bin reich genug, um mir am Glück genügen zu lassen«, entgegnete Désiré.

»Nun, was schmiedet ihr denn da zusammen?« wandte sich Zélie an Goupil und rief die beiden mitten auf dem großen Hof zurückgebliebenen Freunde an.

Der Doktor verschwand in der Rue des Bourgeois und langte hurtig wie ein junger Mann in dem Hause an, wo sich die Woche über das seltsame Ereignis erfüllt hatte, das damals die ganze Stadt Nemours auf das lebhafteste beschäftigte und das einige Aufklärungen erfordert, damit sich diese Erzählung und die Verbindung des Notars mit den Erben erst in ihre rechte Klarheit setzen:

Der Schwiegervater des Doktors, der berühmte Klavierspieler und Instrumentenbauer Valentin Mirouet, einer unserer berühmtesten Orgelspieler, war 1785 gestorben und hatte einen natürlichen Sohn, den Sprossen seines Greisenalters, hinterlassen, den er anerkannt hatte und der seinen Namen trug, aber ein großer Tunichtgut war. Auf seinem Sterbebett wurde ihm nicht der Trost, dieses mißratene Kind noch einmal zu sehen. Joseph Mirouet, Sänger und Komponist, war, nachdem er unter einem angenommenen Namen bei den Italienern debütiert hatte, mit einem jungen Mädchen nach Deutschland entflohen. Der alte Instrumentenbauer hatte den Burschen, eine wahrhaft reiche Begabung, seinem Schwiegersohn empfohlen, wobei er ihn darauf aufmerksam machte, er hätte sich geweigert, seine Mutter zu heiraten, damit es Frau Minoret nicht zum Nachteil gereiche. Der Doktor versprach, dem Unglücklichen die Hälfte der Erbschaft des Instrumentenbauers zu geben, dessen Grundstück von Evard gekauft worden war. Unter Inanspruchnahme der Gesandtschaft ließ er seinen natürlichen Schwager Joseph Mirouet suchen; doch Grimm sagte ihm eines Abends, daß der Künstler sich in einem preußischen Regiment habe anwerben lassen, dann desertiert sei, einen falschen Namen angenommen habe und jede Nachforschung vereitle. Joseph Mirouet, der von der Natur mit einer bezaubernden Stimme, einem vorteilhaften Wuchs, einem hübschen Gesicht begabt und der überdies ein Komponist von Geschmack und Schwung war, führte fünfzehn Jahre hindurch jenes Zigeunerleben, das der Berliner Hoffmann so vortrefflich geschildert hat. Und so verfiel er ungefähr in seinem vierzigsten Jahr in so großes Elend, daß er 1806 die Gelegenheit ergriff, wieder Franzose zu werden. Er ließ sich damals in Hamburg nieder, wo er die Tochter eines reichen, musiktollen Bürgers heiratete, der an dem Künstler, der berühmt zu werden versprach und der sich ihm weihen wollte, einen Narren gefressen hatte. Doch nach fünfzehnjährigem Elend wußte Joseph Mirouet das üppige Leben nicht zu ertragen, seine Verschwendungssucht brach wieder durch; und während er seine Frau beglückte, vergeudete er in ein paar Jahren ihr Vermögen. Von neuem kam das Elend. Es mußte schon ein sehr erschreckliches gewesen sein, denn es kam mit Joseph Mirouet dahin, daß er sich als Musikmeister in einem französischen Regiment anwerben ließ. Infolge des größten aller Zufälle schrieb der von dem Namen Mirouet berührte Regimentsarzt 1813 dem Doktor Minoret, dem er verpflichtet war. Die Antwort ließ nicht auf sich warten. 1814 hatte Joseph Mirouet nach der Übergabe von Paris dort ein Asyl, wo seine Frau an dem Tage starb, an dem sie ihm ein Töchterchen schenkte, das der Doktor nach seiner Frau Ursula nennen wollte. Gleichfalls von Elend und Strapazen erschöpft, überlebte der Kapellmeister die Mutter nicht lange. Sterbend hinterließ der unglückliche Musiker seine Tochter dem Doktor, der, trotz seinem Widerstreben gegen das, was er die Gaukeleien der Kirche nannte, bei ihrer Taufe Pate stand.

Nachdem er nach und nach seine Kinder an Fehlgeburten oder bei schweren Entbindungen oder während ihres ersten Jahres hatte dahingehen sehen, hatte sich der Doktor noch einmal auf die gleiche Erfahrung gefaßt gemacht. Wenn eine schwächliche, nervöse, zarte Frau beim erstenmal eine Fehlgeburt hat, kommt es nicht selten vor, daß es ihr bei weiteren Schwangerschaften und Geburten ähnlich ergeht wie Ursula Minoret, trotz der Pflege, der steten Beobachtung und dem Wissen ihres Mannes. Der Gute hatte sich ihr beiderseitiges Verlangen, Kinder haben zu wollen, oft zum Vorwurf gemacht. Das letzte, nach einer Pause von zwei Jahren empfangene Kind war während des Jahres 1792 gestorben: als Opfer des nervösen Zustandes seiner Mutter, wenn man den Physiologen Glauben schenken will, die der Ansicht sind, daß in dem unerklärbaren Phänomen der Zeugung das Kind dem Vater dem Blut nach gehört und dem Nervensystem nach der Mutter. Genötigt, auf die Freuden des für ihn mächtigsten Gefühls Verzicht zu leisten, war die Wohltätigkeit für den Doktor ohne Zweifel ein Ersatz für die Enttäuschungen seines Vatergefühls. Während seines so grausam bewegten Ehelebens hatte der Doktor sich über alles ein kleines, blondes Mädchen gewünscht, eine von den Blumen, wie sie die Freude eines Hauses sind; mit Freude übernahm er also das Legat, das Joseph Mirouet ihm vermacht, und übertrug auf die Waise die Hoffnungen seiner verwelkten Träume. Zwei Jahre wohnte er, wie vormals Gato für Pompejus getan, den geringsten Einzelheiten von Ursulas Leben bei; er wollte nicht, daß die Amme sie ohne sein Dabeisein stillte, sie aufhob, sie schlafen legte. Seine Erfahrung, seine Wissenschaft, alles stand im Dienste dieses Kindes. Nachdem er die Schmerzen, den Wechsel von Furcht und Hoffnung, die Arbeiten und Freuden einer Mutter kennengelernt hatte, wurde ihm das Glück, in dieser Tochter der blonden Deutschen und des französischen Künstlers eine starke Lebenskraft und ein tiefes Empfindungsvermögen wahrzunehmen. Mit den Gefühlen einer Mutter verfolgte der glückselige Greis die fortschreitende Entwicklung dieses blonden, zuerst daunigen, dann seidigen, dann leichten und feinen, für die liebkosenden Finger so lieblichen Haarwuchses. Oft küßte er diese nackten Füßchen, deren Zehchen, so feinhäutig, daß man das Blut hindurchsah, Rosenknöspchen glichen. Er war in die Kleine vernarrt. Wenn sie zu sprechen versuchte oder wenn ihre großen, blauen, so sanften Augen auf allen Dingen hafteten, mit jenem träumenden Blick, der wohl die in ein Lächeln übergehende Morgenröte des Gedankens ist, verweilte er ganze Stunden bei ihr und suchte mit Jordy die von so vielen andern Laune genannte Vernunft, die sich unter den geringsten Äußerungen dieser köstlichen Lebensphase birgt, in welcher das Kind zugleich Blume und Frucht, eine noch unbestimmte Intelligenz ist, beständige Bewegung, stürmisches Begehren. Ursulas Schönheit, ihre Sanftmut machten sie dem Doktor so teuer, daß er für sie die Gesetze der Natur hätte umwandeln mögen: es kam vor, daß er dem alten Jordy sagte, er empfinde Zahnweh, wenn Ursula es mit dem Zahnen hatte. Wenn alte Leute Kinder lieben, so kennt ihre Leidenschaft keine Grenze, sie vergöttern sie. Für diese kleinen Wesen entsagen sie ihren Steckenpferden und erinnern sich für sie ihrer ganzen Vergangenheit. Ihre Erfahrung, ihre Nachsicht, ihre Geduld, allen mühsam angesammelten Schatz ihrer Lebenserrungenschaften widmen sie diesem jungen Leben, an dem sie sich verjüngen, und ergänzen die Mutterschaft durch Einsicht. Ihre stets rege Weisheit ersetzt die triebhaft unmittelbare Einsicht einer Mutter; sie rufen sich das Zartgefühl im Gedächtnis wach, das bei einer Mutter aus dem Ahnungsvermögen ersprießt, und sie wenden es auf die Ausübung eines Mitgefühls an, dessen Gewalt sich offenbar an der unendlichen Bedürftigkeit eines Kindes entwickelt. Die Langsamkeit ihrer Bewegungen ersetzt die mütterliche Lindigkeit. Schließlich aber ist bei ihnen wie bei den Kindern die Lebensbetätigung wieder einfach geworden; und wenn das die Mutter zur Sklavin macht, so gestattet die Abwesenheit aller Leidenschaftlichkeit und jeden Interesses dem Greis, sich ganz zu geben. Woher es denn kommt, daß man nicht selten Kinder sich mit alten Leuten so gut verstehen sieht. Beglückt von den Schmeicheleien und dem zierlichen Wesen Ursulas, zeigten sich der alte Militär, der alte Pfarrer, der alte Doktor unermüdlich, ihr zu antworten oder mit ihr zu spielen. Weit entfernt, daß das Ungestüm dieses Kindes sie ungeduldig gemacht hätte, fühlten sie sich davon bezaubert, und sie leisteten all seinen Wünschen Genüge, indem sie aus allem einen Gegenstand der Unterweisung machten. Und so wuchs die Kleine in der Umgebung dieser alten Leute heran, die ihr zulächelten und aufmerksam und vorsorglich wie ebenso viele Mütter zu ihr waren. Dank dieser geschickten Erziehung entwickelte sich Ursulas Seele in einem Bereich, der ihr zusagte. Diese seltene Pflanze traf ihr richtiges Erdreich, atmete die Elemente ihres wahren Lebens und paßte sich ihrem überreichlichen Sonnenschein an.

»In welcher Religion gedenken Sie die Kleine zu erziehen?« fragte Abbé Chaperon Minoret, als Ursula sechs Jahre alt war.

»In der Ihrigen«, gab der Doktor zur Antwort.

Atheist nach der Weise des Herrn von Wolmar in der ›Neuen Heloise‹, erkannte er sich nicht das Recht zu, Ursula der ihr von der katholischen Religion dargebotenen Segnungen zu berauben. Der Arzt, der auf einer Bank unter dem Fenster des chinesischen Gartenzimmers saß, fühlte seine Hand von der des Pfarrers ergriffen und gedrückt.

»Ja, Pfarrer, jedesmal, wenn sie zu mir von Gott spricht, verweise ich sie auf ihren Freund ›Sapron‹«, sagte er, indem er die kindliche Sprechweise Ursulas nachahmte. »Ich will sehen, ob ihr das religiöse Gefühl eingeboren ist. Außerdem hab ich nichts für und nichts gegen die Richtungen dieser jungen Seele; doch hab ich Sie schon bei mir selbst ihren geistigen Vater genannt.«

»Das wird Ihnen, hoff ich, von Gott angerechnet werden«, antwortete Abbé Chaperon, indem er sanft seine Hände gegeneinanderlegte und sie, als spräche er im stillen ein kurzes Gebet, gen Himmel richtete.

Und so kam die kleine Waise im Alter von sechs Jahren unter die religiöse Obhut des Pfarrers, wie sie schon unter der ihres alten Freundes Jordy stand.

Der Kapitän hatte als früherer Lehrer an einer der alten Militärschulen aus Neigung zur Grammatik und den Unterschieden zwischen den europäischen Sprachen das Problem einer Universalsprache studiert. Dieser kluge Mann hatte sich also, geduldig wie alle alten Lehrer, eine Freude daraus gemacht, Ursula lesen und schreiben zu lehren, indem er ihr die französische Sprache beibrachte und das, was sie vom Rechnen wissen mußte. Die reichhaltige Bibliothek des Doktors gestattete diejenigen Bücher auszuwählen, die von einem Kinde gelesen werden konnten und die ihm zugleich mit dem Unterricht Vergnügen machten. Der Militär und der Pfarrer ließen diesen Verstand mit der Gemächlichkeit und Freiheit sich bereichern wie der Doktor ihren Körper. Ursula lernte spielend. Die Religion gab ihrem Nachdenken Richtung. Der hohen Pflege eines von drei so weisen Erziehern edel gerichteten Naturells zugewandt, entwickelte Ursula sich mehr nach dem Gefühl als nach der Pflicht hin, nahm zur Richtschnur ihrer Lebensführung mehr die Stimme des Gewissens als das Gesetz der Gesellschaft. Bei ihr mußte im Empfinden und Handeln das Gute unmittelbar sein: das Urteil bestätigte den Aufschwung des Herzens. Sie war dazu bestimmt, das Gute wie etwas Freudiges zu tun, bevor sie es als eine Verpflichtung tat. Das ist das Wesen der christlichen Erziehung. Diese Grundsätze, so ganz verschieden von denen, die sich für Männer eignen, paßten für ein Weib, das der Genius und das Gewissen der Familie, die heimliche Anmut des häuslichen Lebens, schließlich beinahe die Königin des Haushaltes war. Alle drei gingen mit dem Kinde auf die gleiche Weise zu Werke. Weit entfernt, vor der Kühnheit der Unschuld zurückzuschrecken, führten sie Ursula in den Zweck der Dinge und den bekannten Wissensdurchschnitt ein, indem sie ihr immer Gedanken darboten, die sie für sie zugerichtet hatten. Wenn sie bei einer Pflanze, einer Blume, einem Stern sich geradeswegs auf Gott bezog, sagten ihr der Professor und der Arzt, daß ihr allein der Priester antworten könne. Keiner griff in das Gebiet des anderen ein. Der Pflegevater nahm alles, was sich auf das Wohlbefinden und die Lebensweise bezog, auf sich; den Unterricht versah Jordy; Moral, Metaphysik und die höchsten Fragen waren das Gebiet des Pfarrers. Diese treffliche Erziehung wurde nicht, wie es in den reichsten Familien so häufig geschieht, von der Torheit der Hausdienerschaft durchkreuzt. Die Bougival, die in solcher Hinsicht ihre Anweisungen erhalten hatte und die ihrem Geist und Charakter nach übrigens viel zu schlicht war, als daß sie dazwischengetreten wäre, störte an dem Werk dieser trefflichen Geister nichts. Ursula, ein bevorzugtes Wesen, hatte also drei gute Genien um sich, denen ihr gutes Naturell ihre Aufgabe zu einer angenehmen und leichten machte. Diese Manneszärtlichkeit, dieser durch ein Lächeln gemilderte würdige Ernst, diese Freiheit ohne Gefahr, diese beständige Pflege an Seele und Leib machten aus ihr im Alter von neun Jahren ein so gutgeratenes Kind, daß ihr Anblick bezaubernd war. Unglücklicherweise erlitt diese dreifache Vaterschaft einen Bruch. Im nächsten Jahr starb der alte Kapitän und hinterließ die Vollendung seines Werkes, nachdem er den schwierigsten Teil vollbracht hatte, dem Doktor und dem Pfarrer. Die Blumen mußten in einem so gut vorbereiteten Boden von selbst wachsen. Der Edelmann hatte im Laufe von neun Jahren jährlich tausend Franken gespart, so daß er seiner kleinen Ursula, damit sie ihn ihr Leben lang in einem guten Gedächtnis behalte, zehntausend Franken hinterließ. In einem rührend verfaßten Testament forderte er seine Erbin auf, sich der vier- oder fünfhundert Franken Rente, die dies kleine Kapital abwarf, nur zu Toilettezwecken zu bedienen. Als der Friedensrichter bei seinem alten Freund die Siegel anlegte, fand man in einem Gemach, zu dem er niemals jemand hineingelassen hatte, eine große Menge Spielsachen, von denen viele zerbrochen waren und die sich, pietätvoll aufbewahrt, als Spielsachen aus vergangener Zeit erwiesen. Auf die Bitte des armen Kapitäns hin mußte Herr Bongrand das eigenhändig verbrennen.

Um diese Zeit hielt Ursula ihre erste Kommunion. Abbé Chaperon verwandte ein ganzes Jahr auf die Unterweisung dieses jungen Mädchens, bei welchem Herz und Verstand, beide so gut entwickelt, aber so verständig im Gleichgewicht, eine besondere geistige Nahrung erforderten. Seine Einführung in die Kenntnis der göttlichen Dinge war derart, daß seit dieser Zeit, wo die Seele ihre religiöse Form gewinnt, Ursula ein so gottesfürchtiges und tiefangelegtes Mädchen ward, daß ihr Charakter immer über den Ereignissen stand und ihr Herz jedem Mißgeschick gewachsen war. Damals geschah es auch, daß im stillen zwischen dem ungläubigen Greis und dieser glaubensstarken Jugend ein Kampf begann, der lange Zeit der, die ihn verursacht hatte, unbekannt blieb, dessen Entwicklung aber die ganze Stadt beschäftigte und auf Ursulas Zukunft soviel Einfluß gewinnen sollte, indem sie die Nebenerben des Doktors gegen Ursula aufbrachte.

Während der ersten sechs Monate des Jahres 1824 verbrachte Ursula fast jeden Vormittag im Pfarrhaus. Der alte Arzt ahnte die Absichten des Pfarrers. Der Priester wollte aus Ursula einen unbesieglichen Beweisgrund machen. Der Ungläubige, der von seinem Patenkind geliebt wurde, als wäre sie seine eigene Tochter, würde an ihre kindliche Unbefangenheit glauben, würde gewonnen werden durch die rührenden Wirkungen, die die Religion in der Seele eines Kindes hervorbrachte, dessen Liebe an jene Bäume der indischen Breiten erinnerte, die stets in Früchten und Blüten stehen, die immer grün und balsamisch sind. Ein schönes Leben ist mächtiger als der stärkste Vernunftschluß. Dem Zauber gewisser Götterbilder widersteht man nicht. Und so standen dem Doktor, ohne daß er wußte warum, die Augen in Tränen, als er die Tochter seines Herzens im weißen Florkleid, mit weißen Seidenschuhen, um den Kopf den edlen Schmuck eines Stirnbandes mit einer großen Schleife an der Seite, die vielen Locken ihres Haares auf die weißen Schultern herabwallend, das Mieder mit einer bändergeschmückten Rüsche gesäumt, die Augen in einer ersten Hoffnung erstrahlend, gehoben und glücklich zur ersten Einigung mit Gott eilend, zur Kirche gehen und sie, seit sie sich zu Gott erhoben, ihrem Pflegevater mit um so größerer Liebe zugetan sah. Als er wahrnahm, wie der Gedanke der Ewigkeit diese Seele bis in den Vorhimmel der Kindheit hinein durchtränkte, wie nach der Nacht die Sonne die Erde belebt, ging es ihm, immer ohne daß er wußte warum, nahe, daß er dann allein zu Hause blieb. Auf den Stufen seiner Freitreppe sitzend, hielt er die Augen lange auf das Gitter gerichtet, hinter dessen Stäben sein Zögling verschwunden war, nachdem sie zu ihm gesagt: »Warum kommst du nicht mit, Pate? Werd ich ohne dich wirklich glücklich sein?« Obgleich bis in die Wurzeln erschüttert, beugte sich der Stolz des Enzyklopädisten noch nicht. Doch schlug er einen Spazierweg ein, daß er den Zug der Kommunikanten sehen konnte, und sah seine Ursula, wie sie unter ihrem Schleier vor Begeisterung glühte. Sie schickte ihm einen strahlenden Blick zu, der im felsenharten Gebiet seines Herzens an die Gott verschlossene Stelle rührte. Doch der Deist hielt stand, er sagte sich: ›Gaukelei! Sich vorzustellen, daß, wenn es einen Weltenschöpfer gibt, der Ordner der Unendlichkeit sich mit solchen Nichtigkeiten abgeben sollte!‹

Er lachte und setzte seinen Spaziergang auf den Anhöhen fort, die die Landstraße des Gâtinais beherrschten, wo der laute Schall der Glocken von fern die Freude der Familien hertrug. –

Denen, die dies Spiel, eines der schwierigsten, die es gibt, nicht kennen, ist das Geräusch des Tricktrack unleidlich. Um seinen Zögling, dessen außerordentlich feinfühlige Organe und Nerven nicht ungestraft gestatteten, diese Bewegungen und Reden mit anzuhören, deren Sinn ihm unbekannt war, nicht zu belästigen, warteten der Pfarrer, der alte Jordy zu seinen Lebzeiten und der Doktor immer, bis ihr Kind schlafen oder spazierengegangen war. Doch geschah es oft, daß, wenn Ursula zurückkehrte, die Partie noch im Gange war; mit unendlichem Anstand fügte sie sich dann und setzte sich mit einer Arbeit ans Fenster. Dies Spiel widerstand ihr; seine Anfänge machen in der Tat Mühe und wollen dem Begriffsvermögen vieler nicht eingehen, sie sind so schwer zu überwinden, daß, wenn man sich nicht schon von Jugend auf an das Spiel gewöhnt, es fast unmöglich ist, es später noch zu lernen. Am Abend ihrer ersten Kommunion aber, als Ursula zu ihrem Pflegevater, der gerade allein war, zurückkehrte, stellte sie das Tricktrack vor den Greis hin.

»Also, wer gibt?« fragte sie.

»Ursula«, erwiderte der Doktor, »ist es am Tage deiner ersten Kommunion nicht eine Sünde, daß du dich über deinen Paten lustig machst?«

»Ich mache mich nicht lustig«, sagte sie, während sie sich niederließ, »ich widme mich Ihrem Vergnügen, der Sie über all das meine wachen. Da Herr Chaperon einverstanden war, hat er mich im Tricktrack unterwiesen; und er hat mir so viel Stunden gegeben, daß ich Sie wohl besiegen könnte … Sie brauchen sich meinetwegen nicht mehr Zwang anzutun. Um Sie in Ihrer Unterhaltung nicht zu beeinträchtigen, hab ich alle Schwierigkeiten überwunden, und das Geräusch gefällt mir.«

Ursula gewann. Der Pfarrer kam, überraschte die Spieler und freute sich seines Triumphes. Am nächsten Tag begab sich Minoret, der bis dahin widerstrebt hatte, sein Mündel Musik lernen zu lassen, nach Paris, kaufte ein Piano, traf in Fontainebleau mit einer Lehrerin Verabredung und unterwarf sich der Langeweile, die ihm die beständigen Übungen seines Mündels verursachen mußten. Eine der Voraussagungen des alten Jordy, der Phrenologe gewesen war, bestätigte sich: das Mädelchen wurde eine ausgezeichnete Musikerin. Stolz auf sein Patenkind, ließ der Vormund einmal in der Woche aus Paris einen alten Deutschen namens Schmücke, einen gelehrten Musikprofessor, kommen und bestritt die Ausgaben für diese Kunst, die er anfangs in einem Haushalt als gänzlich unnütz verurteilt hatte. Die Ungläubigen lieben die Musik nicht, diese durch den Katholizismus, der die Namen der sieben Noten in eine seiner Hymnen aufgenommen hat – denn jede Note ist die erste Silbe der sieben Verse des Hymnus auf den heiligen Johannes –, entwickelte Himmelssprache. Die lebhafte Einwirkung, die der Greis von der ersten Kommunion Ursulas erfuhr, war nur vorübergehend. Auch die Ruhe, die Befriedigung, mit der das Werk der Befreiung und das Gebet diese junge Seele erfüllt hatten, hatten keine Gewalt über ihn. Ohne jeden Gewissensbiß und ohne jede Reue genoß Minoret eine vollkommene Seelenruhe. Indem er seine Wohltaten ohne Hoffnung auf einen himmlischen Lohn erwies, hielt er sich für größer als den gläubigen Katholiken, dem er es immer zum Vorwurf machte, daß er mit Gott Handel treibe.

»Aber«, sagte ihm Abbé Chaperon, »würden sich alle Menschen diesem Handel widmen, so, gestehen Sie, wäre die menschliche Gesellschaft vollkommen. Es gäbe keine Unglücklichen mehr. Wenn man auf Ihre Weise wohltätig sein will, muß man ein großer Philosoph sein; Sie erheben sich zu Ihrer Lehre durch Vernunftschluß, Sie sind eine soziale Ausnahme, wogegen es genügt, Christ zu sein, um auf unsere Weise Wohltätigkeit zu üben. Bei Ihnen handelt es sich um eine Anstrengung, bei uns um Naturell.«

»Und das besagt, Pfarrer, daß ich denke und Sie empfinden, das ist alles.«

Doch mit zwölf Jahren begriff Ursula endlich, deren dem Weib eingeborenes Feingefühl und geistige Gewandtheit durch eine vortreffliche Erziehung zu voller Entwicklung gelangt waren und deren Sinn in all seiner Blüte durch den Geist der Religion, der feinsten von allen Geistesarten, erleuchtet war, daß ihr Pate weder an eine Zukunft noch an die Unsterblichkeit der Seele, noch an eine Vorsehung, noch an Gott glaubte. Von dem unschuldvollen Wesen mit Fragen bedrängt, wurde es dem Doktor unmöglich, das peinliche Geheimnis noch länger zu verbergen. Die naive Bestürzung Ursulas machte ihn anfangs lächeln; als er sie aber einige Male traurig sah, begriff er alles, was diese Traurigkeit an Neigung verkündete. Die unbedingte Zärtlichkeit scheut vor jeder Art von Mißklang zurück, selbst den ihr fremden Gedanken gegenüber. Zuweilen überließ sich der Doktor, wie den Schmeicheleien, den mit einer sanften, zarten Stimme vorgebrachten, aus dem glühendsten, reinsten Gefühl hervorgehenden Vernunftgründen seiner Pflegetochter. Allein die Gläubigen und die Ungläubigen sprechen zwei verschiedene Sprachen und können sich nicht verstehen. Wenn das Patenkind die Sache Gottes verteidigte, behandelte es seinen Paten schlecht, wie ein verzogenes Kind bisweilen seine Mutter schlecht behandelt. Der Pfarrer tadelte Ursula in sanfter Weise und sagte ihr, daß Gott sich vorbehalte, diese hochfahrenden Geister zu demütigen. Das junge Mädchen entgegnete Abbé Chaperon, daß David den Goliath erlegt habe. Dieser religiöse Zwiespalt, dieser Kummer des Kindes, das seinen Pflegevater zu Gott hinziehen wollte, war das einzige Bekümmernis dieses Heims, das sonst, den Blicken der neugierigen Kleinstadt entzogen, ein so angenehmes und vollkommenes war.

Ursula wuchs heran, entwickelte sich, wurde das bescheidene und christlich unterrichtete junge Mädchen, das Désiré, als es aus der Kirche hervortrat, bewundert hatte. Die Pflege der Blumen im Garten, die Musik, die Vergnügungen ihres Vormundes und all die kleinen Dienste, die Ursula ihm erwies, denn sie hatte die Bougival hierin abgelöst, füllten die Stunden, Tage, Monate ihres stillen Daseins aus. Trotzdem hatten den Doktor seit einem Jahr gewisse Störungen an Ursula beunruhigt; doch ihre Ursache war so vorausgesehen, daß seine Unruhe nicht über eine Überwachung ihrer Gesundheit hinausging. Dennoch glaubte dieser scharfsinnige Beobachter, dieser gründliche Praktiker zu bemerken, daß diese Störungen einen gewissen Widerhall im Moralischen hatten. Mit mütterlicher Sorgfalt beobachtete er seine Pflegebefohlene, nahm aber in ihrer Nähe niemand wahr, der würdig gewesen wäre, ihr Liebe einzuflößen, und seine Unruhe wich.

In dieser Lage der Dinge ereignete sich einen Monat vor dem Tage, mit welchem dieses Drama beginnt, im intellektuellen Leben des Doktors eins von jenen Vorkommnissen, die die Überzeugungen bis in ihren tiefsten Untergrund hinein aufwühlen und umkrempeln; doch dies Vorkommnis erfordert einen gedrängten Bericht über einige Ereignisse seiner ärztlichen Laufbahn, der dieser Erzählung im übrigen ein neues Interesse geben wird:

Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts erfuhr die Wissenschaft eine ebenso gründliche Spaltung durch die Erscheinung Mesmers wie die Kunst durch die Glucks. Nachdem er den Magnetismus entdeckt hatte, kam Mesmer nach Frankreich, wohin seit unvordenklicher Zeit die Erfinder kamen, um ihre Entdeckungen legitimieren zu lassen. Dank seiner klaren Sprache ist Frankreich in gewisser Hinsicht die Trompete der Welt.

»Wenn die Homöopathie nach Paris kommt, ist sie gerettet«, sagte erst jüngst Hahnemann.

»Gehen Sie nach Frankreich«, sagte Herr von Metternich zu Gall, »und wenn man sich dort über Ihre Gipsabdrücke lustig macht, werden Sie zu Ruhm gelangen.«

Mesmer hatte also ebenso glühende Jünger und Gegner, wie einander die Piccinisten und Gluckisten gegenüberstanden. Das gelehrte Frankreich geriet in Aufregung, es erhob sich eine erregte Erörterung. Ohne abschließendes Urteil ächtete die gesamte medizinische Fakultät den angeblichen Scharlatanismus Mesmers, seinen Apparat, seine leitenden Fäden und seine Theorien. Aber es muß gesagt werden, daß dieser Deutsche seine glänzende Entdeckung unglücklicherweise durch ungeheure pekuniäre Ansprüche in Verruf gebracht hat. Mesmer unterlag infolge der Ungewißheit der Tatsachen, seiner Unwissenheit bezüglich der Rolle, die in der Natur die damals noch nicht beobachteten unwägbaren Flüssigkeiten spielen, und weil er ungeeignet war, die Seiten einer Wissenschaft zu erforschen, die ein dreifaches Gesicht hat. Der Magnetismus hat viele Anwendungen; unter Mesmers Händen war er hinsichtlich seiner Zukunft das, was die Grundursache für die Wirkung ist. Allein wenn es dem Erfinder an Genie fehlte, ist es doch für die menschliche Vernunft und für Frankreich ein trauriges Zeichen, wenn man feststellen muß, daß eine zeitgenössische Wissenschaft, die ebenso in Ägypten wie in Chaldäa, in Griechenland wie in Indien gepflegt wurde, in Paris mitten im achtzehnten Jahrhundert das Schicksal erfuhr, das die Wahrheit in Gestalt Galileis im sechzehnten hatte, und daß der Magnetismus durch den doppelten Ansturm der in gleicher Weise alarmierten Frommen und der materialistischen Philosophen zurückgewiesen wurde. Der Magnetismus, die Lieblingswissenschaft Jesu und eine der den Aposteln verliehenen göttlichen Gewalten, zeigte sich von der Kirche nicht in einem höheren Grade berücksichtigt als von den Schulen Jean-Jacques' und Voltaires, Lockes und Condillacs. Enzyklopädie und Klerus versagten sich dieser alten menschlichen Gewalt, die so neu erschien. Die von der Kirche und, trotz den wertvollen Schriften des Rates Carré de Montgeron, von der Gleichgültigkeit der Gelehrten unterdrückten Wunder der Verzückten waren eine ernste Mahnung, Erfahrungen zu sammeln über die menschlichen Fluida, die die Möglichkeit geben, hinreichende innere Kräfte den durch äußere verursachten Schmerzen entgegenzustellen, um sie aufzuheben. Freilich hätte man mit dem Vorhandensein der nicht greifbaren, unsichtbaren, nicht wägbaren Fluida bekannt sein müssen, während die Wissenschaft von damals in diesen drei Verneinungen eine Definition der Leere erblicken wollte. In der modernen Philosophie gibt es ja keine Leere. Zehn Fuß Leere, und die Welt stürzt ein! Besonders für die Materialisten ist die Welt voll, hält sie alles, fügt alles sich aneinander, ist alles ausgesonnen. ›Die Welt‹, sagt Diderot, ›ist als Ergebnis des Zufalls erklärbarer als Gott. Die Vielheit der Ursachen und die unermeßliche Anzahl der Triebkräfte, die der Zufall voraussetzt, erklären die Schöpfung. Mögen die »Äneide« und alle ihrer Komposition angehörenden Charaktere gegeben sein, so werde ich, wenn ihr mir die Zeit und den Raum gebt, um die Buchstaben auszuwerfen, die Kombination "Äneide" erreichen.‹ Diese Unglücklichen, die eher alles vergöttern, als daß sie einen Gott zugäben, schrecken auch vor der unendlichen Teilbarkeit der Materie nicht zurück, die die Natur der unwägbaren Kräfte zuläßt. Locke und Condillac haben damals den gewaltigen Fortschritt, den gegenwärtig die Naturwissenschaften unter dem Einheitsgedanken machen, den wir dem großen Geoffroy Saint-Hilaire verdanken, um fünfzig Jahre verzögert. Einige aufrechte Leute, ohne System, doch überzeugt durch gewissenhaft studierte Tatsachen, beharrten bei der Lehre Mesmers, die im Menschen das Vorhandensein eines durchdringenden, von Mensch zu Mensch herrschenden, durch den Willen ins Werk gesetzten, durch den Reichtum des Fluidums heilkräftigen Einflusses erkannten, dessen Spiel ein Zweikampf zwischen zwei Willen ist: zwischen einem Übel, das geheilt werden soll, und einem Heilwillen. Die Erscheinungen des Somnambulismus, die von Mesmer noch kaum geahnt waren, dankte man den Herren de Puységur und Deleuze; doch die Revolution brachte diese Entdeckungen zum Stillstand, was den Prozeß zugunsten der Gelehrten und der Spötter entschied. Unter der kleinen Anzahl der Gläubigen befanden sich auch Ärzte. Diese Andersdenkenden wurden von ihren Kollegen bis zu ihrem Tode verfolgt. Der respektable Teil der Pariser Ärzte entwickelte gegen die Mesmeristen die Strenge der Religionskriege und war in seinem Haß gegen sie so grausam, als man es in diesen Zeiten voltairescher Duldsamkeit nur sein konnte. Die orthodoxen Doktoren weigerten sich, gemeinsam mit Doktoren zu beraten, die zur mesmeristischen Ketzerei hielten. Noch 1820 waren diese sogenannten ›Ketzerhäupter‹ der Gegenstand einer solchen unerbittlichen Ächtung. Die Unglücksfälle, die Stürme der Revolution brachten diesen wissenschaftlichen Haß nicht zum Erlöschen. Nur Priester, obrigkeitliche Personen und Ärzte können so hassen. Das Amtskleid ist immer fürchterlich. Aber sind nicht auch die Ideen viel unversöhnlicher als die Dinge? Der Minoret befreundete Doktor Bouvard stand zu dem neuen Glauben und blieb bis zu seinem Tode bei dieser Wissenschaft, welcher er die Ruhe seines Lebens geopfert hatte, denn er war einer der ›Finsterlinge‹ der Pariser Fakultät. Minoret, eine der streitbarsten Stützen der Enzyklopädisten, der gefürchtetste Gegner von Deslon, der Erlediger Mesmers, dessen Feder in diesem Streitfall ein ungeheures Gewicht besaß, überwarf sich mit seinem Kameraden unversöhnlich; doch er tat mehr, er verfolgte ihn. Sein Verhalten gegen Bouvard mußte ihm die einzige Reue erregen, die die heitere Ruhe seines Lebensabends trüben konnte. Seit Doktor Minoret sich nach Nemours zurückgezogen hatte, machte die Wissenschaft von den unwägbaren Flüssigkeiten – die einzige Bezeichnung, die für den dem Wesen seiner Erscheinungen nach so eng mit dem Licht und der Elektrizität zusammenhängenden Magnetismus zutrifft – trotz den beständigen Spöttereien der Pariser Wissenschaft gewaltige Fortschritte. Die Phrenologie und die Physiognomik, die Wissenschaft von Gall und die von Lavater, die Zwillinge sind, von welchen der eine für den anderen das ist, was die Ursache für die Wirkung, stellten mehr als einem Physiologen die Spuren des ungreifbaren Fluidums, der Grundlage der Erscheinungen des menschlichen Willens, aus welcher die Leidenschaften entspringen, die Gewohnheiten, die Formen des Gesichtes und die des Schädels, vor Augen. Schließlich häuften sich die magnetischen Tatsachen, die Wunder des Somnambulismus, die der Ahnungen und der Ekstasen, die das Eindringen in die geistige Welt gestatten. Die seltsame Geschichte von den so gut bestätigten Visionen des Landwirtes Martin und die Zusammenkunft dieses Bauern mit Ludwig XVIII., die Kenntnis von den Beziehungen Swedenborgs zu den Verstorbenen, die in Deutschland so ernstlich festen Fuß gefaßt hatte, die Berichte Walter Scotts über die Wirkungen des ›Zweiten Gesichtes‹, die Ausübungen der erstaunlichen Fähigkeiten gewisser Wahrsager, welche die Handleserei, Kartenlegerei und das Horoskopstellen in einer Wissenschaft vereinigen, die Tatsachen der Katalepsie und die der Anwendung der Eigenschaften des Diaphragma bei gewissen krankhaften Zuständen: diese mindestens merkwürdigen Erscheinungen, alle der gleichen Quelle entstammend, untergruben manchen Zweifel, leiteten die Gleichgültigsten zum Gebiet der Versuche hin. Minoret wußte nichts von dieser geistigen Bewegung, die im Norden Europas eine so starke, in Frankreich noch eine so schwache war, wo doch nichtsdestoweniger wenn auch nur oberflächliche Beobachtungen zu Tatsachen führten, die geeignet waren, Staunen zu erregen, und die, wie Steine auf den Grund des Meeres, in die Wirbel der Pariser Ereignisse hineinfielen.

Anfang dieses Jahres wurde die Ruhe des Antimesmeristen durch folgenden Brief gestört:

›Lieber alter Kamerad!

Alle, selbst verlorengegangene Freundschaft hat Rechte, die schwer verjähren. Ich weiß, daß Sie noch leben, und ich erinnere mich weniger unserer Freundschaft als unserer guten Tage in der kleinen Wohnung von Saint-Julien-le-Pauvre. In dem Augenblick, wo ich im Begriff bin, aus dieser Welt zu scheiden, habe ich vor, Ihnen zu beweisen, daß der Magnetismus im Begriff steht, eine der wichtigsten Wissenschaften zu begründen, wenn die Wissenschaft nicht überhaupt eine einzige sein sollte. Ich bin in der Lage, Ihre Ungläubigkeit durch tatsächliche Beweise niederzuschmettern. Vielleicht verdanke ich Ihrer Neugier die Freude, Ihnen noch einmal die Hand zu drücken, wie wir sie uns vor Mesmer drückten.

Immer der Ihrige
Bouvard.‹

Gestochen wie ein Löwe von einer Bremse, stürmte der Antimesmerist nach Paris und schickte seine Karte dem alten Bouvard, der Rue Férou wohnte, unweit Saint-Sulpicien. Bouvard schickte ihm eine Karte in sein Hotel, auf welcher er schrieb: ›Morgen, neun Uhr, Rue Saint-Honoré, gegenüber der Assomption.‹ Der noch einmal jung gewordene Minoret schlief nicht. Er machte sich auf und besuchte die alten Ärzte seiner Bekanntschaft und fragte sie, ob die Welt eingestürzt wäre, ob die Medizin noch eine Schule hätte, ob die vier Fakultäten noch lebten. Die Ärzte beruhigten ihn und sagten, daß der alte Geist des Widerstandes noch lebe; nur daß, anstatt noch zu verfolgen, die medizinische Akademie und die der Wissenschaften ihre Heiterkeit bekundeten, indem sie die magnetischen Tatsachen unter die Überraschungen von Comus, Comte, Bosco einordneten, das Gebiet der Jongliererei, der Taschenspielerei und das, was man die amüsante Physik nennt. Diese Gespräche hinderten den alten Minoret nicht, sich zu dem Stelldichein zu begeben, zu dem ihn der alte Bouvard geladen. Nach vierundvierzigjähriger Feindschaft sahen sich die beiden Gegner unter einem Torweg der Rue Saint-Honoré wieder. Die Franzosen sind beständig viel zu zerstreut, als daß sie einander lange hassen könnten. In Paris besonders erstrecken sich die Tatsachen über einen viel zu großen Raum und gestalten in der Politik, in der Literatur und der Wissenschaft das Leben viel zu vielseitig, als daß die Menschen nicht Gebiete entdeckten, wo ihre Ansprüche bequem zur Herrschaft gelangen könnten. Der Haß erfordert so viel gerüstete Kraft, daß man, will man auf lange hinaus hassen, sich an mehrere hält. Nur die Körper haben hier Gedächtnis. Nach vierundvierzig Jahren würden Robespierre und Danton sich umarmen. Doch hielt jeder der beiden Doktoren die Hand zurück, anstatt sie darzubieten. Als der erste sagte Bouvard zu Minoret:

»Dein Aussehen ist prächtig.«

»Ja, nicht schlecht; und wie geht's dir?« antwortete Minoret, als das Eis gebrochen war.

»Mir? Wie du siehst.«

»Der Magnetismus hindert dich am Sterben?« fragte Minoret scherzend, doch ohne Bitterkeit.

»Nein, aber fast hat er mich am Leben verhindert.«

»Du bist also nicht reich?« warf Minoret hin.

»Bah!« sagte Bouvard.

»Nun gut, ich bin reich«, antwortete Minoret.

»Es ist nicht dein Vermögen, deine Überzeugung ist's, auf die ich ziele«, entgegnete Bouvard.

»O der Eigensinn!« rief Minoret.

Der Mesmerist zog den Ungläubigen zu einer recht dunklen Treppe hin und ließ ihn mit Vorsicht bis zum vierten Stockwerk emporsteigen. Damals ließ sich in Paris gerade ein außerordentlicher, mit dem Vertrauen auf eine unberechenbare Macht begabter Mann sehen, der über die magnetischen Kräfte all ihren Anwendungsarten nach verfügte. Dieser große Unbekannte, der noch lebt, heilte aus sich selbst und aus der Entfernung nicht nur die furchtbarsten, tiefsteingewurzelten Krankheiten sofort und von Grund aus wie voreinst der Heiland der Menschen, sondern er brachte auch unmittelbar die merkwürdigsten Erscheinungen des Somnambulismus hervor, indem er die widerstrebendsten Willen zähmte. Das Gesichtsgepräge dieses Unbekannten, der aussagt, daß er nur Gott offenbaren wolle und, gleich Swedenborg, mit den Engeln verkehre, ist das des Löwen; eine konzentrierte, unwiderstehliche Willenskraft bringt sich in ihm zum Ausdruck. Der eigentümliche Bug seiner Züge gewährt einen furchtbaren, überwältigenden Anblick; seine aus der Tiefe des Seins hervordringende Stimme ist wie mit einem magnetischen Fluidum geladen, sie dringt dem Hörer durch alle Poren ein. Nach Tausenden von Heilungen über die Undankbarkeit der Öffentlichkeit verstimmt, hat er sich in eine unzugängliche Einsamkeit zurückgezogen, in eine freiwillige Niedrigkeit. Seine allmächtige Hand, die sterbende Töchter ihren Müttern wiedergeschenkt hat, Väter ihren trauernden Kindern, angebetete Geliebte ihren liebestrunkenen Verehrern; die von den Ärzten aufgegebene Kranke geheilt hat, die in den Synagogen Hymnen singen machte und in den Tempeln und Kirchen von den Priestern der verschiedensten Kulte, welche alle durch das gleiche Wunder dem gleichen Gott wieder zugeführt wurden; die jenen Sterbenden, die nicht mehr dem Leben zurückgewonnen werden konnten, den Todeskampf erleichterte: diese gewaltige Hand, blendende Lebenssonne für die geschlossenen Augen der Somnambulen, würde sich nicht heben, um einer Königin ihren Thron wiederzugeben. In die Erinnerungen seiner Wohltaten eingehüllt wie in ein lichtes Grabtuch, entzieht er sich der Welt und lebt im Himmel. Doch im Morgenglanz seines Reiches gestattete dieser Mann, von seiner eigenen Macht schier überrascht, einigen Wißbegierigen, Zeuge seiner Wundertaten zu sein. Der Ruf dieses Ruhmes, der gewaltig war und morgen sich von neuem wieder erheben kann, weckte den Doktor Bouvard am Rand des Grabes. Endlich durfte der verfolgte Mesmerist die glänzendsten Phänomene dieser Wissenschaft erblicken, die er in seinem Herzen gleich einem Schatz bewahrt hatte. Das Unglück des Greises hatte den großen Unbekannten gerührt, der ihm einige Vorrechte zuteil werden ließ. Und so ließ Bouvard, während sie die Treppen hinaufstiegen, die Scherze seines alten Gegners mit einer schalkhaften Freude über sich ergehen. Er antwortete nur mit einem: »Du wirst sehen, du wirst sehen!« und mit jenem Kopfschütteln, das sich die Leute gestatten, die ihrer Sache sicher sind.

Die beiden Doktoren traten in eine mehr als bescheidene Wohnung ein. Bouvard begab sich, um dort Rücksprache zu nehmen, für einen Augenblick in ein an den Salon grenzendes Schlafgemach; Minoret, dessen Mißtrauen sich regte, wartete, doch kehrte Bouvard gleich zurück, nahm ihn und führte ihn in dies Gemach, wo sich der geheimnisvolle Swedenborgianer und ein Weib befanden, das in einem Sessel saß. Dieses Weib erhob sich nicht und schien das Eintreten der Greise nicht zu bemerken.

»Wie? Kein Apparat?« rief Minoret und lächelte.

»Nichts als die Macht Gottes«, antwortete ernst der Swedenborgianer, den Minoret auf fünfzig Jahre schätzte.

Die drei Männer ließen sich nieder, und der Unbekannte begann zu plaudern. Zum großen Erstaunen des alten Minoret, der glaubte, man halte ihn zum Narren, wurde von Regen und schön Wetter gesprochen. Der Swedenborgianer befragte den Besuch über seine wissenschaftlichen Ansichten und schien offenbar die Gelegenheit wahrzunehmen, ihn zu prüfen.

»Sie kommen aus bloßer Neugierde, mein Herr«, sagte er schließlich. »Ich habe nicht die Gewohnheit, eine Macht bloßzustellen, die meiner Überzeugung nach von Gott ausgeht; würde ich einen frevlerischen oder schlechten Gebrauch von ihr machen, so könnte sie mir entzogen werden. Doch wie mir Herr Bouvard sagt, handelt es sich darum, eine der unseren entgegengesetzte Überzeugung zu ändern und einen Gelehrten, der in gutem Glauben handelt, aufzuklären; und so will ich Sie befriedigen. Die Frau, die Sie hier sehen«, sagte er und wies auf die Unbekannte, »befindet sich in somnambulem Schlaf. Nach den Geständnissen und Offenbarungen aller Somnambulen besteht dieser Zustand in einem köstlichen Erleben, in welchem das innere Sein, von allen Fesseln losgelöst, mit denen die sichtbare Natur ihre Fähigkeiten behindert, in der Welt sich ergeht, die wir mit Unrecht unsichtbar nennen. Gesicht und Gehör betätigen sich dann in einer vollkommeneren Weise als in dem sogenannten ›wachen‹ Zustand und vielleicht ohne die Beihilfe der Organe, welche die Hülle dieser Flammenschwerter sind, die wir Gesicht und Gehör nennen. Für einen in diesen Zustand versetzten Menschen bestehen nicht mehr die materiellen Hemmnisse, oder sie sind von einem in uns befindlichen Leben durchdrungen, für das unser Körper ein Behälter, ein notwendiger Stützpunkt, eine Umhüllung ist. Für so neu entdeckte Wirkungen fehlen noch die Begriffe; denn heute haben die Worte ›unwägbar‹, ›unberührbar‹, ›unsichtbar‹ keinen Sinn bezüglich des Fluidums, dessen Tätigkeit sich durch den Magnetismus bezeichnet. Das Licht ist wägbar vermöge seiner Wärme, die, indem sie in die Körper eindringt, ihr Volumen vermehrt, und zweifellos ist die Elektrizität nur zu berührbar. Wir haben die Dinge verurteilt, anstatt die Unvollkommenheit unserer Werkzeuge anzuklagen.«

»Sie schläft?« fragte Minoret, indem er das Weib prüfend ansah, das den unteren Ständen anzugehören schien.

»Ihr Körper ist in gewissem Betracht aufgehoben«, antwortete der Swedenborgianer. »Die Unwissenden nehmen diesen Zustand für Schlaf. Doch sie wird Ihnen beweisen, daß ein geistiges All besteht und daß der Geist in ihm die Gesetze des materiellen Alls nicht mehr kennt. Ich werde sie in die Gegend schicken, wohin Sie wünschen, daß sie sich begibt; nach zwanzig Meilen von hier oder nach China, einerlei: sie wird Ihnen sagen, was dort geschieht.«

»Sie brauchen sie bloß zu mir nach Hause, nach Nemours zu schicken«, sagte Minoret.

»So soll's geschehen«, antwortete der geheimnisvolle Mann. »Geben Sie mir Ihre Hand; Sie werden zugleich Handelnder und Zuschauer, Wirkung und Ursache sein.«

Er ergriff Minorets Hand, die dieser ihm überließ; er hielt sie einen Augenblick, während er sich zu sammeln schien, und mit seiner andern Hand ergriff er die des im Sessel sitzenden Weibes; dann legte er die des Doktors in die des Weibes, indem er dem alten Zweifler ein Zeichen gab, er solle sich an die Seite dieser Pythia ohne Dreifuß setzen. Minoret nahm, als der Swedenborgianer sie in Verbindung miteinander gebracht, in den außerordentlich ruhigen Zügen des Weibes ein leichtes Erzittern wahr; doch eignete dieser, obwohl in ihrer Wirkung wunderbaren Bewegung eine große Einfachheit.

»Gehorchen Sie dem Herrn«, sagte er zu der Person, indem er dem Weibe, das von ihm Licht und Leben zu atmen schien, die Hand über dem Kopf ausstreckte, »und denken Sie, daß alles, was Sie für ihn tun, mir gefallen wird.«

»Sie können jetzt zu ihr sprechen«, wandte er sich an Minoret.

»Gehen Sie nach Nemours, Rue des Bourgeois, zu mir«, sagte der Doktor.

»Lassen Sie ihr Zeit; lassen Sie Ihre Hand in der ihren, bis sie Ihnen durch das, was sie Ihnen sagen wird, beweist, daß sie angelangt ist«, sagte Bouvard zu seinem alten Freund.

»Ich sehe einen Fluß«, antwortete das Weib mit schwacher Stimme und schien, trotz ihren gesenkten Lidern, mit tiefer Anspannung in sich hineinzublicken. »Ich sehe einen hübschen Garten.«

»Warum treten Sie vom Fluß und vom Garten her ein?«

»Weil sie dort sind.«

»Wer?«

»Die junge Person und die Amme, an die Sie denken.«

»Wie ist der Garten?« forschte Minoret.

»Wenn man über die kleine Treppe, die zum Fluß herunterführt, eintritt, so hat man zur Rechten eine lange Galerie aus Backstein, in der ich Ihre Bücher sehe und die in einem kleinen, mit Holzglöckchen und roten Eiern verzierten Haus endet. Zur Linken ist die Hauswand, die mit einer Masse von Schlingpflanzen, wildem Wein und Jasmin bedeckt ist. In der Mitte befindet sich eine kleine Sonnenuhr. Viele Blumentöpfe sind da. Ihr Mündel besieht die Blumen, sie zeigt sie ihrer Amme; sie macht mit einem Pflanzstock Löcher und tut Körner hinein … Die Amme harkt die Wege … Obgleich das junge Mädchen rein wie ein Engel ist, zeigt sich bei ihr der erste Anfang der Liebe, leise wie eine Morgendämmerung.«

»Für wen?« fragte der Doktor, der bis jetzt nichts vernommen hatte, was ihm die Person nicht hätte sagen können, ohne Somnambule zu sein. Noch immer glaubte er an Taschenspielerei.

»Sie wissen nichts davon, obgleich Sie erst kürzlich sehr beunruhigt waren, weil sie Weib geworden ist«, sagte sie lächelnd. »Die Regung ihres Herzens ist der der Natur gefolgt …«

»Und das ist eine Frau aus dem Volk, die so spricht?« sagte der alte Doktor.

»In diesem Zustand drücken sich alle mit einer eigentümlichen Klarheit aus«, antwortete Bouvard.

»Aber wen liebt Ursula?«

»Ursula weiß nicht, daß sie liebt«, antwortete das Weib unter einer leichten Kopfbewegung. »Sie ist viel zu engelhaft, als daß sie die Sehnsucht kennte oder was sonst Liebe ist; aber sie beschäftigt sich mit ihm, denkt an ihn, sie wehrt sich sogar dagegen, kommt aber gegen ihren Willen immer wieder auf ihn zurück … Sie ist am Piano …«

»Aber wer ist es?«

»Der Sohn einer Dame, die gegenüber wohnt.«

»Frau von Portenduère?«

»Portenduère sagen Sie?« versetzte die Somnambule. »Meinetwegen. Aber es hat keine Gefahr, er ist nicht zu Hause.«

»Haben sie miteinander gesprochen?« fragte der Doktor.

»Nie. Sie haben einer den anderen gesehen. Sie findet ihn bezaubernd. Er ist tatsächlich ein hübscher Mensch, hat ein gutes Herz. Er hat sie vom Fenster aus gesehen, auch in der Kirche haben sie sich gesehen; aber der junge Mensch denkt nicht mehr daran.«

»Sein Name?«

»Ah, um es Ihnen zu sagen: ich muß ihn lesen oder hören … Er heißt Savinien, sie hat eben seinen Namen ausgesprochen; sie hat im Almanach schon nach seinem Geburtstag gesehen, sie hat ein rotes Pünktchen an die Stelle gesetzt … Kindereien! Oh, sie wird sehr lieben, doch so rein wie stark; sie ist nicht ein Mädchen, das zweimal liebt, und die Liebe wird ihre Seele so berühren und durchdringen, daß jede andere Empfindung zurücktreten wird.«

»Wo sehen Sie das?«

»In ihr. Sie wird zu leiden wissen; es ist ererbt, denn ihr Vater und ihre Mutter haben viel gelitten!«

Dies letzte Wort versetzte den Doktor in Bestürzung, doch war er weniger erschüttert als überrascht. Es ist nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, daß nach jedem Satz, den das Weib sprach, zehn bis fünfzehn Minuten vergingen, unter denen ihre Aufmerksamkeit sich mehr und mehr anspannte. Man sah sie sehen! Ihre Stirn bot einen eigentümlichen Wechsel: es zeichneten sich auf ihr innere Anstrengungen, sie hellte sich auf oder zog sich zusammen von einer Macht, deren Wirkungen von Minoret nur an Sterbenden wahrgenommen worden waren in Augenblicken, wo ihnen die Gabe der Weissagung verliehen ist. Sie hatte mehrere Male Gesten, die denen Ursulas glichen.

»Oh, forschen Sie sie aus«, wandte sich die geheimnisvolle Persönlichkeit an Minoret, »sie wird Ihnen Geheimnisse sagen, die nur Sie wissen können.«

»Liebt mich Ursula?« fragte Minoret.

»Fast so wie Gott«, sagte sie unter einem Lächeln. »Auch ist sie sehr unglücklich über Ihre Ungläubigkeit. Sie glauben nicht an Gott, als ob Sie etwas dagegen machen könnten, daß er ist! Sein Wort erfüllt die Welt! … Sie sind also die Ursache der einzigen Leiden des armen Kindes … Halt! sie übt Tonleitern; sie möchte eine noch immer bessere Musikerin sein, als sie's ist; sie ärgert sich darüber. Sie denkt folgendes: ›Wenn ich gut sänge, wenn ich eine schöne Stimme hätte, dann würde meine Stimme, wenn er bei seiner Mutter ist, bis zu ihm hinüberdringen.‹«

Der Doktor zog sein Notizheft und notierte sich genau die Stunde.

»Können Sie mir sagen, was sie für Körner gesät hat?«

»Reseda, wohlriechende Erbsen, Balsaminen …«

»Zuletzt?«

»Rittersporn.«

»Wo befindet sich mein Geld?«

»Bei ihrem Notar; aber Sie legen es in einer Weise an, daß Ihnen der Zins keines Tages verlorengeht.«

»Ja, aber wo befindet sich das Geld, das ich in Nemours zur Bestreitung meines Lebensunterhaltes während eines Halbjahrs brauche?«

»Sie tun es in ein großes, rot gebundenes Buch, das sich ›Pandekten des Justinian‹ betitelt, Band zwei, zwischen die zwei vorletzten Seiten; das Buch befindet sich über dem Glasbüfett, es ist ein Folioband. Sie haben eine ganze Reihe davon. Ihr Geldbestand befindet sich im letzten Band, gegen den Salon hin. Halt! der dritte Band steht vor dem zweiten. Aber Sie haben kein Bargeld, es sind …«

»Tausendfrankenscheine?« fragte der Doktor.

»Ich seh es nicht genau, sie sind zusammengefaltet. Nein, es sind zwei Scheine, jeder zu fünfhundert Franken.«

»Sie sehen sie?«

»Ja.«

»Wie sehen sie aus?«

»Einer ist sehr gelb und alt, der andere ist weiß und fast neu …«

Dieser letzte Teil des Verhöres schmetterte Doktor Minoret nieder. Er sah Bouvard mit stumpfer Miene an; doch Bouvard und der Swedenborgianer plauderten, mit dem Erstaunen der Zweifler vertraut, leise miteinander, ohne überrascht und erstaunt zu erscheinen.

Minoret bat sie, ihm zu gestatten, nach dem Mittagessen wiederkommen zu dürfen. Der Antimesmerist wollte sich sammeln, sich von seinem tiefen Schreck erholen, um von neuem diese gewaltige Macht zu prüfen, sie einer entscheidenden Probe zu unterziehen, Fragen zu stellen, deren Lösung auch den letzten Zweifel hinfällig machen sollte.

»Seien Sie heute abend um neun Uhr hier«, sagte der Unbekannte. »Ich werde für Sie dasein.«

Doktor Minoret befand sich in einem so gewaltig erregten Zustand, daß er ging, ohne zu grüßen, während Bouvard, der ihm folgte, ihm nachrief: »Nun, nun?«

»Ich glaube, ich bin verrückt, Bouvard«, antwortete Minoret, als sie wieder den Torweg durchschritten. »Wenn das Weib von Ursula die Wahrheit gesagt hat, da doch niemand auf der Welt als Ursula das weiß, was mir diese Zauberin enthüllt hat, so sollst du recht behalten. Ich wünschte mir Flügel, um nach Nemours zu eilen und ihre Aussagen sich bewahrheiten zu lassen. Aber ich werde einen Wagen nehmen und heut abend um zehn Uhr abreisen. Ah, mir steht der Verstand still!«

»Was würdest du erst sagen, wenn du einen dir seit langen Jahren bekannten unheilbaren Kranken in fünf Sekunden geheilt sähest; wenn du sähest, wie dieser große Magnetiseur einen Flechtenkranken Bäche schwitzen macht; wenn du sähest, wie er ein gliederlahmes Modedämchen laufen macht?«

»Essen wir zusammen, Bouvard, und bleiben wir bis neun Uhr beieinander. Ich will zu einer entscheidenden, unverwerflichen Erfahrung gelangen.«

»Gut, lieber alter Kamerad«, antwortete der mesmeristische Doktor.

Die beiden wiederversöhnten Feinde begaben sich nach dem Palais-Royal, um dort zu speisen. Nach einer angeregten Unterhaltung, durch die sich Minoret über das Gedankenfieber, das ihm zusetzte, hinwegbrachte, sagte ihm Bouvard:

»Wenn du in diesem Weibe die Fähigkeit anerkennst, den Raum nichtig zu machen oder zu überschreiten, wenn du die Gewißheit gewinnst, daß sie durch diese Eigenschaft das hört und sieht, was in Nemours gesprochen und getan wird, so mußt du auch alle anderen magnetischen Wirkungen zugeben; sie sind für einen Zweifler genauso unbegreiflich wie die letzteren. Frage sie doch um einen einzigen Beweis, der dir Genüge tut, denn du könntest glauben, daß wir uns im voraus mit all diesen Aufschlüssen versorgt hätten; doch wir können zum Beispiel nicht wissen, was sich um neun Uhr in deinem Hause ereignet, im Gemach deines Mündels: Behalt im Gedächtnis oder schreib dir auf, was die Somnambule sehen oder hören wird, und eile dann nach Hause. Diese kleine Ursula, die ich nicht kenne, ist nicht unser Komplice; und wenn sie das, was du dir aufschreiben wirst, gesagt oder getan hat, so senke dein Haupt, stolzer Sugambrer!«

Die beiden Freunde kehrten in das Gemach zurück und fanden dort die Somnambule, welche den Doktor Minoret nicht wiedererkannte. Unter der Hand, die der Swedenborgianer aus der Entfernung über sie ausstreckte, schlossen sich leise ihre Lider, und sie nahm wieder die Haltung an, in der Minoret sie vor dem Essen gesehen hatte. Als die Hand des Weibes und die des Doktors zusammengelegt waren, bat er sie, ihm alles zu sagen, was in diesem Augenblick im Hause vorginge.

»Was macht Ursula?« fragte er.

»Sie hat sich ausgezogen, hat eben ihre Haarwickel angelegt, sie kniet nieder und spricht ihr Gebet; vor einem Kruzifix aus Elfenbein, das über einem Gemälde in rotem Sammet angebracht ist.«

»Was sagt sie?«

»Sie spricht ihr Abendgebet, befiehlt sich Gott, bittet ihn, aus ihrer Seele die schlechten Gedanken zu entfernen; sie prüft ihr Gewissen und ruft sich in die Erinnerung zurück, was sie den Tag über getan hat, um zu wissen, ob sie gegen seine Gebote oder die der Kirche gefehlt hat. Endlich reinigt sie ihre Seele, das liebe, arme, kleine Wesen!« (Die Augen der Somnambulen feuchteten sich.) »Sie hat keine Sünde begangen, doch macht sie sich Vorwürfe, daß sie zuviel an Herrn Savinien gedacht hat«, fuhr sie fort. »Sie unterbricht sich, um sich zu fragen, was er in Paris tut, und bittet Gott, ihn glücklich werden zu lassen. Sie endet mit Ihnen und spricht mit lauter Stimme ein Gebet.«

»Können Sie es wiederholen?«

»Ja.«

Minoret ergriff seinen Bleistift und schrieb unter dem Diktat der Somnambulen folgendes Gebet, das offenbar von Abbé Chaperon aufgesetzt worden war:

»›Mein Gott, wenn Du zufrieden bist mit Deiner Dienerin, die zu Dir betet und mit ebensoviel Liebe wie Inbrunst ihre Bitte an Dich richtet, die versucht, nicht abzuweichen von Deinen heiligen Geboten, die zum Preis Deines Namens wie Dein Sohn mit Freuden sterben würde, die in Deinem Schatten leben möchte: o Du, der in den Herzen liest, erweise mir die Gnade und öffne die Augen meines Paten, leite ihn auf den Weg des Heils und lasse ihn Deiner Gnade teilhaftig werden, daß er seine letzten Tage in Dir lebt! Behüte ihn vor allem Übel und laß mich leiden an seiner Statt! Gute, heilige Ursula, meine teure Schutzpatronin, und Du, heilige Mutter Gottes, Königin des Himmels, Erzengel und Heilige des Paradieses, hört mich, vereinigt eure Fürbitten mit den meinigen und erbarmt euch unsrer.‹«

Die Somnambule ahmte die reinen Gesten und frommen Eingebungen des Kindes so vollendet nach, daß Doktor Minorets Augen voll Tränen standen.

»Sagt sie noch etwas?« fragte Minoret.

»Ja.«

»Wiederholen Sie es.«

»›Der liebe Pate! mit wem wird er in Paris sein Tricktrack spielen?‹ … Sie bläst ihre Kerze aus, sie senkt den Kopf und schläft ein. Sie ist fort! Sie ist so reizend in ihrem Nachthäubchen.«

Minoret grüßte den großen Unbekannten, drückte Bouvard die Hand, stieg eiligst hinab, rannte zu einer Haltestelle von Privatkabrioletts, die damals unter dem Tor eines seitdem, um Raum für den Platz bei der Rue d'Alger zu gewinnen, niedergerissenen Hotels bestand; er fand hier einen Kutscher und fragte ihn, ob er ihn sofort nach Fontainebleau fahren wolle. Sobald der Preis angegeben und das Geld entgegengenommen war, machte sich der wieder jung gewordene Greis auf. Wie vereinbart, ließ er das Pferd in Essonne ruhen, erreichte die Eilpost nach Nemours, fand hier einen Platz und verabschiedete seinen Kutscher. Gegen fünf Uhr morgens zu Hause angelangt, legte er sich in den Ruinen all seiner bisherigen Anschauungen über die Physiologie, die Natur, die Metaphysik schlafen und schlief bis neun Uhr, so ermüdet war er von der stürmischen Rückfahrt.

Nachdem er erwacht war, schritt der Doktor, dessen sicher, daß seit seiner Rückkunft niemand die Schwelle seines Hauses überschritten hatte, nicht ohne eine unbezwingliche Bangigkeit der Bestätigung entgegen. Er selber wußte nichts von dem Unterschied zwischen den beiden Geldscheinen und der Umstellung der beiden Pandektenbände. Die Somnambule hatte recht gesehen. Er klingelte die Bougival herbei.

»Sagen Sie Ursula, sie solle zu mir kommen, ich habe mit ihr zu reden«, sagte er, indem er sich mitten im Bibliothekszimmer niederließ.

Das Kind kam, es lief auf ihn zu, umarmte ihn; der Doktor nahm sie auf die Knie, wo sie saß und ihre schönen blonden Locken mit dem weißen Haar ihres alten Freundes vereinte.

»Sie haben etwas, lieber Pate?«

»Ja, aber versprich mir bei deinem Seelenheil, frei und ohne Ausflucht auf meine Fragen zu antworten.«

Ursula errötete bis in die Stirn hinein.

»Oh, ich werde dich nichts fragen, was du mir nicht sagen könntest«, fuhr er fort, als er die Scham der ersten Liebe die bis daher kindliche Reinheit dieser schönen Augen trüben sah.

»Sprechen Sie, lieber Pate.«

»Mit welchen Gedanken hast du gestern dein Abendgebet geschlossen, und um wieviel Uhr hast du's gebetet?«

»Es war neun und ein viertel, neun und ein halb.«

»Gut, wiederhole mir dein letztes Gebet.«

Das junge Mädchen hoffte, daß ihre Stimme dem Zweifler ihren Glauben mitteilen werde; sie verließ ihren Platz, ließ sich auf die Knie nieder, faltete mit Inbrunst die Hände, ein leuchtender Schimmer verklärte ihr Gesicht, sie sah den Greis an und sagte:

»Das, was ich gestern zu Gott betete, hab ich auch diesen Morgen gebetet, und ich werde es so lange beten, bis er mich erhört hat.«

Dann wiederholte sie ihr Gebet mit einem neuen, mächtigen Ausdruck; doch zu ihrem großen Erstaunen unterbrach sie ihr Pate.

»Gut, Ursula«, sagte der Doktor, während er sein Patenkind wieder auf die Knie nahm. »Als du, den Kopf auf dem Kopfkissen, einschliefst, hast du da nicht zu dir selbst gesagt: ›Der liebe Pate! mit wem wird er in Paris Tricktrack spielen‹?«

Als ob ihr die Posaune des Jüngsten Gerichtes in die Ohren schmettere, erhob sich Ursula; sie stieß einen Schreckensruf hervor, ihre Augen weiteten sich, sie starrte den Greis mit einem entsetzten Blick an.

»Wer sind Sie, lieber Pate? Woher nehmen Sie eine solche Macht?« fragte sie, denn sie bildete sich ein, daß er, da er ja nicht an Gott glaubte, mit dem Engel der Finsternis ein Bündnis geschlossen haben müßte.

»Was hast du gestern im Garten gesät?«

»Reseda, wohlriechende Erbsen, Balsaminen.«

»Und zuletzt Rittersporn?«

Sie sank auf die Knie.

»Erschrecken Sie mich nicht, lieber Pate: aber Sie sind hier, nicht wahr?«

»Bin ich nicht immer bei dir?« antwortete der Doktor scherzenderweise und unter Rücksichtnahme auf das seelische Gleichgewicht des jungen Mädchens. »Komm, wir wollen in deine Kammer hinaufgehen.«

Er gab ihr den Arm und stieg die Treppe hinauf.

»Ihre Beine zittern, lieber Freund«, sagte sie.

»Ja, ich bin wie vom Blitz getroffen.«

»Glauben Sie endlich an Gott?« rief sie mit naiver Freude, Tränen in den Augen.

Der Greis betrachtete das so schlichte und so reizende Gemach, das er für Ursula eingerichtet hatte. Auf dem Fußboden war ein billiger grüner Teppich, den sie tadellos sauber hielt; an den Wänden eine grau-flachsfarbene Tapete mit Rosen in ihren grünen Blättern drauf; an den Fenstern, die auf den Hof hinaussahen, weiße Leinenvorhänge mit einem rosafarbenen Band; zwischen den beiden Fenstern, unter einem hohen, langen Spiegel eine vergoldete Holzkonsole mit einer Marmorplatte, auf der eine blaue Sèvresvase stand mit einem Blumenstrauß drin; und dem Kamin gegenüber eine kleine Kommode mit einer reizenden eingelegten Arbeit, und darauf Marmor, sogenannter Aleppobruch. Das Bett, in dunkelblauem Tuch und mit Vorhängen aus gleichem Stoff mit rosafarbenem Besatz, war eins von jenen À-la-Duchesse-Betten, wie sie im achtzehnten Jahrhundert so gebräuchlich waren und das über den vier ausgekehlten kleinen Säulen an den vier Ecken mit einem Federbüschel verziert war. Eine alte Uhr, eine Art von Monument mit einem Gehäuse, das mit Elfenbeinarabesken ausgelegt war, schmückte den Kamin, dessen Gesims und Marmorleuchter, dessen Spiegel und Pfeiler mit ihrer einförmig kolorierten Malerei in Ton, Farbe und Art eine bemerkenswerte Übereinstimmung boten. Ein großer Schrank, dessen Türflügel aus verschiedenem Holz hergestellte Landschaften zeigten, von denen einige grüne Töne hatten, wie sie heute nicht mehr angewendet werden, enthielt ohne Zweifel ihre Wäsche und ihre Kleider. Es atmete in diesem Gemach ein himmlischer Duft. Die genaue Aufstellung der Gegenstände verriet Ordnungssinn und einen Sinn für Einklang, der sicher jedermann gefallen hätte, sogar einem Minoret-Levrault. Man sah namentlich auch, wie die Sachen, die sie umgaben, Ursula teuer waren und wie sie sich in einem Gemach wohl fühlte, das sozusagen mit ihrem ganzen Leben als Kind und junges Mädchen in Beziehung stand. Während er alles unauffällig nach und nach beachtete, überzeugte sich der Vormund, daß man von Ursulas Gemach aus zu Frau von Portenduère hinübersehen konnte. Während der Nacht hatte er darüber nachgedacht, wie er sich Ursula gegenüber hinsichtlich des entdeckten Geheimnisses ihrer in ihrem Werden stehenden Leidenschaft zu verhalten habe. Ein Verhör würde ihn seinem Mündel gegenüber bloßstellen. Ob er diese Liebe billigte oder nicht billigte, in beiden Fällen würde seine Stellungnahme falsch sein. Er hatte sich also vorgenommen, das Verhältnis zwischen dem jungen Portenduère und Ursula zu prüfen, um zu wissen, ob es erforderlich wäre, diese Neigung zu bekämpfen, bevor sie unwiderstehlich würde. Nur ein Greis konnte so viel Klugheit entwickeln. Noch taumelnd unter dem Stoß, den ihm die Wahrheit der magnetischen Tatsachen erteilt hatte, sah er umher und betrachtete die geringsten Einzelheiten des Gemaches, wollte auch einen Blick in den über dem Kamin hängenden Almanach tun.

»Diese häßlichen Leuchter sind für deine niedlichen Händchen zu schwer«, sagte er, indem er die marmornen, mit Kupfer verzierten Leuchter in die Hand nahm.

Er wog sie, sah den Almanach an, nahm ihn und sagte:

»Auch der scheint mir ziemlich häßlich. Warum hebst du diesen Kalender in einem so hübschen Zimmer auf?«

»Oh, lassen Sie mir ihn, lieber Pate!«

»Nein, du sollst morgen einen anderen bekommen.«

Er stieg wieder hinab und nahm das überführende Stück mit, schloß sich in sein Zimmer ein, suchte den heiligen Savinien und fand, wie es die Somnambule gesagt hatte, vor dem 19. Oktober ein rotes Pünktchen; ebenso sah er eins bei dem Tage des heiligen Denis, seines eigenen Schutzpatrons, und vor dem heiligen Johannes, dem Schutzpatron des Pfarrers. Diesen stecknadelkopfgroßen Punkt hatte das schlafende Weib trotz der Entfernung und aller Hindernisse wahrgenommen. Bis zum Abend dachte der Greis über diese Ereignisse nach, die für ihn noch ungeheurer waren als für jeden anderen. Er mußte sich schon überzeugen lassen. In ihm selbst brach sozusagen eine mächtige Mauer zusammen, denn sein Leben ruhte auf zwei Grundpfeilern: seiner Gleichgültigkeit in Dingen der Religion und seiner Ablehnung des Magnetismus. Indem er sah, daß die Sinne, eine rein physische Mechanik, Organe, deren Wirkungen sich sämtlich deutlich darbieten, durch gewisse Eigenschaften des Unendlichen begrenzt waren, stürzte der Magnetismus oder schien er ihm wenigstens den gewaltigen Beweis Spinozas umzustürzen; das Unendliche und das Endliche, zwei nach diesem großen Manne unvereinbare Momente, befanden sich eins in dem anderen. Welche Macht er auch der Teilbarkeit zugestehen wollte und der Beweglichkeit der Materie, er vermochte nicht, ihr göttliche Eigenschaft zuzuerkennen. Schließlich war er zu alt geworden, um diese Erscheinungen noch in ein System zu bringen, sie mit denen des Schlafes zu vergleichen, des Sehens, des Lichtes. All sein auf den Behauptungen der Schule von Locke und Condillac gegründetes Wissen brach zusammen. Da er seine gehaltlosen Idole zertrümmert sah, geriet seine Ungläubigkeit notwendigerweise ins Wanken. Und so schien sich aller Erfolg in dem Kampf zwischen diesem katholischen Kind und dem voltaireanischen Greis auf die Seite Ursulas zu wenden. In diese geschleifte Festung, über diese Trümmer rann ein Licht. Aus der Tiefe dieses Schuttes brach die Stimme des Gebetes hervor! Nichtsdestoweniger kämpfte der hartnäckige Greis noch mit seinen Zweifeln. Wie sehr er auch im Herzen getroffen war, entschied er sich doch noch nicht, sondern kämpfte noch immer gegen Gott. Allein sein Geist schien zu schwanken, er war nicht mehr derselbe. In ein alle Grenzen überschreitendes Nachdenken geraten, las er die ›Gedanken‹ Pascals, er las die erhabene ›Geschichte der Veränderungen‹ von Bossuet, er las Bonald, las den heiligen Augustin; auch die Werke Swedenborgs wollte er lesen und des verstorbenen Saint-Martin, von dem ihm der geheimnisvolle Mann gesprochen hatte. Das Gebäude, das in diesem Manne der Materialismus errichtet hatte, krachte in allen Fugen, es bedurfte nur noch eines Stoßes; und da sein Herz für Gott reif war, fiel er in den himmlischen Weinberg wie eine Frucht. Mehrere Male schon hatte er abends, wenn er mit dem Pfarrer spielte, sein Patenkind ihnen zur Seite, Fragen gestellt, die mit Bezug auf seine Ansichten Abbé Chaperon merkwürdig erschienen, der von der inneren Arbeit, mit welcher Gott dieses hohe Gewissen wieder aufrichtete, noch nichts wußte.

»Glauben Sie an Erscheinungen?« fragte der Zweifler seinen Seelenhirten, indem er sich im Spiel unterbrach.

»Cardano, ein großer Philosoph des sechzehnten Jahrhunderts, hat gesagt, daß er welche gehabt hätte«, antwortete der Pfarrer. »Ich kenne alle, welche die Gelehrten gehabt haben, ich habe eben Plato wieder gelesen. Ich frage Sie in diesem Augenblick als Katholiken und frage Sie, ob Sie meinen, daß ein Toter zurückkommen und die Lebenden besuchen kann.«

»Aber Jesus ist ja den Aposteln nach seinem Tode erschienen«, sagte der Pfarrer. »Die Kirche muß doch an die Erscheinungen unseres Heilandes glauben. Was die Wunder anbetrifft, so fehlt es an ihnen nicht«, sagte Abbé Chaperon lächelnd. »Wollen Sie das neuste kennenlernen? Es hat sich während des achtzehnten Jahrhunderts ereignet.«

»Bah!«

»Ja, der selige Marie-Alphonse de Liguori hat weit von Rom entfernt den Tod des Papstes vorausgewußt, in dem Augenblick, wo der Heilige Vater seinen Geist aufgab; und es gibt zahlreiche Zeugen für dies Wunder. Der in den Zustand der Entrückung geratene heilige Bischof vernahm die letzten Worte des Hohenpriesters und wiederholte sie vor mehreren Personen. Der Kurier, der die Nachricht von dem Ereignis zu überbringen beauftragt war, traf nur dreißig Stunden später ein …«

»Jesuit!« scherzte Minoret. »Ich frage Sie nicht nach Beweisen, ich frage Sie, ob Sie daran glauben.«

»Ich glaube, daß die Erscheinung sehr von dem abhängt, der sie sieht«, fuhr der Pfarrer fort, mit dem Zweifler zu scherzen.

»Lieber Freund, ich stelle Ihnen keine Falle: was glauben Sie in dieser Angelegenheit?«

»Ich glaube an die unendliche Macht Gottes«, sagte der Abbé.

»Wenn ich verstorben sein, mich mit Gott versöhnt haben werde, werde ich ihn bitten, mich Ihnen erscheinen zu lassen«, entgegnete lachend der Doktor.

»Das ist genau die Vereinbarung, die Cardano mit seinem Freund getroffen hatte«, antwortete der Pfarrer.

»Ursula«, sagte Minoret, »wenn je dir Gefahr droht, so rufe mich, ich werde kommen.«

»Sie berühren da eben mit einem einzigen Wort die rührende, ›Néère‹ betitelte Elegie von André Chénier«, antwortete der Pfarrer. »Aber die Dichter sind nur groß, weil sie die Taten oder die Gefühle ewig lebendiger Idole zu gestalten wissen.«

»Warum sprechen Sie von Ihrem Tode, lieber Pate?« fragte das junge Mädchen in schmerzlichem Tone. »Wir Christen sterben nicht, unser Grab ist die Wiege unserer Seele.«

»Nun«, sagte der Doktor lächelnd, »einmal muß man doch wohl aus dieser Welt gehen, und wenn ich nicht mehr dasein werde, wirst du über dein Vermögen sehr erstaunt sein.«

»Wenn Sie nicht mehr dasein werden, mein lieber Freund, wird mein einziger Trost sein, Ihnen mein Leben zu weihen.«

»Mir, dem Toten?«

»Ja. Alle guten Werke, die ich werde tun können, werden in Ihrem Namen getan sein, um Ihre Fehler wieder gutzumachen. Ich werde alle Tage zu Gott beten, um von seiner unendlichen Gnade zu erreichen, daß er die Irrtümer eines Tages nicht ewig straft und daß er eine so schöne, so reine Seele wie die Ihrige unter die Seelen der Seligen in seiner Nähe läßt.«

Diese mit einer engelgleichen Treuherzigkeit, einer unbeirrbaren Überzeugung gesprochene Antwort vernichtete den Irrglauben und bekehrte Denis Minoret, wie Sankt Paulus bekehrt wurde. Ein innerer Lichtstrahl betäubte ihn, während gleichzeitig diese Zärtlichkeit, die sich über sein künftiges Leben ausbreitete, ihm die Tränen in die Augen treten ließ. Diese plötzliche Wirkung der Gnade hatte etwas Elektrisches. Der Pfarrer faltete die Hände und erhob sich, im Innersten ergriffen. Die über ihren Sieg überraschte Kleine weinte. Der Greis richtete sich auf, als hätte ihn jemand angerufen, und sah vor sich hin, als erblickte er eine Morgenröte; dann beugte er das Knie auf seinen Sessel, faltete die Hände und senkte nach Art eines tief gedemütigten Menschen die Augen zu Boden.

»Mein Gott!« sagte er mit bewegter Stimme, indem er die Stirn hob. »Wenn jemand mir Gnade erwirken und mich zu Dir führen kann, wer anders sollte es sein als dieses makellose Geschöpf? Verzeih diesem reuevollen Greisenalter, das dieses verklärte Kind Dir darbietet!«

Er erhob im Geist seine Seele zu Gott und bat ihn, seine Erleuchtung zu vollenden durch sein Wissen, nachdem er ihn hingestreckt mit seiner Gnade; er wandte sich dem Pfarrer zu und sagte, indem er ihm die Hand hinhielt:

»Mein lieber Seelenhirt, ich bin wieder ein Kind, ich gehöre Ihnen und übergebe Ihnen meine Seele.«

Ursula bedeckte die Hände ihres Paten mit Küssen und Tränen der Freude. Der Greis nahm das Kind auf seine Knie und nannte sie heiter seine Patin. In einer Art religiösen Herzensergusses sprach der tiefgerührte Pfarrer das ›Veni, Creator‹. Diese Hymne diente den drei auf ihre Knie gesunkenen Christen als Abendgebet.

»Was ist mit ihm?« fragte die Bougival erstaunt.

»Endlich glaubt mein Pate an Gott«, antwortete Ursula.

»Ah, meiner Treu, das ist gut! Nur das fehlte ihm zu seiner Vollkommenheit«, rief die alte Bressanerin, indem sie sich mit naivem Ernst bekreuzte.

»Lieber Doktor«, sagte der gute Priester, »Sie werden bald zur Erkenntnis der Hoheit der Religion und der Notwendigkeit ihrer Übungen gelangt sein; Sie werden ihre Philosophie, in dem, was ihr menschlich Teil, erhabener finden als die der unerschrockensten Geister.«

Der Pfarrer, der eine beinahe kindliche Freude an den Tag legte, erklärte sich sodann bereit, den Greis im Katechismus zu unterweisen, zu welchem Zwecke er zweimal in der Woche mit ihm zusammentraf. So war die auf Ursula und einen trüberen Geist des Kalküls sich gründende Bekehrung eine unmittelbare. Der Pfarrer, der es vierzehn Jahre hindurch vermieden hatte, an die Wunden dieses Herzens zu rühren, sosehr er sie auch beklagte, war in Anspruch genommen gewesen wie ein Chirurg, an den sich ein Verwundeter wendet. Seit jenem Ereignis hatten sie jeden Abend Ursulas Gebet geteilt. Mehr und mehr hatte der Greis die Unruhe sich in Frieden verwandeln fühlen. Da er, wie er sagte, Gott zum verantwortlichen Urheber der unerklärlichen Dinge hatte, fühlte sich sein Geist leicht und freudig. Sein geliebtes Kind sagte ihm, daß deutlich zu sehen wäre, wie er im Reiche Gottes Fortschritte mache. Während der Messe wußte er sein Verständnis den Gebeten, die er las, anzupassen. Denn in einer ersten Übung hatte er sich zu dem göttlichen Gedanken der Gemeinschaft aller Gläubigen erhoben. Dieser alte Neubekehrte hatte das ewige Symbol, das mit dem Abendmahl zusammenhängt, begriffen und hatte verstanden, daß der Glaube, wenn er in seinen innersten Sinn eingedrungen war, mit Notwendigkeit die Seele licht machte und vertiefte. Wenn er es eilig gehabt zu haben schien, nach Haus zu kommen, so darum, weil er seinem geliebten kleinen Patenkind danken wollte, daß es ihn, nach der schönen Ausdrucksweise der Vergangenheit, der Religion zugeführt hatte. Und so hielt er sie auch in seinem Salon auf den Knien und küßte sie fromm auf die Stirn, in dem Augenblick, wo seine Seitenerben, mit ihren schmutzigen Besorgnissen einen so heiligen Einfluß besudelnd, auf Ursula die plumpsten Beleidigungen häuften. Die Eile des guten Mannes, nach Hause zu kommen, seine angebliche Verachtung gegenüber seinen Verwandten, seine bissigen Antworten, als er die Kirche verließ, waren natürlich von jedem der Erben auf den Haß zurückgeführt worden, den Ursula ihm gegen sie einflößte.

Während das Patenkind ihrem Paten Variationen über Webers ›Letzten Gedanken‹ vorspielte, wurde im Speisesaal des Hauses Minoret-Levrault eine rechtschaffene Verschwörung angezettelt, deren Ergebnis war, daß eine der Hauptpersonen dieses Dramas auf den Schauplatz trat. Das Frühstück, das geräuschvoll wie alle Provinzfrühstücke war und durch die ausgezeichneten Weine Anregung erfuhr, die auf dem Wege des Kanals, sei es von der Bourgogne, sei es aus der Touraine, nach Nemours gelangten, dauerte länger als zwei Stunden. Zélie hatte zur Feier von Désirés Rückkehr Muscheln kommen lassen, Seefisch und einige gastronomische Seltenheiten.

Der Speiseraum, in dessen Mitte die runde Tafel ihren herzerfreuenden Anblick bot, zeigte das Gepräge eines Gasthaussaales. Von der Größe ihres Grundstückes befriedigt, hatte Zélie zwischen ihrem gewaltigen Hof und ihrem mit Gemüse bepflanzten, mit Obstbäumen bestandenen Garten ein Gartenhaus errichtet. Alles bei ihr war einfach, sauber und solid. Das Beispiel von Levrault-Levrault war für die Gegend abschreckend gewesen. Und so widerstand sie ihrem Baumeister, der sie zu ähnlichen Albernheiten verleiten wollte. Dieser Saal war also mit einer grünlichen Tapete ausgeklebt, mit Stühlen aus Nußbaumholz versehen, mit Anrichten aus Nußbaumholz, mit einem schmucken Kachelofen, einer Wanduhr und einem Barometer. Wenn das Tischgeschirr auch aus gewöhnlichen weißem Porzellan bestand, so funkelte die Tafel von Wäsche und ausgiebigem Silberzeug. Als Zélie, die kam und ging wie ein Bleikügelchen in einer Champagnerflasche, denn sie begnügte sich mit nur einer Köchin, erst den Kaffee aufgetragen hatte; als Désiré, der künftige Advokat, mit dem großen Ereignis des Vormittags und seinen Folgen bekannt gemacht worden war, schloß Zélie die Tür, und Notar Dionis erhielt das Wort. An dem eintretenden Stillschweigen und an dem Blick, den jeder Erbe auf dies vertrauenswürdige Gesicht richtete, war die Herrschaft, die derartige Menschen auf die Familien ausüben, leicht zu erkennen.

»Liebe Kinder«, sagte er, »euer Onkel ist 1746 geboren und hat gegenwärtig seine dreiundachtzig Jahre. Nun, alte Leute sind so ihren Schrullen unterworfen, und diese Kleine …«

»Viper!« rief Frau Massin.

»Elende!« sagte Zélie.

»Nennen wir sie bloß bei ihrem Namen«, fuhr Dionis fort.

»Nun gut, dann ist sie eine Diebin«, sagte Frau Crémière.

»Eine reizende Diebin«, versetzte Désiré Minoret.

»Diese kleine Ursula«, fuhr Dionis fort, »hat er in sein Herz geschlossen. Ich habe in eurem Interesse, die ihr meine Klienten seid, nicht bis zu diesem Morgen gewartet, um Erkundigungen einzuziehen; und hier ist, was ich über diese junge …«

»Räuberin!« rief der Steuereinnehmer.

»Erbschleicherin!« äußerte der Aktuar.

»Pst, liebe Freunde!« sagte der Notar. »Oder ich nehme meinen Hut, gehe meiner Wege, und guten Abend.«

»Los, Papa!« rief Minoret, indem er ihm ein Gläschen Rum einschenkte. »Nehmen Sie! … Er ist direkt aus Rom! Kostet seine hundert Sous!«

»Ursula ist, es ist wahr, die rechtmäßige Tochter von Joseph Mirouet; aber ihr Vater ist der natürliche Sohn von Valentin Mirouet, dem Schwiegervater eures Onkels. Ursula ist also die natürliche Nichte des Doktor Denis Minoret. Da sie natürliche Nichte ist, ist das Testament, das der Doktor zu ihren Gunsten macht, vielleicht anfechtbar; und wenn er ihr sein Vermögen hinterläßt, könntet ihr gegen Ursula einen Prozeß anhängig machen, der für euch recht übel ist, denn man kann nicht behaupten, daß keinerlei verwandtschaftliches Band zwischen Ursula und dem Doktor bestände; jedenfalls würde dieser Prozeß sicher ein junges Mädchen, das keinerlei Beistand genösse, erschrecken, und er würde Anlaß zu einem Vergleich geben.«

»Die Strenge des Gesetzes ist hinsichtlich der Rechte der natürlichen Kinder so groß«, äußerte der frischgebackene Lizentiat der Rechte, der darauf brannte, sein Wissen zu zeigen, »daß nach dem Wortlaut eines Spruches des Kassationsgerichtshofes vom 7. Juli 1817 das natürliche Kind von seinem natürlichen Großvater nichts beanspruchen kann, selbst keine Alimente. Sie sehen also, daß das Verwandtschaftsverhältnis des natürlichen Kindes noch lockerer geworden ist. Das Gesetz verfolgt das natürliche Kind bis in seine legitime Abkunft hinein, denn es vertritt die Auffassung, daß die den kleinen Kindern gemachten Geschenke sich an den natürlichen Sohn durch persönliche Vermittlung richten. Das geht hervor aus den diesbezüglichen Artikeln 757, 908 und 911 des Zivilrechtes. So hat der Königliche Gerichtshof von Paris am 26. Dezember vorigen Jahres ein dem gesetzmäßigen Kind des natürlichen Sohnes vom Großvater, der als Großvater dem natürlichen Enkel sicher ebenso fremd war, wie der Doktor als Onkel es bezüglich Ursulas ist, vermachtes Legat vermindert.«

»Alles das«, sagte Goupil, »scheint mir bloß die Frage der von den Großvätern dem natürlichen Nachwuchs gemachten Geschenke zu betreffen; es handelt sich keineswegs um die Onkel, die mir zu den legitimen Kindern ihrer natürlichen Schwäger in keinerlei verwandtschaftlichem Verhältnis zu stehen scheinen. Ursula ist für den Doktor Minoret eine Fremde. Ich erinnere mich eines Urteils des Königlichen Gerichtshofes von Colmar, das 1825, als ich meine Rechtsstudien beendete, erlassen wurde und mit welchem man erklärt hat, daß, wenn das natürliche Kind einmal mit dem Tode abgegangen, seine Nachkommenschaft nicht mehr der Gegenstand einer Zuwendung sein kann. Nun, der Vater Ursulas ist tot.«

Die Darlegung Goupils bewirkte das, was in den Berichterstattungen der Gesetzgebenden Versammlung die Journalisten mit den Worten ›starke Sensation‹ zu bezeichnen pflegen.

»Was besagt das?« rief Dionis. »Daß der Fall der vom Onkel eines natürlichen Kindes gemachten Geschenke beim Gericht noch nicht vorgekommen ist; aber daß, wenn der Fall vorkommt, die Strenge des französischen Gesetzes gegen die natürlichen Kinder um so entschiedener zur Anwendung gelangt, als wir in einer Zeit leben, wo die Religion geehrt wird. So kann ich also antworten, daß, mit Bezug auf diesen Prozeß, es einen Vergleich geben wird, besonders wenn Sie entschlossen wären, Ursula bis zum Kassationsgericht zu treiben.«

Es erhob sich eine Freude unter den das Gold schon in Haufen raffenden Erben, die mit Lächeln, halbem Sich-von-den-Sitzen-Erheben, mit Gesten rings um die Tafel sich entlud: ein Aufruhr, der eine abweisende Bewegung Goupils unbemerkt ließ. Es folgte auf diesen Sturm aber ein tiefes Schweigen und Unruhe bei dem ersten weiteren Wort des Notars, dem schrecklichen Wort:

»Aber! …«

Als ob er die Fäden an einem jener kleinen Theater gezogen hätte, deren Figuren ruckweise vermittelst eines Getriebes schreiten, sah Dionis jetzt alle Gesichter fest auf sich gerichtet, alle Gesichter in einer einzigen Richtung.

»Aber kein Gesetz kann Ihren Onkel daran hindern, Ursula zu adoptieren oder zu heiraten«, fuhr er fort. »Was die Adoption anbetrifft, so würde sie angefochten werden, und Sie würden, glaub ich, den Prozeß gewinnen: die Königlichen Gerichtshöfe verstehen, was Adoption anbetrifft, keinen Spaß, und Sie würden bei der gerichtlichen Untersuchung Gehör finden. Einerlei, ob der Doktor das Ordensband des heiligen Michael trägt, er Offizier der Ehrenlegion und ehemaliger Arzt des Exkaisers ist: er würde unterliegen. Aber wenn Sie hinsichtlich des Adoptionsfalles vorbereitet sind, wie stände es mit der Heirat? Der gute Mann wäre schlau genug, nach Paris zu gehen und sich nach einjährigem Aufenthalt dort zu verheiraten und seiner Zukünftigen im Vertrag eine Mitgift von einer Million zuzuerkennen. Der einzige Akt, der Ihre Erbschaft gefährdet, ist also die Ehe der Kleinen mit ihrem Onkel.«

Hier machte der Notar eine Pause.

»Es besteht noch eine andere Gefahr«, fügte Goupil mit vielsagender Miene hinzu. »Die eines Testamentes zugunsten eines Dritten, des Vaters Bongrand zum Beispiel, der zugunsten Fräulein Ursula Mirouets ein Fideikommiß erhalten würde.«

»Wenn Sie Ihrem Onkel Verdruß bereiten«, schnitt Dionis seinem Ersten Schreiber das Wort ab, »wenn Sie Ursula gegenüber nicht alle gut sind, könnten Sie ihn zur Ehe oder zum Fideikommiß treiben, von dem Goupil sprach; aber ich glaube nicht, daß er zum Fideikommiß, einem Mittel, das gefährlich ist, schreiten wird. Was die Heirat anbetrifft, so kann sie leicht verhindert werden. Désiré braucht der Kleinen bloß ein wenig den Hof zu machen, sie wird auf jeden Fall einen angenehmen jungen Mann, den Haupthahn von Nemours, einem Greis vorziehen.«

»Liebe Mutter«, sagte der Sohn des Posthalters, ebenso von der Summe wie von der Schönheit Ursulas verführt, Zélie ins Ohr, »wenn ich sie heirate, bekämen wir alles.«

»Bist du verrückt? Du, der eines Tages fünfzigtausend Livres Rente hat, solltest dich durch eine so dumme Ehe um dein Glück bringen? Siebenhunderttausend Franken? … Wäre der Mühe wert! Die einzige Tochter des Maire wird fünfzigtausend Franken Rente haben, und ich habe mir vorgenommen …«

Diese Antwort, mit der zum ersten Mal in seinem Leben seine Mutter ihn hart anließ, tilgte in Désiré jegliche Hoffnung auf eine Heirat mit der schönen Ursula; denn sein Vater und er hatten niemals etwas gegen die in den schrecklichen blauen Augen Zélies sich aussprechende Entschiedenheit ausrichten können.

»Ja, aber Sie sagen doch, Herr Dionis«, rief Crémière, den seine Frau mit dem Ellbogen angestoßen hatte, »wenn der gute Mann die Sache ernst nähme und sein Mündel mit Désiré verheiratete und ihm das ganze Vermögen gäbe: dann leb wohl, Erbschaft! Und wenn er noch fünf Jahre lebt, hat unser Onkel gut und gern eine Million.«

»Niemals!« rief Zélie. »Nie, solang ich am Leben bin, wird Désiré die Tochter eines Bastards heiraten, eine aus Mitleid angenommene Tochter, auf der Straße aufgelesen! Potztausend! mein Sohn soll nach dem Tode seines Onkels die Minorets repräsentieren, und die Minorets haben einen fünfhundertjährigen gutbürgerlichen Stammbaum. Das bedeutet soviel wie Adel. Seien Sie unbesorgt: Désiré wird sich verheiraten, wenn wir wissen, daß er Abgeordneter wird.«

Diese stolze Erklärung wurde von Goupil unterstützt, der sagte: »Désiré wird mit vierundzwanzigtausend Livres Rente entweder Präsident des Königlichen Gerichtshofs oder Oberstaatsanwalt, was der Weg zur Pairschaft ist; eine ungünstige Ehe würde ihm das unmöglich machen.«

Die Erben sprachen jetzt alle durcheinander; doch sie schwiegen, als Minoret mit einem Faustschlag auf den Tisch dem Notar zum Wort verhalf.

»Ihr Onkel ist ein braver, würdiger Mann«, fuhr Dionis fort. »Er hält sich für unsterblich; und wie alle Menschen von Geist wird er sich vom Tod überraschen lassen, ohne ein Testament gemacht zu haben. Meine Meinung ist für den Augenblick also die, ihn dahin zu bringen, daß er sein Kapital auf eine Weise unterbringt, die Ihre Enterbung erschwert; und die Gelegenheit bietet sich. Der kleine Portenduère ist in Sainte-Pelagie wegen hundert und einigen tausend Franken festgesetzt worden. Seine alte Mutter weiß ihn im Gefängnis; sie weint wie eine Magdalena und erwartet den Abbé Chaperon zum Essen; ohne Zweifel, um mit ihm über das Unglück zu sprechen. Nun gut, ich werde also heute abend zu Ihrem Onkel gehen und ihn veranlassen, seine zu fünf vom Hundert konsolidierten Renten, die auf hundertachtzehn stehen, zu verkaufen und Frau von Portenduère auf ihr Gut Bordières und ihr Haus die Summe zu leihen, die benötigt wird, ihren verlorenen Sohn wieder loszukaufen. Ich bin in meiner Rolle als Notar, wenn ich mit ihm für diesen kleinen Dummkopf von Portenduère spreche, und es erscheint also sehr natürlich, daß ich gern bereit bin, ihm seine Renten übertragen zu helfen: ich gewinne auf diese Weise Verträge, Verkäufe, Geschäfte. Nimmt er meinen Rat an, werde ich ihm für den Rest des Kapitals noch andere Gelegenheiten in Landbesitz vorschlagen, wie mir ausgezeichnete zur Verfügung stehen. Ist sein Vermögen erst mal in Grundbesitz oder Hypotheken im Bezirk angelegt, wird es nicht so leicht entschlüpfen. Man kann zwischen die Absicht, Geld flüssig zu machen, und die Flüssigmachung immer Schwierigkeiten stellen.«

Die von der Folgerichtigkeit dieser Darlegungen, die weit geschickter waren als die von Herrn Josse, überraschten Erben ließen ein beifälliges Gemurmel vernehmen.

»Halten Sie also«, schloß der Notar, »Ihren Onkel in Nemours, wo er sich eingewöhnt hat, wo Sie ihn überwachen können. Und wenn Sie der Kleinen einen Liebhaber geben, so vereiteln Sie die Heirat …«

»Aber wenn die Heirat zustande käme?« sagte Goupil, den ein ehrgeiziger Gedanke überwältigte.

»Das wäre schon nicht so dumm, denn der Verlust wäre ja gebucht; man würde wissen, was der gute Mann ihr mitgeben will«, antwortete der Notar. »Aber wenn Sie ihr Désiré lassen würden, so könnte er die Kleine wohl bis zum Tode des guten Mannes hinziehen. Ehen werden geschlossen und auch aufgelöst.«

»Das einfachste«, sagte Goupil, »wäre für den Fall, daß der Doktor noch lange leben sollte, sie einem guten Burschen zu verheiraten, der Ihnen dazu aus aller Verlegenheit hülfe, daß er sich mit ihr in Sens, in Montargis, in Orléans niederließe; mit hunderttausend Franken.«

Dionis, Massin, Zélie und Goupil, die einzigen starken Köpfe dieser Versammlung, wechselten vier gedankenvolle Blicke.

»Das wäre der Wurm in der Birne«, sagte Zélie Massin ins Ohr.

»Warum hat man ihn kommen lassen?« antwortete der Aktuar.

»Das wäre was für dich!« rief Désiré Goupil zu. »Aber könntest du dir so viel Haltung geben, daß du dem Alten und seinem Mündel gefielst?«

»Du reibst dir den Bauch nicht an einem Korbe«, sagte der Posthalter, der Goupils Idee endlich verstanden hatte.

Dieser plumpe Spaß hatte einen ungeheuren Erfolg. Der Erste Schreiber sah die Lacher der Reihe nach mit einem so furchtbaren Blicke an, daß sofort Schweigen eintrat.

»Heutzutage«, sagte Zélie Massin ins Ohr, »kennen die Notare nichts als ihre Interessen; und wenn Dionis, um den Vertrag zu machen, hinginge und sich auf Ursulas Seite schlüge?«

»Ich bin mir seiner sicher«, antwortete der Aktuar, indem er seiner Base mit seinen boshaften Äugelchen einen Blick zuschickte.

Er wollte hinzufügen: ›Ich weiß, wie man ihm beikommt!‹ hielt es aber zurück.

»Ich bin ganz der Meinung von Dionis«, sagte er laut.

»Und ich auch«, rief Zélie, die aber schon eine Interessengemeinschaft zwischen dem Notar und dem Aktuar argwöhnte.

»Meine Frau hat genehmigt!« sagte der Posthalter, während er ein Gläschen schlürfte, obwohl sein Gesicht von der Verdauung des Frühstücks und einer beträchtlichen Genehmigung von Flüssigkeiten schon blau angelaufen war.

»Das ist sehr gut«, äußerte der Steuereinnehmer.

»Ich werde also nach dem Diner hingehen?« fragte Dionis.

»Wenn Herr Dionis recht hat«, wandte sich Frau Crémière an Frau Massin, »so muß man alle Sonntagabende wie früher zu unserem Onkel gehn und alles tun, was Herr Dionis gesagt hat.«

»Ja, um so empfangen zu werden, wie er's getan hat!« rief Zélie. »Schließlich haben wir mehr als gute vierzigtausend Livres Rente, und er hat all unsere Einladungen zurückgewiesen; wir sind soviel wert wie er. Wenn ich auch keine Rezepte schreiben kann, versteh ich doch mein Boot zu regieren!«

»Da ich noch lange keine vierzigtausend Livres Rente habe«, äußerte Frau Massin ein wenig pikiert, »mach ich mir wenig daraus, zehntausend zu verlieren!«

»Wir sind seine Nichten, wir müssen ihn pflegen: das ist klar«, sagte Frau Crémière, »und Sie werden es uns eines Tages Dank wissen, Cousine.«

»Gehen Sie mit Ursula behutsam um, der alte Biedermann von Jordy hat ihr seine Ersparnisse hinterlassen!« sagte der Notar, indem er seinen rechten Zeigefinger zur Lippe führte.

»Ich werde mich auf meine einundfünfzig verlegen«, rief Désiré.

»Sie haben es so gut gemacht wie Desroches, der geschickteste aller Pariser Advokaten«, sagte Goupil zu seinem Chef, als sie die Post verließen.

»Und sie streiten sich wegen unsrer Honorare«, antwortete der Notar mit einem bittern Lächeln.

Die Erben, die Dionis und seinen Ersten Schreiber zurückgeleiteten, fanden sich alle mit noch vom Frühstück erhitzten Gesichtern gegen Ende des Nachmittagsgottesdienstes zusammen. Wie der Notar vorausgesehen, reichte Abbé Chaperon der alten Frau von Portenduère den Arm.

»Sie hat ihn mit zum Nachmittagsgottesdienst geschleppt«, rief Frau Massin, indem sie Frau Crémière Ursula und ihren Paten zeigte, die aus der Kirche kamen.

»Wir wollen sie anreden«, sagte Frau Crémière und ging zu dem Greis hin.

Die Veränderung, die die Zusammenkunft auf aller Mienen bewirkt hatte, überraschte Doktor Minoret. Er fragte sich nach dem Grund dieser Scheinfreundschaft, und aus Wißbegier kam er der Begegnung Ursulas mit den beiden Frauen entgegen, die sich beeiferten, sie mit gemachtem Lächeln und übertriebener Freundlichkeit zu begrüßen.

»Lieber Onkel, gestatten Sie, daß wir Sie heute abend besuchen?« sagte Frau Crémière. »Wir glaubten manchmal, daß wir Ihnen lästig fielen; aber es ist schon so lange her, daß Ihnen unsere Kinder nicht mehr ihre Aufwartung gemacht haben, und unsere Töchter sind ja doch in dem Alter, daß sie sich mit unserer lieben Ursula bekannt machen könnten.«

»Ursula verdient ihren Namen«, versetzte der Doktor, »sie ist sehr ungesellig.«

»Wir wollen sie schon zähmen«, sagte Frau Massin. »Und dann, richtig!« fügte diese tüchtige Hausfrau hinzu, indem sie ihre Absichten unter berechneter Sparsamkeit zu verbergen suchte, »wir haben gehört, daß Ihr liebes Patenkind ein schönes Talent für das Piano hat, und wir würden uns freuen, sie zu hören. Frau Crémière und ich nähmen wohl gern für unsere Kleinen ihren Lehrer; denn wenn er sieben, acht Schüler hätte, könnte er den Preis für die Stunde unserem Vermögensstand anpassen.«

»Gern«, sagte der Greis, »und das trifft sich um so besser, als ich für Ursula auch einen Gesangslehrer nehmen will.«

»Gut, also heut abend, lieber Onkel; wir werden Ihren Großneffen Désiré mitbringen, der jetzt Advokat wird.«

»Heut abend«, sagte Minoret, der hinter diese Kleingeister kommen wollte.

Die beiden Nichten drückten Ursula die Hand und sagten ihr mit gemachter Liebenswürdigkeit: »Auf Wiedersehen.«

»Oh, lieber Pate, Sie lesen also in meinem Herzen?« rief Ursula, indem sie den Greis dankerfüllt ansah.

»Du hast Stimme«, sagte er. »Und ich will dir auch Lehrer im Zeichnen und Italienischen geben. Eine Frau«, fuhr der Doktor fort, während er in dem Augenblick, wo er die Gittertür öffnete, Ursula ansah, »muß auf eine Weise erzogen werden, daß sie allen Lagen gewachsen ist, die die Ehe mit sich bringt.«

Ursula wurde wie eine Kirsche: ihr Vormund schien an die Person zu denken, an die sie selber dachte. Als sie sich aber nah daran fühlte, dem Doktor die unwillkürliche Neigung, die sie trieb, sich mit Savinien zu beschäftigen, zu bekennen und ihm all ihren Drang, sich zu vervollkommnen, zu berichten, setzte sie sich unter das üppige Polster der Schlingpflanzen, wo sie sich, von fern gesehen, wie eine weiß und blaue Blume abhob.

»Sie sehen, lieber Pate, wie gut Ihre Nichten zu mir sind; sie sind so nett gewesen«, sagte sie, als sie ihn kommen sah, um ihn wegen der Gedanken, die sie innerlich beschäftigten, auf eine falsche Spur zu leiten.

»Arme Kleine!« sagte der Greis.

Er nahm Ursulas Hand, die er tätschelte, unter seinen Arm und führte sie die Terrasse entlang zum Fluß, wo sie von niemand gehört werden konnten.

»Warum sagen Sie ›arme Kleine‹?«

»Siehst du nicht, daß sie dich fürchten?«

»Aber warum?«

»Alle meine Erben beunruhigen sich in diesem Augenblick wegen meiner Bekehrung; sie schreiben sie ohne Zweifel der Macht zu, die du über mich hast, und bilden sich ein, daß ich sie um meine Hinterlassenschaft bringe und dich bereichere.«

»Aber das ist doch nicht der Fall?« sagte Ursula naiv und sah ihren Paten an.

»O himmlischer Trost meiner alten Tage!« rief der Greis, indem er sein Mündel emporhob und es auf beide Wangen küßte. »Für sie ist es, mein Gott, und nicht für mich, daß ich Dich bitte, mich noch bis zu dem Tage leben zu lassen, wo ich sie irgendeinem trefflichen Manne, der ihrer würdig ist, anvertraut haben werde! Du wirst die Komödie, die diese Minorets, Crémières und Massins heut abend hier aufführen werden, sehen, mein lieber, kleiner Engel. Du willst mir das Leben verschönern und verlängern, sie denken an nichts als an meinen Tod.«

»Gott verbietet uns zu hassen; aber wenn das so ist, oh! so verachte ich sie!« sagte Ursula.

»Bitte zum Essen!« rief die Bougival oben von der Freitreppe her, die sich am Ende des Korridors auf der Gartenseite befand. Ursula und ihr Vormund weilten zum Nachtisch in dem hübschen, mit in Lack ausgeführten chinesischen Gemälden, einem Überbleibsel von Levrault-Levrault, geschmückten Speiseraum, als der Friedensrichter erschien; der Doktor bot ihm, was eine besondere, vertraulichere Auszeichnung war, eine Tasse seines mit Bourbon- und Martinique-Kaffee gemischten Mokkas an, der von ihm selbst geröstet, gemahlen und in einer silbernen Kaffeekanne à la Chaptal zubereitet wurde.

»Nun«, sagte Bongrand, während er an seiner Brille rückte und den Greis mit einer neckischen Miene ansah, »die Stadt ist auf den Beinen! Ihr Erscheinen in der Kirche hat Ihre Verwandten revolutioniert, Sie hinterlassen Ihr Vermögen den Priestern, den Armen! Sie haben sie in Aufregung versetzt, und ah! sie rühren sich! Ich habe auf dem Kirchplatz ihren ersten Aufruhr gesehen: sie wimmeln wie Ameisen, denen man ihre Eier genommen hat.«

»Was sagt ich dir, Ursula?« rief der Greis. »Auf die Gefahr hin, dich zu betrüben, liebes Kind, mußte ich dich die Welt kennenlernen lassen und dich gegen Feindseligkeiten in Bereitschaft setzen, die du nicht verdienst!«

»Ich möchte Ihnen, was das anbetrifft, ein Wort sagen«, fuhr Bongrand fort, indem er die Gelegenheit ergriff, um mit seinem alten Freund über Ursulas Zukunft zu sprechen.

Der Doktor setzte sein schwarzes Sammetkäppchen auf sein weißes Haupt, der Friedensrichter nahm seinen Hut, um sich vor der Abendkühle zu schützen, und beide spazierten die Terrasse hin und erörterten die Mittel, Ursula das sicherzustellen, was ihr Pate ihr zu geben gedachte. Der Friedensrichter kannte die Ansicht von Dionis bezüglich der Hinfälligkeit eines vom Doktor zugunsten Ursulas gemachten Testamentes, denn Nemours beschäftigte sich viel zu sehr mit der Erbschaft Minoret, als daß diese Frage unter den Juristen der Stadt nicht besprochen worden wäre. Bongrand hatte dahin entschieden, daß Ursula Mirouet mit Bezug auf den Doktor eine Fremde wäre, und er wußte wohl, daß der Geist der Gesetzgebung die ungesetzmäßige Überschwängerung aus der Familie verwies. Die Verfasser des Gesetzbuches hatten nichts in Rücksicht gezogen als die Schwäche der Väter und Mütter für die natürlichen Kinder, ohne zu bedenken, daß Onkel und Tanten die Neigung für das natürliche Kind zugunsten seiner Abstammung zu ihrer eigenen machen könnten. Offenbar bestand hier im Gesetz eine Lücke.

»In jedem anderen Lande«, sagte er dem Doktor, indem er die Darlegung des Standes der Rechtsprechung, die Goupil, Dionis und Désiré soeben den Erben auseinandergesetzt hatten, abschloß, »hätte Ursula nichts zu fürchten; sie ist ungesetzliche Tochter, und die Rechtlosigkeit des Vaters würde nichts zu bedeuten haben außer bezüglich der Erbschaft von Valentin Mirouet, Ihrem Schwiegervater; doch in Frankreich ist die Obrigkeit unglücklicherweise sehr kirchlich und konsequent, sie hält sich an den Geist des Gesetzes. Advokaten würden Moral reden und beweisen, daß die Lücke im Gesetz auf die Gutherzigkeit der Gesetzgeber zurückzuführen sei, die den Fall nicht vorausgesehen, daraus aber kein Prinzip gemacht hätten. Der Prozeß würde sich in die Länge ziehen und kostspielig werden. Mit Zélie würde man bis zum Kassationsgerichtshof gehen, und ich bin nicht sicher, noch am Leben zu sein, wenn dieser Prozeß geführt wird.«

»Auch der beste aller Prozesse taugt nichts«, rief der Doktor. »Ich sehe schon eine Denkschrift über diese Frage: ›Bis zu welchem Grade muß die Rechtlosigkeit, die bezüglich der Erbfolge die natürlichen Kinder trifft, ausgedehnt werden?‹, und der Ruhm eines guten Advokaten besteht darin, einen schlechten Prozeß zu gewinnen.«

»Meiner Treu«, sagte Bongrand, »ich würde mich nicht getrauen, die Behauptung auf mich zu nehmen, daß die Obrigkeit nicht den Sinn des Gesetzes dehnte, um den der Ehe, der ewigen Grundlage jeder Gesellschaft, bewilligten Schutz zu erweitern.«

Ohne sich über seine Absichten zu erklären, verwarf der Greis das Fideikommiß. Was aber den Gesichtspunkt einer Heirat anbetraf, den Bongrand, um Ursula das Vermögen zu sichern, ihm unterbreitete, so sagte der Doktor:

»Arme Kleine! Ich bin imstande, noch fünfzehn Jahre zu leben, und was wird dann aus ihr?«

»Nun wohl, was gedenken Sie also zu tun?« fragte Bongrand.

»Wir wollen's uns überlegen … Ich werde sehen«, antwortete der alte Doktor, augenscheinlich weil er nicht wußte, was er sagen sollte.

In diesem Augenblicke kam Ursula und kündete den beiden Freunden an, daß Dionis bäte, den Doktor sprechen zu dürfen.

»Schon Dionis!« sagte der Doktor und sah den Friedensrichter an.

»Ja«, wandte er sich an Ursula. »Laß ihn kommen.«

»Ich wette meine Brille gegen ein Streichholz, daß er die spanische Wand Ihrer Erben ist; sie haben alle mit Dionis in der Post gefrühstückt, es hat sich da etwas ins Werk gesetzt.«

Von Ursula geleitet, langte der Notar im Garten an. Nachdem man sich begrüßt und einige gleichgültige Worte gewechselt hatte, erreichte Dionis besonderes Gehör, und Ursula zog sich mit Bongrand in den Salon zurück.

»›Wir wollen's uns überlegen! Ich werde sehen!‹« wiederholte Bongrand bei sich selbst des Doktors Worte. »So sprechen die Leute von Geist; der Tod überrascht sie, und sie lassen die Wesen, die ihnen teuer sind, in Verlegenheit zurück!«

Das Mißtrauen, das geistvolle Männer Geschäftsleuten einflößen, ist beachtenswert; sie bewilligen ihnen nicht das mindeste und suchen alles von ihnen zu erlangen. Aber vielleicht ist dies Mißtrauen ein Lob. Da sie sie auf den Höhen der Menschheit sehen, halten die Geschäftsleute die höheren Menschen nicht für fähig, sich zu den unendlich kleinen Einzelheiten herabzulassen, die schließlich doch in gleicher Weise wie die finanziellen Interessen und die naturwissenschaftliche Kleinarbeit die Höhen ausgleichen und Welten organisieren. Irrtum! Der Mann von Herz und der geniale Mensch sehen alles. Bongrand, den das Schweigen, das der Doktor bewahrt, verletzt hatte, den ohne Zweifel aber das Interesse Ursulas beschäftigte, das er gefährdet glaubte, entschloß sich, es gegen die Erben zu verteidigen. Er verzweifelte daran, etwas von dem Gespräch zwischen dem Greis und Dionis zu erfahren.

›Wie rein Ursula auch sein mag‹, dachte er, indem er sie prüfend betrachtete, ›es ist da ein Punkt, bezüglich dessen die jungen Mädchen gewohnt sind, ihre eigene Rechtsprechung und Moral zu befolgen. Versuchen wir's!‹ – »Die Minoret-Levraults«, wandte er sich an Ursula, während er an seiner Brille rückte, »sind imstande, Sie mit ihrem Sohn verheiraten zu wollen.«

Die arme Kleine erbleichte; sie war zu gut erzogen und besaß ein zu gewissenhaftes Taktgefühl, um hinzugehen und zu horchen, was zwischen Dionis und ihrem Onkel verhandelt wurde; doch nach einem kurzen, inneren Überlegen glaubte sie sich zeigen zu dürfen, wobei sie erwog, daß, wenn sie überflüssig wäre, ihr Pate ihr das zu verstehen geben werde. Die Jalousien der Glastür zum chinesischen Gartenhaus, wo sich das Zimmer des Doktors befand, standen offen. Ursula kam auf den Gedanken, hinzugehen und sie selber zu schließen. Sie entschuldigte sich, daß sie den Friedensrichter im Salon allein lasse, der aber mit einem Lächeln sagte:

»Machen Sie nur!«

Ursula langte über die Stufen der Freitreppe an, von der aus man vom chinesischen Gartenhaus zum Garten hinabstieg, und sie verweilte einige Minuten, indem sie langsam an den Jalousien hantierte und den Sonnenuntergang betrachtete. Dabei vernahm sie diese Antwort des Doktors, der gegen das Gartenhaus her kam:

»Es würde meine Erben freuen, wenn sie mich im Besitz von Liegenschaften, von Hypotheken sähen; sie bilden sich ein, daß mein Vermögen dann besser sichergestellt wäre: ich ahne alles, was sie sich sagen, und vielleicht kommen Sie in ihrem Auftrag … Vernehmen Sie, mein lieber Herr, daß meine Entschließungen unwiderruflich sind. Meine Erben werden den Hauptteil des Vermögens, das ich mit hierhergebracht habe, erhalten, dessen können sie versichert sein und mich in Ruhe lassen. Wenn einer von ihnen irgend etwas an dem, was ich für dies Kind tun zu müssen glaube, stört« (er zeigte auf sein Patenkind), »so werde ich aus jener Welt zurückkehren, um ihn zu peinigen! So mag also Herr Savinien von Portenduère ruhig im Gefängnis bleiben, wenn man, was seine Befreiung anbetrifft, auf mich zählt«, fügte der Doktor hinzu. »Ich werde meine Renten nicht verkaufen.«

Als Ursula die letzten Worte vernahm, erfuhr sie den ersten, den einzigen Schmerz, der sie je getroffen; um eine Stütze zu finden, lehnte sie die Stirn gegen die Jalousie.

»Mein Gott, was ist ihr?« rief der alte Doktor. »Sie ist ja ganz blaß! Eine solche Erregung nach dem Essen kann ihr Tod sein!«

Er streckte die Arme aus, um Ursula, die fast ohnmächtig hineinsank, zu halten.

»Adieu, mein Herr! Lassen Sie mich!« wandte er sich an den Notar.

Er trug sein Patenkind zu einem gewaltigen gepolsterten Lehnstuhl aus der Zeit Ludwigs+XV. hin, der sich in seinem Zimmer befand, ergriff aus seiner Apotheke ein Fläschchen mit Äther und ließ sie daran riechen.

»Vertreten Sie mich, lieber Freund«, wandte er sich an den erschreckten Bongrand, »ich will mit ihr allein bleiben.«

Der Friedensrichter geleitete den Notar bis zur Gittertür, indem er ihn, ohne Dringlichkeit zu verraten, fragte:

»Was ist denn mit Ursula geschehen?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Herr Dionis. »Sie war auf der Treppe und hat uns zugehört; und als ›ihr Onkel‹ sich weigerte, die Summe zu leihen, die der junge Portenduère, der schuldenhalber im Gefängnis sitzt, braucht, denn er hatte nicht, wie Herr von Rouvre, einen Herrn Bongrand, der ihn verteidigte, wurde sie blaß, taumelte … Liebt sie ihn? Gibt's was zwischen ihnen?«

»Mit fünfzehn Jahren?« unterbrach Bongrand.

»Sie ist im Februar 1814 geboren, in vier Monaten ist sie sechzehn.«

»Sie hat den Nachbar noch nie gesehen«, antwortete der Friedensrichter. »Nein, es war eine Krise.«

»Eine Herzenskrise«, versetzte der Notar.

Der Notar war sehr erfreut über diese Entdeckung, die die gefürchtete Heirat ›in extremis‹, mit welcher der Doktor seine Erben betrügen konnte, verhindern mußte; während Bongrand seine spanischen Schlösser zusammenbrechen sah: schon lange hatte er daran gedacht, seinen Sohn mit Ursula zu verheiraten.

»Wenn das arme Kind diesen jungen Mann liebte, so wäre das für sie ein Unglück: Frau von Portenduère ist Bretonin und in den Adel vernarrt«, antwortete der Friedensrichter nach einer Pause.

»Glücklicherweise … in die Ehre der Portenduère«, versetzte der Notar, der sich beinahe verriet.

Lassen wir dem braven, ehrenwerten Friedensrichter Gerechtigkeit widerfahren und sprechen wir es aus, daß, als er von der Gittertür in den Salon zurückkehrte, er mit Rücksicht auf seinen Sohn nicht ohne Betrübnis die ihm so liebe Hoffnung, eines Tages Ursula seine Tochter nennen zu können, aufgab. Er rechnete damit, seinem Sohn an dem Tage, wo er zum Staatsanwaltsgehilfen ernannt sein würde, eine Rente von sechstausend Livres zu geben; und wenn der Doktor Ursula hunderttausend Franken hätte vermachen wollen, so hätten die beiden jungen Leute die beste Ehe führen können; denn sein Eugen war ein treuer und angenehmer junger Mann. Vielleicht hatte er Eugen etwas zuviel gerühmt und rührte das Mißtrauen des alten Minoret daher.

›Ich werde mich an der Tochter des Maire schadlos halten‹, dachte Bongrand. ›Freilich ist Ursula ohne Mitgift mehr wert als Fräulein Levrault-Crémière mit ihrer Million. Jetzt gilt es, dahin zu wirken, daß Ursula den kleinen Portenduère heiratet, wenn sie ihn schon liebt.‹

Nachdem er die Tür nach der Bibliothek und die zum Garten hin geschlossen, hatte der Doktor sein Mündel zum Fenster geführt, das nach dem Fluß hinaus lag.

»Was hast du, schlimmes Kind?« sagte er zu ihr. »Dein Leben ist mein Leben. Was wird aus mir, wenn ich dich nicht lächeln sehe?«

»Savinien im Gefängnis!« antwortete sie.

Nachdem sie es gesprochen, stürzte ein Strom von Tränen aus ihren Augen, und sie brach in ein Schluchzen aus. ›Sie ist gerettet!‹ dachte der Greis, der ihr mit väterlicher Angst den Puls fühlte. ›Ach, sie ist genauso empfindsam wie meine arme Frau‹, sagte er sich, während er ein Horchrohr holte, das er Ursula aufs Herz setzte und auf das er das Ohr legte. ›Nun, alles geht gut‹, sagte er sich. – »Ich wußte nicht, liebes Herz, daß du schon so liebst«, fuhr er fort, während er sie ansah. »Aber denke, daß deine Gedanken meine Gedanken sind, und erzähle mir alles, was sich zwischen euch beiden zugetragen hat.«

»Ich liebe ihn nicht, lieber Pate, wir haben nie ein Wort miteinander gesprochen«, antwortete sie schluchzend. »Aber zu hören, daß der arme, junge Mann im Gefängnis ist, und zu wissen, daß Sie sich so hart weigern, ihn zu befreien, der Sie doch so gut sind!«

»Ursula, mein lieber, kleiner Engel, wenn du ihn nicht liebst, warum setzt du dann neben den Tag des heiligen Savinien einen roten Punkt wie vor den Tag des heiligen Denis? Komm, erzähle mir deine Herzenssache, erzähl sie mir bis in die kleinsten Einzelheiten hinein.«

Ursula errötete, ihr Weinen ließ nach, und es entstand zwischen den beiden ein Schweigen.

»Hast du denn Scheu vor deinem Vater, deinem Freund, deiner Mutter, deinem Arzt, deinem Paten, dessen Herz für dich seit einigen Tagen noch wärmer schlägt als schon je?«

»Ja, lieber Pate«, erwiderte sie, »ich werde Ihnen meine Seele eröffnen. Im Mai hat Herr Savinien seine Mutter besucht. Bis dahin hatte ich ihn nie im geringsten beachtet. Als er nach Paris abreiste, um dort zu wohnen, war ich noch ein Kind und sah, ich schwör es, zwischen einem jungen Mann und euch allen anderen keinerlei Unterschied, außer daß ich Sie liebte, ohne mir vorstellen zu können, daß ich jemals jemand mehr lieben sollte, sei's, wer es sei. Herr Savinien kam mit der Briefpost am Tag vor dem Geburtstag seiner Mutter, ohne daß wir's wußten. Als ich früh um sieben, nachdem ich mein Gebet gesprochen hatte, das Fenster aufmachte, um frische Luft in meine Kammer zu lassen, sah ich, daß die Fenster von Herrn Saviniens Schlafzimmer offenstanden und wie Herr Savinien im Schlafrock sich den Bart machte, und mit solch reizenden Bewegungen … kurz, ich fand ihn reizend. Er kämmte sich seinen schwarzen Schnurrbart und sein Kinnbärtchen, und ich sah seinen weißen, runden Hals … Muß ich Ihnen alles sagen? … Ich wurde gewahr, daß sein so frischer Hals, daß sein Gesicht und seine schönen schwarzen Haare von den Ihren so verschieden waren, wenn ich Ihnen zusah, wie Sie sich den Bart machten. Es ging mir, ich weiß nicht woher, mit solchen Wellen nach dem Herzen, in die Kehle, zum Kopf, so mächtig, daß ich mich setzen mußte. Ich konnte mich nicht auf den Beinen halten, so zitterte ich. Aber ich hatte eine solche Begier, ihn zu sehen, daß ich mich auf die Fußspitzen stellte; und dann sah er mich und hat mir, zum Scherz, einen Handkuß zugeworfen, und …«

»Und?«

»Und«, fuhr sie fort, »ich versteckte mich, so schämt ich und freut ich mich, ohne daß ich mir erklären konnte, warum ich mich über meine Freude schämte. Und diese Bewegung, die sich meiner Seele ich weiß nicht mit was für einer Gewalt einschmeichelte, erneuerte sich, sooft ich in mir selbst sein junges Gesicht sah. Schließlich fand ich Vergnügen an diesem Gefühl, das so stark war. Wenn ich zur Messe ging, zwang mich eine unwiderstehliche Gewalt, nach Herrn Savinien hinzusehen, wie er seiner Mutter den Arm reichte: sein Gang, sein Anzug, alles, bis auf das Geräusch seiner Schuhe auf dem Pflaster, erschien mir so hübsch. Das Geringste an ihm, seine Hand in dem feinen Handschuh, wirkte wie ein Zauber auf mich. Doch bezwang ich mich so weit, daß ich während der Messe nicht an ihn dachte. Beim Verlassen der Kirche blieb ich zurück, so daß Frau von Portenduère zuerst hinausging und ich hinter ihnen herschreiten konnte. Ich kann nicht sagen, wie mich diese kleinen Angelegenheiten interessierten. Als ich zurückkehrte und mich umwandte, um die Gittertür zu schließen …«

»Und die Bougival?« fragte der Doktor.

»Oh, ich habe sie in ihre Küche gehen lassen«, sagte Ursula naiv. »Ich konnte also natürlich sehen, wie Herr Savinien sich hinstellte und mich ansah. O Pate, ich fühlte mich so stolz, als ich in seinen Augen so etwas wie eine Überraschung und Bewunderung glaubte wahrnehmen zu dürfen, daß ich nicht weiß, was ich getan haben würde, um ihm Gelegenheit zu geben, mich zu betrachten. Es schien mir, als dürfte ich von nun an nur immer darauf bedacht sein, ihm zu gefallen. Sein Blick ist jetzt für mich der schönste Lohn für das, was ich Gutes tue. Seitdem denk ich fortwährend an ihn, und ohne daß ich's will. Am Abend ist Herr Savinien abgereist, ich hab ihn nicht wiedergesehen; die Rue des Bourgeois kam mir leer vor, und es ist, als hätte er, ohne es zu wissen, mein Herz mitgenommen.«

»Das ist alles?« sagte der Doktor.

»Alles, lieber Pate«, sagte sie unter einem Seufzer, in welchem das Bedauern, daß sie nicht noch mehr zu sagen hatte, von dem augenblicklichen Schmerz erstickt wurde.

»Meine liebe Kleine«, sagte der Doktor, indem er Ursula auf seine Knie zog, »du wirst in Bälde deine sechzehn Jahre erreicht haben, und dann beginnt dein Leben als Weib. Du stehst zwischen deiner gesegneten Kindheit, die nach hinten weicht, und den Regungen der Liebe, die dir ein stürmisches Leben bringen werden, denn du hast ein außerordentlich empfindsames Nervensystem. Was über dich kommt, ist die Liebe, liebe Tochter«, sagte der Greis mit einem Ausdruck tiefer Traurigkeit. »Die Liebe in ihrer heiligen Naivität, die Liebe, wie sie sein muß: unwillkürlich, reißend, gekommen wie ein Dieb, der alles hinnimmt  … ja, alles! Und ich war darauf gefaßt. Ich habe die Frauen gut beobachtet, und ich weiß, daß die Liebe sich der Mehrzahl nur bemächtigt nach sicheren Beweisen, durch Wunder der Zuneigung; wenn diese Weiber ihr Schweigen nicht brechen und nur besiegt nachgeben, so gibt es aber andere, die unter der Herrschaft einer unaussprechlichen Sympathie, die heute im Zusammenhang mit den magnetischen Strömungen steht, in einem Augenblick hingerissen sind. Ich kann es dir heute sagen: sobald ich die bezaubernde Frau, die deinen Namen trägt, gesehen hatte, fühlte ich auf der Stelle, daß ich einzig sie und mit aller Treue lieben würde, ohne daß ich wußte, ob unsere Charaktere, unsere Personen zueinander passen würden. Gibt's in der Liebe ein Zweites Gesicht? Was soll man darauf antworten, nachdem man gesehen hat, wie so viele Vereinigungen, die unter den Vorzeichen einer so ausgezeichneten Übereinkunft geschlossen wurden, später zerbrachen und einen fast ewigen Haß, absolute Abneigung hinterließen? Die Sinne können sich, sozusagen, fesseln und die Gedanken in Widerstreit stehen: und vielleicht leben gewisse Personen mehr vermöge der Gedanken als mit dem Körper. Andrerseits stimmen die Charaktere oft überein, und die Personen mißfallen einander doch. Diese beiden so verschiedenen Erscheinungen, die soviel Unglück erklären, beweisen die Weisheit des Gesetzes, das den Eltern die Entscheidung über die Heirat ihrer Kinder gibt. Denn ein junges Mädchen läßt sich oft von einer dieser beiden Täuschungen trügen. Darum tadle ich dich auch nicht. Die Empfindungen, die du erfährst, diese Regung deiner Empfindsamkeit, die sich von ihrem noch unbekannten Zentrum aus auf dein Herz, deinen Verstand stürzt, das Glück, das dir der Gedanke an Savinien gewährt, das ist alles etwas ganz Natürliches. Aber, mein geliebtes Kind, wie dir schon unser lieber Abbé Chaperon gesagt hat, die Gesellschaft verlangt das Opfer vieler natürlicher Neigungen. Anders ist die Bestimmung des Mannes, anders die des Weibes. Ich konnte Ursula Mirouet zur Frau wählen, zu ihr kommen und ihr sagen, wie ich sie liebte; während ein junges Mädchen seine Tugend betrügt, wenn es die Liebe dessen, den sie liebt, aufreizt: das Weib hat nicht, wie wir, die Fähigkeit, in aller Offenheit die Erfüllung ihrer Wünsche zu betreiben. Und so ist die Scham bei euch, und besonders bei dir, die unüberschreitbare Schranke, die das Geheimnis eures Herzens wahrt. Dein Zaudern, mir deine ersten Empfindungen anzuvertrauen, hat mir deutlich genug gesagt, daß du eher die grausamsten Martern erdulden würdest, als Savinien dich anzuvertrauen …«

»O ja!« sagte sie.

»Aber, liebes Kind, du mußt mehr tun: du mußt die Empfindungen deines Herzens unterdrücken, sie vergessen.«

»Warum?«

»Weil du, lieber, kleiner Engel, nur den Mann lieben darfst, der dein Gatte sein wird; und selbst wenn Herr Savinien von Portenduère dich liebte …«

»Daran hab ich noch nicht gedacht.«

»Höre mich … Selbst wenn er dich liebte und wenn seine Mutter mich um deine Hand für ihn bäte, würde ich doch in diese Heirat nicht einwilligen, als bis ich Savinien einer langen und reiflichen Prüfung unterworfen hätte. Sein Verhalten hat ihn allen Familien verdächtig gemacht und zwischen ihn und die Erbinnen Schranken gestellt, die schwer fallen werden.«

Ein himmlisches Lächeln trocknete Ursulas Tränen, die sagte:

»Zu etwas ist Unglück doch gut!«

Der Doktor ließ diese Naivität unbeantwortet.

»Was hat er denn getan, lieber Pate?« fuhr sie fort.

»In zwei Jahren, mein kleiner Engel, hat er in Paris hundertzwanzigtausend Franken Schulden gemacht! Er hat die Torheit begangen, sich in Sainte-Pelagie festsetzen zu lassen, und solche Ungeschicklichkeit bringt heutzutage einen jungen Mann für immer in Verruf. Ein Verschwender, der einer armen Mutter einen derartigen Schmerz und ein solches Unglück antun kann, läßt auch, wie dein unglücklicher Vater, seine Frau in Verzweiflung sterben.«

»Glauben Sie, daß er sich bessern könnte?« fragte sie.

»Wenn seine Mutter für ihn zahlt, ist er an den Bettelstab gebracht, und ich weiß für einen Edelmann keine schlimmere Besserung, als ohne Vermögen zu sein.«

Diese Antwort machte Ursula nachdenklich; sie wischte sich die Tränen ab und sagte zu ihrem Paten:

»Wenn Sie ihn retten können, retten Sie ihn, lieber Pate; dieser Dienst wird Ihnen das Recht geben, ihm zu raten, Sie werden ihm Vorhaltungen machen …«

»Und«, sagte der Doktor, indem er Ursulas Sprechweise nachahmte, »er kommt dann hierher, auch die alte Dame kommt hierher, wir werden sie sehen, und …«

»Ich denke jetzt nur an ihn«, antwortete Ursula errötend.

»Denke nicht mehr an ihn, armes Kind; es ist eine Torheit!« sagte der Doktor ernst. »Niemals würde Frau von Portenduère, eine geborene Kergarouet, und hätte sie auch bloß dreihundert Livres im Jahr zu verzehren, in eine Ehe des Vicomte Savinien von Portenduère, des Großneffen des verstorbenen Grafen von Portenduère, Generalleutnants der Marine des Königs und Sohnes des Vicomte von Portenduère, Schiffskapitäns, einwilligen mit wem? mit Ursula Mirouet, der Tochter eines Regimentskapellmeisters, ohne Vermögen, deren Vater – ach, der Augenblick, es dir zu sagen, ist gekommen – das uneheliche Kind eines Organisten, meines Schwiegervaters, war.«

»O lieber Pate, Sie haben recht: wir sind nur vor Gott gleich. Ich werde seiner nur noch im Gebet gedenken!« sagte sie aus dem Schluchzen hervor, in das diese Enthüllung sie versetzte. »Geben Sie ihm alles, was Sie für mich bestimmt haben. Was braucht ein armes Mädchen wie ich … Er, im Gefängnis!«

»Vertraue alle deine Prüfungen Gott an, vielleicht hilft er uns.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Als Ursula, die ihren Paten nicht anzublicken wagte, die Augen gegen ihn erhob, war ihr Herz auf das tiefste bewegt, als sie an seinen welken Wangen Tränen herabrinnen sah. Das Weinen von Greisen ist ebenso furchtbar wie das der Kinder natürlich.

»Mein Gott, was ist Ihnen?« sagte sie, indem sie sich ihm zu Füßen warf und ihm die Hand küßte. »Sind Sie meiner nicht sicher?«

»Ich, der alle deine Wünsche erfüllen möchte, bin verpflichtet, dir den ersten großen Schmerz deines Lebens zu bereiten! Ich leide ebenso wie du. Ich habe nie geweint außer bei dem Tod meiner Kinder und dem Ursulas … Warte, ich werde alles tun, was du willst!« rief er.

Durch ihre Trauer hindurch richtete Ursula auf ihren Paten einen Blick, der wie ein Blitz war: sie lächelte.

»Gehen wir in den Salon, und schließ das Geheimnis von all dem in dir ein, meine Kleine«, sagte der Doktor, indem er sein Patenkind in seinem Zimmer ließ. Dieser Vater fühlte sich ihrem himmlischen Lächeln gegenüber so schwach, daß er drauf und dran war, seinem Patenkind ein Wort der Hoffnung zu sagen und es auf solche Weise zu täuschen.

 

In diesem Augenblicke hatte Frau von Portenduère, mit dem Pfarrer allein in dem kleinen, kühlen, zu ebener Erde gelegenen Salon, das Geständnis abgeschlossen, mit dem sie sich dem guten Priester, ihrem einzigen Freund, anvertraut hatte. Sie hielt Briefe in der Hand, die Abbé Chaperon durchgelesen und ihr wieder zurückgereicht hatte und die ihr Unglück auf seinen Gipfel gebracht hatten. Aus ihrem Sessel an der einen Seite des viereckigen Tisches, der die Reste des Nachtisches trug, sah die alte Dame den Pfarrer an, der, in gesammelter Haltung in seinem Sessel auf der anderen Seite sitzend, sich das Kinn mit jener Handbewegung strich, die Theaterdienern, Mathematikern und Priestern eigen ist und die ein Nachdenken über ein schwer zu lösendes Problem verrät.

Dieser kleine Raum, der sein Licht durch zwei nach der Straße hinausblickende Fenster empfing und mit graugestrichenem Getäfel ausgelegt war, war so feucht, daß die unteren Füllungen dem Auge die geometrischen Risse des verfaulten Holzes darboten, das nur noch durch den Anstrich zusammengehalten wurde. Der rote Fußboden, der von der einzigen Magd der alten Dame gescheuert wurde, erforderte vor jedem Stuhl eine kleine, runde Bastmatte, auf deren einer der Abbé seine Füße hielt. Die Vorhänge aus altem grünem Damast mit grünen Blumen waren zugezogen und die Jalousien geschlossen. Zwei Kerzen erhellten den Tisch, während sie das übrige Zimmer in einem Halbdunkel ließen. Muß erst noch gesagt werden, daß zwischen den beiden Fenstern ein gutes Pastell von Latour den berühmten Admiral von Portenduère zeigte, den Nebenbuhler der Suffren, Kergarouet, Guichen und Simeuse? Auf dem Holzgetäfel sah man, dem Kamin gegenüber, den Vicomte von Portenduère und die Mutter der alten Dame, eine Kergarouet-Ploëgat. Savinien hatte also zum Großonkel den Vizeadmiral von Kergarouet und zum Vetter den Grafen von Portenduère, den Enkel des Admirals, einer wie der andere sehr reich. Der Vizeadmiral von Kergarouet wohnte in Paris, und der Graf von Portenduère bewohnte das Schloß gleichen Namens in der Dauphiné. Sein Vetter, der Graf, repräsentierte den älteren Zweig, und Savinien war der einzige Sproß der jüngeren Linie von Portenduère. Der Graf, über vierzig Jahre alt, hatte eine reiche Frau geheiratet und hatte drei Kinder. Sein durch mehrere Erbschaften vermehrtes Vermögen belief sich, wie man sagte, auf sechzigtausend Livres Rente. Als Abgeordneter der Isère verbrachte er den Winter in Paris, wo er das Haus von Portenduère zurückgekauft hatte mittels der Entschädigung, zu der ihm das Gesetz Villèle verhalf. Der Vizeadmiral von Kergarouet hatte kürzlich seine Nichte geheiratet, Fräulein von Fontaine, einzig um sich ihres Vermögens zu versichern. Seine Vergehungen brachten dem Vicomte also den Verlust zweier mächtiger Gönnerschaften. Wäre Savinien, ein hübscher, junger Bursche, in die Marine eingetreten, mit seinem Namen und begünstigt von einem Admiral, so wäre er mit dreiundzwanzig Jahren schon Leutnant zur See gewesen; doch seine Mutter, die dem entgegen war, daß ihr einziger Sohn sich dem Militärdienst widmete, hatte ihn in Nemours von einem Vikar Pfarrer Chaperons erziehen lassen, und ihr Lieblingsgedanke war es, den Sohn bis zu ihrem Lebensende in der Nähe zu behalten. Klüglicherweise wollte sie ihn mit einem Fräulein d'Aiglemont verheiraten, die ein Vermögen von zwölf tausend Livres Rente hatte und durch deren Hand sich der Name von Portenduère und das Gut Bordières behaupten ließen.

Dieser bescheidene, aber kluge Plan, der die Familie wieder auf eine neue Generation bringen konnte, war durch die Ereignisse vereitelt. Die d'Aiglemonts waren damals ruiniert, und eine ihrer Töchter, die ältere, Helene, war verschwunden, ohne daß die Familie dies Geheimnis aufklärte. Die Langeweile eines Lebens ohne Ansehen, ohne Aussichten, ohne Tätigkeit, ohne anderen Unterhalt außer der Liebe des Sohnes zur Mutter ermüdete Savinien in einem Grade, daß er seine Fesseln, so leicht sie auch waren, brach und schwor, niemals in der Provinz zu leben, weil er, ein wenig zu spät, begriff, daß seine Zukunft nicht die Rue des Bourgeois war. Mit einundzwanzig Jahren hatte er also seine Mutter verlassen, um sich seinen Verwandten zu zeigen und in Paris sein Glück zu versuchen. Der Gegensatz des Lebens in Nemours gegen das Pariser Leben war für einen jungen Mann von einundzwanzig Jahren, der frei, ohne jemand, der ihm widersprach, und, wie es nicht anders sein konnte, vergnügungssüchtig war, dem der Name eines Portenduère und seine so reiche Verwandtschaft die Salons erschloß, verhängnisvoll. Überzeugt, daß seine Mutter irgendwo die Ersparnisse von zwanzig Jahren versteckt hielt, hatte Savinien die sechstausend Franken, die sie ihm für seinen Pariser Lebensunterhalt gegeben hatte, bald aufgebraucht. Diese Summe hielt ihn noch nicht die ersten sechs Monate über Wasser, und er schuldete damals das Doppelte für seine Wohnung, seinem Schneider, seinem Schuhmacher, seinem Wagen- und Pferdeverleiher, seinem Juwelier, allen Kaufleuten, die zum Aufwand junger Leute beitragen. Kaum war es ihm geglückt, sich bekannt zu machen, kaum verstand er sich darauf, zu sprechen, sich zu zeigen, seine Westen auszuwählen und zu tragen, sich in seinen Anzügen zu bewegen und seine Krawatten anzulegen, so hatte er dreißigtausend Franken Schulden auf dem Halse und war doch eben erst dabei, nach einer schönen Wendung zu suchen, um der Schwester des Marquis von Ronquerolles, Frau von Sérizy, einer eleganten Frau, deren Jugend aber unter dem Kaiserreich geblüht hatte, seine Liebe zu erklären.

»Wie haben Sie sich denn aus der Klemme gezogen?« sagte eines Tages gegen Ende eines Frühstücks Savinien zu einigen Elegants, an die er Anschluß genommen, wie sich heutzutage junge Leute zusammenfinden, deren Absichten in jeder Hinsicht auf das gleiche Ziel gehen und eine ihnen unmögliche Gleichheit der Lebenshaltung erfordern. »Sie sind nicht reicher als ich, gehen aber ohne Sorge, sogar aufrecht Ihren Weg, und ich, ich habe schon Schulden.«

»Wir haben alle so angefangen«, antworteten lachend Rastignac, Lucien von Rubempré, Maxime von Trailles, Emile Blondet, die Dandys von damals.

»Wenn von Marsay schon von Anfang reich war, so ist das ein Zufall!« sagte der Gastgeber, ein Emporkömmling namens Finot, der mit diesen jungen Leuten zu verkehren suchte. »Und wenn er nicht er selbst gewesen wäre«, fügte er hinzu, indem er sich vor ihm verbeugte, »so hätte ihn sein Reichtum ruinieren können.«

»Das ist ein Wort«, sagte Maxime von Trailles.

»Auch ein Gedanke«, versetzte Rastignac.

»Mein Lieber«, sagte von Marsay ernst zu Savinien, »die Schulden sind die Anteilsumme der Erfahrung. Eine gute Hochschulerziehung mit angenehmen und unangenehmen Lehrern, bei der Sie nichts lernen, kostet sechzigtausend Franken. Wenn die Erziehung durch die Welt das Doppelte kostet, lehrt sie Sie das Leben, die Geschäfte, die Politik, die Menschen und manchmal die Frauen kennen.«

Blondet schloß diese Lektion mit der Anwendung eines Verses von Lafontaine ab:

»Sehr hoch verkauft die Welt, was man von ihr erwartet!«

Anstatt zu überlegen, was diese gewandtesten Piloten des Pariser Archipels ihm da Verständiges sagten, erblickte Savinien darin nichts als Scherz.

»Nehmen Sie sich in acht, mein Lieber«, sagte ihm von Marsay, »Sie haben einen guten Namen, und wenn Sie nicht das Vermögen erreichen, das Ihr Name erfordert, können Sie Ihre Tage in der Uniform eines Unteroffiziers in einem Kavallerieregiment beschließen …

Wir sahen fallen schon manch erlauchtes Haupt.«

Diesen Vers von Corneille deklamierte er, während er Saviniens Arm ergriff. »Da kam«, fuhr er fort, »vor nun bald sechs Jahren ein junger Graf von Esgrignon zu uns, der bloß zwei Jahre in dem Paradies der großen Welt lebte. Ach, er hat das Leben einer Rakete gelebt! Er hat sich bis zur Herzogin von Maufrigneuse erhoben und ist in seiner Vaterstadt niedergefallen, wo er seine Fehler sühnt zwischen einem alten katarrhalischen Vater und einer Partie Whist zu zwei Sous. Vertrauen Sie Ihre Lage Frau von Sérizy an, ganz naiv, ohne falsches Schamgefühl; sie wird Ihnen sehr von Nutzen sein; wogegen sie, wenn Sie mit ihr die Scharade der ersten Liebe spielen, sich die Pose der Raffaelischen Madonna geben, die Unschuldige spielen und Sie unter großen Unkosten in das Land der Zärtlichkeit schicken wird.«

Savinien, der noch zu jung war und noch ganz auf die reine Ehre des Edelmanns hielt, wagte nicht, Frau von Sérizy seine Vermögenslage zu offenbaren. In einem Augenblick, wo ihr Sohn schon nicht mehr aus noch ein wußte, schickte ihm seine Mutter zwanzigtausend Franken, alles, was sie besaß, auf einen Brief hin, in welchem Savinien, von seinen Freunden in der Ballistik der von den Söhnen gegen den elterlichen Geldschrank gerichteten Finten unterrichtet, von Wechseln sprach, die er zu zahlen hätte, und von der Schande, sie abweisen zu müssen. Er gelangte dank dieser Aushilfe bis zum Ende des ersten Jahres. Im Verlaufe des zweiten griff er, gefesselt an den Wagen Frau von Sérizys und ernstlich von ihr, die ihn übrigens bildete, eingenommen, zu der gefährlichen Hilfsquelle der Geldleiher. Ein Abgeordneter seiner Freunde, ein Freund seines Vetters von Portenduère, Des Lupeaulx führte ihn an einem Tage größter Bedrängnis zu Gobseck, Gigonnet und Palma, die genau über den Vermögensstand seiner Mutter unterrichtet waren und ihm gern und in angenehmer Weise liehen. Der Wucher und seine gewährte trügerische Aushilfe erlaubten ihm achtzehn Monate hindurch ein gutes Leben. Ohne von Frau von Sérizy lassen zu können, vernarrte sich der arme Junge in die schöne Gräfin von Kergarouet, die wie alle jungen Personen, die auf den Tod ihres alten Gatten warten und ihre Tugend zu einem geschickten Übergang zu einer zweiten Ehe benutzen, übertrieben sittsam war. Da er nicht verstehen konnte, daß eine auf Überlegung beruhende Tugend unbesieglich sei, machte Savinien Emilie von Kergarouet mit dem Aufwand eines reichen Mannes den Hof; er fehlte auf keinem Ball und in keinem Schauspiel, wo er sie antreffen mußte.

»Mein Kleiner, du hast nicht genug Pulver, um diesen Felsen zu sprengen«, sagte ihm von Marsay eines Abends lachend. Dieser junge König der Pariser Modewelt hatte aus Mitleid diesem Kinde gut Emilie von Fontaine erklären: es bedurfte der düsteren Klarheit des Unglücks und der Finsternis des Gefängnisses, um Savinien aufzuklären. Ein Wechsel, den er unvorsichtigerweise unter Zustimmung der Wucherer, die das Anstößige einer Verhaftung selber nicht haben wollten, einem Juwelier ausgestellt hatte, brachte Savinien von Portenduère ohne Wissen seiner Freunde wegen hundertsiebzehntausend Franken nach Sainte-Pelagie. Sobald Rastignac, von Marsay und Lucien von Rubempré diese Neuigkeit in Erfahrung gebracht hatten, suchten alle drei Savinien auf und boten ihm, den sie von allen Mitteln entblößt fanden, jeder einen Tausendfrankenschein an. Der von zwei Gläubigern bestochene Kammerdiener hatte die geheime Wohnung, die Savinien innehatte, verraten, und man hatte ihm alles genommen, außer seinen Kleidern und den wenigen Juwelen, die er an sich trug. Die drei jungen Leute, die mit einem ausgezeichneten Diner versehen waren, unterrichteten sich, während sie Xereswein tranken, den von Marsay mitgebracht hatte, über Saviniens Lage, offenbar um seine Zukunft zu ordnen, ohne Zweifel aber auch, um ihm Vorwürfe zu machen.

»Wenn man Savinien von Portenduère heißt«, hatte Rastignac gesagt, »wenn man einen zukünftigen Pair von Frankreich zum Vetter hat und zum Großonkel den Admiral von Kergarouet und wenn man den ungeheuren Fehler begeht, sich nach Sainte-Pelagie bringen zu lassen, so darf man doch hier nicht bleiben, mein Lieber!«

»Warum haben Sie mir nichts gesagt?« rief von Marsay. »Sie hatten meine Reisekutsche zur Verfügung, zehntausend Franken und Empfehlungsbriefe für Deutschland. Wir kennen Gobseck, Gigonnet und andere Krokodile, wir hätten sie zur Kapitulation gezwungen. Übrigens, vor allen Dingen, welcher Esel hat Sie denn an diese tödliche Quelle geführt?« fragte von Marsay.

»Des Lupeaulx.«

Die drei jungen Leute sahen einander mit gleichen Gedanken an, ließen ihren Argwohn jedoch nicht laut werden.

»Setzen Sie mir Ihre Hilfsquellen auseinander, zeigen Sie mir Ihr Spiel?« fragte von Marsay.

Als Savinien seine Mutter und ihre Bandhauben, ihr kleines Haus mit drei Fenstern Front nach der Rue des Bourgeois hinaus geschildert hatte, das statt eines Gartens nur einen Hof mit einem Brunnen und einem Holzspeicher hatte; als er ihnen den Wert dieses Hauses angegeben, das aus Sandstein erbaut und mit rötlichem Mörtel verputzt war, und das Landgut Bordières veranschlagt hatte, sahen sich die drei Dandys an und sagten mit tiefsinniger Miene das Wort des Abbés in den Kastanien im Feuer‹ von Alfred de Musset, dessen ›Spanische Geschichten‹ eben erschienen waren:

»Traurig!«

»Auf einen geschickt abgefaßten Brief hin wird Ihre Mutter zahlen«, sagte Rastignac.

»Ja, aber nachher?« rief von Marsay.

»Wenn Sie bloß in einen Fiaker gesteckt worden wären«, sagte Lucien, »würde die Königliche Regierung Sie zum Diplomaten machen; aber Sainte-Pelagie ist nicht das Vorzimmer zu einer Gesandtschaft.«

»Sie sind für das Pariser Leben nicht stark genug«, sagte Rastignac.

»Lassen Sie sehen!« fuhr von Marsay fort, der Savinien abschätzte wie ein Pferdehändler ein Pferd. »Sie haben eine schön gezeichnete weiße Stirn, prächtiges schwarzes Haar, ein Schnurrbärtchen, das sich zu Ihrer bleichen Wange gut macht, einen schlanken Wuchs; Sie haben einen Fuß, der Rasse verrät, Schultern und Brust nicht gerade zu robust, aber kernig. Sie sind das, was ich einen eleganten Brünetten nenne. Ihr Gesicht ist im Genre Ludwigs+XIII., wenig Farbe, eine hübsch geformte Nase; und Sie haben noch mehr, was den Frauen gefällt, ein ich weiß nicht was, auf das die Männer selber weiter nicht achten und das in der Miene, im Gang, im Klang der Stimme, im Werfen des Blickes, in der Geste liegt, in einer Menge von Kleinigkeiten, die die Weiber sehen und wofür sie einen gewissen Sinn besitzen, der uns abgeht. Sie kennen sich nicht, mein Lieber. Mit ein wenig Haltung werden Sie in sechs Monaten eine Engländerin von hunderttausend Pfund bezaubern, zumal wenn Sie den Titel eines Vicomte von Portenduère annehmen, auf den Sie ein Recht haben. Meine entzückende Stiefmutter, Lady Dudley, die nicht ihresgleichen darin hat, zwei Herzen aufzuspießen, wird sie Ihnen in einem der Niederschlagsgebiete von Großbritannien entdecken. Aber es muß die Möglichkeit bestehen, Ihre Schulden vermittelst eines geschickten Bankmanövers in einem Vierteljahr aus der Welt zu schaffen. Warum haben Sie mir nichts gesagt? In Baden würden die Geldverleiher Sie respektiert, vielleicht bedient haben; aber nachdem sie Sie ins Gefängnis gesteckt haben, werden Sie von ihnen verachtet. Der Wucherer liegt wie die Gesellschaft, wie das Volk auf den Knien vor einem Menschen, der stark genug ist, mit ihm zu spielen; ohne Mitleid aber ist er für die Lämmer. In den Augen einer gewissen Welt ist Sainte-Pelagie eine Teufelin, die rasend junge Leute röstet. Wollen Sie meine Meinung, liebes Kind? So werde ich Ihnen wie dem kleinen Esgrignon sagen: Bezahlen Sie maßvoll Ihre Schulden, indem Sie so viel für sich behalten, daß Sie drei Jahre leben können, und verheiraten Sie sich in der Provinz mit der ersten besten Haustochter, die dreißigtausend Livres Rente hat. In drei Jahren werden Sie irgendeine verständige Erbin gefunden haben, die sich gern Frau von Portenduère nennen läßt. Das ist meine Weisheit! Trinken wir! Ich bringe Ihnen diesen Toast: Auf die Geldbraut!«

Erst zur gesetzlich vorgeschriebenen Abschiedsstunde verließen die jungen Leute ihren Exfreund, und beim Ausgang sagten sie sich:

»Er ist kein Starker! – Er ist sehr herunter! – Wird er wieder in die Höhe kommen?«

Am nächsten Tage schrieb Savinien seiner Mutter eine Generalbeichte von zweiundzwanzig Seiten.

Nachdem sie einen Tag geweint hatte, schrieb Frau von Portenduère zuerst ihrem Sohn und versprach ihm, ihn aus dem Gefängnis zu bringen, dann an die Grafen von Portenduère und von Kergarouet.

Die Briefe, die der Pfarrer eben gelesen hatte und die die arme Mutter noch naß von Tränen in der Hand hielt, waren am selben Morgen eingetroffen und hatten ihr das Herz gebrochen.

›An Frau von Portenduère

Paris, September 1829.

Madame,

Sie können an dem Anteil, den wir, der Admiral und ich, an Ihrem Kummer nehmen, nicht zweifeln. Das, was Sie Herrn von Kergarouet berichten, trifft mich um so mehr, als mein Haus das Ihres Sohnes war; wir waren stolz auf ihn. Wenn Savinien mehr Vertrauen auf den Admiral gesetzt hätte, würden wir uns seiner angenommen und ihn bereits passend untergebracht haben; aber er hat uns nichts gesagt, das unglückliche Kind! Der Admiral wüßte nicht, wie er hunderttausend Franken zahlen sollte; er ist selbst verschuldet, und damit ich auch, die ich von seiner pekuniären Lage nichts wußte. Er ist um so untröstlicher, als Savinien uns für den Augenblick dadurch, daß er sich hat festsetzen lassen, die Hände gebunden hat. Wenn mein hübscher Neffe für mich nicht ich weiß nicht was für eine törichte Leidenschaft gehabt hätte, die die Stimme der Verwandtschaft durch den Dünkel des Liebhabers erstickt hatte, hätten wir ihn nach Deutschland reisen lassen, bis seine Angelegenheiten in Ordnung gebracht worden wären. Herr von Kergarouet hätte für seinen Großneffen eine Stellung in einem Marinebureau erbitten können; aber eine Schuldhaft muß die Schritte des Admirals ohne Zweifel unterbinden. Bezahlen Sie Saviniens Schulden, damit er in der Marine dienen kann; er wird seinen Weg wie ein echter Portenduère machen, er hat ihr Feuer in seinen schönen schwarzen Augen, und wir alle werden ihm helfen. Verzweifeln Sie also nicht, Madame; es bleiben Ihnen Freunde, in deren Zahl ich als eine der aufrichtigsten einbegriffen sein möchte. Ich sende Ihnen meine Wünsche und die Ehrerbietung

Ihrer Ihnen sehr ergebenen Dienerin
Emilie von Kergarouet‹

›An Frau von Portenduère

Portenduère, August 1829.

Meine teure Tante, ich ärgere mich über die Streiche Saviniens ebenso, wie sie mich betrüben. Da ich verheiratet und Vater zweier Söhne und einer Tochter bin, gestattet mir mein ohnehin im Verhältnis zu meiner Lage und meinen Hoffnungen so geringes Vermögen nicht, es um eine Summe von hunderttausend Franken zu verringern, um das Lösegeld für einen Portenduère zu zahlen, den die Wucherer in den Händen haben. Verkaufen Sie Ihr Gut, bezahlen Sie seine Schulden, und kommen Sie nach Portenduère. Sie werden hier die Aufnahme finden, die wir Ihnen schulden, wenngleich Ihnen unsere Herzen nicht gänzlich gehören würden. Sie würden ein gutes Leben haben, und schließlich würden wir Savinien, den meine Frau reizend findet, verheiraten. Dieser dumme Streich bedeutet nichts, trösten Sie sich darüber; er soll niemals in unsrer Provinz bekannt werden, wo wir mehrere sehr reiche Töchter kennen, die erfreut sein würden, zu uns zu gehören.

Meine Frau bringt Ihnen zugleich mit mir alle Freude zum Ausdruck, die uns Ihr Lebenszeichen bereitet hat, und bittet Sie, unsere besten Wünsche für die Verwirklichung dieses Vorschlages entgegenzunehmen, ebenso die Versicherung unserer ergebensten Hochachtung.

Luc. Savinien, Graf von Portenduère‹

»Was für Briefe für eine Kergarouet!« rief die alte Bretonin, indem sie sich die Augen trocknete.

»Der Admiral weiß nicht, daß sein Neffe im Gefängnis ist«, sagte endlich Abbé Chaperon. »Nur die Gräfin hat Ihren Brief gelesen, und sie allein hat geantwortet. Aber man muß einen Entschluß fassen«, fuhr er nach einer Pause fort, »und hier ist, was ich die Ehre habe, Ihnen zu raten. Verkaufen Sie Ihr Gut nicht! Der Pachtkontrakt ist abgelaufen, und er dauert vierundzwanzig Jahre; in einigen Monaten werden Sie in der Lage sein, sechstausend Franken Pachtgeld zu ziehen und sich ein übriges im voraus für zwei Jahre geben zu lassen. Wenden Sie sich um eine Anleihe an einen anständigen Mann und nicht an Leute in der Stadt, die Hypothekenhandel treiben. Ihr Nachbar ist ein würdiger Mann, ein guter Umgang, der vor der Revolution in den hohen Kreisen verkehrt hat und der aus einem Atheisten ein Katholik geworden ist. Scheuen Sie sich nicht, ihn heut abend aufzusuchen, er wird für Ihren Schritt sehr empfänglich sein; lassen Sie für einen Augenblick außer acht, daß Sie eine Kergarouet sind.«

»Niemals!« sagte die alte Mutter schneidend.

»Seien Sie eine liebenswürdige Kergarouet; kommen Sie, wenn er allein ist; er wird Ihnen nicht mehr abnehmen als dreieinhalb, vielleicht nur drei vom Hundert, und er wird Sie mit Takt bedienen, Sie werden zufrieden sein; er wird gehen und Savinien selbst frei machen, denn er wird genötigt sein, seine Renten zu verkaufen, er wird ihn Ihnen zurückbringen.«

»Sie sprechen wohl von diesem kleinen Minoret?«

»Dieser kleine Minoret ist dreiundachtzig Jahre alt«, sagte Abbé Chaperon unter einem Lächeln. »Meine teure Dame, gebrauchen Sie ein wenig christliche Milde, verletzen Sie ihn nicht, er kann Ihnen auf mehr als eine Weise von Nutzen sein.«

»Und wie?«

»Es ist doch ein Engel in seiner Nähe, das himmlische junge Mädchen …«

»Ja, diese kleine Ursula … Nun, und?«

Der arme Pfarrer wagte es nicht, fortzufahren, als er dies ›Nun, und?‹ vernahm, dessen Trockenheit und Härte von vornherein den Vorschlag, den er machen wollte, abschnitt.

»Ich halte den Doktor Minoret für ganz außerordentlich reich …«

»Um so besser für ihn.«

»Sie haben bereits indirekt das gegenwärtige Unglück Ihres Sohnes verursacht, indem Sie ihn keine Laufbahn einschlagen ließen; sorgen Sie für seine Zukunft!« sagte der Pfarrer ernst. »Darf ich Ihrem Nachbarn Ihren Besuch ankündigen?«

»Aber warum soll er, wenn er weiß, daß ich seiner bedarf, nicht hierher kommen?«

»Ah, Madame, wenn Sie zu ihm kommen, werden Sie drei Prozent zahlen, und wenn er zu Ihnen kommt, werden Sie fünf zahlen«, sagte der Pfarrer, der auf diesen guten Grund geriet, die alte Dame zu bestimmen. »Und wenn Sie gezwungen wären, Ihr Gut durch den Notar Dionis zu verkaufen, durch den Aktuar Massin, die Ihnen in der Hoffnung, aus Ihrem Unglück Nutzen zu ziehen, eine größere Summe verweigern würden, würden Sie die Hälfte des Wertes von Bordières verlieren. Ich habe auf die Dionis, Massin, Levrault, die reichen Leute der Gegend, die es auf Ihr Gut abgesehen haben und Ihren Sohn im Gefängnis wissen, nicht den geringsten Einfluß.«

»Sie wissen es! Sie wissen es!« rief sie, indem sie die Arme in die Höhe warf. – »Oh, mein armer Pfarrer, Sie haben Ihren Kaffee kalt werden lassen! … Tiennette! Tiennette!«

Tiennette, eine alte Bretonin in kurzer Schoßjacke und mit einer bretonischen Haube, sechzigjährig, trat hurtig ein und nahm den Kaffee des Pfarrers, um ihn aufzuwärmen.

»Seien Sie ruhig, Herr Pfarrer«, sagte sie, als sie sah, daß der Pfarrer trinken wollte, »ich werde ihn ins heiße Wasser stellen, und er wird nicht schlecht werden.«

»Nun«, sagte der Pfarrer mit seiner einschmeichelnden Stimme, »ich werde also gehen und den Herrn Doktor auf Ihren Besuch vorbereiten, und Sie werden kommen.«

Erst nach einer einstündigen Erörterung gab die alte Mutter nach. Der Pfarrer war genötigt, seine Beweisgründe zehnmal zu wiederholen. Und auch dann gab die hochmütige Kergarouet sich nur besiegt durch die letzten Worte des Pfarrers:

»Savinien wird kommen!«

»Es ist dann doch besser, daß ich hinübergehe«, sagte sie. Es schlug neun Uhr, als die kleine in die große eingefügte Tür sich hinter dem Pfarrer schloß, der lebhaft an des Doktors Gittertür schellte. Abbé Chaperon bekam es nach der Tiennette mit der Bougival zu tun, denn die alte Amme sagte zu ihm: »Sie kommen recht spät, Herr Pfarrer!« wie die andere gesagt hatte: »Warum verlassen Sie Madame so schnell, wenn sie betrübt ist?«

Der Pfarrer traf in dem grünen und braunen Salon des Doktors zahlreiche Gesellschaft an, denn Dionis war gegangen und hatte den Erben Bescheid gegeben, indem er bei Massin vorsprach, um ihm die Worte seines Onkels zu wiederholen.

»Ursula trägt«, sagte er, »glaube ich, eine Liebe im Herzen, die ihr nur Schmerz und Sorge verursachen wird; sie scheint romantisch« (die äußerste Empfindsamkeit heißt bei den Notaren so), »und wir werden sie lange Mädchen bleiben sehen. Also, kein Mißtrauen: erweisen Sie ihr kleine Aufmerksamkeiten, und seien Sie Ihrem Onkel gegenüber diensteifrig, denn er ist schlauer als hundert Goupils«, fügte der Notar hinzu, ohne zu wissen, daß Goupil die Verstümmelung des lateinischen Wortes vulpes, Fuchs, ist.

Und so bildeten die Damen Massin und Crémière, ihre Männer, der Posthalter und Désiré mit dem Arzt von Nemours und Bongrand eine für den Doktor ungewohnte und laute Gesellschaft. Bei seinem Eintreten vernahm Abbé Chaperon die Klänge des Pianos. Die arme Ursula beendete die A-Dur-Symphonie von Beethoven. Damit sie die Frauen von ihrem neidischen Verlangen abbrächte, hatte das von seinem Paten aufgeklärte Kind, dem die Erben mißfielen, mit einer Art von List, wie sie der Unschuld erlaubt ist, diese gewaltige Musik gewählt, die erst, um verstanden zu werden, Studium erfordert. Je schöner die Musik ist, um so weniger gefällt sie den Dummköpfen. Und so riefen die Erben, als die Tür sich auftat und Abbé Chaperon sein verehrungswürdiges Haupt zeigte: »Ah, der Herr Pfarrer!«, erfreut, sich alle erheben und ihrer Plage ein Ende machen zu können.

Der Ausruf fand ein Echo am Spieltisch, wo Bongrand, der Arzt von Nemours und der Greis dem Übermut zum Opfer gefallen waren, mit welchem der Steuereinnehmer, um seinem Großonkel einen Gefallen zu erweisen, sich als vierten zum Whist angeboten hatte. Ursula verließ das Piano. Der Doktor erhob sich, wie um den Pfarrer zu begrüßen, sicherlich aber, um vom Spiel loszukommen. Nach vielen an ihren Onkel mit Bezug auf die Begabung seiner Pflegetochter gerichteten Komplimenten empfahlen sich die Erben.

»Guten Abend, liebe Freunde!« rief der Doktor, als die Gittertür zuschlug.

»Ah, das wäre eine teuere Sache!« sagte Frau Crémière zu Frau Massin, als sie ein Stück gegangen waren.

»Gott soll mich bewahren, dafür Geld auszugeben, daß meine kleine Aline mir in meinem Hause eine derartige Katzenmusik macht!« antwortete Frau Massin.

»Sie sagt, daß das von ›Bethovan‹ wäre, der ja für einen großen Musiker gilt«, sagte der Steuereinnehmer; »er steht in hohem Ansehen.«

»Meiner Treu, aber nicht in Nemours«, sagte Frau Crémière, »denn er nennt sich mit Recht ›Wind-Vieh‹ Im Text steht das Wortspiel ›Bête à vent‹ (vorher war der Name bereits in ›Bethovan‹ entstellt). –

»Ich glaube, daß unser Onkel das eigens so eingerichtet hat, damit wir nicht wiederkommen sollen«, sagte Massin; »denn als er seinem kleinen Zieraffen den grünen Band zeigte, hat er mit den Augen gezwinkert.«

»Wenn sie sich an einem solchen Getöse vergnügen«, sagte der Posthalter, »so bleiben sie allerdings am besten für sich allein.«

»Der Herr Friedensrichter muß wohl gern spielen, wenn er diese Sonakles Im Text steht ›sonacles‹ für ›sonates‹. (Der Übersetzer) anhören soll«, sagte Frau Crémière. –

»Ich wäre niemals imstande, vor Personen zu spielen, die nichts von Musik verstehen«, sagte Ursula, während sie hinüberging und sich mit an den Spieltisch setzte.

»Die Empfindungen reichbegabter Wesen können sich nur in einer vertrauten Sphäre entwickeln«, sagte der Pfarrer. »Ebenso wie dem Priester die Gegenwart eines schlechten Geistes den Segen verschlägt, wie der Kastanienbaum in fettem Boden abstirbt, erleidet ein begabter Musiker ein innerliches Versagen, wenn er von Dummköpfen umgeben ist. In den Künsten müssen wir von den Seelen, die der unseren zur Umgebung dienen, ebensoviel Kraft empfangen, als wir ihnen mitteilen. Dieser Grundsatz, der die menschlichen Affekte bestimmt, hat die Sprichwörter hervorgebracht: ›Man muß mit den Wölfen heulen‹, und ›Gleich und gleich gesellt sich gern‹. Aber das Leiden, das Sie empfunden haben müssen, berührt nur die zarten, feinen Naturen.«

»So könnte, liebe Freunde«, sagte der Doktor, »eine Sache, die sonst eine Frau nicht weiter berührt, meine kleine Ursula umbringen. Ah, wenn ich nicht mehr sein werde, so errichtet zwischen dieser teuren Blume und der Welt die schützende Hecke, von der die Verse Catulls sprechen: ›Ut flos‹ usw.«

»Diese Damen waren Ihnen gegenüber immerhin sehr verbindlich, Ursula«, bemerkte der Friedensrichter lächelnd.

»Plump verbindlich«, meinte der Arzt von Nemours.

»Ich habe in gezwungener Verbindlichkeit immer Plumpheit wahrgenommen«, antwortete der alte Minoret. »Und warum?«

»Ein wahrer Gedanke trägt seine Feinheit in sich selbst«, sagte der Pfarrer.

»Sie haben bei Frau von Portenduère gespeist?« fragte darauf Ursula, indem sie Abbé Chaperon mit unruhiger Neugier ansah.

»Ja, die arme Dame ist sehr heimgesucht, und es ist nicht ausgeschlossen, daß sie Sie heut abend aufsucht, Herr Minoret.«

»Wenn sie Kummer hat und meiner bedarf, werde ich zu ihr gehen«, sagte der Doktor. »Spielen wir unseren Robber zu Ende.«

Unterm Tisch drückte Ursula die Hand des Greises.

»Ihr Sohn«, äußerte der Friedensrichter, »war ein wenig zu unerfahren, als daß er in Paris ohne Mentor hätte leben können. Als ich wußte, daß man hier bei dem Notar Erkundigungen über das Landgut der alten Dame einholte, hab ich geahnt, daß er auf das Ableben seiner Mutter gerechnet hat.«

»Halten Sie ihn dazu für fähig?« fragte Ursula unter einem schrecklichen Blick auf Herrn Bongrand, der zu sich selbst sagte:

›Ach ja, sie liebt ihn!‹

»Ja und nein«, antwortete der Arzt von Nemours. »Savinien hat einen guten Charakter. Beweis: daß er im Gefängnis sitzt; die Taugenichtse kommen nicht hinein.«

»Liebe Freunde«, rief der alte Minoret, »nun genug für heute abend. Man darf eine arme Mutter nicht eine Minute mehr weinen lassen, wenn man ihre Tränen trocknen kann.«

Die vier Freunde erhoben sich und gingen. Ursula begleitete sie bis zur Gittertür und sah zu, wie ihr Pate und der Pfarrer an die Nachbartür klopften; und als Tiennette sie eingelassen hatte, setzte sich Ursula auf einen der äußersten Prellsteine des Hauses neben die Bougival.

»Frau Vicomtesse«, sagte der Pfarrer, der als der erste den kleinen Eßsalon betrat, »Herr Doktor Minoret wollte nicht, daß Sie sich zu ihm bemühten …«

»Ich gehöre viel zu sehr der alten Zeit an, gnädige Frau«, äußerte der Doktor, »um nicht genau zu wissen, was ein Mann einer Dame Ihres Ranges schuldig ist, und es freut mich, Ihnen nach dem, was mir der Herr Pfarrer gesagt hat, in etwas dienen zu können.«

Frau von Portenduère, die der vereinbarte Schritt so bedrückte, daß sie nach dem Weggang des Abbés Chaperon schon an den Notar von Nemours sich hatte wenden wollen, war von dem Takt Minorets so überrascht, daß sie sich erhob, um seine Begrüßung zu erwidern, und ihm einen Sessel anwies.

»Nehmen Sie Platz, mein Herr«, sagte sie mit hoheitsvoller Miene. »Unser lieber Pfarrer wird Ihnen gesagt haben, daß der Vicomte einiger Jungeleuteschulden wegen im Gefängnis sitzt, hunderttausend Livres … Wenn Sie sie ihm vorstrecken könnten, werde ich Ihnen eine Bürgschaft auf mein Landgut Bordières geben.«

»Wir wollen darüber sprechen, Frau Vicomtesse, wenn ich Ihnen Ihren Herrn Sohn zurückgebracht haben werde, falls Sie mir gestatten, in dieser Angelegenheit Ihr Sachwalter zu sein.«

»Sehr wohl, Herr Doktor«, antwortete die alte Dame, indem sie den Kopf neigte und den Pfarrer mit einer Miene anblickte, die sagen wollte: ›Sie haben recht, er ist ein Mann von guter Umgangsform. ‹

»Mein Freund, der Doktor«, sagte darauf der Pfarrer, »ist, wie Sie sehen, gnädige Frau, Ihrem Hause durchaus ergeben.«

»Wir werden Ihnen Dank wissen, mein Herr«, sagte Frau von Portenduère mit ersichtlichen Anstrengungen. »Denn in Ihrem Alter sich in Paris auf der Spur der Missetaten eines Leichtsinnigen zu bemühen …«

»Gnädige Frau, im Jahre 65 hatte ich die Ehre, den berühmten Admiral von Portenduère bei jenem hervorragenden Herrn von Malesherbes und bei dem Herrn Grafen von Buffon zu sehen, der ihn über mehrere interessante Umstände seiner Reisen zu befragen wünschte. Es ist nicht ausgeschlossen, daß der verstorbene Herr von Portenduère, Ihr Gatte, dabei war. Die französische Marine stand damals im Glanz ihres Ruhmes, sie hielt England Widerstand, und der Mut des Kapitäns trug damals sein Teil dazu bei. Mit welcher Ungeduld wartete man 83 und 84 auf Nachrichten vom Schlachtfeld Saint-Roch! Fast hätte ich noch als Arzt der Königlichen Armeen mitgetan. Ihr Großonkel, der noch am Leben ist, der Admiral von Kergarouet, hat damals sein berühmtes Treffen durchgehalten, denn er war auf der ›Belle-Poule‹.«

»Ah, wenn er wüßte, daß sein Großneffe im Gefängnis sitzt!«

»Der Herr Vicomte wird in spätestens zwei Tagen hier sein«, sagte der alte Minoret, indem er sich erhob.

Er streckte die Hand aus, um die der alten Dame zu ergreifen und ehrerbietig zu küssen, dann verbeugte er sich tief und ging; doch wandte er sich noch einmal zum Pfarrer hin und sagte: »Wollen Sie mir, lieber Abbé, für morgen früh einen Platz in der Eilpost besorgen?«

Der Pfarrer blieb noch ein halbes Stündchen, um das Lob des Doktor Minoret zu singen, der die alte Dame hatte erobern wollen und erobert hatte.

»Er ist für sein Alter staunenswürdig«, sagte sie. »Er spricht davon, nach Paris zu gehen und die Angelegenheiten meines Sohnes zu ordnen, als ob er ein Fünfundzwanzigjähriger wäre. Ja, er hat sich in guter Gesellschaft bewegt.«

»In der besten, gnädige Frau; und heutzutage würde mehr als ein unbemittelter Sohn eines Pairs von Frankreich sich glücklich schätzen, sein Mündel mit ihrer Million zu heiraten. Ah, wenn dieser Gedanke in dem Herzen Saviniens Raum fände, so haben sich die Zeiten so geändert, daß sicher, nach der Art, wie Ihr Sohn sich aufgeführt hat, Sie von sich aus keine so besonders großen Schwierigkeiten machen würden.«

Das tiefe Erstaunen, in das diese letzten Worte die alte Dame versetzten, hatte es dem Pfarrer ermöglicht, zu Ende zu reden.

»Sie haben den Verstand verloren, mein lieber Abbé Chaperon!«

»Das meinen Sie, gnädige Frau! Aber möge Gott geben, daß Ihr Sohn sich in Zukunft so aufführt, daß er die Achtung dieses Greises gewinnt!«

»Wenn Sie es nicht wären, Herr Pfarrer«, sagte Frau von Portenduère, »wenn es ein anderer wäre, der mir das sagte …«

»Würden Sie ihn nicht mehr sehen«, vollendete lächelnd der Abbé Chaperon. »Hoffen wir, daß Ihr lieber Sohn Sie darüber belehrt, wie es in Paris in Angelegenheiten von Eheschließungen zugeht. Sie denken an Saviniens Glück und werden ihn, nachdem er seine Zukunft bereits bloßgestellt hat, nicht hindern, sich eine Stellung zu schaffen.«

»Und das sagen Sie mir?«

»Wenn nicht ich es Ihnen sagte, wer sollte es Ihnen sonst sagen?« versetzte der Priester, indem er sich erhob und sich schleunigst empfahl.

Der Pfarrer sah Ursula und ihren Paten auf dem Hof herumgehen. Dem Doktor war von seinem Patenkind derartig zugesetzt worden, daß er soeben nachgegeben hatte: sie wollte mit ihm nach Paris und hatte tausend Vorwände dafür. Er rief den Pfarrer an, der sich näherte, und bat ihn, noch am selben Abend ein ganzes Coupé für ihn zu belegen, wenn das Postbureau noch offen wäre.

Am nächsten Tage sechseinhalb Uhr abends langten der Greis und das junge Mädchen in Paris an, wo noch am selben Abend der Doktor seinen Notar aufsuchte. Die politischen Ereignisse waren bedrohlich. Der Friedensrichter hatte am vergangenen Abend dem Doktor im Laufe der Unterhaltung mehr als einmal gesagt, daß man toll sein müßte, wenn man auch nur einen Sou Rente auf Grundstücken lassen wollte, solange der Streit, der sich zwischen der Presse und dem Hofe erhoben hatte, nicht geschlichtet wäre. Der Notar Minorets stimmte diesem vom Friedensrichter indirekt gegebenen Rate bei. Der Doktor benutzte seine Reise also, seine wirtschaftlichen Angelegenheiten und seine Renten zu ordnen, die sämtlich im Steigen waren, und seine Kapitalien auf der Bank zu deponieren. Der Notar veranlaßte seinen alten Klienten, auch die Hinterlassenschaft, die Ursula von Herrn von Jordy geworden war und die er als guter Hausvater auf Zins angelegt hatte, zu verkaufen. Er versprach, einen außerordentlich gewandten Agenten in Bewegung zu setzen, der mit Saviniens Gläubigern unterhandeln sollte; doch müßte der junge Mann, wenn alles gut gehen solle, es noch einige Tage im Gefängnis aushalten.

»Jede Übereilung in derartigen Angelegenheiten bedeutet mindestens fünf vom Hundert Einbuße«, sagte der Notar dem Doktor. »Und vor allem: Sie werden vor sieben, acht Tagen nicht im Besitz Ihrer Gelder sein.«

Als Ursula erfuhr, daß Savinien noch mindestens eine Woche im Gefängnis bleiben müßte, bat sie ihren Vormund, ihn ein einziges Mal dorthin begleiten zu dürfen. Der alte Minoret schlug es ihr ab. Onkel und Nichte wohnten in einem Hotel der Rue Groix-des-Petits-Champs, wo der Doktor eine ganze passende Zimmerflucht genommen hatte; und im Vertrauen auf die Frömmigkeit seines Mündels nahm er ihr das Versprechen ab, daß sie, wenn er sich in Geschäften außerhalb befände, nicht ausginge. Der gute Mann führte Ursula in Paris spazieren, zeigte ihr die Passagen, die Schauläden, die Boulevards; doch an nichts hatte sie Freude, an nichts nahm sie Anteil.

»Was möchtest du?« fragte sie der Greis.

»Sainte-Pelagie sehen«, antwortete sie beharrlich.

Minoret nahm darauf einen Fiaker und brachte sie bis zur Rue de la Clef, wo die Kutsche vor der elenden Fassade dieses in ein Gefängnis umgewandelten früheren Klosters hielt. Der Anblick dieses hohen grauen Mauerwerks, dessen Fenster alle vergittert sind, der der Eingangspforte, durch die man (schreckliche Lehre!) nur gebückt gehen kann, diese düstere Masse in ihrem Armenviertel, inmitten dessen sie sich von Straßen umgeben erhebt, die öd sind wie das äußerste Elend: all dies Beieinander trübseliger Dinge ergriff Ursula und brachte sie zum Weinen.

»Wie kann man junge Leute Geldes wegen einsperren?« sagte sie. »Wie können Schulden einem Geldleiher eine Macht geben, die selbst der König nicht hat? Hier ist er also!« rief sie. »Und wo, lieber Pate?« fügte sie hinzu, indem sie von Fenster zu Fenster blickte.

»Ursula«, sagte der Greis, »du verleitest mich zu Torheiten. Vergiß das nicht!«

»Aber«, erwiderte sie, »wenn ich schon auf ihn verzichten soll, darf ich denn nicht Anteil an ihm nehmen? Ich kann ihn doch lieben und trotzdem unverheiratet bleiben.«

»Ah«, rief der gute Mann, »es liegt in deiner Unvernunft so viel Sinn, daß ich es bereue, dich hierhergeführt zu haben!« Drei Tage danach hatte der Greis die Zahlungen geregelt und alles sonstige, was zu Saviniens Freiheit nötig war. Diese Abwicklung war, das Honorar für den Agenten eingeschlossen, für eine Summe von achtzigtausend Franken bewerkstelligt worden. Es blieben dem Doktor achthunderttausend Franken, die ihn der Notar in Schatzanweisungen anlegen ließ, um nicht zu viel Zinsen zu verlieren. Er behielt zwanzigtausend Franken in Banknoten für Savinien zurück. Am Sonnabend um zwei Uhr begab sich der Doktor hin, um die Haftentlassung zu bewerkstelligen, und der von seiner Mutter bereits brieflich unterrichtete junge Vicomte dankte seinem Befreier aufrichtigen Herzens.

»Sie dürfen nicht säumen, zu Ihrer Mutter zu kommen«, sagte ihm der alte Minoret.

Savinien antwortete ihm in einer gewissen Verwirrung, daß er im Gefängnis eine Ehrenschuld aufgenommen hätte, und erzählte ihm von dem Besuch seiner Freunde.

»Ich dachte mir schon, daß Sie noch besondere Schulden hätten«, sagte der Doktor und lächelte. »Ihre Mutter lieh von mir hunderttausend Franken, doch ich habe nur achtzigtausend bezahlt; hier ist der Rest, richten Sie sich gut damit ein, mein Herr, und betrachten Sie das, was Sie davon übrigbehalten, als Ihren Einsatz auf Fortunas grünem Tisch.«

Während der letzten acht Tage hatte Savinien Überlegungen über die gegenwärtige Zeit angestellt. Der Wettbewerb aller Art erfordert große Anstrengungen von jedem, der sich ein Vermögen erwerben will. Sich ungesetzlicher Mittel zu bedienen, braucht es mehr Begabung und unterirdische Praktiken als eine freie, offene Bemühung. Der Erfolg in der Gesellschaft verschlingt, weit entfernt, einem eine Stellung zu gewinnen, Zeit und erfordert ungeheuer viel Geld. Der Name von Portenduère, von dem ihm seine Mutter gesagt hatte, er sei allmächtig, galt nichts in Paris. Sein Vetter, der Abgeordnete, der Graf von Portenduère, hob sich in Gegenwart der Pairschaften, inmitten der Kammer, bei Hofe nur wenig hervor. Der Admiral von Kergarouet verdankte seine Existenz einzig seiner Frau. Er hatte Redner gesehen, Leute, die aus einer untergeordneten sozialen Umgebung zum Adel gelangt waren oder wie kleine Edelleute einflußreiche Persönlichkeiten wurden. Schließlich war das Geld die Angel, das einzige Mittel, das Triebrad einer Gesellschaft, welche Ludwig+XVIII. nach dem Vorbild der englischen hatte gestalten wollen. Von der Rue de la Clef bis zur Rue Croix-des-Petits-Champs entwickelte der Edelmann das Endergebnis seiner Überlegungen dem alten Arzt, im Einklang übrigens mit dem Rat von Marsays.

»Ich muß mich«, sagte er, »für drei, vier Jahre in Vergessenheit bringen und eine Laufbahn suchen. Vielleicht mache ich mir einen Namen mit einem Buch über die hohe Politik oder die Sittenstatistik, mit irgendeiner Abhandlung über eine der großen aktuellen Fragen. Schließlich aber suche ich mich mit einer jungen Person zu verheiraten, die mir die Möglichkeit gibt, Abgeordneter zu werden, und arbeite in der Verborgenheit und Stille.«

Als der Doktor mit Sorgfalt das Gesicht des jungen Mannes prüfte, gewahrte er in ihm den Ernst eines vom Schicksal getroffenen Menschen, der alles wieder gutmachen will. Er billigte diesen Entschluß vollkommen.

»Lieber Nachbar«, sagte er ihm abschließend, »wenn Sie die Haut des alten Adels, der heutzutage nicht mehr Mode ist, abgestreift haben werden, werde ich mich, nachdem Sie drei, vier Jahre klug und gut angewandt haben, bemühen, für Sie eine vortreffliche, hübsche, liebenswürdige, fromme, junge Person mit einem Vermögen von sieben- bis achthunderttausend Franken zu finden, die aber nur den Adel des Herzens besitzt.«

»Ach, Doktor«, rief der junge Mann, »es gibt heute keinen wahren Adel mehr, es gibt nur noch Aristokratie.«

»Bezahlen Sie Ihre Ehrenschulden, und kommen Sie dann hierher; ich werde das Eilpostcoupé belegen, denn ich habe mein Mündel bei mir«, sagte der Greis.

Am Abend, gegen sechs Uhr, brachen die drei Reisenden mit der Post von der Rue Dauphine auf. Ursula, die ihren Schleier heruntergelassen hatte, sprach kein Wort. Nachdem er damals in einer Anwandlung überflüssiger Ritterlichkeit ihr jenen Kuß zugeschickt, der Ursula in einen Aufruhr versetzt hatte, wie ihn eine ganze Liebesgeschichte verursacht haben würde, hatte Savinien das Mündel des Doktors in der Bedrängnis seiner Pariser Schulden vollkommen vergessen; und übrigens gestattete seine hoffnungslose Liebe zu Emilie von Kergarouet ihm nicht, die Erinnerung an ein paar Blicke zu bewahren, die er mit einem kleinen Mädel von Nemours getauscht hatte; er erkannte sie also nicht wieder, als der Greis sie als die erste einsteigen ließ und sich dann neben sie setzte, um sie von dem jungen Vicomte zu trennen.

»Ich habe Ihnen Bericht zu erstatten«, sagte der Doktor zu dem jungen Mann, »ich bringe Ihnen all Ihre Papiere mit.«

»Ich hätte beinahe nicht abreisen können«, sagte Savinien, »denn ich mußte mir Kleidung und Wäsche bestellen; die Philister haben mir alles genommen, ich komme an wie der verlorene Sohn.«

Wie anziehend auch die Gegenstände der Unterhaltung waren, die von dem jungen Manne und dem Greise geführt wurde, und wie geistreich auch gewisse Antworten Saviniens, das junge Mädchen blieb bis zur Abenddämmerung stumm hinter seinem grünen Schleier, die Hände über dem Schal gefaltet.

»Das Fräulein scheint von Paris nicht entzückt zu sein«, sagte Savinien endlich verletzt.

»Ich kehre gern nach Nemours zurück«, antwortete sie, während sie ihren Schleier hob, mit bewegter Stimme.

Trotz der Dunkelheit erkannte Savinien sie jetzt an ihren dicken Flechten und ihren strahlenden blauen Augen wieder.

»Und ich verlasse Paris ohne Bedauern, um mich in Nemours zu vergraben, da ich meine schöne Nachbarin wiederfinde«, sagte er. »Ich hoffe, Herr Doktor, daß Sie mich bei sich empfangen; ich liebe die Musik, und ich erinnere mich, Fräulein Ursula Klavier spielen gehört zu haben.«

»Ich weiß nicht, mein Herr«, sagte der Doktor ernst, »ob Ihre Frau Mutter es gern sähe, wenn Sie einen Greis besuchten, der diesem teuren Kinde alle Fürsorge einer Mutter zu widmen hat.«

Diese gemessene Antwort gab Savinien viel zu denken, der sich jetzt des damals so leichthin geschickten Kusses erinnerte. Die Nacht war hereingebrochen, die Hitze war drückend, Savinien und der Doktor schliefen zuerst ein. Ursula, die lange wach blieb und Pläne ersann, unterlag gegen Mitternacht dem Schlummer. Sie hatte ihr einfaches, geflochtenes Strohhütchen abgenommen. Ihr mit einer gestickten Haube bedeckter Kopf senkte sich bald auf die Schulter ihres Paten. Bei Tagesgrauen, in Bouron, erwachte Savinien als der erste. Er sah Ursula jetzt in der Unordnung, in die die Stöße des Wagens ihren Kopf gebracht hatten: die Haube war zerknittert und hatte sich verschoben; aufgelöst fielen auf beiden Seiten ihres von der im Wagen herrschenden Hitze geröteten Gesichtes die Zöpfe hernieder; doch in dieser Lage, die für Weiber, welche die Toilette nötig haben, schrecklich ist, triumphieren Jugend und Schönheit. Die Unschuld hat stets einen guten Schlaf. Die halbgeöffnetem Lippen ließen die hübschen Zähne sehen, der herabgeglittene Schal gestattete, ohne daß Saviniens Blick verletzend auf Ursula ruhte, unter den Falten eines bunten Musselinkleides alle Anmut ihres Wuchses wahrzunehmen. Und endlich strahlte die Reinheit ihrer jungfräulichen Seele auf ihrem Gesicht und bot sich um so klarer, als sonst kein Ausdruck störte. Der alte Minoret, der nun aufwachte, lehnte den Kopf des Mädchens in die Wagenecke, damit sie es so bequemer habe; es geschah, ohne daß sie etwas davon merkte, so tief war ihr Schlaf nach all den Nächten, die sie mit den Gedanken an Saviniens Unglück zugebracht hatte.

»Arme Kleine!« sagte er zu seinem Nachbar. »Sie schläft wie das Kind, das sie ist.«

»Sie dürfen stolz auf sie sein«, antwortete Savinien, »denn sie scheint ebenso gut, wie sie schön ist.«

»Ah, sie ist die Freude des Hauses. Selbst wenn sie meine Tochter wäre, könnte ich ihr nicht stärker zugetan sein. Am nächsten fünften Februar wird sie sechzehn. Möge Gott geben, daß ich lange genug lebe, um sie einem Manne zu verbinden, der sie glücklich macht! Ich wollte sie in Paris, wohin sie zum ersten Mal gekommen ist, ins Theater führen, allein sie hat's nicht gewollt, der Pfarrer von Nemours hat's ihr verboten. ›Aber‹, hab ich zu ihr gesagt, ›wenn du nun verheiratet bist, und dein Mann will dich hinführen?‹ – ›Ich werde alles tun, was mein Mann wünscht‹, hat sie mir geantwortet. ›Wenn er irgend etwas Schlechtes von mir verlangt und ich schwach genug bin, ihm zu gehorchen, so wird er vor Gott die Schuld dafür tragen; auch würde ich wohl die Kraft haben, ihm zu seinem eigenen Besten zu widerstehen.‹«

Als man fünf Uhr morgens in Nemours anlangte, wurde Ursula wach und schämte sich sehr, als sie an sich die Unordnung bemerkte und Saviniens bewunderungsvollen Blick traf. Seit der Stunde, wo die Post eben nach Bouron kam, um dort einige Minuten Aufenthalt zu nehmen, war der junge Mann in Ursula verliebt. Er hatte die Lauterkeit ihrer Seele geprüft, die Schönheit ihres Körpers, ihren weißen Teint, die Feinheit ihrer Züge, die Anmut ihrer Stimme, die jenen so kurzen Satz so ausdrucksvoll ausgesprochen hatte, mit dem das arme Kind alles sagte, als sie nichts sagen wollte. Endlich aber ließ irgendeine Vorahnung ihn in Ursula das Weib sehen, das der Doktor ihm geschildert hatte, indem er sie mit den zauberischen Worten ›sieben- bis achthunderttausend Franken‹ in Gold faßte.

›In drei, vier Jahren wird sie zwanzig sein, ich siebenundzwanzig; der gute Mann hat von Prüfungen gesprochen, von Arbeit, von guter Aufführung! Wie's auch kommen mag, er wird mir schließlich sein Geheimnis sagen.‹

Die drei Nachbarn trennten sich vor ihren Häusern, und Savinien legte in seinen Abschied die Absicht zu gefallen, indem er Ursula einen dringlich bittenden Blick zuwarf. Frau von Portenduère ließ ihren Sohn bis Mittag schlafen. Trotz ihrer Reisemüdigkeit begaben sich der Doktor und Ursula zur großen Messe. Die Befreiung Saviniens und seine Rückkehr in Gemeinschaft mit dem Doktor hatte die Politiker der Stadt und die auf dem Kirchplatz zu einer ähnlichen Zusammenkunft wie die, die sie vor vierzehn Tagen abgehalten hatten, vereinigten Erben über den Zweck dieser letzten Abwesenheit unterrichtet. Zum großen Erstaunen der Gruppen hielt Frau von Portenduère, als sie aus der Messe kam, den alten Minoret an, der ihr den Arm bot und sie zurückgeleitete. Die alte Dame wollte ihn für denselben Tag zum Diner bitten und sagte ihm, daß der Herr Pfarrer der andere Tischgenosse sein würde. »Er wird Ursula haben Paris zeigen wollen«, sagte Minoret-Levrault.

»Potztausend, der gute Mann tut keinen Schritt ohne seine Kleine!« rief Crémière.

»Wenn ihm die gute Frau von Portenduère den Arm gibt, müssen recht vertrauliche Dinge zwischen ihnen im Gang sein«, äußerte Massin.

»Und Sie haben nicht geahnt, daß Ihr Onkel seine Renten verkauft und den kleinen Portenduère losgeeist hat!« rief Goupil. »Er hat meinen Chef abgewiesen, aber seine Patronin hat er nicht abgewiesen … Ah, ihr seid angeführt! Der Vicomte wird vorschlagen, anstatt einer Schuldverschreibung einen Ehekontrakt zu machen, und der Doktor wird seinem Kleinod von Patenkind im Namen ihres Ehemannes alles bewilligen, was für den Abschluß einer solchen Verbindung notwendig ist.«

»Ursula mit Herrn Savinien verheiraten würde ganz schlau sein«, sagte der Schlächter. »Die alte Dame hat heute Herrn Minoret zum Diner bei sich, Tiennette ist um fünf Uhr zu mir gekommen und hat ein Rinderfilet bestellt.«

»Nun, Dionis, hier gibt's was zu tun!« rief Massin und eilte zu dem Notar hin, der auf dem Kirchplatz erschien.

»Na, was denn? Alles geht gut«, versetzte der Notar. »Ihr Onkel hat seine Renten verkauft, und Frau von Portenduère hat mich gebeten, zu ihr zu kommen, um eine Schuldverschreibung von hunderttausend Franken Hypotheken auf ihr Gut zu unterzeichnen, die Ihr Onkel ihr geliehen hat.«

»Ja, aber wenn die jungen Leute sich heiraten?«

»Das ist so, als wenn Sie sagten, daß Goupil mein Nachfolger würde«, erwiderte der Notar.

»Zwei Dinge, die nicht unmöglich sind«, sagte Goupil. –

Als sie aus der Messe zurück war, ließ die alte Dame ihrem Sohn durch Tiennette sagen, er solle zu ihr kommen.

Das kleine Haus hatte im ersten Stockwerk drei Zimmer. Das der Frau von Portenduère und das ihres verstorbenen Mannes befanden sich auf derselben Seite, voneinander durch ein großes Toilettenzimmer getrennt, das sein Licht durch ein vom Nachbar bewilligtes Fenster empfing, und miteinander verbunden durch ein kleines, nach der Treppe hin gelegenes Vorzimmer. Das Fenster des anderen Gemaches, das von Savinien bewohnt wurde, lag, wie das seines Vaters, nach der Straße hinaus. Dahinter ging die Treppe hinab, so daß für dies Gemach ein kleines Kabinett blieb, das durch eine runde, nach dem Hof hin gelegene Fensterluke sein Licht erhielt. Das Gemach der Frau von Portenduère, das düsterste des ganzen Hauses, lag nach dem Hof hinaus; aber die Witwe verbrachte ihr Leben in dem Saal zu ebener Erde, der mit der Küche, die hinten auf dem Hof angebaut worden war, durch einen Gang in Verbindung stand, so daß dieser Saal zugleich als Salon und als Speiseraum diente. Das Zimmer des verstorbenen Herrn von Portenduère blieb in dem Zustand, in dem es sich am Tage seines Hinganges befunden hatte: es fehlte bloß der Verstorbene. Frau von Portenduère hatte eigenhändig das Bett hergerichtet, indem sie die Schiffskapitänsuniform darauflegte, den Degen, das rote Ordensband, die Orden und den Hut ihres Mannes. Die goldene Tabaksdose, aus der sich der Vicomte zum letztenmal bedient hatte, befand sich auf dem Nachttisch, zugleich mit seinem Gebetbuch, seiner Uhr und der Tasse, aus der er getrunken hatte. Eingerahmt waren seine weißen, in eine einzige Locke gedrehten Haare über dem Kruzifix mit dem Weihwassergefäß im Alkoven aufgehängt. Endlich fehlten auch nicht die Kleinigkeiten, die er benutzt hatte, seine Zeitungen, seine Möbel, sein holländischer Spucknapf, sein beim Kamin aufgehängtes Feldfernrohr. Die Witwe hatte die alte Wanduhr in seiner Todesstunde angehalten, die also für immer angezeigt wurde. Man schmeckte hier noch den Puder und den Tabak des Verstorbenen. Die Feuerstätte war noch, wie er sie verlassen hatte. Sein großes Spazierrohr mit dem goldenen Knauf stand da, wo er es hingestellt hatte, wie daneben auch seine dicken hirschledernen Handschuhe lagen. Auf der Konsole glänzte eine plump gearbeitete goldene Vase, die aber einen Wert von tausend Talern besaß und die ihm von Havanna gewidmet worden war, als er es gelegentlich des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges vor dem Angriff der Engländer geschützt, wobei er gegen überlegene Kräfte kämpfen mußte, nachdem er dem Transport, den er beschützte, gute Einfahrt in den Hafen ermöglicht hatte. Um ihn zu belohnen, hatte ihn der König von Spanien zum Ritter seiner Orden gemacht. Da er infolge dieses Ereignisses bei der ersten Beförderung zum Geschwaderchef ernannt worden war, erhielt er das rote Ordensband. Dann hatte er, des ersten freien Postens sicher, seine Frau geheiratet, die ein Vermögen von zweihunderttausend Franken besaß. Aber die Revolution stellte sich seiner Beförderung in den Weg, und er emigrierte. –

»Wo ist meine Mutter?« fragte Savinien Tiennette.

»Sie erwartet Sie im Zimmer Ihres Vaters«, antwortete die alte bretonische Dienerin.

Savinien konnte sich eines Zitterns nicht erwehren. Er kannte die Prinzipienstrenge seiner Mutter, ihren Ehrenkult, ihre Loyalität, ihren Glauben an den Adel, und er sah einen Auftritt voraus. So ging er wie einem Sturm entgegen, beklommenen Herzens, fast bleich.

In dem Halblicht, das durch die Jalousien hereindrang, bemerkte er seine Mutter, schwarzgekleidet, mit feierlicher Miene, die zu diesem Sterbezimmer paßte.

»Herr Vicomte«, sagte sie, indem sie ihn ansah, sich erhob und ihn bei der Hand ergriff, um ihn vor das Bett des Vaters zu führen, »hier hat Ihr Vater, ein Ehrenmann, ausgelitten, hier ist er gestorben, ohne daß er sich irgendeinen Makel zum Vorwurf zu machen gehabt hätte. Sein Geist weilt in diesem Zimmer. Sicherlich hat er da oben geseufzt, als er seinen Sohn durch einen Aufenthalt im Schuldgefängnis in Schande sah. Unter der alten Monarchie hätte man Ihnen diese Entehrung erspart, indem man um einen Geheimbefehl ersucht und Sie für einige Tage in ein Staatsgefängnis gesteckt hätte. Aber genug: hier stehen Sie vor Ihrem Vater, der Sie vernimmt. Sie wissen, was Sie getan haben, eh Sie in dies schmähliche Gefängnis kamen: können Sie mir vor diesem Schatten und vor Gott schwören, daß Sie keine entehrende Handlung begangen haben, daß Ihre Schulden die Folge jugendlichen Leichtsinns sind, daß Ihre Ehre gewahrt ist? Wenn Ihr untadeliger Vater hier wäre, als ein Lebender, in diesem Sessel da, wenn er von Ihnen Rechenschaft über Ihre Aufführung verlangte, würde er Sie, nachdem er Sie gehört hätte, in seine Arme schließen?«

»Ja, liebe Mutter«, sagte der junge Mann mit ehrfurchtsvollem Ernst.

Sie breitete die Arme aus und drückte ihren Sohn unter Tränen ans Herz.

»Lassen wir also alles vergessen sein«, sagte sie. »Es handelt sich ja nur um Geld. Ich werde Gott bitten, daß er es uns wiederfinden läßt, und da du unseres Namens würdig bist, so küsse mich; ich habe viel gelitten!«

»Ich schwöre, meine teure Mutter«, sagte er, indem er die Hand gegen das Bett hin ausstreckte, »dir nie mehr den geringsten Kummer zu machen und alles zu tun, um meine ersten Verfehlungen wieder gutzumachen.«

»Komm zum Frühstück, mein Kind«, sagte sie, indem sie das Zimmer verließ.

Wenn man die Gesetze der Bühne auf diese Erzählung anwenden soll, so schließt die Ankunft Saviniens, indem sie die einzige Person in Nemours einführt, die noch zu denen fehlte, die in diesem kleinen Drama auftreten, die Exposition hier ab.


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