Honoré de Balzac
Lebensbilder - Band 2
Honoré de Balzac

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Erstes Bild

Die Blutrache

1.

An einem Septembertage des Jahres 1800 langte ein Fremder, begleitet von seiner Gattin und seiner kleinen Tochter, vor den Tuilerien zu Paris an, blieb eine Weile vor den Trümmern eines erst kürzlich zerstörten Hauses stehen, schlang die Arme ineinander und senkte das Haupt. – Wenn er hin und wieder es erhob, geschah es, um den Palast des Konsuls in Augenschein zu nehmen, oder um seine Gattin zu betrachten, welche ermüdet auf einen Stein sich niedergelassen, das kleine Mädchen zu sich gezogen hatte, und während sie voll mütterlicher Zärtlichkeit das rabenschwarze Haar desselben streichelte, dennoch ihren Begleiter nicht aus den Augen ließ und jeden seiner Blicke erwiderte. Es war nicht zu verkennen, wie nahe sich beide gingen und ein und dieselben Gefühle ihre Blicke und Bewegungen beherrschten. Gemeinschaftliches Mißgeschick ist ein enges Band. Es waren Eheleute und die Kleine das letzte Pfand eines vergangenen Glückes.

Der Unbekannte hatte kräftige Gesichtszüge, dickes, schwarzes Haar, das schon an einigen Stellen zu greisen begann, seine edlen Züge entstellte aber eine abstoßende Härte. Er war groß, kräftig, obgleich älter als sechzig Jahre. Seine abgetragenen Kleider verrieten einen Fremden von weither.

Seine Gattin zählte mindestens fünfzig Jahre, ihre ehemals schöne Gestalt war welk, und tiefe Trauer schien ihr inzuwohnen; wenn aber ihr Gatte sie anblickte, zwang sie sich zu einem Lächeln und einer stillen Fassung. Das Kind, trotz der Müdigkeit des zarten, sonnegebräunten Antlitzes, blieb bei der Mutter stehen. Es hatte den italischen Anstand, große, schwarze Augen unter gebogenen Brauen, natürliche Würde mit kindlichem Liebreiz.

Mehr als einem Vorübergehenden fiel die südliche Gruppe auf, die keinen Hehl aus ihrer Verzweiflung zu machen schien und stumm und einfach sie ausdrückte. So oft aber der Unbekannte wahrnahm, daß er der Gegenstand müßiger Neugier sei, verscheuchte ein wilder Blick den dreisten Beobachter wie den teilnehmendsten Menschenfreund, und die Gaffer beschleunigten ihre Schritte, als habe ihr Fußtritt eine Schlange berührt.

Mit einem Male fuhr der Fremde mit der Hand über die Stirne, als wolle er die Gedanken, die in den tiefen Furchen derselben sich gelagert hatten, durch einen kühnen Entschluß verscheuchen. Noch einmal blickte er Weib und Kind an, zog ein langes Messer aus seinem Busen, reichte es seiner Gattin und sagte auf italienisch: »Laß sehen, ob die Bonapartes unsrer noch gedenken.«

Ruhig und festen Schrittes ging er auf die Pforten des Palastes zu.

Die Schildwacht hielt ihn natürlicherweise an und setzte beim ersten Ungehorsam das Bajonett auf seine Brust. Zufällig aber kam der Korporal herzu, um die Schildwacht abzulösen, der dem Unbekannten mit französischer Artigkeit riet, sich an den wachthabenden Offizier zu wenden, und den Ort, wo er zu finden sei, bezeichnete.

Der Fremde traf den wachthabenden Kapitän, und seine ersten Worte waren: »Melden Sie Bonaparte, Bartholomeo di Piombo wolle mit ihm reden.«

Der Kapitän entgegnete, der Zutritt zum ersten Konsul werde nur nach einem schriftlichen Gesuch gestattet. Aber der Fremde blieb bei seinem: Bartholomeo di Piombo wolle Bonaparte sprechen, und jener mußte sich auf seine vorgeschriebene Ordre berufen und das Gesuch rund abschlagen. Bartholomeo faltete die Brauen, ein dunkler Blick schien den Offizier für alle Folgen verantwortlich zu machen. Er schwieg, verschränkte die Arme und stellte sich mitten in die Pforte, die den Tuilerien-Garten mit dem Palaste verbindet.

Kühnen ist das Glück hold, oder wer etwas kräftig will, beschwört seine Umstände oder weicht nicht eher, bis sie sich günstig gestalten. Bartholomeo hatte sich eben auf einem Eckstein vor dem Portal niedergelassen, als ein Wagen vorfuhr, aus welchem Lucian Bonaparte, Minister des Innern, stieg.

»Lucian!« rief Bartholomeo in korsischer Mundart, »ich bin sehr erfreut, dich zu sehen.« Lucian blieb stehen, sah den Fremden an, dieser sagte ihm einige Worte ins Ohr, worauf Lucian mit dem Kopfe nickte und den Fremden ihm folgen hieß.

Er führte ihn ins Zimmer des ersten Konsuls, Murat, Lannes und Rapp waren bei Bonaparte. Als Lucian mit seinem zweideutigen Begleiter eintrat, schwiegen alle mitten in der Rede. Lucian aber nahm Napoleon bei der Hand, zog ihn in die Brüstung eines Fensters, sagte ihm einige Worte leise, worauf der Konsul ein Zeichen mit der Hand gab, dem Murat und Lannes gehorchten und sich entfernten. Rapp aber stellte sich, als habe er nichts gesehen, und blieb. Bonaparte mußte ihm noch einmal ausdrücklich befehlen, daß er hinausgehen solle; der Adjutant verließ das Kabinett, ging aber im Vorzimmer mit starken Schritten auf und nieder. Bonaparte eilte ihm zornig nach und fragte:

»Willst du mich heute nicht verstehen? Ich will allein sein mit meinem Landsmann.«

»Mit dem Korsen?« fragte der Adjutant mißtrauisch. »Ich traue keinem Korsen.«

Der Konsul lächelte und stieß seinen treuen Diener sanft bei der Schulter zur Tür hinaus.

Bonaparte kehrte zurück.

»Wie kommst du hierher, mein armer Bartholomeo?« fragte er.

»Wenn du ein Korse bist,« versetzte Bartholomeo dreist, »so gib mir Schutz und Zuflucht.«

»Welch Mißgeschick macht dich flüchtig? – Vor einem halben Jahre warst du der Reichste, Angesehenste –«

»Ich habe alle Portas umgebracht,« versetzte der Korse. Der erste Konsul trat oder flog zwei Schritte zurück.

»Verrat mich nur!« rief Bartholomeo mit wilden, leuchtenden Augen. »Es leben noch vier Piombos in Korsika.«

Lucian faßte Bartholomeo beim Arm und fragte: »Willst du meinem Bruder hier drohen?«

Bonaparte verwies ihn zum Schweigen und fragte Piombo: »Warum hast du die Portas umgebracht?«

Die Augen des Korsen leuchteten wie Blitze. »Wir hatten uns vertragen,« sprach er, »die Piombos und Portas. Die Barbatonis hatten uns versöhnt. Wir tranken mitsammen, um unsern Haß im Wein zu ersäufen. Hierauf ging ich, weil ich in Bastia ein Geschäft hatte. Die Portas bleiben bei mir, stecken mein Haus in Brand, brachten meinen Sohn Gregorio um, und wenn mein Weib und meine Tochter entkamen, so geschah's, weil sie morgens zur Kommunion waren und die heilige Jungfrau sie schützte. – Ich kehre heim – finde kein Haus – in Schutt und Asche suche ich mein Obdach.«

Von Erinnerungen überwältigt, hielt er inne.

»Da« – fuhr er fort – »da stoß ich auf einen Leichnam. Es war mein Gregorio, ich erkannte ihn im Mondschein. Das sind die Portas gewesen! rief ich und ging zur Stelle in die Gebirge!

Dort sammelte ich Leute um mich, denen ich Dienste geleistet – verstehst du Bonaparte, denen ich Dienste geleistet, und wir zogen nach den Weingärten der Portas. Um neun Uhr morgens waren wir dort, um zehn standen sie alle vor Gott. – – Giacomo behauptet, Elisa Banni habe den kleinen Luigi Porta gerettet. Es ist nicht wahr! Ich selbst habe ihn ans Bett gebunden und das Haus gleich darauf in Brand gesteckt.«

Mit neugierigen Blicken, jedoch ohne Erstaunen, maß Bonaparte den Erzähler.

»Wie viele waren's ihrer?« fragte Lucian.

»Sieben in allem!« versetzte Piombo. – »Zuzeiten waren's eure Verfolger,« fügte er nachdrücklich hinzu. Wie er aber sah, daß diese Worte nicht den mindesten Zorn in beiden Brüdern erregten, rief er wie in Verzweiflung:

»Was? seid Ihr Korsen? – Es gab eine Zeit, wo ich euch schützte. Ohne mich«, sprach er keck auf Bonaparte deutend, »wäre deine Mutter lebend nicht nach Marseille gekommen.«

Bonaparte stand gedankenvoll, den Arm auf den Rand des Kamins gestützt.

»Ich kann dich nicht schützen.« sprach er endlich. »Ich bin Haupt der Republik und muß die Gesetze halten.«

»O Gott! o Gott,« rief Bartholomeo.

»Allein ein Auge kann ich zudrücken, diese Blutrache«, sprach er, »stoß ich um, es koste, was es wolle.«

Er schwieg, und Lucian winkte dem Piombo, der schon wieder unwillig den Kopf zu schütteln anfing, jetzt ruhig zu sein.

»Bleib hier!« nahm Bonaparte endlich das Wort, »so will ich um das Geschehene mich nicht kümmern. Ich will dein Eigentum verkaufen lassen und später auch für dich sorgen. Vergiß aber nicht, wo du bist; du bist hier in Paris, wo keine Blutrache gilt. Wag' es nur, mit dem Dolche zu spielen, und du bist ohne Gnade verloren. Hier schützt das Gesetz alle Bürger, und keiner darf sein Recht sich selber nehmen.«

»Wohlan!« sprach Bartholomeo, »es heiße jetzt mit uns, auf Leben und Tod. Verfüge über alle Piombos.« – Seine Stirn erheiterte sich nach diesen Worten, und ruhig sah er sich im Zimmer um. »Ihr habt's gut hier,« sprach er wohlgefällig, »ein schönes Haus.«

»Es hängt von dir ab,« versetzte Bonaparte (er dutzte ihn als seinen Landsmann) »eben solchen Palast zu bewohnen. – Bei allem habe ich mitunter einen Freund nötig, dem ich gänzlich trauen kann.«

Da brach ein Freudenschrei aus Piombos gepreßter Brust. »Ja! Du bist doch ein Korse,« rief er und reichte seine Hand dem ersten Konsul hin.

Bonaparte lächelte, betrachtete schweigend seinen Landsmann, der ihm die Luft seines Vaterlandes wiederbrachte, der Insel, die ihn bei seiner Rückkehr aus Ägypten so enthusiastisch empfangen, der Insel, die er im Leben nicht wiedersehen sollte, dann gab er seinem Bruder ein Zeichen, und dieser führte Bartholomeo di Piombo hinaus.

Draußen fragte Lucian nach den Umständen seines ehemaligen Beschützers; dieser deutete mit einer zärtlich-wehmütigen Gebärde auf ein Fenster und zeigte Weib und Kind, müde auf den Trümmern sitzend. – »Wir kommen heut zu Fuß von Fontainebleau und haben keinen Heller.«

Lucian händigte ihm seine Börse ein, beschied ihn auf den andern Tag zu sich und versprach ihm, daß für seine Existenz gesorgt werden solle, denn der Wert seiner Güter in Korsika reichte nicht hin, daß er in Paris mit Anstand davon leben konnte.

Voll Freude und hoffnungsreich kehrte Bartholomeo zu seiner Familie zurück. Die Flüchtlinge erhielten am selben Abend noch eine Stätte, Brot und den Schutz des ersten Konsuls.


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