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Dritter Teil

Der Todesweg

In den ersten Dezembertagen ging ein alter Mann, dem Regen trotzend, durch die Rue de Varennes; vor jeder Haustüre hob er die Nase und forschte nach der Adresse des Marquis Rafael von Valentin, mit der Naivität eines Kindes und der Zerstreutheit eines Philosophen. Auf seinem Gesichte widerstritten die Spuren schweren Grames mit denen eines herrschsüchtigen Wesens; unordentliches langes graues Haar hing um sein Gesicht, das vertrocknet war wie ein altes im Feuer verrunzeltes Pergament. Wenn ein Maler dieser sonderbaren knöchernen abgemagerten Gestalt im schwarzen Gewande begegnet wäre, hätte er sie sicher daheim in seinem Album konterfeit und darüber »Alter Dichter, einen Reim suchend« geschrieben. Nachdem der alte Mann die Hausnummer, die ihm angegeben worden war, als richtig erkannt hatte, pochte er sacht an das Tor eines prächtigen Palais. »Ist Herr Rafael zu Hause?« fragte der biedere Alte den livrierten Schweizer.

»Herr Marquis empfängt niemanden«, antwortete der Diener, an einem mächtigen Brocken schlingend, den er aus einem großen Topfe voll Kaffee herausgefangen hatte.

»Sein Wagen ist hier«, erwiderte der unbekannte Alte. Er zeigte auf eine schöne Equipage, die unter dem Vordache hielt, das die Stufen der Freitreppe vor Regen schützte. »Er wird noch ausfahren, ich erwarte ihn.«

»Alter, da können Sie bis morgen früh dableiben«, meinte der Schweizer, »für den gnädigen Herrn steht immer ein Wagen bereit. Gehen Sie weg, ich bitte Sie. Ich verliere sechshundert Franken lebenslängliches Einkommen, wenn ich ein einziges Mal jemand Fremden ohne Befehl ins Palais eintreten lasse.«

In dem Augenblicke kam ein großer alter Mann in einer Tracht, die der eines Türstehers in einem Ministerium sehr ähnelte, aus der Halle, stieg hastig ein paar Stufen herab und musterte den Einlaßheischenden, der ihn starr ansah.

»Übrigens kommt hier Herr Jonathas, sprechen Sie mit dem!« sagte der Schweizer.

Sympathie oder Neugier zog die beiden Greise zueinander; sie trafen sich in der Mitte des weiten Hofes, wo ein paar Grashalme zwischen den Steinplatten hervorsprießten. Erdrückendes Schweigen herrschte in dem Palais. Wenn man Jonathas ansah, regte sich der Wunsch, das Geheimnis zu durchdringen, das auf seinem Gesichte stand und von dem alles bis zu den geringsten Dingen in diesem düsteren Hause redete.

Als Rafael die ungeheure Erbschaft seines Onkels antrat, war sein erstes Bemühen gewesen, den alten Diener, auf dessen Ergebenheit er zählen konnte, aufzufinden. Jonathas weinte vor Freude, als er seinen jungen Herrn vor sich sah, den er nicht mehr wiederzusehen geglaubt hatte. Nichts glich seinem Glücke, als ihn der Marquis dann gar mit der Leitung seines Haushaltes betraute. Der alte Jonathas wurde nun die Mittelsmacht zwischen Rafael und der ganzen Welt. Er hatte alle Verfügung über das Vermögen seines Herrn, er war der blinde Vollstrecker eines ihm unbekannten Gedankens, er war ein sechster Sinn, durch den die Erregungen des Lebens dringen mußten, um zu Rafael zu gelangen.

Der alte Mann stieg ein paar Stufen der Freitreppe empor, um sich vor dem Regen zu schützen, und redete Jonathas an: »Mein Herr, ich wünsche, mit Herrn Rafael sprechen zu können.«

Der Haushofmeister rief: »Mit dem Herrn Marquis sprechen … Er redet kaum mit mir, der ich doch sein Nährvater bin!«

Da sagte der alle Mann: »Auch ich bin sein Nährvater; wenn ihn Ihre Frau an ihrer Brust aufgezogen hat, so habe ich ihn an der Brust der Musen zu trinken gelehrt, er ist mein Pflegekind, mein Kind, mein carus alumnus. Ich habe sein Gehirn geformt, habe seinen Verstand erzogen und sein Genie geweckt. Ich darf wohl sagen: mir zur Ehre und zum Ruhme. Denn er ist einer der bemerkenswertesten Männer unserer Epoche geworden. Ich habe ihn in der Sexta, Tertia und Unterprima unter mir gehabt. Ich bin sein Professor.«

»Ah, der Herr sind Herr Porriquet?«

»Ja, genau der. Aber, mein Herr …«

»Ruhe, Ruhe!« rief Jonathas zwei Küchenjungen zu, deren Stimmen das klösterliche Schweigen gebrochen hatten, in dem das Haus begraben lag. Der Professor fuhr fort: »Sagen Sie mir, mein Herr, ist der Herr Marquis vielleicht krank?«

Jonathas entgegnete: »Mein lieber Herr, Gott allein weiß, was mein Herr hat. Sehen Sie, es gibt in ganz Paris keine zwei Häuser, die so sind wie unseres, verstehen Sie, keine zwei Häuser, meiner Seele, nein. Der Herr Marquis hat dieses Palais kaufen lassen, es hat vorher einem Herzog und Pair gehört. Er hat dreimalhunderttausend Franken für die Einrichtung ausgegeben. Das ist ein Geld, dreimalhunderttausend Franken! Aber jedes Zimmer in unserem Haus ist ein wirkliches Wunder. Als ich diese Großartigkeit gesehen habe, habe ich zu mir gesagt: Schön! Das ist wie bei seinem Herrn Großvater selig! Unser junger Marquis will die Herrschaften aus der Stadt und vom Hof einladen! Nichts war's damit. Der gnädige Herr hat keinen Menschen sehen wollen. Er führt ein spaßiges Leben, verstehen Sie, Herr Porriquet, ein unvereinbarliches Leben! Der gnädige Herr steht jeden Tag um dieselbe Stunde auf. Außer mir kann niemand sein Zimmer betreten. Ich öffne um sieben Uhr, Sommer und Winter, die Tür, sonderbar, aber so ist es abgemacht. Wenn ich drinnen bin, sage ich ihm: »Herr Marquis sollen aufstehen und sich anziehen.« Er steht auf und zieht sich an. Ich muß ihm seinen Hausanzug reichen, der immer von demselben Schnitt und aus demselben Stoff gemacht ist. Ich bin auch dazu verhalten, ihn durch einen anderen zu ersetzen, wenn er nicht mehr zu tragen ist, nur um es dem gnädigen Herrn abzunehmen, daß er einen neuen verlangen muß. Was ihm einfällt! Tatsache ist, daß er täglich tausend Franken zu verzehren hat. Das liebe Kind kann tun, was es will. Aber ich liebe ihn so, daß ich ihm die linke Wange hinhielte, wenn er mir eine Ohrfeige auf die rechte gäbe. Wenn er mir noch schwierigere Dinge zu tun auftrüge, ich täte die ja doch, verstehen Sie? Schließlich hat er mir die ganzen Kleinigkeiten nur aufgetragen, damit ich eine Beschäftigung habe. Er liest die Zeitungen, nicht? Befehl ist, sie auf denselben Tisch, auf dieselbe Stelle zu legen. Um dieselbe Stunde komme ich auch und rasiere ihn selbst, ich, ich habe eine ruhige Hand. Der Koch verliert tausend Taler lebenslänglicher Rente, auf die er nach dem Tode des gnädigen Herrn rechnen kann, wenn nicht jeden Morgen unvereinbarlich das Frühstück um zehn Uhr dem gnädigen Herrn serviert wird und das Diner pünktlich um fünf Uhr. Der Speisezettel ist für das ganze Jahr im voraus für jeden Tag zusammengestellt. Der Herr Marquis braucht sich nichts zu wünschen. Er bekommt Erdbeeren, sobald es Erdbeeren gibt, und die erste Makrele, die nach Paris kommt, kriegt er. Die Speisenfolge ist gedruckt, er weiß am Morgen schon sein Diner auswendig. Also, wie gesagt, er zieht sich zur selben Stunde an, und zwar dieselben Kleider und dieselbe Wäsche, die ich immer, verstehen Sie, immer ich auf denselben Lehnstuhl lege. Ich muß auch darüber wachen, daß er immer denselben Stoff hat; gesetzt den Fall also, angenommen, zum Beispiel, daß sein Überzieher abgetragen ist, muß ich ihn durch einen anderen ersetzen, ohne ihm ein Wort davon zu sagen. Wenn schönes Wetter ist, sage ich beim Eintreten: »Gnädiger Herr sollten ausgehen!« Dann antwortet er mir mit ja oder nein. Wenn es ihm einfällt, spazieren zu fahren, braucht er nicht auf die Pferde zu warten, sie sind immer eingespannt: der Kutscher wartet unvereinbarlich mit der Peitsche in der Hand, wie Sie ihn da sehen. Nach dem Essen, abends, geht mein Herr einmal in die Oper, einmal in die italienische … aber nein, er war noch gar nicht in der italienischen Oper, erst gestern habe ich zum erstenmal für ihn eine Loge verschaffen können. Hernach kommt er genau um elf Uhr nach Hause und geht schlafen. In den Zeiten des Tages, in denen er nichts anderes tut, liest er. Er liest immer, sehen Sie, das ist auch so eine Idee von ihm. Ich habe den Auftrag, vor ihm die Buchhändlerzeitung zu lesen und die neuerschienenen Bücher zu kaufen. Er will sie an dem Tag, an dem sie erscheinen, schon auf dem Kamin liegen haben. Ich habe Befehl, jede Stunde in sein Zimmer zu kommen, um das Feuer nachzusehen, und zu wachen, daß ihm nichts fehlt.

Er hat mir ein kleines Buch zum Auswendiglernen gegeben, in dem stehen meine ganzen Pflichten, das ist ein richtiger Katechismus. Im Sommer muß ich mit Eisstücken die Zimmertemperatur immer gleich frisch erhalten, und zu jeder Zeit überallhin frische Blumen stellen. Er ist reich; er hat tausend Franken täglich zu verzehren, er kann sich solche Launen leisten. Er hat so lange nicht einmal das Notwendigste gehabt! Das arme Kind! Er quält niemanden, er ist gut, wie ein gutes Brot. Er redet kein Wort, aber es muß im Haus und im Garten vollkommene Ruhe herrschen. Und mein Herr braucht auch keinen einzigen Wunsch auszusprechen, alles geht auf einen Wink, auf einen Blick, und zwar pünktlich! Er hat recht: wenn man die Dienerschaft nicht zusammenhält, geht alles drunter und drüber. Ich sage ihm alles, was er tun muß, und er gehorcht mir. Und man möchte nicht glauben, wie weit er die Sache treibt, seine Zimmer liegen in einer … na, wie soll man das sagen – also in einer Flucht. Also schön. Nehmen wir an, er öffnet die Tür seines Zimmers oder seines Kabinetts, krach, gehen alle Türen durch einen Mechanismus von selber auf. Dann kann er von einem Ende des Hauses zum anderen gehen, ohne daß er eine Tür geschlossen findet. Das ist nett und bequem, für uns andere ist's auch angenehm, aber das hat uns ordentliches Geld gekostet … Schließlich, Herr Porriquet, hat er zu mir gesagt: »Jonathas, du wirst für mich Sorge tragen wie für ein Wickelkind.« Ja, für ein Wickelkind, mein Herr, wie für ein Wickelkind, hat er gesagt! »Du wirst für mich an meine Bedürfnisse denken …« Ich bin der Herr, verstehen Sie? und er ist gewissermaßen der Diener. Und warum das? Das zum Beispiel, sehen Sie, weiß kein Mensch auf der Welt, nur er und der liebe Gott. Das ist unvereinbarlich

»Er arbeitet an einer Dichtung!« rief der alte Professor.

»Sie glauben, daß er an einer Dichtung arbeitet? Ist das so mühsam, so was? Aber sehen Sie, ich glaube das nicht. Er sagt mir so oft, daß er leben will wie die Vergetation, daß er nur vergetieren will. Gestern erst, beim Anziehen, wissen Sie, Herr Porriquet, hat er eine Tulpe angeschaut und dann gesagt: »Das ist mein Leben. Ich vergetiere, mein lieber Jonathas …« Und dabei glauben noch die Leute, daß er verrückt ist. Das ist doch unvereinbarlich

Der Professor begann wieder mit lehrerhafter Würde, die dem alten Kammerdiener tiefen Respekt einflößte: »All das beweist mir, Jonathas, daß Ihr Herr mit einem großen Werke beschäftigt ist. Er ist in tiefe Gedankengänge versunken und will sich nicht durch die Ablenkungen des gewöhnlichen Lebens darin stören lassen. Ein Mensch von Genie vergißt alles, wenn er in seine geistige Arbeit vertieft ist. Der berühmte Newton eines Tages …«

»Ah, Newton, mhm …,« sagte Jonathas, »den kenn' ich nicht.«

Porriquet fuhr fort: »Newton war ein großer Mathematiker. Er saß einmal vierundzwanzig Stunden, die Ellbogen auf dem Tische, und als er aus seiner Träumerei auffuhr, glaubte er, daß heute noch der gestrige Tag sei, als ob er geschlafen hätte … Ich möchte den lieben Jungen besuchen, ich kann ihm von Nutzen sein.«

»Halt!« rief Jonathas, »Sie könnten der König von Frankreich sein, der richtige, versteht sich, und Sie kämen doch nicht hinein, höchstens, wenn Sie die Türen aufbrechen und über meine Leiche steigen wollen. Aber warten Sie, Herr Porriquet, ich laufe hinauf und sage ihm, daß Sie da sind, und frage ihn auf unsere komische Art: ›Soll ich ihn herauflassen?‹, dann wird er mir ja oder nein antworten. Nie sage ich zu ihm: Wünschen Sie? Wollen Sie? Möchten Sie? Diese Worte sind aus unseren Gesprächen ausradiert. Einmal ist mir so eines ausgerutscht, da hat er mich wütend angeschrien: ›Willst du mich umbringen?‹«

*

Jonathas ließ den alten Professor im Vestibül stehen und machte ihm noch ein Zeichen, nicht weiter zu gehen; er kam aber bald mit einer günstigen Antwort zurück und führte den alten ausgedienten Lehrer durch prunkende Gemächer, deren Türen sämtlich offen standen. Porriquet erblickte in der Ferne seinen Schüler am Kamin sitzend. Rafael trug einen großgemusterten Schlafrock, saß in einem tiefen Lehnstuhl und las eine Zeitung. Tiefste Schwermut, deren Beute er zu sein schien, sprach sich in dem kranken Ausdruck seines Gesichtes aus, das bleich war wie eine dahinsiechende Blume. Eine verweichlichte Anmut und die Absonderlichkeiten, die reichen Kranken eigentümlich sind, gaben seiner Person ihr Gepräge. Seine Hände, weiß und weich und zart, glichen denen einer hübschen Frau. Seine blonden Haare waren spärlich geworden, sie lockten sich, kunstvoll gelegt, um seine Schläfen. Eine griechische Mütze, von einer Quaste zusammengehalten, die viel zu schwer für den leichten Kaschmir, daraus sie gemacht war, schien, saß schief auf seinem Kopfe. Er hatte das Papiermesser aus goldverziertem Malachit, mit dem er ein Buch aufgeschnitten hatte, herabfallen lassen. Auf seinen Knien lag das Ambramundstück einer prachtvollen indischen Wasserpfeife, deren emailgeschmückter Schlauch wie eine Schlange durch das Zimmer kroch: er hatte es vergessen, daran zu saugen und ihren kühlen Duft herauszuholen. Der Hinfälligkeit seines jungen Körpers widersprachen aber die blauen Augen, in die das ganze Leben zusammengedrängt schien und in denen ein außerordentlicher Ausdruck blitzte, der jeden sofort packte und den zu schauen wehtat. Der eine konnte darin Verzweiflung lesen, ein anderer vielleicht einen inneren Kampf ahnen, der schrecklich war wie Gewissensbisse. Es war der tiefe Blick des Kraftlosen, der seine Wünsche auf den Grund seines Herzens hinabdrängt, oder der des Geizigen, der den Gedanken an alle die Freuden, die sein Geld ihm verschaffen könnte, genießt und sie sich dennoch versagt, um seinen Schatz nicht zu vermindern; es war auch der Blick des gefesselten Prometheus oder Napoleons nach seinem Sturze, da er im Elysée, im Jahre 1815, die strategischen Fehler seiner Feinde erkennend, für vierundzwanzig Stunden den Oberbefehl verlangt – und ihn nicht erhält. Es war wahrhaftig der Blick des Eroberers und des Verdammten, und mehr noch derselbe Blick, mit dem Rafael ein paar Monate vorher die Seine und sein letztes Goldstück, das er auf den Spieltisch geworfen hatte, angesehen hatte. Er unterwarf seinen Willen und seine Intelligenz dem plumpen Verstande eines alten Bauern, der durch ein fünfzigjähriges Dienerdasein nur wenig verfeinert worden war. Er war fast froh, eine Art Automat zu werden; um zu leben, entsagte er seinem Leben und bestahl seine Seele um alle Entzückungen der Wünsche. Um der grausamen Macht, deren Herausforderung er angenommen hatte, besser Widerstand leisten zu können, hatte er sich wie Origines zur Keuschheit gezwungen, indem er seine Phantasie verstümmelte. Eines Tags, nachdem er so plötzlich durch ein Testament reich geworden war und zugleich das Kleinerwerden des Chagrinleders erlebt hatte, war er bei seinem Notar gewesen. Hier hatte ein Arzt, der eben sehr in der Mode war, beim Essen erzählt, wie ein lungenkranker Schweizer sich auskuriert habe: dieser Mann habe zehn Jahre hindurch kein Wort geredet, und es auf sich genommen, nicht mehr als sechsmal in der Minute und stets in der dicken Luft eines Kuhstalles zu atmen, und habe überdies nach einer sehr ausgesuchten Ernährungsvorschrift gelebt. Rafael, der um jeden Preis leben wollte, sagte zu sich: Ich werde dieser Mann sein! Inmitten alles Luxus führte er nun die Existenz einer Dampfmaschine.

Als der alte Professor diesen jugendlichen Leichnam erblickte, erbebte er. Alles erschien ihm an dem zarten, hinfälligen Körper künstlich zu sein. Da er den Marquis mit seinen gierigen Augen und der gedankenbeladenen Stirn vor sich sah, vermochte er nicht mehr, in ihm den Schüler mit rosigfrischem Gesicht und jugendkräftigen Gliedern, den sein Gedächtnis bewahrt hatte, wiederzuerkennen. Wenn dieser gute, mit den Klassikern vertraute Biedermann, der dabei ein scharfer Kritiker und ein Mann von gutem Geschmack war, Lord Byron gelesen hätte, hätte er hier Manfred gesehen, wo er Child Harold zu finden gehofft hatte.

»Guten Tag, Vater Porriquet!« begrüßte Rafael seinen Lehrer und drückte die eisigen Finger des Greises in seiner heißen, feuchten Hand. »Wie geht es Ihnen?«

Der alte Mann erschrak bei der Berührung dieser fiebrigen Hand. »Danke, mir geht es gut. Und Ihnen?«

»Oh, ich hoffe, mich bei guter Gesundheit zu erhalten.«

»Sie arbeiten sicher an einem schönen Werk?«

»Nein,« erwiderte Rafael, »exegi monumentum …, lieber Vater Porriquet, ich habe eine große Sache zu Ende gebracht, damit habe ich für immer der Wissenschaft Lebewohl gesagt. Heute weiß ich kaum mehr, wo mein Manuskript ist.«

»Ihre Arbeit ist doch wohl in einem sauberen Stil geschrieben?« fragte der Professor, »Sie haben sich doch hoffentlich nicht die barbarische Sprache dieser neuen Schule zu eigen gemacht, die Wunder zu tun glaubt, indem sie Ronsard neu entdeckt.«

»Meine Arbeit ist ein rein physiologisches Werk.«

»Oh, damit ist alles gesagt,« erwiderte der Professor, »in der Wissenschaft muß sich die Grammatik den Anforderungen der Entdeckungen unterordnen. Nichtsdestoweniger, mein Kind, kann ein klarer harmonischer Stil, die Sprache Massillons, Buffons und des großen Racine, kurz, ein klassischer Stil nie etwas verderben … Aber, mein Freund,« unterbrach sich der Professor, »ich vergaß bisher den Anlaß meines Besuches, der kein uneigennütziger Besuch ist.«

Rafael erinnerte sich zu spät der wortreichen Ausdrucksweise und der schwülstigen Beredsamkeit, an die sich sein Lehrer in seiner langen Kathederlaufbahn gewöhnt hatte, und er bedauerte fast, ihn empfangen zu haben; aber im Augenblick, da er den Wunsch in sich aufsteigen fühlte, ihn draußen zu haben, unterdrückte er schnell dieses geheime Verlangen und warf einen verstohlenen Blick auf das Chagrinleder, das vor ihm an der Wand hing, auf einem weißen Stoff aufgespannt, auf dem seine schicksalbedeutenden Umrisse peinlich genau mit einer roten Linie aufgezeichnet waren, die es aufs knappste umrahmten.

Seit jener Orgie, die sein Leben bestimmt hatte, erstickte Rafael selbst die geringsten seiner Wünsche und lebte so, daß er auch nicht die kleinste Veränderung an dem furchtbaren Talisman verursachen konnte. Das Chagrinleder war wie ein Tiger, mit dem er leben mußte und dessen Wildheit er nicht wecken durfte. Er hörte also geduldig die weitschweifigen Reden seines einstigen Professors an. Der alte Porriquet brauchte eine ganze Stunde dazu, ihm zu erzählen, was für Verfolgungen er seit der Julirevolution ausgesetzt gewesen sei. Der brave Mann, der eine starke Regierung wünschte, hatte öffentlich den patriotischen Wunsch geäußert, die Krämer mögen in ihren Kontors bleiben, die Staatsmänner bei der Führung der Staatsgeschäfte, die Advokaten im Justizpalast und die Pairs von Frankreich im Luxembourg. Daraufhin hatte ihn einer der Minister des Bürgerkönigs des Carlismus angeklagt und seines Lehramtes entsetzt. Der alte Mann hatte nun kein Amt, keine Zuflucht und kein Brot mehr. Er war der Schutzgeist eines armen Neffen, für den er die Pension im Seminar von St. Sulpice bezahlte; er kam nun, weniger um für sich, als für sein Adoptivkind seinen einstigen Schüler zu bitten, er möge bei dem neuen Minister wenn schon nicht seine Wiedereinsetzung, so doch wenigstens seine Anstellung als Vorsteher an irgendeinem Provinzgymnasium zu erwirken trachten. Rafael hatte schon eine unwiderstehliche Schläfrigkeit befallen, als der brave Mann endlich in seinen monotonen Reden einhielt. Die Höflichkeit zwang ihn, dem Greise während seines schwerfälligen träg-flüssigen Vortrages in die hellen und fast unbeweglichen Augen zu schauen, und derweil erstarrte er wie magnetisiert von unüberwindlicher Mattigkeit.

»Also schön, mein guter Vater Porriquet,« erwiderte er, ohne genau zu wissen, auf welche Frage er antworte, »ich kann nichts dazu tun, gar nichts. Ich wünsche Ihnen den besten Erfolg …«

In diesem Augenblick aber warf sich Rafael, der die Wirkung seiner egoistischen und teilnahmslosen Worte auf den alten Mann, dessen gelbe Stirn sich noch mehr runzelte, gar nicht merkte, empor wie ein junges erschrecktes Reh. Er erblickte eine leichte weiße Linie zwischen dem Rand des schwarzen Leders und der roten Zeichnung darum. Er stieß einen so schrecklichen Schrei aus, daß der arme Professor entsetzt auffuhr.

»Marsch, alter Idiot!« schrie Rafael, »Sie werden zum Vorsteher ernannt werden. Hätten Sie nicht von mir eine lebenslängliche Rente von tausend Talern verlangen können, anstatt mich zu einem mörderischen Wunsche zu zwingen? Dann wäre mir Ihr Besuch nicht teuer zu stehen gekommen! Es gibt hunderttausend Anstellungen in Frankreich, aber ich habe nur ein einziges Leben! Ein Menschenleben ist mehr wert als alle Anstellungen der Welt … Jonathas!«

Jonathas erschien. »Da siehst du dein Werk, du alter Dummkopf! Warum hast du mir vorgeschlagen, daß ich den Herrn empfangen soll?«

Er wies auf den erstarrten alten Mann: »Habe ich mein Leben dazu deinen Händen anvertraut, daß du es mir zerstörst? Mit diesem Augenblicke jetzt hast du mir zehn Jahre meiner Existenz genommen. Wenn du noch so einen Fehler wie diesen machst, kannst du mich an die Stätte bringen, wohin ich meinen toten Vater gebracht habe. Wäre es nicht besser gewesen, ich hätte die schöne Feodora besessen, anstatt mir dieses alte Gerippe da, dieses Lumpenzeug von einem Menschen, zu Dank zu verpflichten? Ich hätte ja Geld für ihn gehabt … Und überhaupt, was geht das mich an, wenn alle Porriquets der Welt verhungern?«

Rafaels Gesicht war vor Zorn weiß geworden, ein leichter Schaum stand auf seinen zitternden Lippen und aus seinen Augen blickte Grausamkeit. Bei diesem Anblicke faßte die beiden Greise ein Zittern wie zwei Kinder, die eine Schlange sehen.

Der junge Mann sank in seinen Lehnstuhl zurück; in einer Art seelischer Reaktion strömten die Tränen aus seinen eben noch zornflammenden Augen.

»O mein Leben! Mein schönes Leben!« sagte er vor sich hin. »Nie wieder tröstliche Gedanken! Nie wieder Liebe! Nichts mehr!«

Er wandte sich wieder dem Professor zu und sprach mit sanfter Stimme: »Das Unglück ist geschehen, mein alter Freund. Wenigstens werden Sie für all Ihre Fürsorge damit reichlich belohnt sein und so wird mein Unglück einem guten und würdigen Manne doch etwas Gutes gebracht haben.«

Aus diesen kaum verständlichen Worten sprach so viel Seele, daß die beiden Greise weinten, wie man weint, wenn man ein rührendes Lied in einer fremden Sprache singen hört. Leise sagte Porriquet: »Er ist epileptisch.«

Sanft fuhr Rafael fort: »Ich danke Ihnen für Ihre Güte, Sie versuchen mich zu entschuldigen. Krankheit wäre ein Unglück, Unmenschlichkeit aber ist verbrecherisch! Aber jetzt lassen Sie mich. Sie bekommen morgen früh oder nachmittag, vielleicht auch schon heute abend Ihre Ernennung, denn die Kraft hat über den Widerstand triumphiert … Leben Sie wohl!«

Schaudernd und in heftiger Besorgnis um die seelische Gesundheit Rafaels zog der alte Mann sich zurück. Die ganze Szene hatte für ihn irgend etwas Übernatürliches gehabt, er zweifelte an sich selber und fragte sich, ob er nicht nur schwer geträumt habe.

Der junge Mann wandte sich nun zu seinem alten Diener: »Hör', Jonathas, bemühe dich, zu verstehen, mit was für einer Sendung ich dich betraut habe!«

»Jawohl, Herr Marquis!«

»Ich bin ein Mensch, der außerhalb der gewöhnlichen Gesetze steht.«

»Jawohl, Herr Marquis!«

»Alle Freuden des Lebens spielen um mein Sterbebett und tanzen wie schöne Frauen vor mir: wenn ich sie rufe, sterbe ich. Überall wartet der Tod. Du mußt eine Mauer zwischen der Welt und mir sein.«

»Jawohl, Herr Marquis,« sagte der alte Diener und wischte sich die Schweißtropfen von der runzeligen Stirn, »aber wenn Sie keine schönen Frauen sehen wollen, wie wollen Sie das heute abend in der italienischen Oper machen? Eine englische Familie, die nach London zurückkehrt, hat mir ihr restliches Abonnement abgetreten. Sie haben eine schöne Loge, eine herrliche Loge zu den Erstaufführungen.

Rafael war in tiefe Träumerei versunken, er hörte nicht mehr.

*

Ein vornehmer Wagen fährt durch die Straßen … Er ist außen einfach braun lackiert, aber auf seinem Schlage prangt das Wappen einer alten, edlen Familie. Wenn dieser Wagen vorbeifliegt, staunen die Ladenmädchen ihn an, schauen gierig auf die gelbe Seide, die Borten, die glänzend wie Reisstroh sind, die schwellenden Kissen und die matten Scheiben. Hinten auf diesem adligen Gefährt stehen zwei livrierte Diener. Drinnen aber auf der Seide liegt ein fiebriger Kopf mit dunkel umrandeten Augen, Rafaels Kopf, traurig und gedankenschwer; ein unseliges Bild des Reichtums. Wie gejagt rast er durch Paris. Vor dem Theater Favart wird das Trittbrett herabgeschlagen, die beiden Diener stützen ihn, voll Neid starrt die Menge ihn an.

»Was hat er denn geleistet, daß er so reich ist?« murmelte ein armer Student der Rechte, der den Taler Eintrittsgeld nicht hatte und die magischen Klänge Rossinis nicht hören durfte.

Rafael schritt langsam durch die Gänge des Hauses, er versprach sich keinen Genuß mehr von diesen Vergnügungen, nach denen er einst so sehr gegiert hatte. In Erwartung des zweiten Aktes der »Semiramis« ging er im Foyer auf und ab und irrte durch die Galerien, ohne sich um seine Loge zu kümmern, die er noch gar nicht betreten hatte. Das Gefühl für Besitz gab es in seinem Herzen nicht mehr. Wie alle Kranken dachte er nur an seine Krankheit. Er stützte sich auf die Kaminverkleidung; um ihn fluteten die jungen und alten Gecken, gewesene und neue Minister, geborene und gewordene Pairs und endlich eine ganze Welt von Börsenleuten und Journalisten. Unter all den Köpfen erblickte Rafael, wenige Schritte entfernt, ein seltsames unnatürliches Gesicht. Er richtete den Blick hochmütig auf dieses sonderbare Wesen und ging weiter, um es in der Nähe betrachten zu können. »Eine wirklich bewunderungswürdige Malerei!« sagte er sich. Der Unbekannte hatte die Augenbrauen, die Haare und das Spitzbärtchen auf die lächerlichste Weise schwarz gefärbt. Die kosmetischen Mittel aber hatten auf den sicherlich schon allzu weißen Haaren eine üble, ins violette gehende Farbe hervorgebracht, deren Töne je nach dem Auffallen des Lichtes wechselten. Sein hageres flaches Gesicht, dessen Runzeln von einer dicken Schicht von weißer und roter Schminke bedeckt waren, hatte einen Ausdruck von Bosheit und zugleich von Unruhe. An etlichen Stellen des Gesichtes fehlte die Bemalung und dort kam sonderbar der bleigraue Teint eines alten verfallenen Menschen zum Vorschein. Es war unmöglich, nicht zu lachen, wenn man diesen Kopf mit dem spitzen Kinn und der vorspringenden Stirn ansah, der völlig den grotesken Holzfiguren glich, wie sie in Deutschland die Schäfer in ihren Mußestunden schnitzen. Ein Beobachter, der zugleich diesen alten Adonis und Rafael betrachtet hätte, hätte an dem Marquis die Augen eines jungen Menschen in einer Greisenmaske, und an dem Unbekannten die erloschenen Augen eines Greises in einer Jünglingsmaske erkennen müssen. Valentin versuchte sich zu erinnern, unter welchen Umständen er diesen vertrockneten kleinen alten Mann schon gesehen habe, der da mit seiner schönen Halsbinde und mit klirrenden Sporen an den Stiefeln stolzierte und die Arme kreuzte, als ob er alle Kräfte ungestümer Jugend zu vergeuden hätte. Sein Gang war ungezwungen und ungekünstelt. Sein eleganter, sorgfältig zugeknöpfter Anzug verriet, daß sich unter dem Aussehen eines alten Gecken, der sich noch immer nach der Mode richtet, ein trotz des Alters antikischer Wuchs berge. Der puppenhafte alte Mensch voll Lebendigkeit hatte für Rafael den Reiz einer Erscheinung; er betrachtete ihn, wie man etwa ein altersgebräuntes Bild von Rembrandt ansieht, das frisch restauriert und gefirnist wurde und einen neuen Rahmen bekommen hat. Dieser Vergleich führte ihn in seinen wirren Erinnerungen auf die Spur der Wahrheit. Er erkannte den Antiquitätenhändler wieder, den Mann, dem er sein Unglück verdankte. In diesem Augenblick glitt ein stummes Lächeln über die frostigen Lippen dieser phantastischen Gestalt und ließ sein falsches Gebiß sichtbar werden. Bei diesem Lachen sah Rafael überrascht die unwahrscheinliche Ähnlichkeit dieses Mannes mit dem Goetheschen Mephistopheles, wie ihn die Maler darstellen.

Tausend abergläubische Vorstellungen bemächtigten sich Rafaels Seele; nun glaubte er an die Gewalt des Dämons, an all die Zauberkünste, von denen die mittelalterlichen Legenden berichten und die in den Werken der Dichter stehen. Schauder vor dem Schicksal Fausts ergriff ihn: jäh flehte er zum Himmel, denn nun glaubte er, wie alle Sterbenden, glühend an Gott und an die Jungfrau Maria. In einem hellen strahlenden Lichte erblickte er den Himmel Michelangelos und Rafael Sanzios: in Wolken einen Greis mit weißem Barte, flügelüberragte Häupter, eine schöne Frau, in einer Aureole thronend. Jetzt verstand er und machte er sich diese wunderbaren Schöpfungen zu eigen, die ihm das Abenteuer seines Schicksals deuteten und ihm noch zu hoffen gestatteten. Aber als seine Augen in das Foyer der italienischen Oper zurückkehrten, erblickte er anstatt der heiligen Jungfrau eine entzückende Dirne, die verderbte Euphrasie mit dem zarten geschmeidigen Tänzerinnenleib; sie kam in einem auffallenden Kleide, mit orientalischen Perlen behängt, voll Ungeduld nach ihrem ungeduldigen Greis und wollte sich nun frech und mit schamlos funkelnden Augen dieser neidischen Welt der Geldleute zeigen und den grenzenlosen Reichtum des Kunsthändlers, dessen Schätze sie vergeudete, zur Schau tragen. Rafael erinnerte sich nun mit einemmal des höhnenden Wunsches, mit dem er das schicksalsvolle Geschenk des alten Mannes angenommen hatte, und kostete alle Freuden der Rache aus, da er die tiefe Erniedrigung dieser erhabenen, Weisheit, deren Zerstörung vordem unmöglich geschienen hätte, mit ansah. Das leichenhafte Lächeln des Hundertjährigen galt Euphrasie, die ihm mit einem verliebten Worte antwortete. Er bot ihr seinen vertrockneten Arm, machte mit ihr zwei oder drei Runden durch das Foyer, nahm mit Entzücken die Blicke der Leidenschaft und die Verbeugungen aus der Menge, die seiner Geliebten galten, entgegen und merkte nicht das verächtliche Lachen und hörte nicht die beißenden Witzworte, deren Gegenstand er war.

»Auf welchem Friedhof hat sich der junge Vampyr da diesen Kadaver ausgegraben?« rief der eleganteste unter all den romantischen Dichtern. Euphrasie lächelte. Der Spötter war ein blonder junger Mann mit strahlenden blauen Augen, war schlank gewachsen, trug einen Schnurrbart und einen englischen Frack, und der Hut saß ihm auf den Ohren; er beherrschte aufs schlagfertigste den bösen Ton dieser Gesellschaft.

»Wie viele alte Männer krönen ein Leben der Redlichkeit, der Arbeit und der Tugend mit einer Tollheit!« sprach Rafael zu sich. »Der da hat kalte Füße und geht mit einer Frau zu Bett … Mein Herr,« rief Rafael den alten Kunsthändler an und warf einen Blick auf Euphrasie, »erinnern Sie sich nicht mehr der strengen Grundsätze Ihrer Philosophie?«

Der Alte antwortete mit einer gebrochenen Stimme: »Jetzt bin ich glücklich wie ein Jüngling. Ich hatte mein Leben verkehrt angepackt. Eine Liebesstunde kann einem ein ganzes Leben schenken.«

Da erklang das Glockenzeichen, die Zuschauer verließen das Foyer und begaben sich auf ihre Plätze. Rafael und der Alte trennten sich. Als der Marquis seine Loge betrat, erblickte er Feodora, die auf der anderen Seite des Saales genau ihm gegenüber ihren Platz hatte. Die Gräfin war anscheinend eben erst gekommen, sie legte ihren Schal ab und enthüllte ihren Hals und machte alle die unbeschreiblichen kleinen Bewegungen, die eine kokette Frau braucht, um ihre Pose einzunehmen: alle Blicke waren auf sie gerichtet. Ein junger Pair von Frankreich begleitete sie. Nun verlangte sie von ihm ihr Glas, das sie ihm zu tragen gegeben hatte. Aus seinem Gehaben und der Art, mit der sie ihren neuen Anbeter ansah, ahnte Rafael die Tyrannei, der sein Nachfolger verfallen sein mochte. Sicher war dieser jetzt so verzaubert, wie er selbst es ehedem gewesen war, und wurde getäuscht wie er selber; wie er kämpfte dieser junge Mensch mit der ganzen Kraft wahrer Liebe gegen die kalte Berechnung dieser Frau und hatte dieselben Qualen zu leiden, denen Rafael zu seinem Glücke entsagt hatte.

Als Feodora ihr Glas auf alle Logen gerichtet und hastig alle Toiletten geprüft hatte, belebte eine unsagbare Freude ihr Gesicht, da sie nun die Überzeugung gewonnen hatte, daß sie durch ihren Schmuck und ihre Schönheit die hübschesten und elegantesten Frauen von Paris übertreffe. Sie lachte, um ihre weißen Zähne zu zeigen, sie bewegte ihren blumengeschmückten Kopf, um sich bewundern zu lassen; ihr Blick ging von Loge zu Loge, verhöhnte hier das schlecht sitzende Barrett einer russischen Fürstin, dort den mißglückten Hut einer Bankierstochter. Plötzlich aber erbleichte sie, als sie die starren Augen Rafaels auf sich gerichtet fühlte. Ihr verschmähter Liebhaber durchstieß sie mit einem unerträglichen Blicke der Verachtung. Mochte keiner ihrer verwiesenen Liebhaber vor ihrer Macht sicher sein, Valentin war der einzige, der vor ihren Verführungskünsten geschützt war. Wenn Einer ungestraft einer Macht Trotz bieten kann, ist ihr Untergang besiegelt. Diese Erkenntnis ist noch viel tiefer in das Herz einer Frau gegraben als in das Bewußtsein der Könige. So sah Feodora in Rafael den Tod ihrer zauberkräftigen Herrschaft der Koketterie. Ein boshaftes Wort, das er am Abend zuvor in der Oper ausgesprochen hatte, war heute schon in den Salons von Paris berühmt geworden. Die Schärfe dieses furchtbaren Witzwortes hatte der Gräfin eine unheilbare Wunde geschlagen. Wir verstehen uns jetzt in Frankreich schon darauf, eine Verwundung mit dem Glüheisen zum Heilen zu bringen, aber wir haben noch immer kein Heilmittel für das Weh, das ein Wort bringen kann.

Im Augenblick, da alle Frauen abwechselnd den Marquis und die Gräfin ansahen, hätte Feodora ihn gern in das tiefste Verließ irgendeiner Bastille hinabgestoßen – denn trotz ihres Talentes zur Verstellung errieten jetzt alle ihre Rivalinnen ihr Leiden. Endlich verließ sie auch der letzte Trost. Die köstlichen Worte: »Ich bin die Schönste,« dieser ewig wiederholte Satz, der alle Kränkungen ihrer Eitelkeit immer wieder gestillt hatte, war zur Lüge geworden.

Während des Vorspiels zum zweiten Akt hatte eine Frau in der Nähe Rafaels in einer Loge Platz genommen, die bis dahin leer gewesen war. Ein Murmeln der Bewunderung ging durch das ganze Parterre. Aus dem Meere menschlicher Gesichter stiegen nun alle Blicke zu der Unbekannten empor. Das Geräusch der Bemerkungen und Bewegungen dauerte so lange an, daß sich beim Aufgehen des Vorhanges die Orchestermusiker umwandten und Ruhe verlangten. Aber hingerissen mischten auch sie selber sich in den Beifall und das wirre Raunen wurde nur noch stärker. Lebhafte Gespräche tönten aus jeder Loge, alle Frauen hatten ihre Gläser erhoben und die von Jugendeifer ergriffenen alten Männer säuberten mit dem Leder ihrer Handschuhe die Gläser ihrer Lorgnetten. Allmählich wurde die Begeisterung still, von der Bühne erklang der Gesang und alles fügte sich wieder in die Ordnung. Die gute Gesellschaft schämte sich, einer natürlichen Regung nachgegeben zu haben, und barg sich wieder hinter aristokratischer Kälte und glatten Manieren. Die Reichen wollen über nichts erstaunt sein, sie müssen beim ersten Blick an einem schönen Werke den Fehler entdecken, der sie der Bewunderung enthebt. Wie niedrig ist dieses Gefühl! Ein paar Männer nur blieben regungslos, hörten die Musik nicht, und betrachteten in naivem Entzücken die Nachbarin Rafaels. Valentin erblickte in einer Parterreloge neben Aquilina das rote gemeine Gesicht Taillefers, der sich ihm mit einer beistimmenden Grimasse zuwandte. Dann gewahrte er Emile, der beim Orchester stand und ihm zu sagen schien: »Schau dir doch das schöne Geschöpf neben dir an.« Endlich neben Frau von Nucingen und deren Tochter sah er Rastignac, der krampfhaft seine Handschuhe zusammendrehte wie ein Mensch, der verzweifelt ist, an seinem Platze festgebunden zu sein und nicht in die Nähe der schönen Unbekannten kommen zu können. Rafaels Leben hing von einem bisher nicht gebrochenen Pakte ab, den er mit sich selber geschlossen hatte: er hatte sich versprochen, niemals irgendeine Frau aufmerksam anzusehen, und trug, um sich vor Versuchungen zu schützen, ein Opernglas bei sich, dessen Gläser kunstvoll so angeordnet waren, daß sie die Harmonie der schönsten Züge zerstörten und ihnen ein gräßliches Aussehen gaben. Er war noch immer die Beute des Entsetzens, das ihn am Morgen ergriffen hatte, als auf einen bloßen Wunsch der Höflichkeit hin der Talisman sich sofort zusammengezogen hatte. So beschloß er fest, sich nicht nach seiner Nachbarin umzuwenden. Er saß wie eine Herzogin, den Rücken in die Ecke seiner Loge gelehnt, und verstellte so rücksichtslos der Unbekannten die Hälfte der Szene. Er gab sich den Anschein, als ob er sie verachte, ja als ob er nicht einmal zur Kenntnis nähme, daß sich eine hübsche Frau hinter ihm befinde. Seine Nachbarin ahmte aufs genaueste Rafaels Stellung nach, sie stützte die Ellenbogen auf die Logenbrüstung und hielt den Kopf in einer Dreivierteldrehung den Sängern zugewandt, so als ob sie zu einem Bilde Modell säße. Die beiden Gestalten glichen zwei verzankten Verliebten, die einander schmollend den Rücken zukehren, aber sich beim ersten Liebesworte in die Arme fallen werden. Augenblicke lang streiften die leichten Marabufedern oder die Haare der Unbekannten wie ein Hauch Rafaels Kopf und erregten in ihm ein wollüstiges Gefühl, gegen das er mutig ankämpfte. Bald wieder fühlte er die sanfte Berührung der Spitzenrüsche, die ihr Kleid abschloß, und vernahm das frauenweiche Knistern ihrer Kleiderfalten – und die Schauer süßer Hexerei überliefen ihn. Die unmerkliche Bewegung des Atmens in der Brust, im Rücken und in den Kleidern der schönen Frau und ihr ganzes holdes Leben sprang plötzlich wie ein elektrischer Funke auf Rafael über; Tüll und Spitzen liebkosten seine Schultern und teilten ihm die köstliche Wärme dieses weißen entblößten Rückens mit. Durch eine Laune der Natur atmeten diese beiden Wesen, die der gute Ton voneinander schied und die die Abgründe des Todes zutiefst trennten, miteinander, und dachten vielleicht eines an das andere. Der durchdringende Duft des Vetyver-Parfüms berauschte Rafael vollends. Seine Einbildungskraft, aufgestachelt durch die Hemmung und durch die ihr angelegten Fesseln noch phantastischer geworden, zeichnete ihm jäh in flammenden Zügen das Bildnis einer Frau. Er riß sich heftig herum. Unangenehm betroffen von der Berührung eines Fremden machte die Unbekannte eine ganz ähnliche Bewegung und, vom gleichen Gedanken belebt, sahen sie einander von Angesicht zu Angesicht.

»Pauline …«

»Herr Rafael …«

Versteinert blickten sie einander einen Augenblick lang schweigend an. Rafael sah Pauline in einem einfachen Kleide von bestem Geschmack vor sich. Durch die Gazehülle, die keusch ihren Busen bedeckte, konnten erfahrene Augen ihre lilienweiße Haut gewahren und Formen ahnen, die selbst eine Frau bewundert hätte. Sie hatte noch immer ihre jungfräuliche Bescheidenheit und die reine himmlische Anmut ihrer Haltung. Durch den Stoff ihres Ärmels verriet sich ein Zittern, denn ihr Körper bebte wie ihr Herz.

»Oh, kommen Sie morgen, kommen Sie ins Hotel St. Quentin,« sagte sie, »Sie müssen doch Ihre Manuskripte wieder an sich nehmen. Ich werde mittags dort sein. Seien Sie pünktlich!« Unvermittelt erhob sie sich und verschwand. Rafael wollte ihr folgen, aber er fürchtete, ihrem Ruf zu schaden. Er blieb. Er sah zu Feodora hinüber und fand sie häßlich. Aber er vermochte es nicht, auch nur einem Takte der Musik zu folgen. Er erstickte in dem Saal, sein Herz war übervoll, er ging – und fuhr nach Hause. Als er im Bette war, sagte er seinem alten Diener: »Jonathas, gib mir einen halben Tropfen Laudanum auf ein Stück Zucker. Und morgen darfst du mich erst zwanzig Minuten vor zwölf wecken.«

*

Am andern Tage starrte er mit unbeschreiblicher Angst auf den Talisman und rief: »Ich will von Pauline geliebt werden!« Das Leder regte sich nicht, es schien die Kraft, sich zusammenzuziehen, verloren zu haben. Sicherlich konnte es nur einen Wunsch nicht erfüllen, der schon erfüllt war. Wie von einem bleiernen Mantel, den er, seitdem der Talisman sein eigen war, getragen halte, befreit, rief er: »Du lügst, du gehorchst mir nicht, der Vertrag ist gebrochen! Ich bin frei, ich kann wieder leben! So war das Ganze doch nur ein schlechter Scherz …«

Aber er wagte es nicht, diesem Gedanken Glauben zu schenken. Er zog sich so einfach wie einst an und wollte zu Fuß nach seiner alten Wohnung gehen; er versuchte so, sich die glücklichen Tage wieder ins Gedächtnis zu rufen, in denen er sich ohne Gefahr der Raserei seiner Wünsche überlassen konnte und noch nicht in allen menschlichen Genüssen erfahren war. Er ging und sah Pauline vor sich, aber nicht mehr Pauline aus dem Hotel St. Quentin, sondern die Pauline von gestern, die er sich so oft erträumt hatte, die vollkommene Geliebte, das junge Mädchen voll Geist, das liebte, künstlerisch begabt war, die Dichter und die Dichtung verstand und umgeben von allem Luxus lebte; mit einem Worte, Feodora, mit einer schönen Seele begabt, oder Pauline, zur millionenreichen Gräfin wie Feodora geworden.

Als er auf den zerbrochenen Fliesen vor der abgetretenen Schwelle der Türe stand, durch die er so oft Gedanken der Verzweiflung getragen hatte, kam eine alte Frau aus dem Zimmer und fragte ihn: »Sind Sie nicht Herr Rafael von Valentin?«

»Ja, liebe Frau«, antwortete er ihr. Sie fuhr fort: »Erkennen Sie noch Ihr altes Quartier? Sie werden hier erwartet.«

Rafael fragte sie: »Wird das Hotel noch immer von der Frau Gaudin geführt?«

»O nein, Herr, die Frau Gaudin ist jetzt eine Baronin; sie wohnt in einem schönen Haus, das ihr gehört, auf der anderen Seite vom Wasser. Nämlich, ihr Mann ist zurückgekommen. Herrgott, hat der Tausender und Hunderter mitgebracht! Die Leute sagen, sie könnte das ganze Viertel von St. Jacques aufkaufen, wenn sie nur wollte. Sie hat mir ihre ganze Einrichtung hier und den Rest der Pacht geschenkt. Sie ist wirklich eine gute Frau! Und sie ist heute auch nicht stolzer, als sie gestern war.«

Rafael stieg eilig zu seiner Mansarde empor; auf den letzten Treppenstufen hörte er die Klänge seines Klaviers. Pauline war da! Sie trug ein bescheidenes Wollkleid, aber der Schnitt des Kleides, die Handschuhe, der Hut und der Schal, die nachlässig auf das Bett geworfen waren, sprachen beredt von Reichtum.

»Ah, da sind Sie also!« rief Pauline, den Kopf wendend, ihm entgegen und sprang mit einer kindlichen Bewegung der Freude auf. Sie setzten sich zusammen nieder. Errötend, schamhaft und glücklich blickte er sie an, ohne ein Wort zu sagen.

»Warum sind Sie denn von uns fortgegangen?« begann sie. Sie senkte die Augen, da ihr Gesicht sich purpurn färbte: »Was ist aus Ihnen geworden?«

»O Pauline, ich war und bin sehr unglücklich.«

»Also doch!« rief sie ergriffen. »Ich habe Ihr Geschick geahnt, als ich Sie gestern so gut gekleidet und sichtlich reich wiedersah … Also wirklich … Herr Rafael ist also immer noch so wie früher?«

Valentin konnte ein paar Tränen nicht zurückhalten, sie drängten heiß in seine Augen. Er rief: »Pauline … ich …«

Er vollendete nicht, seine Augen schimmerten vor Liebe und seine ganze Seele ergoß sich in seinen Blick.

»Er liebt mich … er liebt mich …«, rief Pauline. Rafael antwortete mit einer Neigung des Kopfes; er vermochte es nicht, auch nur ein Wort auszusprechen. Auf diese Bewegung hin ergriff das junge Mädchen seine Hand, drückte sie und bald lachend, bald schluchzend sprach sie: »Reich, reich sind wir, glücklich, reich! Deine Pauline ist reich … Aber heute müßte ich wieder arm sein, denn ich habe tausendmal gesagt, daß ich für das Wort: er liebt mich! alle Schätze der Erde hingäbe. O mein Rafael! Ich besitze Millionen. Du liebst den Luxus, du wirst froh sein; aber du mußt auch mein Herz lieb haben! So viel Liebe zu dir ist in diesem Herzen! Weißt du das denn noch nicht …? Mein Vater ist zurückgekommen. Ich bin eine reiche Erbin … Meine Mutter und er lassen mich ganz allein über mein Schicksal bestimmen, ich bin frei, verstehst du?«

Wie ein Delirium war es über Rafael gekommen. Er hielt Paulinens Hände und küßte sie so glühend und so gierig, daß seine Küsse wie die Zuckungen eines Krampfes erschienen. Pauline machte ihre Hände frei, legte sie auf seine Schultern und hielt ihn fest. Sie umschlangen einander fest und küßten sich mit jener heiligen entzückungsvollen Glut, rückhaltlos, mit jenem einzigen Kusse, dem ersten Kusse, in dem zwei Seelen voneinander Besitz ergreifen. Pauline sank in ihren Sessel zurück: »Nie mehr will ich dich verlassen … Ich weiß nicht, woher ich so viel Kühnheit nehme …«, flüsterte sie errötend.

»Kühnheit, meine Pauline? O fürchte dich nicht! Das ist die Liebe, die wahrhaftige Liebe, die tief und ewig ist wie die meine!«

»O sprich, sprich, sprich!« sagte sie, »dein Mund ist so lange für mich stumm gewesen.«

»Hast du mich denn geliebt?«

»O mein Gott, ob ich dich geliebt habe? Wie oft habe ich hier geweint, wenn ich dein Zimmer in Ordnung brachte, und dein Elend und das meine beklagt. Ich hätte mich dem Teufel verkauft, um dir einen Kummer ersparen zu können … Heute, mein Rafael – denn du gehörst jetzt mir, mir gehört dieser schöne Kopf, mir dein Herz, ja, dein Herz vor allem ist mein ewiger Reichtum … Aber wo war ich denn?« fuhr sie nach einer Pause fort, »doch ja …, wir haben drei, vier, fünf Millionen, glaube ich. Wenn ich nur reich wäre, läge mir vielleicht daran, deinen Namen zu tragen und deine Frau zu sein: aber jetzt möchte ich dir die ganze Welt opfern, ich möchte weiter und immer deine Dienerin sein. Rafael, ich biete dir mein Herz, mich selber, mein Vermögen, aber ich gebe dir damit nicht mehr als an dem Tage,« – sie zeigte auf die Tischlade – »da ich das gewisse Hundertsousstück da hinein versteckt habe. Wie weh mir deine Freude damals getan hat!«

»O warum bist du reich! Warum bist du nicht eitel? Ich kann ja gar nichts für dich tun …« Er rang die Hände, voll Glück, Verzweiflung und Liebe: »Ich kenne dich ja, du himmlisches Herz, wenn du die Marquise von Valentin sein wirst, wird dir mein Titel und mein Vermögen nicht mehr bedeuten als …«

»Ein einziges von deinen Haaren!« lächelte sie.

»Auch ich besitze Millionen. Aber was sind jetzt Reichtümer für uns? Doch ich habe mein Leben, das kann ich dir darbieten. Nimm es!«

»O deine Liebe, Rafael, deine Liebe ist mir mehr als die ganze Welt. Wie, mir gehören deine Gedanken? O ich bin glücklicher als alle Glücklichen!«

»Man wird uns hören«, mahnte Rafael.

»Aber es ist doch kein Mensch da«, antwortete sie mit einer kleinen kecken Bewegung.

»Dann komm!« rief er und streckte ihr die Arme entgegen. Sie sprang auf seinen Schoß und schloß die Arme um seinen Hals.

»Sie müssen mich küssen, für allen Kummer, den Sie mir gemacht haben, um all die Traurigkeiten auszulöschen, die mir Ihre Freuden gebracht haben. Für all die Nächte, in denen ich habe meine Lampenschirme bemalen müssen …«

»Deine Lampenschirme?«

»Mein Liebling, jetzt sind wir ja reich, jetzt kann ich dir alles sagen. Mein armer Junge! Wie leicht es ist, gescheite Männer zu täuschen! Glaubst du denn, daß du für die drei Franken, die du im Monat für die Wäsche auszugeben hattest, hättest weiße Westen und zweimal die Woche saubere Hemden haben können? Du hast doppelt soviel Milch getrunken, als du für dein Geld bekommen konntest. Bei allem habe ich dich betrogen, beim Feuer, beim Brennöl … und das Geld? O mein Rafael, du darfst mich nicht zur Frau nehmen!«

Sie lachte: »Ich bin eine zu hinterlistige Person!«

»Aber wie hast du denn das gemacht?«

»Ich habe bis zwei Uhr morgens gearbeitet. Die Hälfte des Geldes für meine Lampenschirme habe ich der Mutter gegeben, die andere Hälfte dir!«

Sie sahen einander einen Augenblick sinnlos vor Liebe und Freude an.

»Wir werden sicher eines Tages dieses Glück mit irgendeinem schrecklichen Leide bezahlen müssen!«

»Bist du am Ende verheiratet?« schrie Pauline auf. »Ich lasse dich keiner Frau der Welt!«

»Ich bin frei, Liebste.«

»Frei!« wiederholte sie, »frei und mein!« Sie ließ sich wieder auf seinen Schoß gleiten, schloß ihre Arme um ihn und sah ihn mit hingebungsvoller Glut an. Zärtlich strich sie über das blonde Haar ihres Geliebten hin. »O ich werde verrückt! Wie bist du entzückend … Ist deine Komtesse Feodora dumm! Ich habe einen wirklichen Genuß empfunden, als mich gestern abends alle die Männer grüßten! Sie hat nie einen solchen Beifall gehabt. Weißt du, Lieber, als gestern mein Rücken deinen Arm berührte, hat mir eine innere Stimme zugerufen: Er ist da. Ich wandte mich um und erblickte dich. O ich bin davongelaufen, denn ich spürte die Lust in mir aufsteigen, dir vor allen Leuten um den Hals zu fallen.«

»Du bist sehr glücklich, daß du reden kannst,« sagte Rafael, »mir ist das Herz beklommen. Ich möchte weinen und kann es nicht. Zieh mir nicht deine Hand fort! So möchte ich mein ganzes Leben bleiben und dich anschauen und glücklich und zufrieden sein!«

»Sag' das noch einmal, mein Geliebter!«

»Was sind denn Worte?« antwortete Rafael. Eine heiße Träne fiel auf Paulinens Hand. »Später will ich versuchen, dir meine Liebe zu sagen. Jetzt kann ich nichts als sie fühlen …«

»Oh!« rief sie wieder, »diese schöne Seele, dieses wunderbare Genie gehört mir und das Herz auch, das ich so gut kenne! Alles gehört mir, wie ich dir gehöre?«

Erschüttert sprach Rafael: »Für immer, du süßes Wesen. Du wirst meine Frau und mein Schutzgeist sein. Deine Nähe hat immer meinen Kummer zerstreut und meine Seele erquickt. Jetzt hat dein Lächeln, wenn ich das sagen darf, mein ganzes Wesen geläutert. Mir ist, es fängt jetzt ein neues Leben an. Die grausige Vergangenheit und meine traurigen Tollheilen erscheinen mir nur mehr wie böse Träume. In deiner Nähe bin ich rein. Ich atme die Luft des Glücks. O sei immer bei mir!«

In heiligem Gefühl drückte er sie an sein bebendes Herz. Ekstatisch schrie Pauline auf: »Der Tod soll kommen, wenn er mag, ich habe gelebt!«

Glücklich ist der, der ihre Freuden ahnen kann, denn der hat sie erfahren.

*

Pauline brach das Schweigen, das an die zwei Stunden gedauert haben mochte:

»Mein Rafael, ich möchte nicht, daß künftig jemand diese unsere geliebte Dachstube betrete!«

»Dann müßte man die Tür zumauern lassen, vor das Fenster ein Gitter tun und das Haus kaufen«, erwiderte der Marquis.

»Das meine ich, eben das meine ich«, sagte sie. Nach einer Weile fuhr sie fort: »Wir haben aber ganz vergessen, deine Manuskripte zu suchen!«

Sie lachten in holder Unschuld miteinander, und Rafael rief dann: »Ah was, ich pfeife auf die ganze Wissenschaft!«

»Und was ist's mit dem Ruhme, mein Herr?«

»Du bist der einzige Ruhm für mich.«

Sie blätterte in den Papieren: »Wie unglücklich du damals warst, als du diese Krähenfüße da hergemalt hast …«

»Meine Pauline I«

»Ja, ja, ich bin deine Pauline … Was denn?«

»Wo wohnst du denn?«

»In der Rue St. Lazare. Und du?«

»In der Rue de Varennes. Wie fern wir voneinander sein werden, bis zu dem Tage …« Sie hielt ein und sah den Geliebten mit einem koketten Lächeln voll kleiner Bosheit an.

»Aber unsere Trennung wird doch höchstens vierzehn Tage dauern!« sprach Rafael weiter.

»Wirklich? In vierzehn Tagen werden wir verheiratet sein!« Sie sprang wie ein Kind. »O ich bin ein herzloses Kind,« sie wurde plötzlich ernst, »ich denke weder an meinen Vater noch an meine Mutter, noch an irgend etwas mehr auf der Welt. Aber du weißt das ja gar nicht, mein Liebling, mein Vater ist sehr krank! Er ist sehr leidend aus Indien zurückgekommen. Er ist in Havre, wo wir ihn abgeholt haben, fast gestorben.« Sie sah nach der Uhr. »O Gott, schon drei Uhr; er erwacht um vier Uhr, dann muß ich bei ihm sein. Ich bin jetzt die Hausfrau, meine Mutter tut alles, was ich will, und mein Vater betet mich an … Aber ich will ihre Güte nicht mißbrauchen, das wäre sehr schlecht von mir. Der arme Vater … Er hat mich gestern in die italienische Oper geschickt … Nicht wahr, du kommst ihn morgen besuchen?«

»Will die Frau Marquise von Valentin mir die Ehre machen, meinen Arm zu nehmen?«

»Ich werde den Schlüssel dieses Zimmers mitnehmen,« sagte sie, »es ist doch unsere Schatzkammer.«

»Pauline, bekomme ich noch einen Kuß?«

»Tausend!« Sie sah Rafael an. »Mein Gott, wird es immer so sein? Mir ist es wie im Traum.«

Langsam stiegen sie die Treppe hinab. Sie gingen im gleichen Schritt, unter der Last desselben Glückes bebend, eng aneinandergeschmiegt. Auf der Place de la Sorbonne wartete Paulines Wagen. Sie sagte: »Ich will zu dir kommen. Ich will dein Schlafzimmer und dein Arbeitszimmer sehen und mich an den Tisch setzen, an dem du arbeitest. Es soll so wie früher sein«, setzte sie errötend hinzu.

»Joseph,« wandte sie sich an den Diener, »bevor ich nach Hause fahre, will ich noch in die Rue de Varennes, es ist ein Viertel nach drei. Um vier Uhr muß ich zu Hause sein. George soll die Pferde antreiben.«

Den Liebenden schienen es nur Augenblicke zu sein, bis sie zum Palais Valentin kamen.

»Ich bin so froh, daß ich alles hier gesehen habe,« rief Pauline, an den Seidenvorhängen um Rafaels Bett nestelnd, »wenn ich einschlafe, bin ich in Gedanken hier. Dann stelle ich mir deinen lieben Kopf auf diesem Polster vor. Sag' mir, Rafael, hast du bei der Einrichtung dieses Palais jemanden um Rat gefragt?«

»Keinen Menschen.«

»Wirklich nicht? Hat dir nicht eine Frau …«

»Pauline …«

»Oh, ich fühle eine wütende Eifersucht in mir … Wieviel Geschmack du hast! Morgen muß ich dasselbe Bett wie du haben.«

Trunken vor Glück griff Rafael nach Pauline.

»O mein Vater, mein Vater!« seufzte sie.

»Ich will dich nach Hause bringen, ich möchte soviel als nur möglich bei dir sein«, sagte Rafael.

»Wie lieb du bist! Ich habe nicht gewagt, dir das vorzuschlagen.«

»Du bist ja mein ganzes Leben …«

Es wäre ermüdend, hier getreu all das süße Plaudern der Liebe aufzuzeichnen, dem ja einzig der Ton, der Blick und die unübersetzbare Geste seinen Wert gibt. Valentin brachte Pauline bis zu ihrem Hause und kehrte mit so viel Freude im Herzen heim, als ein Mensch nur überhaupt empfinden und ertragen kann. Als er sich in seinen Lehnstuhl neben dem Feuer niedergelassen hatte und nun der so plötzlichen und so völligen Verwirklichung aller seiner Hoffnungen gedachte, fuhr ihm ein eisiger Gedanke wie ein Dolch durch die Seele: er sah das Chagrinleder an – es hatte sich ein ganz klein wenig zusammengezogen …

... Der furchtbarste Fluch kam von seinen Lippen. Er neigte den Kopf auf die Stuhllehne und verharrte reglos; seine Augen starrten auf eine Schale, ohne sie zu sehen. »Gütiger Gott, alle meine Wünsche, alle! Arme Pauline …« Er griff nach einem Meßzirkel und maß nach, wieviel der Morgen ihm von seinem Leben gekostet hatte. »Das reicht gerade noch für zwei Monate!« Kalter Schweiß brach aus seinen Poren. Plötzlich aber packte er in einem wilden Wutausbruche das Chagrinleder und schrie: »Ich bin zu dumm!« Er stürzte aus dem Zimmer, lief durch den Garten und warf den Talisman in den Brunnen: »Soll geschehen, was will! Zum Teufel mit all diesen Blödheiten!«

*

Rafael überließ sich nun ganz dem Glücke, zu lieben, und lebte Herz an Herz mit Pauline. Ihre Hochzeit hatte sich durch irgendwelche uninteressante äußere Schwierigkeiten verzögert; sie sollte in den ersten Märztagen gefeiert werden. Sie hatten einander erprobt, sie zweifelten nicht mehr aneinander, und das Glück erst hatte sie die ganze Gewalt ihres Gefühls kennen gelehrt. Nie noch hat Leidenschaft zwei Seelen und zwei Charaktere so vollkommen geeint. Sie studierten einander, und sie liebten einander immer noch mehr. Jedes fand und empfand am anderen die gleiche Zartheit, die gleiche Schamhaftigkeit und die gleiche Lust, süßeste Lust, wie sie die Engel fühlen. Keine Wolke trübte ihren Himmel. Immer mehr wurde jeder Wunsch des einen dem andern zum Gesetze. Sie waren beide reich, und sie kannten keine Launenhaftigkeit. Erlesener Geschmack, der Sinn für das Schöne und wahrhafte Poesie lebte im Herzen Paulinens; sie verachtete den Flitterkram der Frauen, und ein Lächeln ihres Freundes erschien ihr schöner als alle Perlen des Orients. Musselin und Blumen waren ihr reichster Schmuck. Im übrigen flohen Pauline und Rafael die Welt, und die Einsamkeit war ihnen süß und freudereich.

Jeden Abend konnten nun die Müßiggänger dieses hübsche heimliche Ehepaar in der italienischen Oper oder im Opernhause sehen. Anfangs erheiterte allerlei Klatsch über die beiden die Salons, bald aber vergaß man in dem Wirbelsturm von Ereignissen, der über Paris hinwegging, der beiden harmlosen Liebenden, zumal, da die allzu Sittenstrengen sie entschuldbar fanden, weil ja ihre Verehelichung nahe bevorstand und weil zufällig auch ihre Dienerschaft verschwiegen war. So trübte ihnen die Bosheit der Welt ihr Glück nicht.

Gegen Ende Februar, da besonders schöne Tage schon die Freuden des Frühlings ahnen ließen, frühstückten eines Morgens Rafael und Pauline zusammen in einem kleinen Wintergarten, einer Art Salon voll Blumen, der zu ebener Erde lag und in den Garten führte. Bleich und sanft drangen die Strahlen der Wintersonne durch das Blattwerk der fremdländischen Pflanzen und verbreiteten laue Wärme in dem Glashause. Die Augen freuten sich hier an den Gegensätzen vieler Arten von Blättern, den Farben der Blütenbüschel und all dem schönen Spiel von Licht und Schatten. Während noch ganz Paris sich an trübseligen Kaminfeuern wärmte, lachten die beiden jungen Gatten in einer Laube von Kamelien, Flieder und Erika. Zwischen Narzissen, Maiglöckchen und bengalischen Rosen leuchteten froh ihre Gesichter.

In diesem reichen wollüstigen Gewächshause schritt man auf weichen afrikanischen Matten, bunt wie Teppiche; die Wände waren mit Stoff bespannt und zeigten nicht die geringste Spur von Feuchtigkeit. Die Möbel waren scheinbar aus grobem, unbearbeitetem Holze gemacht, aber seine geglättete Rinde war überall blitzblank vor Sauberkeit. Der Geruch von Milch hatte eine junge Katze herbeigelockt; sie hockte nun auf dem Tische und ließ sich von Pauline das Naschen mit Kaffee beschmieren; Pauline tollte mit ihr und entzog ihr die Sahne, an der sie sie aber dann wieder schnuppern ließ, um sie in Geduld zu üben und das Spiel weiterzutreiben. Bei jeder ihrer drolligen Bewegungen lachte sie laut auf; sie heckte tausend Torheiten aus, um Rafael am Lesen der Zeitung zu verhindern, die er schon an die zehn Male aus den Händen gelegt hatte. Diese morgendliche Szene beschenkte die beiden Liebenden mit einem Übermaße jenes Glückes, das nur das Wahre und Natürliche zu gewähren vermag. Rafael tat immer wieder, als ob er die Zeitung läse, und beobachtete sie dabei heimlich in ihrem Handgemenge mit der Katze, seine Pauline, in ein Morgenkleid gehüllt, das sie ihm nicht völlig verbarg, mit ein wenig verwirrten Haaren und schneeweißen blaugeäderten kleinen Füßen in schwarzsamtenen Pantöffelchen. Sie war reizend anzusehen in ihrem dünnen Morgenkleide, entzückend wie die Gestalten von Westhall, und schien zugleich junges Mädchen und Frau zu sein, viel mehr aber noch ein Mädchen, das sein ungetrübtes Glück genießt und von der Liebe nur die ersten Freuden kennt. In einem Augenblicke, da Rafael, ganz in seine süße Träumerei versunken, die Zeitung vergessen hatte, griff Pauline nach ihr, zerknüllte sie und machte eine Kugel daraus, die sie in den Garten warf. Die Katze lief der Politik nach, die sich drehte und weiterrollte, wie sie es auch sonst tut. Als Rafael, zerstreut durch die Kindereien, nun weiterlesen wollte und sich nach dem Blatte bückte, das nicht mehr da war, erklang ein offenes fröhliches Lachen, das wie der Gesang der Vögel immer von neuem anhob.

»Ich bin auf die Zeitung eifersüchtig,« sagte sie und trocknete die Tränen, die ihr Kinderlachen ihr in die Augen getrieben hatte, »das ist doch ein Verrat,« fuhr sie, plötzlich zur Frau geworden, fort, »in meiner Gegenwart russische Proklamationen zu lesen und die Prosa des Kaisers Nikolaus den Worten und Blicken der Liebe vorzuziehen!«

»Ich habe gar nicht gelesen, mein Geliebtes, ich habe dich angeschaut.«

Da erklang plötzlich der schwere Schritt des Gärtners, unter dessen eisenbeschlagenen Schuhen der Sand der Allee knirschte, in der Nähe des Gewächshauses.

»Verzeihen Sie, Herr Marquis, daß ich Sie störe, ebenso die gnädige Frau, aber ich bringe Ihnen etwas so Merkwürdiges, wie ich es mein Lebtag noch nicht gesehen habe. Ich habe, mit Verlaub zu sagen, diese sonderbare Wasserpflanze jetzt gerade mit einem Kübel Wasser heraufgezogen. Da ist sie. Sie muß sich sehr an das Wasser gewöhnt haben, denn sie war nicht ein bißchen naß oder feucht. Sie war trocken wie Holz, aber gar nicht etwa fett. Weil der Herr Marquis sich mit solchen Sachen doch sicher besser auskennt, habe ich gedacht, ich müßte das herbringen und es könnte Sie interessieren.«

Und der Gärtner zeigte Rafael das unerbittliche Chagrinleder, dessen ganze Oberfläche jetzt kaum mehr sechs Quadratzoll groß sein mochte.

»Danke, Vanière, dieses Ding ist sehr sonderbar«, murmelte Rafael.

»Was hast du denn, mein Liebling, du wirst ja bleich!« schrie Pauline auf.

»Lassen Sie uns allein, Vanière!«

»Deine Stimme erschreckt mich!« rief das Mädchen. »Sie klingt so sonderbar krank. Was hast du denn? Was tut dir denn weh? Es tut dir etwas weh! Einen Arzt!« schrie sie, »Jonathas! Hilfe …« Rafael fand seine Kaltblütigkeit wieder: »Sei still, meine Pauline, gehen wir fort. Hier neben mir ist eine Blume, deren Geruch ich nicht vertrage. Vielleicht ist es diese Verbene da?«

Pauline stürzte sich auf die unschuldige Pflanze, riß sie aus und warf sie in den Garten. Dann umschlang sie Rafael so fest, wie ihre Liebe war, und bot ihm schmachtend ihre Purpurlippen zum Kuß: »Mein Geliebter, als ich dich bleich werden sah, habe ich gewußt, daß ich dich nicht überleben könnte: dein Leben ist mein Leben. Leg mir deine Hand auf den Rücken, ich spüre noch immer die kalten Schauer … Deine Lippen sind brennend heiß … Und deine Hand ist eiskalt!«

»Du bist toll!« sagte Rafael.

»Was bedeutet diese Träne? Laß mich sie trinken!«

»O Pauline, Pauline, du liebst mich zu sehr!«

»Rafael, es geht etwas Außerordentliches in dir vor … Sei aufrichtig, ich werde ja doch bald dein Geheimnis wissen. Gib mir das!« sagte sie und riß das Chagrinleder an sich.

Der junge Mann warf einen Blick des Entsetzens auf den Talisman: »Du bist mein Henker!«

Pauline ließ das unheilvolle Symbol des Schicksals fallen: »Wie verändert deine Stimme ist!«

»Liebst du mich?« fragte er sie.

»Ob ich dich liebe …? Was bedeutet diese Frage?«

»Dann laß mich! Geh fort von mir!«

Das unglückliche Mädchen ging.

*

Als Rafael allein war, schrie es aus ihm: »Ist das möglich? In einem so aufgeklärten Jahrhundert, das entdeckt hat, daß die Diamanten Kristalle des Kohlenstoffs sind, in einer Epoche, die jedes Rätsel löst, in der die Polizei einen neuen Messias vor Gericht stellen und seine Wunder der Akademie der Wissenschaften zur Begutachtung übergeben würde, in einer Zeit, die nur mehr an die Unterschrift des Notars glaubt, soll ich, ich, an eine Art von ›Mene Tekel Upharsin‹ glauben? Nein, bei Gott nicht! Ich will nicht denken, daß das höchste Wesen ein Vergnügen daran finden könnte, eine anständige Kreatur zu martern … Aber ich will die Gelehrten fragen.«

Er kam bald zwischen der Weinmarkthalle, einer ungeheuren Sammlung von Fässern, und der Salpetrière, darin die Trunkenbolde enden, an einen kleinen Teich, auf dem Enten in den seltensten Arten sich vergnügten und ihre schimmernden Farben wie die Glasfenster einer Kathedrale in der Sonne spielen ließen. Alle Entenarten der Welt waren hier versammelt, schrien, schnatterten, wimmelten durcheinander und bildeten eine Art Entenparlament, das zwar gegen seinen Willen hier einberufen worden war, aber zu seinem Glück ohne Verfassung und politische Prinzipien, ohne die Jäger fürchten zu müssen, unter der Hut der Naturforscher hier dahinleben konnte, die gelegentlich einen Blick auf ihre Enten warfen.

»Hier ist Herr Lavrille!« sagte der Schließer zu Rafael, der diesen Hohenpriester der Zoologie zu sprechen verlangt hatte. Der Marquis sah einen kleinen Menschen, über der Betrachtung zweier Enten in tiefes Sinnen versunken. Der Gelehrte, der an der Grenze des Greisenalters stand, hatte ein sanftes Gesicht, das durch seinen Ausdruck von Verbindlichkeit noch freundlicher erschien. Aber in seinem ganzen Wesen sprach sich die Zerstreutheit des Gelehrten aus. Seine Perücke, die phantastisch zurückgeschoben war und die er unablässig kratzte, ließ einen Strich von weißen Haaren sehen. Alles an ihm verriet die Entdeckerwut, die, wie alle Leidenschaften, uns mit solcher Macht den Dingen dieser Welt entrückt, daß wir sogar das Ichbewußtsein verlieren.

Als ein wissenschaftlich geschulter und mit vielerlei Studien vertrauter Mensch war Rafael voll Bewunderung für diesen Naturforscher, der so viele Nächte der Größe der menschlichen Erkenntnis geopfert hatte und dessen Irrtümer selbst Frankreich zum Ruhme gereichten. Ein kleines Mädchen hätte sicherlich über den gestörten Zusammenhang zwischen der Hose und der gestreiften Weste des Gelehrten gelacht, welcher Zwischenraum übrigens keusch von dem Hemde ausgefüllt wurde, das während seiner zoogenetischen Beobachtungen, da er sich immer wieder bückte und aufrichtete, sich reichlich hervorgebauscht hatte.

Nach einigen ersten Worten der Höflichkeit hielt es Rafael für nötig, Herrn Lavrille ein Kompliment über die Enten zu machen. Der Naturforscher antwortete ihm: »Oh, wir sind reich an Enten. Diese Gattung ist ja, wie Sie sicher wissen, die weitverzweigteste unter den Schwimmvögeln. Sie reicht vom Schwan bis zur Purpurente und umfaßt hundertsiebenunddreißig wohlunterschiedene Arten, die alle ihren Namen, ihre Lebensgewohnheiten, ihre Heimat und ihr bestimmtes Aussehen haben und einander nicht ähnlicher sind als etwa ein Neger einem Weißen. Wenn wir eine Ente essen, machen wir uns meistens keine Vorstellung von der Verbreitung …«

Er unterbrach sich beim Anblick einer hübschen kleinen Ente, die eben die Böschung des Teiches heraufkam.

»Hier sehen Sie den Kragenschwan, einen armen kleinen Kanadier, der von sehr weit hergekommen ist, um uns sein braunes und graues Gefieder und seine kleine schwarze Halskrause zu zeigen. Sehen Sie, er kratzt sich … Hier sehen Sie die berühmte Daunengans oder Eiderente, die uns mit ihrem Flaum das Deckbett füllt, unter dem unsere Geliebten schlafen. Wie hübsch sie ist! Ein jeder muß doch diesen kleinen rötlichweißen Bauch und den grünen Schnabel bewundern.« Er fuhr fort: Ich war eben Zeuge einer Paarung, an deren Möglichkeit ich bisher gezweifelt hatte. Die Ehe hat sich sehr glücklich angelassen – ich erwarte mit größter Ungeduld das Resultat. Ich schmeichle mir, eine hundertachtunddreißigste Art zu erhalten, die vielleicht meinen Namen tragen wird. Hier sehen Sie die jungen Eheleute: der eine Teil ist eine Lachgans – anas albifrons – der andere die große Pfeifente – anas rufina nach Buffon. Ich habe lange zwischen der Pfeifente, der weißen Schopfente und der anas clypeata, der Löffelente, geschwankt: hier sehen Sie die clypeata, diesen dicken, schwarzbraunen Kerl da mit dem grünlichen, auffallend schillernden Hals. Aber, mein Herr, die Pfeifente hat eine Haube! Sie verstehen also, daß es hier gar kein Schwanken mehr gab. Es fehlt uns nur noch eine Varietät, die Ente mit der schwarzen Kappe. Diese Herren behaupten einstimmig, daß diese Ente nur eine Wiederholung der Knäkente mit dem gekrümmten Schnabel sei, ich aber …«

In einer wunderbaren Gebärde sprach sich zugleich Bescheidenheit und Gelehrtenstolz aus, Stolz voll Verbohrtheit und Bescheidenheit voll Dünkel.

»Ich glaube das nicht,« fuhr er nun fort, »Sie sehen, mein lieber Herr, daß wir nicht zu unserm Vergnügen hier sind. Ich arbeite jetzt an der Monographie über die Familie der Enten … Aber ich stehe Ihnen zu Diensten …«

Sie lenkten ihre Schritte zu einem sehr schönen Haus der Rue Buffon, und Rafael übergab das Chagrinleder Herrn Lavrille zur Untersuchung. Der Gelehrte richtete sein Vergrößerungsglas auf den Talisman; endlich sagte er: »Ich kenne diese Art von Leder. Damit war wohl irgendeine Schachtel überzogen. Dieses Stück Chagrinleder ist sehr alt! Heute verarbeiten die Futteralmacher lieber das Galuchat – Sie wissen ja sicher, daß Galuchat die Haut des Raja sephen, einer Rochenart des Roten Meeres, ist?«

»Aber dieses hier, mein Herr, da Sie die besondere Freundlichkeit haben wollen …?«

Der Gelehrte unterbrach ihn und fuhr fort: »Dies hier ist eine andere Sache. Zwischen dem Galuchat und dem Chagrinleder besteht derselbe Unterschied wie zwischen dem Ozean und dem Festlande, oder zwischen einem Fische und einem Vierfüßler. Überdies ist die Haut des Fisches auch weit härter als die Haut des Landtieres.« Er zeigte auf den Talisman: »Dieses hier ist, wie Sie ohne Zweifel wissen werden, eines der allermerkwürdigsten Produkte des ganzes Tierreiches.«

»Was ist es also?« rief Rafael.

Der Gelehrte vergrub sich tief in seinen Armsessel. Endlich antwortete er: »Mein Herr, dies hier ist eine Eselshaut.«

»Das weiß ich!« antwortete ihm der junge Mann.

Der Naturforscher fuhr unbeirrt fort: »Es gibt in Persien eine außerordentlich seltene Eselsart; die Alten nannten diesen Esel Onager – es ist der equus asinus, der Kulan der Tataren. Pallas hat ihn beobachtet und ihn für die Wissenschaft wiederentdeckt. Es ist eine Tatsache, daß dieses Tier lange Zeit hindurch für eine Erfindung der Phantasie gegolten hat. Wie Sie sicherlich wissen werden, ist es sogar in der Heiligen Schrift verewigt worden: Moses hat verboten, es mit Artverwandten zu paaren. Berühmt aber ist der Onager noch durch den geschlechtlichen Mißbrauch, der mit ihm getrieben worden ist: hiervon berichten oftmals die Propheten der Bibel. Sie wissen sicherlich, daß Pallas in seinen großen Act. Petrop., zweiter Teil, erklärt, diese sonderbaren Ausschweifungen seien heute noch bei den Persern und den Nogais, von ihrer Religion gebilligt, Brauch und gälten als ein unfehlbares Heilmittel gegen Nierenleiden und Ischias. Wir armen Pariser haben natürlich daran nicht zu zweifeln. Unser Museum besitzt kein Exemplar des Onager. Was für ein prächtiges Tier!« fuhr der Gelehrte fort, »dieser Esel ist für uns höchst geheimnisvoll. Sein Auge birgt eine leuchtende Schicht, der die Orientalen die Gabe der Faszination zuschreiben. Sein Fell ist weit eleganter und glatter als das unserer allerschönsten Pferde; es trägt stärkere oder schwächere gelbliche Streifen und ähnelt sehr der Haut des Zebras. Seine Behaarung ist weich und voll zugleich, leicht gewellt und fühlt sich fettig an. Seine Sehschärfe gleicht völlig der Sehschärfe des Menschen. Er ist ein bißchen größer als unsere schönsten Hausesel, ist aber mit einem außergewöhnlichen Mute begabt. Wenn er überfallen wird, verteidigt er sich mit einer bemerkenswerten Überlegenheit gegen die wildesten Tiere. Seine Geschwindigkeit ist eine so große, daß sie nur mit dem Fluge der Vögel verglichen werden kann. Mein Herr, bei einem Wettrennen mit einem Wildesel liefen sich die besten arabischen Pferde zuschanden! Nach dem Vater des gewissenhaften Doktor Niebuhr (Sie wissen sicherlich, daß wir seit kurzem seinen Verlust zu beklagen haben!) legen diese bewunderungswürdigen Geschöpfe bei gewöhnlichem Gange eine Strecke von siebentausend Normalschritten in der Stunde zurück. Unsere degenerierten Hausesel vermögen keine Vorstellung von diesen kühnen, stolzen Eseln zu geben. Der Wildesel ist voll von gewandter Lebendigkeit, ist klug und intelligent, sein Kopf ist anmutig, seine Bewegungen sind voll Zierlichkeit. Er ist der König der Tiere des Orients. Der Aberglaube der Türken und der Perser leitet seine Herkunft aus ganz geheimnisvollen Ursprüngen her und in die Berichte der Heldentaten, die die Märchenerzähler des Tibet und der Tartarei von diesen edlen Tieren geben, mischt sich sogar der Name Salomos! Ein gezähmter Wildesel ist ungeheure Summen wert. Es ist fast unmöglich, einen von ihnen in den Bergen zu fangen, wo sie wie die Rehe springen und wie Vögel zu fliegen scheinen. Der Mythos von den Flügelpferden, von unserm Pegasus, ist zweifellos in jenen Ländern entstanden, wo die Hirten oftmals einen Wildesel im Sprunge von einem Felsen zum anderen erblicken können. Die Reitesel, die man in Persien hält, entstammen einer Kreuzung zwischen einer Hauseselin und einem gezähmten Wildesel. Diese werden seit unvordenklichen Zeiten rot gefärbt. Dieser Brauch mag wohl den Anlaß zu unserm Sprichworte: ›Störrisch wie ein roter Esel‹ gegeben haben. Ich denke, daß zu einer Zeit, da die Naturgeschichte in Frankreich noch sehr im Argen lag, ein Reisender eines dieser Tiere, die ihre Sklaverei höchst ungeduldig ertragen, hierhergebracht haben wird. Daher mag wohl dieser Spruch stammen! Das Leder, das Sie mir vorweisen,« fuhr der Gelehrte fort, »ist die Haut eines Wildesels. Wir Forscher sind über den Ursprung des Namens verschiedener Meinung. Die einen behaupten, daß Chagri ein türkisches Wort sei, andere wieder wollen beweisen, daß Chagri die Stadt sei, wo diese Tierhäute ihre chemische Behandlung erhalten, die Pallas so gut beschrieben hat, und die die sonderbare Körnung hervorbringt, die wir daran bewundern. Herr Martellens hat mir geschrieben, daß Cháagri der Name eines Baches sei …«

»Mein Herr, ich danke Ihnen sehr, daß Sie mir diese Auskünfte gegeben haben, die, wenn die Benediktiner bei uns noch existierten, einem Dom Calmet einen ausgezeichneten Artikel liefern könnten. Aber ich habe die Ehre, Ihnen zu bedenken zu geben, daß dieses Stück Leder hier einen Umfang hatte wie diese Landkarte da,« Rafael zeigte auf einen aufgeschlagenen Atlas, »jetzt aber seit drei Monaten hat es sich merklich zusammengezogen.«

Der Gelehrte antwortete ihm: »Schön, mein Herr, ich verstehe. Alle Tierhäute sind einer natürlichen, leicht zu bemerkenden Abnahme unterworfen, deren Fortschritte von den atmosphärischen Einflüssen abhängig sind. Selbst die Metalle dehnen sich auf eine merkliche Weise aus und ziehen sich zusammen; die Ingenieure haben beträchtliche Oberflächenunterschiede an den gleichen Eisenstangen wahrgenommen. Die Wissenschaft ist ein weites Feld und das menschliche Leben ist sehr kurz. So erheben wir auch gar nicht den Anspruch, alle Erscheinungen der Natur zu kennen.«

Schon ein wenig verwirrt fragte Rafael weiter: »Entschuldigen Sie, mein Herr, die Frage, die ich Ihnen stellen möchte. Sind Sie ganz sicher, daß dieses Leder einfach den gewöhnlichen Gesetzen der Natur gehorcht, so daß man es auch wieder ausdehnen könnte?«

»Ganz gewiß … Zum Teufel!« rief Lavrille, da er an dem Talisman zu ziehen versucht hatte, »vielleicht wollen Sie aber Planchette besuchen, den berühmten Professor der Mechanik? Er wird sicherlich ein Mittel finden, um auf dieses Leder einzuwirken, es weich zu machen und es auszudehnen.«

»Mein Herr, Sie retten mir mit Ihren Worten das Leben.«

Rafael grüßte den Naturforscher und eilte zu Planchette. Er ließ den guten Lavrille in seinem Arbeitszimmer voll von Gläsern und getrockneten Pflanzen zurück. Von diesem Besuche nahm er, ohne es zu wissen, die ganze Wissenschaft mit sich: eine Aufzählung von Namen! Der biedere Lavrille glich Sancho Pansa, da er die Geschichte von den Ziegen erzählte: er unterhielt sich damit, die Tiere zu zählen und zu numerieren. Am Rande des Grabes angelangt, kannte er kaum einen winzigen Teil von der unermeßlichen Zahl der großen Herde, die Gott zu einem unbekannten Ziele durch den Ozean der Welten geschleudert hatte.

Rafael war zufrieden.

»Ich werde meinen Esel schon im Zaume halten!« sagte er sich.

Vor ihm hatte schon Sterne gesagt: »Wir müssen unsern Esel zügeln, wenn wir alt werden wollen.«

Aber das Tier ist eben so sonderbar!

*

Planchette war ein großer, magerer Mann, wie ein rechter Dichter unaufhörlich in Betrachtungen versunken, stets damit beschäftigt, in einen unergründlichen Abgrund hinabzuschauen: in den Abgrund der Bewegung.

Der gewöhnliche Mensch hält solche erhabene Geister für Narren; nie verstanden, leben diese Menschen in einer bewunderungswürdigen Gleichgültigkeit gegen den Luxus und die Gesellschaft. Sie sind imstande, den ganzen Tag an einer ausgegangenen Zigarre zu rauchen oder in einen Salon zu kommen, ohne zuvor besonders genau die Knöpfe ihrer Kleider mit den dazugehörigen Knopflöchern vereinigt zu haben. Eines Tages dann, nachdem sie eine lange Zeit hindurch den leeren Raum gemessen und Formel an Formel gereiht hatten, haben sie ein Gesetz der Natur erforscht und ein allereinfachstes Prinzip aufgestellt. Plötzlich bewundert dann die Menge eine neue Maschine, oder einen Rollkarren, dessen einfache Konstruktion sie verwirrt anstaunen muß. Dann lächelt der bescheidene Gelehrte und spricht zu seinen Bewunderern: »Was habe ich denn erschaffen? Nichts. Der Mensch kann keine Kraft erfinden, er kann sie nur leiten; die ganze Wissenschaft besteht darin, die Natur nachzuahmen.«

Rafael fand den Physiker steif auf seinen zwei Beinen stehend, wie ein Gehängter, der vom Galgen auf die Füße gefallen ist. Planchette beobachtete eben eine Achatkugel, die über das Zifferblatt einer Sonnenuhr hinlief, und wartete darauf, daß sie zum Stehen käme. Der arme Mensch besaß weder eine Auszeichnung, noch erhielt er eine staatliche Unterstützung, denn er verstand sich nicht darauf, seine Arbeiten ins rechte Licht zu setzen. Er war glücklich, auf der Lauer nach irgendeiner Entdeckung leben zu können; er dachte weder an den Ruhm, noch an die Gesellschaft noch an sich selber. Inmitten der Wissenschaft lebte er nur für die Wissenschaft.

»Das ist undefinierbar!« rief er. Da erblickte er Rafael: »Aha … Mein Herr, ich bin Ihr ergebener Diener. Wie geht's der Frau Mama? Machen Sie doch meiner Frau einen Besuch!«

»Auch ich hätte so leben können!« dachte Rafael. Er erweckte den Gelehrten aus seiner Versunkenheit und fragte ihn nach einem Mittel, durch das man auf den Talisman, den er ihm zeigte, einwirken könnte, und sagte endlich: »Mögen Sie auch über meine Leichtgläubigkeit lachen, ich werde Ihnen doch nichts verbergen. Mir scheint es, daß dieses Stück Leder eine Widerstandskraft besitzt, gegen die nichts aufkommen kann.«

Planchette antwortete ihm: »Mein Herr, die Menschen aus der Gesellschaft behandeln die Wissenschaft stets sehr kavaliermäßig, sie sagen uns alle so ziemlich das gleiche, was ein Ungläubiger einmal zu Lalande gesagt hat, nachdem er nach einer Sonnenfinsternis ein paar Damen zu ihm mitbrachte: »Haben Sie die Güte und fangen Sie nochmals an.« Was für eine Wirkung wollen Sie denn erzielen? Die Mechanik hat das Ziel, die Gesetze der Bewegung anzuwenden oder sie aufzuheben. Was die Bewegung aber selbst anlangt, muß ich demütig gestehen, daß wir außerstande sind, sie zu definieren. Das vorausgeschickt, haben wir einige ständig wiederkehrende Phänomene, die für das Reich der festen oder der flüssigen Körper ihre Geltung haben, aufgezeigt. Wir rufen die Ursachen dieser Phänomene hervor, wir können Körper von einem Ort zum anderen bringen, wir können ihnen eine auf andere Körper wirkende Kraft und eine bestimmte begrenzte Geschwindigkeit verleihen, wir können sie werfen, sie einfach oder bis ins Unendliche teilen, indem wir sie zerbrechen oder sie pulverisieren. Wir können sie drehen, sie in Rotation versetzen, ihre Gestalt verändern, sie zusammendrücken, sie ausdehnen und erweitern. Dieses Wissen, mein Herr, beruht auf einer einzigen Tatsache. Sie sehen hier diese Kugel. Sie liegt auf diesem Steine hier. So – und jetzt ist sie schon hier! Welchen Namen wollen wir dieser Tatsache geben, die physikalisch so natürlich, aber für den menschlichen Verstand etwas ganz Ungeheuerliches ist? Wollen wir sie Bewegung, Verlagerung, Ortsveränderung nennen? Was für eine unermeßliche Leere verbirgt sich hinter diesen Worten! Ist denn ein Name eine Lösung? Und doch haben Sie hier die ganze Wissenschaft.

Unsere Maschinen verwenden diese Tatsache, diesen Vorgang, oder sie heben ihn auf. Wenn man dieses einfache Phänomen auf große Massen übertrüge, ginge ganz Paris in die Luft! Wir können die Geschwindigkeit auf Kosten der Kraft vergrößern, aber auch die Kraft auf Kosten der Geschwindigkeit. Was aber ist das: Kraft und Geschwindigkeit! Unsere Wissenschaft ist ebenso unfähig, das zu sagen, wie sie außerstande ist, Bewegung an sich zu schaffen. Eine Bewegung, welche immer sie sei, ist eine wirkende, ungeheure Kraft – und der Mensch erfindet keine wirkenden Kräfte! Die wirkende Kraft ist etwas an sich Bestehendes, und die Bewegung ist das Wesen der wirkenden Kraft. Alles ist Bewegung. Der Gedanke ist eine Bewegung. Die ganze Natur beruht auf der Bewegung. Der Tod ist eine Bewegung, deren Ziele uns jedoch unbekannt sind. Wenn Gott ewig ist, glauben Sie mir, ist auch er immer in Bewegung. Vielleicht ist Gott die Bewegung selber? Wie Gott ist auch die Bewegung unerklärlich: sie ist tief wie er, ohne Grenzen, undurchdringlich und unberührbar. Wer hat jemals die Bewegung berührt, begriffen oder gemessen? Wir fühlen ihre Wirkungen, aber wir sehen sie nicht. Wir können sie auch leugnen, wie wir Gott leugnen. Wo ist sie? Wo ist sie nicht? Woher kommt sie? Wo nimmt sie ihren Anfang? Wo hat sie ihr Ende? Sie umgibt uns, sie übt ihren Druck auf uns aus und sie entzieht sich uns. Sie ist einleuchtend wie eine Tatsache und dunkel wie etwas Abstraktes; sie ist zugleich Wirkung und Ursache. Sie braucht wie wir den Raum. Was ist das: der Raum? Einzig die Bewegung enthüllt ihn uns: ohne Bewegung ist er ein Wort ohne Sinn. Die Bewegung ist das unlösbare Problem, sie gleicht dem leeren Raum, sie gleicht der Schöpfung und dem Unendlichen – sie verwirrt das menschliche Denken – und das einzige, das dem Menschen von ihr zu erfassen erlaubt ist, ist, daß er sie niemals erfassen wird …«

Der Gelehrte fuhr fort: »Zwischen jedem einzelnen der Punkte, die diese Kugel da nacheinander im Raume eingenommen hat, tut sich ein Abgrund für den menschlichen Verstand auf, der Abgrund, in den Pascal gestürzt ist. Damit wir auf die unbekannte Substanz, die Sie der Wirkung einer unbekannten Kraft unterworfen wissen wollen, einwirken können, müssen wir zuerst diese Substanz erforschen. Wir müssen wissen, ob sie nach ihrer Natur unter einem Stoße zerbrechen wird, oder ob sie ihm widerstehen können wird: wenn sie sich teilen läßt, Sie aber nicht die Absicht haben, sie zu zerteilen, werden wir unser vorgesetztes Ziel nicht erreichen. Wollen Sie sie zusammendrücken? Dazu ist es nötig, auf alle Teile der Substanz eine gleichmäßige Bewegung einwirken zu lassen, um auf die Art gleichmäßig ihre Zwischenräume zu verkleinern. Wünschen Sie sie auszudehnen? Dann müssen wir versuchen, auf jedes ihrer Moleküle eine gleichmäßige auseinanderstrebende Kraft einwirken zu lassen. Wenn wir dieses Gesetz nicht aufs genaueste beobachteten, könnten wir mit unserem Bemühen Zerreißungen des Gewebes hervorrufen. Es gibt unendlich viele Arten und ungezählte Kombinationsmöglichkeiten der Bewegung, mein Herr. Für welche werden Sie sich entscheiden?«

Rafael wurde ungeduldig: »Nach meinem Wunsche soll irgendeine beliebige Art von Druck auf das Leder ausgeübt werden, nur soll er genügend stark sein, um es unbegrenzt ausdehnen zu können.«

Der Mathematiker antwortete ihm: »Die Substanz ist eine begrenzte, so wird sie niemals unbegrenzt ausgedehnt werden können: aber ein Druck wird notwendigerweise die Ausdehnung ihrer Oberfläche auf Kosten ihrer Dicke vergrößern; sie wird sich so lange dünn pressen lassen, bis es an Materie fehlt …«

Da rief Rafael: »Herr, wenn Sie zu diesem Resultat gelangen können, haben Sie Millionen verdient!«

Der Professor antwortete ihm phlegmatisch wie ein Holländer: »Ich würde Ihnen Ihr Geld stehlen. Ich will Ihnen in ein paar Worten die Beschaffenheit einer Maschine erläutern, unter der Gott selber zerquetscht würde wie eine Fliege. Sie wäre imstande, einen Menschen auf die Dicke von Löschpapier zu reduzieren, einen gestiefelten und gespornten Mann mit Krawatte, Hut, Gold und Schmuck und allem …«

»Eine furchtbare Maschine!«

»Anstatt ihre Kinder ins Wasser zu werfen, sollten die Chinesen sie auf diese Weise verwerten!« fuhr der Gelehrte fort, ohne der Rücksichten zu gedenken, die der Mensch seiner Nachkommenschaft schuldet.

Ganz in seinen Gedanken befangen, griff Planchette nach einem leeren Blumentopf mit einem Loch im Boden und setzte ihn auf das Zifferblatt der Sonnenuhr. Dann ging er in den Garten und holte aus einem Winkel ein wenig Tonerde.

Rafael war entzückt wie ein Kind, dem seine Amme ein wunderbares Märchen erzählt. Nachdem Planchette die Tonerde ebenfalls auf das Zifferblatt getan hatte, zog er aus seiner Tasche ein Gartenmesser und schnitt zwei Holunderzweige zurecht. Dann begann er sie auszuhöhlen und pfiff dabei, als sei Rafael gar nicht vorhanden.

»Da haben wir jetzt die Bestandteile der Maschine«, sagte er endlich.

Er führte eine knieförmig abgebogene Holzröhre durch das Loch in den Boden des Topfes und dichtete es mit Tonerde ab. Das Ganze sah jetzt wie eine riesige Tabakspfeife aus. Dann schichtete er auf der Scheibe ein Bett aus Ton auf, dem er die Form einer Schaufel gab, setzte den Blumentopf auf den breiteren Teil und befestigte den. Holunderzweig in dem Teile, der dem Stiele der Schaufel entsprach. Hierauf schichtete er ein wenig von der teigigen Tonerde am äußersten Ende des Holunderrohrs auf, pflanzte daneben den anderen hohlen Zweig ganz senkrecht ein und verfertigte ein zweites Knie, mittels dessen er das vertikale und das horizontale Rohr miteinander verband; auf die Art konnte nun die Luft oder irgendeine Flüssigkeit durch die improvisierte Maschine zirkulieren und von der Mündung des vertikalen Rohrs durch den Verbindungskanal bis in den leeren Blumentopf gelangen.

Planchette wandte sich mit dem Ernst eines Akademikers, der seine Antrittsrede hält, an Rafael: »Mein Herr, mit diesem Apparat hat sich der große Pascal unsere besondere Bewunderung verdient.«

»Ich verstehe nicht …«

Der Gelehrte lächelte. Er ging in den Garten und holte von einem Obstbaum eine kleine Flasche, in der ihm sein Apotheker eine Flüssigkeit zum Fangen der Ameisen geschickt hatte. Er schlug der Flasche den Boden ab und gewann so einen Trichter, den er sorgfältig über der Öffnung jenes hohlen Zweiges befestigte, den er vertikal in dem Ton aufgerichtet hatte, gegenüber dem großen Reservoir, das der Blumentopf vorstellte. Dann goß er aus einer Gießkanne so viel Wasser in den Trichter, daß es in dem großen Gefäß und in der kleinen kreisförmigen Öffnung des Rohres gleich hoch stand …

Rafael dachte an sein Chagrinleder.

Der Physiker sagte nun: »Sie wissen, mein Herr, daß das Wasser heute noch für einen Körper gilt, der nicht komprimiert werden kann – ich bitte, dieses Grundprinzip nicht aus den Augen zu verlieren; es läßt sich nichtsdestoweniger komprimieren, aber so geringfügig, daß seine Komprimierbarkeit mit Null angesetzt werden kann. Sie sehen, wie hoch jetzt das Wasser im Blumentopf steht?«

»Ja, Herr Professor.«

»Schön. Nehmen wir nun an, daß dieser Wasserspiegel tausendmal größer sei als der Durchschnitt des Holunderrohrs, durch den ich das Wasser eingegossen habe. Warten Sie, ich nehme den Trichter weg.«

»Einverstanden.

»Nun gut, mein Herr, wenn ich jetzt auf irgendeine Weise das Volumen dieser Wassermenge vergrößere, indem ich durch die Öffnung des kleinen Rohres noch Wasser zuführe, wird die Flüssigkeit, die hier abwärtssteigen muß, in dem Reservoir, das der Blumentopf vorstellt, solange aufwärtssteigen, bis sie in der Röhre wie im Topfe die gleiche Höhe erreicht hat.«

»Das leuchtet mir ein«, sagte Rafael.

Der Gelehrte fuhr fort: »Aber dabei gibt es einen Unterschied zu bedenken! Die schmale Wassersäule übt in der kleinen vertikalen Röhre einen Druck aus, der, nehmen wir an, dem Gewichte von einem Pfund entspricht; nun beginnt dieser Druck sich der ganzen Flüssigkeitsmasse mitzuteilen und wirkt auf alle Punkte der Oberfläche im Blumentopfe – dann gibt es hier also tausend solcher Wassersäulen, die alle nach aufwärts wirken, als ob sie sämtlich unter einem Druck ständen, der gleich ist dem, vermöge dessen die Flüssigkeit hier in dem Holunderrohr nach abwärts steigt; und die tausend Wassersäulen werden hier«, Planchette zeigte auf die Öffnung des Blumentopfes, »mit einer Kraft einwirken, die tausendmal größer ist als der ursprünglich in der Holunderröhre nach abwärts wirkende Druck.« Dabei wies der Gelehrte mit dem Finger auf die Holzröhre, die er senkrecht in den Ton eingepflanzt hatte.

»Das ist ganz einfach«, bemerkte Rafael.

Planchette lächelte. Mit der Hartnäckigkeit, wie sie der logischen Natur eines Mathematikers eigen ist, setzte er fort: »Mit anderen Worten, man müßte, um das Einströmen des Wassers aufhalten zu können, auf jede Stelle der großen Oberfläche eine Kraft einwirken lassen, die gleich dem Druck in dem vertikalen Zuführungsrohre ist. Aber von diesem Unterschied abgesehen, werden, wenn die Flüssigkeitssäule hier eine Höhe von einem Fuß hat, die tausend kleinen Säulen der großen Oberfläche nur eine sehr schwache Wirkung nach aufwärts haben. Nun aber«, Planchette gab seinen Holunderröhrchen einen Nasenstüber, »ersetzen wir diesen komischen kleinen Apparat hier durch Metallröhren, deren Widerstandskraft und Umfang zureichend ist, und bedecken wir den Flüssigkeitsspiegel des großen Reservoirs mit einer starken beweglichen Platte, der gegenüber eine andere Platte von erprobter Widerstandskraft und Festigkeit angebracht ist. Wenn wir dann ohne Unterlaß durch die kleine vertikale Röhre neues Wasser zu der Flüssigkeitsmasse hinzufügen, muß der Gegenstand, der zwischen die beiden festen Platten gebracht wurde, notwendigerweise dem ungeheuren Drucke nachgeben und unbegrenzt komprimiert werden. Das Mittel, vermöge dessen man fortgesetzt durch die kleine Röhre Wasser nachfüllen kann, ist für die Mechanik eine Kleinigkeit, ebenso wie die Art und Weise, den Druck der Flüssigkeitsmasse auf eine Platte einwirken zu lassen. Dazu genügen ein paar Kolben und Ventile.« Der Gelehrte faßte Rafael am Arm. »Lieber Herr, begreifen Sie jetzt, daß es keine Substanz gibt, die zwischen diesen beiden gegeneinanderwirkenden Kräften nicht notwendigerweise flachgedrückt werden müßte?«

»Was, das hat Pascal erfunden?« rief Rafael.

»Er allein, mein Herr. In der ganzen Mechanik gibt es nichts Einfacheres und nichts Schöneres als diese Maschine. Das entgegengesetzte Prinzip, das Ausdehnungsvermögen des Wassers, hat die Dampfmaschine gezeugt. Aber das Wasser besitzt nur ein begrenztes Ausdehnungsvermögen, während seine Unkomprimierbarkeit, die eine Art negativer Kraft ist, notwendigerweise unendlich sein muß.«

Da sagte Rafael: »Wenn dieses Leder sich ausdehnt, verspreche ich Ihnen, eine Kolossalstatue von Blaise Pascal zu errichten, ferner einen Preis von hunderttausend Franken für das schönste Problem der Mechanik zu stiften, das im Laufe von je zehn Jahren gelöst wird. Außerdem will ich Ihren Kusinen und Gliedkusinen Mitgiften geben und ein Hospiz bauen, das für verarmte oder verrückt gewordene Mathematiker bestimmt ist.«

»Das wäre sehr nützlich«, erwiderte ihm Planchette. Mit der Ruhe eines Mannes, der ganz in der Sphäre des Geistes lebt, fuhr er dann fort: »Wir wollen morgen zu Spieghalter gehen. Dieser ausgezeichnete Mechaniker fertigt eben nach meinen Angaben eine vervollkommnete Maschine an, mit der ein Kind tausend Bündel Heu in seinen Hut zusammendrücken könnte.«

»Also auf morgen, mein Herr.«

»Auf morgen!«

»Da soll mir noch einer etwas gegen die Mechanik sagen,« redete Rafael zu sich, »sie ist doch die schönste von allen Wissenschaften! Der andere mit seinen ganzen Wildeseln, seinen Klassifizierungen, seinen Enten, seinen Gattungen und seinen Gläsern voll von Ungeheuern taugt höchstens dazu, in einem Kaffeehaus beim Billardspiel die Points aufzuschreiben!«

*

Strahlend von Fröhlichkeit holte Rafael am nächsten Tage Planchette ab und sie fuhren zusammen in die Rue de la Santé, deren Name allein schon ihn ein gutes Vorzeichen dünkte.

Sie fanden Spieghalter, einen jungen Mann, in einer riesigen Werkstatt; eine Anzahl roter dröhnender Schmieden boten sich zuerst ihren Blicken dar. Ein Regen von Feuer war um sie, eine Sintflut von Nägeln, ein Ozean von Kolben, Schrauben, Hebeln und Eisenträgern, von Feilen und Schraubenmuttern, ein Meer von Gußeisen, Hölzern, Ventilen und Stahlstangen. Die Eisenfeilspäne behinderten die Atmung. Eisen war in der Luft, die Menschen waren mit Eisen bedeckt, alles roch nach Eisen; das Eisen hatte ein eigenes Leben, es verflüssigte sich, es wanderte und dachte, und es nahm gehorsam jede Form an, die ihm nur irgendeine Laune geben wollte. Durch das Heulen der Blasebälge, die Crescendi der Hämmer und das Kreischen der Drehbänke, auf denen das Eisen grollte, kam Rafael in ein großes, sauberes, wohlgelüftetes Zimmer, wo er mit Muße die ungeheure Presse betrachten konnte, von der ihm Planchette erzählt hatte. Bewundernd sah er die gußeisernen Röhren und die eisernen Preßwangen an, die um einen Kern unlöslich vereinigt waren.

Spieghalter zeigte auf einen Handgriff aus poliertem Eisen und sagte: »Wenn Sie siebenmal rasch diese Kurbel drehen, treiben Sie die Stahlplatte in tausend Splittern heraus, die Ihnen wie Nadeln in die Glieder dringen.«

»Teufel!« schrie Rafael.

Planchette schob selber das Chagrinleder zwischen die beiden Platten der mächtigen Maschine und griff voll der Sicherheit, wie sie die wissenschaftlichen Überzeugungen verleihen, lebhaft nach dem Handgriffe.

»Alle auf den Boden! Sonst sind wir tot!« brüllte Spieghalter mit donnernder Stimme auf und warf sich selber zur Erde. Ein gräßliches Kreischen pfiff durch die Werkstätten. Das Wasser, das in der Maschine enthalten war, zersprengte das Reservoir, brach mit unermeßlicher Kraft daraus hervor und richtete sich – glücklicherweise – gegen eine alte Schmiede, die es niederwarf, umdrehte und durcheinander wirbelte, wie ein Zyklon ein Haus in seine Kreise reißt und fortträgt.

Ganz ruhig bemerkte Planchette: »Das Chagrinleder ist heil wie meine Augen. Meister Spieghalter, es muß ein Bruch in Ihrem Gußeisen gewesen sein, oder vielleicht irgendein Zwischenraum in der großen Röhre …«

»Nein, nein, ich kenne mein Gußeisen. Der Herr soll sein Zeug nur wieder mitnehmen, da sitzt der Teufel drin!«

Der Deutsche packte einen Schmiedehammer, warf das Chagrinleder auf einen Amboß und versetzte mit aller Kraft, die der Zorn verleiht, dem Talisman den schrecklichsten Schlag, der jemals durch seine Werkstätten gedonnert hatte.

»Es ist gar nichts zu sehen«, rief Planchette, das widerspenstige Chagrinleder liebkosend.

Die Arbeiter liefen herbei. Der Werkführer griff nach dem Leder und versenkte es zwischen die glühenden Kohlen einer Esse. Im Halbkreis standen nun alle um das Feuer und warteten voll Ungeduld den Erfolg der Arbeit eines riesigen Blasebalges ab. Rafael, Spieghalter und der Professor Planchette bildeten die Mitte dieser geschwärzten erwartungsvollen Gruppe. Da Rafael das Weiß all dieser Augen in den eisenbestaubten Gesichtern, die schwarzen Kleider im Flammenscheine und die haarigen Männerleiber sah, glaubte er sich in die nächtliche phantastische Welt deutscher Balladen entrückt.

Der Werkmeister griff mit Zangen nach dem Leder, das er zehn Minuten lang in der Esse gelassen hatte.

»Geben Sie es mir wieder!« sagte Rafael. Der Werkmeister reichte es ihm scherzend. Der Marquis nahm das Chagrinleder in die Hand – kalt und schmiegsam legte es sich um seine Finger! Ein Schrei des Entsetzens erhob sich, die Arbeiter entflohen. Rafael blieb mit Planchette allein in der verlassenen Werkstätte.

Verzweifelt schrie Rafael auf: »Es ist sicher etwas Teuflisches da drinnen! Kann mir denn keine menschliche Macht einen Tag wenigstens schenken?«

Zerknirscht antwortete ihm der Mathematiker: »Ich habe Unrecht gehabt, Herr, wir hätten dieses sonderbare Leder der Wirkung eines Walzwerkes aussetzen müssen. Wo habe ich meine Augen gehabt, als ich Ihnen vorschlug, es unter die Presse zu legen?«

»Ich habe es ja verlangt«, antwortete ihm Rafael.

Der Gelehrte seufzte wie ein Schuldiger, den zwölf Geschworene freigesprochen haben. Doch beschäftigte ihn das seltsame Problem, das dieses Leder in sich trug, weiter; er dachte einen Augenblick nach und sagte dann: »Man muß diese unbekannte Substanz mit chemischen Reagenzien behandeln. Suchen wir Japhet auf, vielleicht wird die Chemie mehr Glück haben als die Mechanik.« Hoffend, den berühmten Chemiker Japhet noch in seinem Laboratorium anzutreffen, setzte Rafael sein Pferd in scharfen Trab.

Planchette fand Japhet in seinem Lehnstuhl sitzend, einen Niederschlag betrachtend.

»Alter Freund, wie geht es der Chemie?« rief er ihm zu.

»Sie schläft ein. Es gibt nichts Neues mehr. Die Akademie hat zwar die Existenz der Salizylsäure anerkannt, aber das Salizyl, das Asparagin und das Digitalis sind keine Entdeckungen …«

»Es scheint mir,« bemerkte Rafael, »daß Sie sich mit der Erfindung von Namen begnügen, weil Sie keine Dinge zu erfinden haben.«

»Leider Gottes ist das wahr, junger Mann.«

Professor Planchette wandte sich nun an den Chemiker: »Hör zu! Versuch doch, uns diese Substanz zu zerlegen. Wenn du daraus irgendeinen Grundstoff gewinnst, nenne ich ihn im voraus schon Diabolin: wir wollten das Teufelszeug zusammenpressen und haben dabei eine hydraulische Presse zertrümmert.«

»Wir wollen sehen!« rief der Chemiker erfreut, »vielleicht ist das ein neues Element?«

Da sagte Rafael: »Es ist ganz einfach ein Stück Eselshaut.«

»Mein Herr …«, verwahrte sich der berühmte Chemiker voll Würde.

»Ich scherze nicht«, antwortete der Marquis und reichte ihm das Chagrinleder.

Der Baron Japhet führte das Leder an die feinnervigen Papillen seiner Zunge, die so geschickt waren, Salze, Säuren, Basen und Gase zu unterscheiden, und bemerkte nach einigen Versuchen: »Es hat gar keinen Geschmack. Na, vielleicht wollen wir ihm ein bißchen Schwefelsäure zu trinken geben?«

Das Chagrinleder wurde also der Einwirkung dieser Säure unterworfen, die so schnell alle tierischen Gewebe zerstört – allein es blieb völlig unversehrt. »Das ist gar kein Chagrinleder!« rief der Chemiker, »wir wollen diesen geheimnisvollen Unbekannten wie ein Mineral behandeln. Wir werden es ihm schon zeigen! Ich habe gerade glühende Pottasche im Schmelztiegel.«

Japhet ging, kehrte aber bald zurück. »Herr,« rief er Rafael zu, »lassen Sie mich ein Stück von dieser sonderbaren Substanz nehmen – sie ist wirklich außerordentlich.«

Rafael schrie fast: »Ein Stück? Nicht einmal eines Haares Breite! Übrigens, versuchen Sie es!« setzte er traurig und spöttisch zugleich hinzu.

Der Gelehrte zerbrach ein Rasiermesser bei dem Versuche, das Leder anzuschneiden. Dann probierte er es, die Haut durch eine starke elektrische Ladung zu zerreißen, er unterwarf sie der Einwirkung einer Voltaischen Säule, doch alle Klugheit seiner Wissenschaft scheiterte an dem furchtbaren Talisman. Es war sieben Uhr abends geworden, Planchette, Japhet und Rafael empfanden das Vergehen der Zeit nicht, sie warteten das Ergebnis eines letzten Versuches ab. Aber siegreich ging das Chagrinleder aus dem gewalttätigen Angriffe hervor, den eine recht beträchtliche Menge von Salpetersäure versucht hatte.

»Ich bin verloren!« schrie Rafael auf, »das ist Gott selber! Ich muß sterben! …«

Starr vor Staunen blieben die beiden Gelehrten zurück:

»Wir werden uns wohl hüten müssen, dieses Abenteuer der Akademie mitzuteilen, unsere Kollegen würden sich schön über uns lustig machen!« sagte Planchette zu dem Chemiker nach einer langen Pause, während welcher sie einander ansehen und es nicht wagten, einander ihre Gedanken mitzuteilen.

Die beiden Gelehrten waren wie die Christen, die aus ihren Gräbern auferstehen und keinen Gott im Himmel finden. Die Wissenschaft? Ohnmächtig! Die Säuren? Wasser! Die glühende Pottasche? Entehrt! Die Voltaische Säule und der elektrische Funke? Kinderspielzeug!

»Eine hydraulische Presse wie eine Brotschnitte gespalten!« warf Planchette hin.

»Ich glaube an den Teufel!« sagte der Baron Japhet nach einigem Schweigen.

»Und ich an Gott!« erwiderte Planchette.

Sie hatten sich in ihre Rollen zurückgefunden. Für einen Physiker ist das All eine Maschine, die eines Arbeiters bedarf; für die Chemie, dieses Werk eines Dämons, der alles zersetzen möchte, ist die Welt in Bewegung begriffenes Gas.

»Wir können freilich die Tatsache nicht leugnen …«, redete der Chemiker weiter.

»Mein Lieber, zu unserem Trost haben die Herren Philosophen diesen verworrenen Lehrsatz: Dumm wie eine Tatsache! aufgestellt.«

»Der Lehrsatz«, antwortete ihm der Chemiker, »scheint mir tatsächlich dumm.«

Sie fingen zu lachen an und aßen zu Abend wie Leute, die in einem Wunder nichts weiter als eben ein Phänomen sehen.

*

Auf dem Heimwege war Rafael in einem Zustande kalter Wut. Er glaubte an nichts mehr. Die Gedanken verwirrten sich in seinem Hirn, wirbelten durcheinander und flackerten, und ihm war zumute wie einem Menschen zumute sein muß, der einer unmöglichen Tatsache gegenübersteht. Er hatte gern an irgendeinen geheimen Fehler in Spieghalters Maschine geglaubt und die Ohnmacht der Wissenschaft und des Feuers hatten ihn nicht weiter staunen gemacht: aber die Schmiegsamkeit des Leders, sobald er es in die Hand nahm, und dann wieder seine Härte, sobald die Mittel der Zerstörung, die dem Menschen zu Gebote stehen, darauf einwirkten, das erregte sein Entsetzen, diese unleugbare Tatsache machte ihn schwindeln.

Er redete mit sich selber: »Ich bin irrsinnig. Obwohl ich seit heute morgen nichts gegessen habe, habe ich weder Hunger noch Durst, und ich fühle in meiner Brust eine Glut, die mich verbrennt …«

Daheim schloß er das Chagrinleder wieder in den Rahmen, in dem es vorher gewesen war; nachdem er mit roter Tinte die augenblicklichen Umrisse des Talismans eingezeichnet hatte, ließ er sich in seinem Lehnstuhl nieder.

»Schon acht Uhr,« rief er, »der Tag ist wie ein Traum vorbeigegangen.«

Er stützte sich auf die Armlehnen des Fauteuils, legte den Kopf in die linke Hand und verlor sich in todtraurige Betrachtungen, in jene verzehrenden Gedanken, deren Geheimnis die zum Tode Verurteilten mit sich hinübernehmen.

Plötzlich rief er: »O Pauline! Mein armes Kind! Es gibt Abgründe, über die uns auch die Flügel der Liebe nicht zu tragen vermögen!«

In diesem Augenblicke vernahm er ganz deutlich ein unterdrücktes Seufzen; mit dem rührenden Ahnungsvermögen des Liebenden erkannte er den Atem seiner Geliebten.

»Das ist mein Todesurteil!« sagte er zu sich. »Wenn sie hier ist, will ich in ihren Armen sterben.«

Ein offenes fröhliches Lachen klang auf, er wandte den Kopf nach seinem Bette und erblickte durch die durchscheinenden Vorhänge Pauline, lächelnd wie ein Kind, das über einen gelungenen Streich glücklich ist. In tausend Locken ringelte sich ihr schönes Haar zu den Schultern nieder – sie glich einer bengalischen Rose inmitten von vielen, vielen weißen Rosen.

»Ich habe deinen Jonathas berückt;« lachte sie, »das Bett da gehört doch auch mir, ich bin ja deine Frau. Sei mir nicht bös, mein Liebling, ich habe ja nur neben dir schlafen wollen, ich habe dich überraschen wollen. Verzeih mir diesen Übermut!«

Mit einer katzenhaften Bewegung sprang sie aus dem Bette, strahlend in einer Wolke von Musselin. Sie setzte sich auf Rafaels Knie: »Von welchem Abgrund hast du denn gesprochen, mein Liebster?« fragte sie, und ein sorgenvoller Ausdruck trat auf ihre Stirn.

»Vom Tode!«

»Du tust mir weh. Es gibt gewisse Gedanken, bei denen wir armen Frauen nicht verweilen können, denn sie würden uns töten. Ich weiß nicht, kommt das von der Liebe oder von einem Mangel an Mut? Der Tod erschreckt mich nicht,« fuhr sie lachend fort, »mit dir zu sterben, vereint, in einem letzten Kusse, das wäre ein Glück. Mir kommt es vor, als ob ich schon hundert Jahre gelebt hätte. Was bedeutet denn die Zahl der Tage, da wir in einer Nacht, in einer Stunde ein ganzes Leben des Friedens und der Liebe durchleben können!«

»Du hast recht! Der Himmel spricht aus deinem schönen Munde. Gib ihn mir, ich will ihn küssen!

Ja, wir wollen sterben!« rief Rafael.

»Gut, wir wollen also sterben!« antwortete sie lachend.

*

Gegen neun Uhr morgens sickerte das Tageslicht durch die Spalten der Jalousien. Der Musselin der Vorhänge dämpfte es, doch waren schon die reichen Farben der Teppiche und die seidengepolsterten Möbel in dem Zimmer sichtbar, in dem die beiden Liebenden ruhten. Da und dort blitzte eine Goldleiste auf und ein Sonnenstrahl traf das weiche Deckbett, das in den Liebesspielen zu Boden gefallen war. Über dem großen Stehspiegel hing schwebend Paulines Kleid wie eine duftige Erscheinung. Weit von dem Bette entfernt standen zwei winzige Schuhe. Ein Vogel setzte sich auf das Fensterbrett; sein stets von neuem beginnendes Zwitschern und das Schwirren seiner plötzlich entfalteten Flügel, als er aufflog, erweckten Rafael.

Er spann einen Gedanken, der in seinem Traume begonnen hatte, zu Ende: »Damit ich sterbe, muß doch mein Organismus, diese ganze Maschinerie aus Fleisch und Knochen, die mein Wille belebt und die mich zu einem menschlichen Individuum macht, eine merkliche Störung aufweisen. Dann müßten die Ärzte aber doch die Symptome einer Krankheit, die meine Lebenskraft gefährdet, erkennen und mir sagen können, ob ich gesund oder krank bin.«

Er betrachtete seine schlafende Frau; sie hatte den Arm unter seinen Kopf gelegt und drückte so noch im Schlafe die zarte Fürsorglichkeit der Liebe aus. Anmutig wie ein Kind lag sie ausgestreckt, das Gesicht ihm zugekehrt; sie schien ihn anzuschauen und ihm den schönen Mund, den ihr reiner, gleichmäßiger Atem halb öffnete, zum Kusse darzubieten. Ihre kleinen Zähne schimmerten porzellanweiß zwischen ihren frischen Lippen hervor, um die ein Lächeln spielte. Ihre Wangen waren noch rosiger und die Weiße ihrer Haut, wenn man das so sagen darf, noch weißer, als sonst in den verliebtesten Stunden des Tages. Ihre anmutige, hingebungsvolle Zutraulichkeit fügte zu allen Reizen der Liebe noch die entzückenden Züge eines Kindes im Schlafe.

Selbst die natürlichsten Frauen gehorchen im Tage gewissen gesellschaftlichen Konventionen, die die ursprünglichen Gefühlsäußerungen ihrer Seele in Fesseln legen; der Schlaf jedoch scheint ihnen die Ursprünglichkeit des Lebens wieder zu geben, wie sie ihrer ersten Jugend eigen gewesen war. Pauline errötete über nichts, sie schien noch eines jener süßen himmlischen Geschöpfe zu sein, denen die Vernunft nicht Gedanken in ihre Gebärden mengt und mit keinem Geheimnisse den Blick trübt. Ihr Profil hob sich lebhaft von dem feinen Batist der Kissen ab. Große Spitzenrüschen hatten sich in ihr verwirrtes Haar gedrängt und auf ihrem Gesichte lag ein reizender Ausdruck von Schalkhaftigkeit. In Liebesfreuden war sie eingeschlafen; die langen Wimpern lagen auf ihren Wangen, wie um ihre Augen vor allzu heftigem Lichte zu schützen. Vielleicht besann sich ihre Seele im Schlaf der entflohenen wundervollsten Lust und suchte sie festzuhalten. Ihr winziges, rosigweißes Ohr in seinem Rahmen von dunklen Locken hätte einen Künstler, einen Maler, ja, selbst einen Greis toll vor Liebe machen können: einem Wahnsinnigen aber hätte es vielleicht die Vernunft wiedergeben können. Wie süß ist es, seine Geliebte eingeschlafen, lächelnd in einem friedlichen Traum sehen zu können, über ihr zu wachen und zu wissen, daß man selbst im Traume, da die Menschenkreatur zu sein aufhört, noch von ihr geliebt wird, und den stummen dargebotenen Mund zu sehen, der im Schlafe von dem letzten Kusse zu erzählen scheint. Eine Frau zutraulich, halbnackt, doch in ihre Liebe wie in einen Mantel gehüllt und keusch in all ihrer Verwirrung vor sich zu sehen; entzückt ihre hastig hingeworfenen Kleider zu erblicken, einen Seidenstrumpf, den sie am Abend vorher, um dem Geliebten zu gefallen, eilig herabgestreift hatte, einen gelösten Gürtel, der von ihrem unendlichen Vertrauen erzählt, – ist das nicht eine namenlose Freude? Dieser Gürtel spricht wie ein Liebesgedicht: die Frau, die ihn getragen hatte, gibt es nun nicht mehr, sie gehört dem Geliebten, sie ist in das Selbst ihres Geliebten übergegangen; sie nunmehr zu verraten, hieße sich selber verwunden.

Gerührt betrachtete Rafael dieses Liebeszimmer voll von Erinnerungen, dem das Tageslicht mählich die Farben der Wollust nahm. Dann kehrte sein Blick zu dem reinen, jungen Leibe dieser Frau zurück, die ihn liebte und deren Gefühle ungeteilt sein eigen waren. Er wünschte sich, immer zu leben. Als sein Blick Pauline traf, öffnete sie sogleich die Augen, als ob ein Sonnenstrahl sie berührt hätte, und sagte lächelnd: »Guten Morgen, mein Freund! Wie schön du bist, du Böser!«

Die beiden Antlitze voll der Anmut ihrer Liebe und Jugend waren im dämmerigen Lichte und Schweigen eines jener erhabenen Bilder, wie sie einzig die ersten Tage der Leidenschaft in vergänglicher Magie erschaffen, – wie ja auch die Naivität und die Unschuld einzig der ersten Jugend eigen ist. Diese frühlinglichen Freuden der Liebe müssen wie das Lachen unserer Kinderzeit vorbeigehen und dürfen nur mehr in unserer Erinnerung weiterleben, aus der uns dann zuweilen Verzweiflung, zuweilen ein Duft des Trostes steigt, je nach der Art der verschwiegenen Betrachtungen, die sie emporgerufen haben.

Rafael fragte: »Warum bist du aufgewacht? Ich hatte so viel Freude daran, dich zu betrachten, während du schliefst, daß ich vor Glück weinte …«

Sie antwortete: »Ich habe heute Nacht auch geweint, als ich dich in deinem Schlaf betrachtete. Aber nicht vor Freude. Hör mich an, mein Rafael! Wenn du schläfst, ist deine Atmung behindert, es klingt etwas in deiner Brust mit, was mir Angst gemacht hat. Du hast im Schlafen so ein kleines, trockenes Hüsteln, ganz wie mein armer Vater, der an der Schwindsucht stirbt. Ich glaube, ich habe in deiner Lunge eines von den sonderbaren Geräuschen gehört, wie sie diese Krankheit hervorbringt. Außerdem hast du Fieber gehabt, das weiß ich sicher, denn deine Hand war ganz feucht und brennend heiß. Liebling, du bist jung«, fuhr sie schaudernd fort, »du kannst noch geheilt werden, wenn du unglücklicherweise … Aber nein,« rief sie wieder fröhlich, »es ist gar kein Unglück! Die Krankheit ist ja ansteckend, sagen die Ärzte …« Mit ihren beiden Armen umschlang sie Rafael und trank seinen Atem in einem jener Küsse, darin die ganze Seele liegt: »Ich will gar nicht alt werden, wir wollen beide jung sterben und mit den Händen voll Blumen in den Himmel kommen!«

Rafael wühlte seine Hände in Paulines Haar ein: »Solche Pläne macht man leicht, solange man gesund ist.«

Da packte ihn ein furchtbarer Hustenanfall, jener schwere, tiefe Husten, der wie aus einem Sarg zu kommen scheint, der die Stirn der Kranken bleich macht, sie ganz in Schweiß badet und sie erbeben läßt. – Hernach sind ihre Nerven erschüttert, ihre Flanken fliegen, ihr Rückenmark ist zum Tode ermattet und etwas Fremdes, Schweres hat sich in ihre Adern gesenkt. Blaß und zerschlagen legte sich Rafael langsam zurück, verfallen wie ein Mensch, der seine ganze Kraft in einer letzten Anstrengung vertan hat. Pauline betrachtete ihn mit starren, angstvoll aufgerissenen Augen, sie verharrte ohne Bewegung, erblaßt, schweigend.

Um Rafael die furchtbaren Vorgefühle, die sie ängstigten, zu verbergen, sagte sie: »Liebster, wir dürfen keine Dummheiten mehr machen!«

Sie barg das Gesicht in den Händen, denn plötzlich erblickte sie das gräßliche Skelett des Todes. Rafaels Gesicht hatte sich mit Leichenfarbe überzogen und war hohl geworden, wie ein Schädel, der für die Studien irgendeines Gelehrten aus den Tiefen eines Friedhofs hervorgeholt worden ist. Da erinnerte sich Pauline des Ausrufs, den Rafael am Abend vorher getan hatte. Und sie sagte in sich selber: »Ja, es gibt Abgründe, über die selbst die Liebe nicht hinweg kann – dann muß sie sich eben darin begraben.«

*

Einige Tage nach dieser verzweifelten Szene saß Rafael an einem Märzmorgen in seinem Lehnstuhl, umgeben von vier Ärzten; sie hatten seinen Fauteuil zum Fenster seines Zimmers in das Licht gerückt und nun fühlten sie einer nach dem anderen seinen Puls, tasteten ihn ab und richteten mit einem Anschein von Interesse Fragen an ihn.

Der Kranke forschte nach ihren Gedanken und suchte sich ihre Gebärden und die kleinsten Falten, die sich auf ihren Stirnen zeigten, zu deuten. Diese Konsultation war seine letzte Hoffnung. Die Ärzte waren für ihn die obersten Richter, die das Urteil auf Leben oder Tod auszusprechen hatten.

Rafael hatte die unfehlbarsten Größen der Medizin zu sich berufen, um der menschlichen Wissenschaft ihr letztes Wort zu entreißen. Dank seinem Vermögen und seinem Namen befanden sich nun die drei Systeme, zwischen denen die menschlichen Erkenntnisse schwanken, da vor ihm. Drei dieser Doktoren trugen die ganze ärztliche Philosophie in sich und stellten den Kampf dar, den die reine Geistigkeit, die analytische Methode und ein ungläubiger Eklektizismus miteinander ausfechten. Der vierte Arzt war Horace Bianchon, ein Mann von tiefstem Wissen und großer Zukunft; er war einer der vornehmsten unter den neueren Ärzten und er war ein weiser und bescheidener Vertreter der lerneifrigen Jugend, die sich anschickte, das Erbe der seit fünfzig Jahren von der Pariser medizinischen Schule aufgehäuften Schätze zu sammeln und die vielleicht das Denkmal errichten wird, zu dem die vergangenen Jahrhunderte das vielfältige Baumaterial zusammengetragen haben. Er war mit dem Marquis und mit Rastignac befreundet und hatte dem Kranken seit einigen Tagen schon seine Fürsorge angedeihen lassen; nun half er ihm, die Fragen der drei Professoren zu beantworten, denen er gelegentlich mit einer Art von Hartnäckigkeit die Symptome auseinandersetzte, die ihm hier für Lungenschwindsucht zu sprechen schienen.

»Sicherlich haben Sie sehr ausschweifend gelebt und sind mit Ihrer Lebenskraft recht verschwenderisch umgegangen? Haben Sie auch schwere geistige Arbeit geleistet?« fragte nun Rafael derjenige der drei berühmten Ärzte, dessen viereckiger Kopf mit dem breiten, energisch geschnittenen Gesichte auf ein Genie hindeutete, das dem seiner beiden wissenschaftlichen Gegner weit überlegen sein mußte.

Rafael antwortete ihm: »Ich habe mich durch Ausschweifungen töten wollen, nachdem ich drei Jahre hindurch an einem großen Werke gearbeitet hatte, mit dem Sie sich vielleicht eines Tages zu beschäftigen haben werden!«

Der Arzt hob mit einem Zeichen der Zustimmung den Kopf, so, als ob er zu sich selber sagte: »Ich war dessen gewiß.« Dieser Arzt war der berühmte Brisset, der Meister der Internisten, der Nachfolger eines Cabanis und Bichat. Er gehörte zu jenen positivistischen und materialistischen Geistern, die in dem Menschen ein vollendetes Wesen sehen, das einzig den Gesetzen seiner eigenen Organisation unterworfen ist. Er glaubte fest, daß sowohl der Normalzustand des Menschen als auch jede zerstörerische Abweichung davon sich aus durchaus einleuchtenden Ursachen herleiten ließen.

Auf Rafaels Antwort hin sah Brisset schweigend einen Mann von mittlerer Gestalt an, dessen gerötetes Gesicht und brennende Augen ihn einem antiken Satyr ähnlich machten; er stand, den Rücken an das Fenster gelehnt, und betrachtete Rafael aufmerksam, ohne ein Wort zu sagen. Es war dies der Doktor Caméristus, ein überschwenglicher Mensch, der gläubige Führer der vitalistischen Lehre und ein schwungvoller Verteidiger der abstrakten Theorien des van Helmont. Er sah im menschlichen Leben ein erhabenes Prinzip, ein Geheimnis, ein unerklärliches Phänomen, das trügerisch mit den Messern der Chirurgie sein Spiel treibt, und das sich den Wirkungen der Medikamente ebenso entzieht wie dem X der Algebra und den Demonstrationen der Anatomie – all unsere Anstrengungen verlachend. Ihm war das Leben eine Art unberührbarer und unsichtbarer Flamme, die einem göttlichen Gesetze gehorcht und oftmals in einem Körper weiterbrennt, den wir zum Tode verurteilt haben, während sie gerade die lebensfähigsten Organismen verläßt.

Ein sardonisches Lächeln spielte um die Lippen des dritten, des Doktors Maugredie; dieser war mit all seiner Klugheit ein Zweifler und Spötter, der nur an das Messer glaubte. Er stimmte ebenso Brisset darin bei, daß ein Mensch bei bestem Befinden sterben könne, wie er Caméristus gegenüber zugab, daß ein Mensch sogar noch nach seinem Tode leben könne. Er fand Gutes an allen Theorien, machte sich aber keine zu eigen und behauptete, daß das beste medizinische System sei, keines zu haben und sich lediglich an die Tatsachen zu halten. Er war der Panurg der ganzen medizinischen Schule, der König der Beobachtung, ein großer Forscher und ein großer Ungläubiger. Er war der Mann der verzweifelten Versuche. Forschend besah er das Chagrinleder und sagte dann dem Marquis: »Ich möchte gerne Zeuge dieser Wechselwirkung zwischen Ihren Wünschen und der Zusammenziehung des Leders sein.«

»Wozu denn?« rief Brisset.

»Wozu denn?« echote Caméristus.

»Ah, seid ihr einmal einer Meinung?« entgegnete Maugredie.

»Diese Zusammenziehung ist etwas ganz Einfaches«, fuhr Brisset fort.

»Sie ist übernatürlich!« rief Caméristus.

Maugredie gab sich einen Anstrich von Ernst, da er Rafael sein Chagrinleder zurückgab: »In der Tat, das Einschrumpfen der Haut ist bei all ihrer Unerklärlichkeit eine natürliche Tatsache, die seit der Entstehung der Welt die Ärzte und die hübschen Frauen zur Verzweiflung bringt.«

Rafael bemühte sich, die drei Ärzte auszuforschen, er konnte aber keinerlei Sympathie für seine Leiden in ihnen entdecken. Alle drei schwiegen nach jeder seiner Antworten, gleichgültig untersuchten sie ihn und, ohne ihn zu beklagen, richteten sie ihre Fragen an ihn; durch all ihre Höflichkeit war ihre tiefe Anteillosigkeit zu spüren. Mochten sie nun ihrer Sache schon sicher oder darüber noch in Nachdenken versunken sein, jedenfalls waren ihre Worte so spärlich und interesselos, daß Rafael sie Augenblicke lang für geistesabwesend halten mußte. Von Zeit zu Zeit antwortete einzig Brisset mit einem »Schön! Gut!« auf alle die hoffnungslosen Symptome, die Bianchon ihm aufgezeigt hatte. Caméristus verharrte in einer tiefen Verträumtheit, Maugredie glich einem Komödiendichter, der in den Anblick zweier komischer Figuren, die er gerne auf die Bühne brächte, versunken ist. Das Gesicht Horace Bianchons verriet tiefen Kummer und gerührte Traurigkeit. Er war noch zu kurze Zeit Arzt, als daß er hätte Schmerzen gegenüber unempfindlich und an einem Sterbebette teilnahmslos sein können. Er vermochte es nicht, in seinen Augen die Freundestränen zurückzudrängen, die dem Manne den klaren Blick trüben und ihn daran hindern, wie ein Heerführer den geeigneten Augenblick zum Siege wahrzunehmen, ohne auf die Schreie der Sterbenden zu achten.

Nachdem die Ärzte nahezu eine halbe Stunde damit zugebracht hatten, dem Kranken und der Krankheit sozusagen das Maß zu nehmen, wie der Schneider einem jungen Manne, der bei ihm seinen Hochzeitsanzug bestellt, das Maß nimmt, sagten sie ein paar Gemeinplätze und begannen sogar von öffentlichen Angelegenheiten zu sprechen. Dann wollten sie sich in das Arbeitszimmer Rafaels zurückziehen, um einander ihre Gedanken mitzuteilen und ihr endgültiges Urteil abzugeben. Der Marquis fragte sie: »Meine Herren, könnte ich nicht Ihrer Unterredung beiwohnen?«

Brisset und Maugredie verwahrten sich aufs lebhafteste dagegen und trotz der inständigen Bitten des Kranken weigerten sie sich, in seiner Gegenwart die Beratung abzuhalten. Rafael unterwarf sich dem Brauche; er dachte, sich heimlich in einen Gang schleichen zu können, von wo aus es ihm ganz leicht sein mußte, die ärztlichen Gespräche mit anzuhören, die die drei Professoren zu führen vorhatten.

Schon im Eintreten sagte Brisset: »Gestatten Sie mir, meine Herren, daß ich Ihnen sofort meine Meinung sage. Ich will sie Ihnen nicht aufdrängen, aber ich glaube, Sie werden mir nicht widersprechen. Erstens ist der Fall ganz einfach und klar und ähnelt vollständig dem einer meiner Patienten. Zweitens erwartet man mich in meinem Spital. Die Wichtigkeit der Sache, die meine Anwesenheit im Spital erfordert, wird es entschuldigen, daß ich zuerst das Wort ergriffen habe. Der Patient, mit dem wir uns zu beschäftigen haben, ist von seinen geistigen Arbeiten erschöpft … Was hat er denn eigentlich geschrieben, Horace?« wandte er sich an den jungen Arzt.

»Eine Theorie des Willens.«

»Teufel, das ist allerdings ein weites Feld. Er ist erschöpft, sage ich, von geistigen Exzessen, von fehlerhafter Ernährung und endlich vom wiederholten Gebrauche allzu kräftiger Reizmittel. Die heftige Inanspruchnahme des Körpers und des Gehirnes haben den ganzen Organismus aufgerieben. Es ist leicht, meine Herren, aus dem Gesichte sowohl wie auch aus den körperlichen Symptomen eine außerordentliche Überreizung des Magens und eine Neurose des großen Sympathikus zu erkennen. Wir finden überdies eine auffallende Sensibilität des Epigastriums und eine Verengerung der Hypochondrien. Sie haben sicher die Größe und das Hervortreten der Leber bemerkt. Endlich hat uns Herr Bianchon, der ständig die Verdauung seines Patienten überwacht hat, davon Mitteilung gemacht, daß sie schlecht und schwer sei. Um es also rasch zu sagen, der Kranke hat so gut wie keinen Magen mehr. Und damit ist auch der Mensch erledigt. Der Verstand ist unterernährt, weil der Mensch nicht mehr verdaut. Die fortschreitende Erkrankung des Magens, der ja das Zentrum des Lebens ist, hat den ganzen Organismus zugrunde gerichtet. Von ihm gehen die unaufhörlichen fieberhaften Reizzustände aus und allmählich hat die Zerrüttung, durch die Nerven weitergeleitet, auch das Gehirn ergriffen: daher stammt die heftige Überreiztheit dieses Organes. Der Kranke leidet an Monomanie, die Last einer fixen Idee liegt auf ihm. Für ihn zieht sich dieses Chagrinleder tatsächlich zusammen – in Wirklichkeit wird es vielleicht immer so gewesen sein, wie wir es gesehen haben. Ob aber dieses Chagrinleder sich zusammenzieht oder nicht, für ihn ist es dasselbe wie für den Großvezier im Märchen die Fliege auf der Nase. Man muß ihm also eiligst in die Magengegend Blutegel ansetzen und so die Überreizung dieses Organes, von dem das ganze Leben abhängt, beseitigen. Man muß den Kranken in strenger Diät halten, dann wird auch die Monomanie verschwinden. Aber darüber will ich dem Doktor Bianchon keine weiteren Vorschriften machen, er soll die Behandlung im großen wie im kleinen übernehmen. Vielleicht werden sich noch Komplikationen der Krankheit einstellen, vielleicht sind auch die Atmungswege auf gleiche Weise in Mitleidenschaft gezogen: ich halte aber die Behandlung des Verdauungsapparates für weitaus wichtiger, nötiger und dringlicher als die der Lungen. Das hartnäckige geistige Arbeiten zusammen mit einem ausschweifenden Leben hat im Lebensmechanismus unseres Kranken schwere Störungen hervorgerufen. Immerhin ist es noch Zeit, die Maschinerie wieder in Gang zu bringen, da noch nichts endgültig verdorben ist.« Er wandte sich an Bianchon: »Sie können also Ihren Freund noch mit Leichtigkeit retten!«

Caméristus erwiderte auf diese Rede: »Unser gelehrter Kollege nimmt die Wirkung für die Ursache! Ja, die Störungen, die er so gut beobachtet hat, existieren tatsächlich an dem Kranken, keineswegs aber sind schädigende Ausstrahlungen vom Magen in den Organismus und das Gehirn ausgegangen, wie ein Sprung im Glas sich strahlenförmig ausbreitet. Es ist erst ein Schlag nötig gewesen, um das Glas zu zerbrechen – wer hat diesen Schlag geführt? Wissen wir es? Haben wir den Kranken genügend beobachtet? Kennen wir denn alle Ereignisse seines Lebens? Meine Herren, das Lebensprinzip, die Urkraft nach van Helmont, ist in ihm getroffen, die Lebenskraft selbst ist in ihrem Kern angegriffen. Der göttliche Funke, die Vernunft, die gleichsam der Treibriemen der Maschine ist und die den Willen, die Weisheit des Lebendigen, hervorbringt, hat aufgehört, die täglichen Erscheinungen des Organismus und die Funktionen der einzelnen Organe zu regulieren: das ist die Ursache all der Verwirrungen, die unser gelehrter Zunftgenosse so richtig gewertet hat. Jene Bewegung ging nicht vom Magen zum Gehirn, sondern umgekehrt vom Gehirn zum Magen. Nein,« rief er aus und schlug sich kräftig auf die Brust, »nein, ich bin kein menschgewordener Magen! Nein, der Magen ist nicht alles! Ich habe nicht den Mut, zu sagen, daß schon alles in Ordnung sei, wenn ich nur einen guten Magen habe …« Ruhiger fuhr er dann fort: »Wir können doch nicht die schweren Störungen verschiedener mehr oder weniger ernsthaft erkrankter Patienten denselben physiologischen Ursachen zuschreiben, noch können wir sie auf ein und dieselbe Weise behandeln. Kein Mensch gleicht dem anderen. Ein jeder von uns hat seine besonderen Organe mit ihren nur ihnen eigentümlichen Krankheitsmöglichkeiten und mit ihrer besonderen Art von Ernährung, Organe, die dazu geschaffen sind, ihre ihnen gemäßen Aufgaben zu erfüllen und ihr Teil zur Vollendung der Weltordnung beizutragen, deren Plan uns unbekannt ist. Jener Teil des großen Alls, der nach einem hohen Willen am Werke ist, in uns das Phänomen des Lebens zu erhalten, spricht sich in jedem einzelnen Menschen auf eine ganz bestimmte Weise aus: er macht den Menschen scheinbar zu einem in sich vollendeten Wesen, das jedoch in Wirklichkeit an irgendeinem Punkte seinen Zusammenhang mit einer unendlichen Ursache hat.

So müssen wir auch einen jeden Fall gesondert betrachten, in ihn einzudringen und zu erkennen suchen, worin sein Leben bestehe und welche Macht in ihm am Werke sei. Von der Weichheit eines nassen Schwammes bis zur Härte des Bimssteins gibt es unendliche Zwischenstufen. So ist es auch mit dem Menschen. Zwischen der schwammigen Beschaffenheit der Lymphatiker und der stahlharten Muskelkraft von Menschen, die zu einem langen Leben bestimmt sind, hat das unerbittliche System einer einheitlichen Behandlung unbegrenzte Möglichkeiten, Irrtümer zu begehen, indem es sich eine Heilung von einem Unterdrücken und Schwächen der menschlichen Kräfte erwartet, die es immer überreizt wähnt. In diesem unseren Falle spreche ich für eine durchaus seelische Behandlung, für eine gründlichste Durchforschung des inneren Wesens unseres Patienten. Wir müssen die Ursache der Krankheit in den Eingeweiden der Seele und nicht in den Eingeweiden des Körpers suchen. Der Arzt ist ein begnadetes Wesen, mit einer besonderen Art von Genie begabt: ihm gewährt Gott die Macht, im Lebensvorgange zu lesen, wie er den Propheten Augen gibt, die Zukunft zu erschauen, dem Dichter die Gabe, die Natur zum Leben zu erwecken und dem Musiker die Fähigkeit, eine Ordnung der Töne zu erschaffen, die vielleicht ein Abbild der höchsten Harmonie ist …«

Brisset murmelte vor sich hin: »Immer wieder kommt er uns mit seiner absolutistischen, monarchistischen, religiösen Medizin!«

»Meine Herren, verlieren wir den Kranken doch nicht aus den Augen …« mischte sich Maugredie ins Gespräch und leitete damit geschickt über die Bemerkung Brissets hinweg.

Traurig sprach der im Gange lauschende Rafael nun zu sich: »Hier sieht man, wie es um die Wissenschaft steht! Die Möglichkeiten meiner Heilung bewegen sich zwischen Rosenkranzbeten und einer Gebetschnur von Blutegeln, zwischen dem Messer von Dupuytren und dem Gebet eines Gesundbeters. Auf der Linie, die die Tatsache vom Worte und die Materie vom Geiste scheidet, steht der Zweifler Maugredie. Überall verfolgt mich das menschliche Ja und Nein! Immer wieder das Rabelaissche Carymary-Carymara: ich bin geistig krank, Carymary! Oder körperlich krank, Carymara! Werde ich leben können? Sie wissen es nicht. Planchette war wenigstens aufrichtiger, er hat mir gesagt: Ich weiß nicht!«

In diesem Augenblick vernahm Rafael die Stimme des Doktor Maugredie: »Der Kranke ist monomanisch, schön, ich bin Ihrer Meinung, meine Herren: aber er hat zweimalhunderttausend Franken Rente, diese Art von Monomanen ist äußerst selten und so schulden wir ihm wenigstens einen Rat. Was das Wissen anlangt, ob sein Magen auf das Gehirn oder das Gehirn auf seinen Magen eingewirkt hat, werden wir diese Tatsache vielleicht feststellen können, wenn er einmal tot ist. Fassen wir also das wesentliche zusammen: er ist krank, die Tatsache ist unleugbar. Er braucht irgendeine Behandlung. Lassen wir doch die Theorien! Setzen wir ihm Blutegel an, um die Darmüberreizung und die Neurose, über deren Existenz wir einer Meinung sind, zu beruhigen, und dann schicken wir ihn in ein Bad: so handeln wir zugleich nach allen beiden Systemen. Ist er wirklich lungenkrank, dann können wir ihn sowieso kaum retten, also …«

Rafael verließ eilig den Gang und kehrte in seinen Lehnstuhl zurück. Bald kamen auch die vier Ärzte aus dem Arbeitszimmer zurück. Horace führte das Wort: »Die Herren haben sich einstimmig für die unverzügliche Anwendung von Blutegeln in der Magengegend entschieden und die Dringlichkeit einer zugleich körperlichen und seelischen Behandlung betont. Vor allem wird also eine Regelung der Diät, um die Überreizung des ganzen Organismus zu beruhigen, nötig sein …«

Brisset machte ein Zeichen seiner Zustimmung.

»... und dann eine seelische Diät, um das psychische Leben in Ordnung zu bringen. So raten wir Ihnen einstimmig, sich zum Badegebrauch nach Aix in Savoyen oder nach Mont-Dore in der Auvergne zu begeben, wenn Sie das vorziehen; Luft und Lage von Savoyen sind vielleicht bekömmlicher als in der Auvergne, aber Sie können da ganz nach Ihrem Geschmacke wählen.«

Hier machte der Doktor Caméristus eine Gebärde der Billigung.

Bianchon fuhr fort: »Die Herren haben eine leichte Angegriffenheit des Atmungsapparates erkannt und sind mit mir über die Notwendigkeit meiner früheren Vorschriften ganz einer Meinung. Sie denken, daß die Heilung keine Schwierigkeiten haben wird und nur von der vernünftigen abwechselnden Anwendung dieser verschiedenen Mittel abhängt. Und …«

»Und das sind die Gründe, warum Ihre Tochter stumm ist …« zitierte Rafael lächelnd und zog Horace in sein Arbeitszimmer, um ihm das Honorar für diese ganz unnötige Konsultation einzuhändigen.

Als sie allein waren, sagte der junge Arzt: »Sie haben doch ihre Logik: Caméristus fühlt, Brisset forscht, und Maugredie zweifelt. Schließlich hat der Mensch ja eine Seele, einen Körper und eine Vernunft. Eine dieser drei Grundursachen wirkt mehr oder minder in uns – und die menschliche Wissenschaft richtet sich ja immer nach dem Menschen. Glaub mir, Rafael, wir heilen keinen, wir helfen nur bei der Heilung. Zwischen der Medizin des Brisset und der des Caméristus gibt es noch die Medizin des Abwartens. Um aber die mit Erfolg anwenden zu können, müßte man eben seinen Kranken schon zehn Jahre lang kennen. Es gibt eben in der Geschichte der Medizin etwas Unlösbares wie in allen Wissenschaften. Bemühe dich also, vernünftig zu leben, und versuche es mit einer Reise nach Savoyen. Das Beste ist und bleibt ja doch immer, sich der Natur anzuvertrauen.«

Und Rafael reiste nach Aix.

*

Einen Monat später waren an einem schönen Sommerabende eine Anzahl von Menschen, von ihren Spaziergängen zurückgekehrt, in den Räumen des Kurhauses versammelt. Rafael saß bei einem Fenster, mit dem Rücken gegen die Gesellschaft, allein, tief in jene unbewußten Träumereien versunken, in denen unsere Gedanken entstehen, sich aneinanderfügen, wieder verschwinden, ohne Gestalt gewonnen zu haben, und in uns vorüberziehen wie leichte zart getönte Wolken. In solchen Augenblicken wird jede Traurigkeit sanft, die Freude ist nur mehr ein Hauch und die Seele ist fast in Schlaf versunken. Rafael überließ sich ganz seinen Gefühlen, trank die laue Abendluft in sich und genoß den klaren, duftigen Hauch der Berge; er war glücklich, keine Schmerzen zu empfinden und endlich sein drohendes Chagrinleder zum Schweigen gebracht zu haben. Als das letzte Rot des Sonnenunterganges auf den Berggipfeln erloschen war, begann es kühl zu werden; Rafael stand auf und schloß das Fenster.

Eine alte Dame wandte sich an ihn: »Mein Herr, möchten Sie die Freundlichkeit haben, das Fenster offen zu lassen? Wir ersticken hier.«

Schneidend drangen diese Worte, sonderbar schrill gesprochen, in Rafaels Ohr. Sie trafen ihn wie eine Bemerkung, die ein Mensch unvorsichtig über eine Freundschaft macht, an die wir gerne glauben wollten: sie zerstören eine gute Illusion und reißen einen Abgrund von Egoismus auf.

Rafael sah die alte Frau mit dem kalten Blicke eines gefühllosen Diplomaten an; er rief einen Diener herbei und befahl ihm trocken: »Öffnen Sie dieses Fenster!«

Diese Worte riefen auf all den Gesichtern ein deutliches Erstaunen wach. Sämtliche Anwesende begannen, miteinander zu flüstern, und sahen den Kranken mit einem Ausdrucke an, als ob er etwas besonders Unverschämtes getan hätte. Rafael hatte noch nicht völlig seine ursprüngliche Jünglingsschüchternheit verloren, er schämte sich; aber er schüttelte seine Betäubung ab, gewann seine Energie wieder und verlangte nun von sich Rechenschaft über diese sonderbare Szene. Plötzlich belebte eine jähe Bewegung sein Denken: deutlich erblickte er in einer Vision seine ganze Vergangenheit vor sich und sah die Ursachen des Gefühls, das er eingeflößt hatte, plastisch hervortreten wie die Gefäße eines Leichnams, an dem die Naturforscher mittels einer Injektion selbst die feinsten Adernverzweigungen farbig sichtbar machen. Er erkannte sich selbst in dem flüchtigen Bilde wieder, er verfolgte sein Dasein Tag um Tag und Gedanken um Gedanken. Nicht ohne Verwunderung sah er sich selbst nun düster und zerstreut inmitten einer Welt lachender Menschen. Immer um sein Schicksal besorgt, ausschließlich mit seiner Krankheit beschäftigt, mußte er den Anschein erwecken, jede bedeutungslose Plauderei zu verachten und jene Eintagsintimitäten zu fliehen, wie sie so leicht auf Reisen und zwischen Menschen entstehen, die sicher sind, einander später nie wieder zu begegnen. Er hatte sich wenig um andere gekümmert und mochte nun endlich den Felsen gleichen, die für die Liebkosungen der Wogen wie für ihr Wüten gleich unempfindlich sind.

Dann vermochte er in einem Aufleuchten von Hellsichtigkeit, wie es den Menschen selten zuteil wird, in all den Seelen zu lesen: im Lampenlichte erblickte er das gelbe sardonische Gesicht eines Greises und er erinnerte sich, ihm im Spiele Geld abgenommen zu haben, ohne ihm eine Revanche vorzuschlagen; etwas weiter dann gewahrte er eine hübsche Frau, gegen deren Lockungen er kalt geblieben war. Jedes Gesicht zieh ihn eines begangenen Unrechtes, das äußerlich nicht zu merken war und dessen Verbrechen stets das gewesen war, daß er der Eigenliebe eine unsichtbare Wunde geschlagen hatte. Ohne sein Wollen hatte er alle die kleinen Eitelkeiten verletzt, deren Kreise er berührt hatte. Die Gäste seiner Feste, und alle die, denen er seine Pferde zur Verfügung gestellt hatte, hatten sich von seinem Luxus beleidigt gefühlt. Er war von ihrer Undankbarkeit überrascht gewesen. Dann hatte er ihnen diese Art von Erniedrigung ersparen wollen – und nun glaubten sie sich erst recht von ihm verachtet und beschuldigten ihn des Adelsdünkels.

Er durchforschte solcherart die Herzen und vermochte darin die geheimsten Gedanken zu entziffern: ihn schauderte vor der Gesellschaft, vor ihrer Höflichkeit und ihrer Tünche. Weil er reich war und einen überlegenen Geist besaß, wurde er beneidet und gehaßt. Seine Schweigsamkeit enttäuschte die Neugier, seine Bescheidenheit dünkte alle diese niedrigen und oberflächlichen Menschen Hochmut. Er erriet nun das verborgene unverzeihliche Verbrechen, dessen er sich ihnen gegenüber schuldig gemacht hatte: er hatte sich der Gerichtsbarkeit dieser Welt der Mittelmäßigkeit entzogen. Er hatte sich gegen die Despotie ihrer Neugier empört und hatte es verstanden, ihnen allen auszuweichen. Nun wollten sie sich für sein Königsgebaren rächen, und alle hatten sich instinktiv verbündet, um ihn ihre Macht fühlen zu lassen, ihn einem Scherbengerichte zu unterwerfen und ihm zu zeigen, daß auch sie ihn entbehren könnten.

Erst ergriff ihn bei diesem Anblicke der Welt Mitleid, bald aber schauderte er im Gedanken an die Macht, die ihm gestattete, so durch die leibliche Hülle das innere Wesen der Menschen zu erblicken – und er schloß die Augen, um nichts mehr zu sehen. Da zog sich mit einemmal ein schwarzer Vorhang über diese düsteren Bilder der Wahrheit, er versank in jene schreckliche Vereinsamung, in der der Mensch der Herrschaft der Mächte ausgeliefert ist.

In diesem Augenblicke befiel ihn ein furchtbarer Hustenanfall. Nun bekam er nicht nur keines jener gleichgültigen und banalen Worte zu hören, mit denen zufällig versammelte Menschen der guten Gesellschaft doch sonst wenigstens eine Art höflichen Mitleides vortäuschen, im Gegenteil, er vernahm feindselige Ausrufe und leise geflüsterte Äußerungen von Unwillen. Die Gesellschaft nahm sich nicht einmal mehr die Mühe, sich für ihn zu verstellen, vielleicht, weil sie sich von ihm durchschaut wußte.

»Seine Krankheit ist ansteckend …«

»Der Leiter des Kurhauses müßte ihm den Eintritt in die Gesellschaftsräume verbieten!«

»So darf man wirklich nicht husten …«

»Wenn ein Mensch so krank ist, gehört er nicht in einen Badeort!«

»Er wird mich noch von hier vertreiben!«

Rafael erhob sich, um sich den allgemeinen Beleidigungen zu entziehen, und ging in dem Raum auf und nieder. Er wollte Schutz suchen und kehrte zu einer alleinsitzenden Dame zurück, der er ein paar freundliche Worte zu sagen beabsichtigte; aber als er sich ihr näherte, kehrte sie ihm den Rücken zu und gab sich den Anschein, dem Tanze zuzusehen. Rafael fürchtete, an diesem Abend schon seinen Talisman in Anspruch genommen zu haben. Er fand weder die Kraft noch die Lust in sich, ein Gespräch zu beginnen. So verließ er den Salon und flüchtete in das Billardzimmer. Hier richtete niemand ein Wort an ihn, keiner grüßte und kein Blick auch nur des leisesten Wohlwollens begegnete ihm. Sein von Natur aus nachdenklicher Geist machte ihm nun in einer plötzlich aufleuchtenden Erkenntnis die Ursache dieser allgemeinen und begreiflichen Abneigung klar, die er erregt hatte. Diese kleine Welt da gehorchte, ohne es vielleicht zu wissen, demselben großen Gesetze, das die ganze vornehme Gesellschaft beherrscht, deren unversöhnliche Moral sich nun völlig vor Rafaels Augen enthüllte. Ein Blick in die Vergangenheit zeigte ihm Feodora als den vollkommenen Typus dieser Weltanschauung. Er hatte von der Gesellschaft ebensowenig Sympathie für seine Krankheit zu erwarten, als er von Feodora für seinen Herzenskummer zu erhoffen gehabt hatte. Die gute Gesellschaft verbannt die Unglücklichen aus ihrem Kreise, wie ein Mensch von kräftiger Gesundheit einen Krankheitskeim aus seinem Körper austreibt. Die Gesellschaft verabscheut Schmerzen und Unglücksfälle, sie fürchtet sie wie Seuchen; zwischen ihnen und dem Laster wird ihr die Wahl nicht schwer, denn das Laster gehört zum Reichtum. Wie erhaben auch ein Unglück sein mag, die Gesellschaft versteht sich darauf, es zu verkleinern und durch ein Witzwort ins Lächerliche zu ziehen. Sie zeichnet Karikaturen von ihren entthronten Königen, um ihnen so die Beleidigungen zurückzuzahlen, die sie von ihnen erlitten zu haben glaubt. Wie die jungen Römerinnen im Zirkus gewährt sie dem gefallenen Gladiator niemals Gnade. Sie lebt vom Golde und der Bosheit. Tod den Schwachen! ist der Schwur dieses Ritterordens, der unter allen Völkern der Erde gestiftet worden ist, denn überall gibt es reiche Leute, und jener Wahlspruch ist in dem Grunde all der Herzen eingegraben, die der Überfluß geformt hat und der Adelsdünkel nährt. Man muß sich nur die Kinder in der Schule vorstellen. Sie geben im kleinen zusammen ein Bild der menschlichen Gesellschaft, eines, das um so richtiger ist, weil es ja auch um so viel naiver und aufrichtiger ist. Immer findet man unter ihnen ein paar arme Heloten, Geschöpfe voll Schmerz und Qual, die unablässig Gegenstand des Mitleides und der Verachtung sind: das Evangelium verspricht ihnen das Himmelreich. Und steigen wir auf der Leiter der Lebewesen nach abwärts? Wenn unter den Hühnern eines Geflügelhofes eines Schmerzen leidet, verfolgen es die anderen mit Schnabelhieben, reißen ihm die Federn aus und töten es. Der Egoismus gibt der Gesellschaft einen Freibrief, ihre ganze Strenge gegen alles Unglück zu richten, das so kühn ist, sie bei ihren Festen zu stören und ihr Vergnügen zu beunruhigen. Wenn einer an Körper oder Seele leidet, keine Macht oder kein Geld hat, ist er ein Paria, der sich in seiner Wüste verkriechen soll. Wagt er ihre Grenzen zu überschreiten, so findet er eisigen Winter um sich: Kälte der Blicke, Kälte in Wort und Gebärde, Kälte des Herzens. Er muß noch glücklich sein, wenn ihm dort nicht Beleidigungen zuteil werden, wo er Tröstung zu finden erwartet hatte. Die Sterbenden sollen in ihren von allen verlassenen Betten bleiben und die Greise einsam bei ihren erloschenen Kaminen sitzen! Die armen Mädchen ohne Mitgift mögen in ihren einsamen Dachkammern frieren und glühen!

Wenn die Gesellschaft aber ein Unglück in ihrer Nähe duldet, geschieht das nur, um es sich nutzbar zu machen, daraus einen Vorteil zu ziehen, es sozusagen zu satteln, ihm Zügel anzulegen und eine Schabracke zu geben, es zu besteigen und sich so eine Freude daraus zu machen. Ihr, verbitterte Gesellschafterinnen, zeigt fröhliche Gesichter: nehmt geduldig die Launen eurer angeblichen Wohltäterinnen auf euch, tragt ihnen ihre Hunde, buhlt wie die kleinen Affenpintscher um ihre Gunst, unterhaltet sie, erratet ihre Wünsche und schweigt! Und du, König der Bedienten ohne Livree, schamloser Schmarotzer, laß deinen Charakter zu Hause: verdau, wie dein Gastgeber verdaut, weine, wenn er weint, lache, wenn er lacht, und finde seine Witze gut: wenn du ihn lästern willst, warte seinen Sturz ab!

So ehrt die Gesellschaft die Unglücklichen: sie tötet sie oder verjagt sie, sie erniedrigt oder entmannt sie.

Diese Gedanken erhoben sich in Rafaels Seele mit der Heftigkeit dichterischer Eingebung. Er blickte um sich und fühlte die düstere Kälte, die die Gesellschaft verbreitet, wenn sie Unglückliche fernhalten will, und die schneidender noch die Seele packt, als der Dezemberwind den Körper erstarren macht. Rafael kreuzte die Arme über der Brust, lehnte sich an die Mauer und versank in tiefe Melancholie. Er gedachte, wie wenig Glück diese furchtbare Ordnung der Gesellschaft bringe: Unterhaltungen ohne Vergnügen, Lustigkeit ohne Freude, Feste ohne Genüsse, Raserei ohne Wollust, bis endlich verkohltes Holz und Asche in einem Kamin ohne ein Fünkchen Wärme bleibt. Als Rafael das Haupt wieder hob, sah er sich allein – die Spieler hatten sich geflüchtet.

»Es würde genügen, ihnen meine Macht zu zeigen, und sie beteten meinen Husten an!« sagte er bei sich.

Bei diesem Gedanken hüllte er sich in Verachtung wie in einen Mantel, der ihn von der Welt trennen sollte.

Am nächsten Tage besuchte ihn der Badearzt; er tat sehr teilnahmsvoll und beunruhigt über seinen Gesundheitszustand. Rafael fühlte eine Regung von Freude, als er die freundschaftlichen Worte vernahm. Er fand in dem Gesichte des Arztes Zeichen von Sanftmut und Güte, die Locken seiner blonden Perücke schienen ihm Menschenfreundlichkeit auszuströmen; der Schnitt seines karrierten Anzuges, die Falten seiner Hosen, die breiten quäkerhaften Schuhe, alles, sogar der Puder, den sein kleines Zöpfchen im Kreis über den leicht gebogenen Rücken verstreut hatte, verriet den Charakter eines Apostels, sprach von der christlichen Liebe und Demut eines Menschen, der aus Eifer für seine Kranken sich sogar dazu gezwungen hatte, so gut Whist und Tric-Trac spielen zu lernen, daß er ihnen täglich ihr Geld abgewann.

Nachdem er längere Zeit mit Rafael geplaudert hatte, sagte er: »Herr Marquis, ich werde sicher Ihre Traurigkeit von Ihnen nehmen können. Ich kenne jetzt Ihre Konstitution zur Genüge, um behaupten zu können, daß die Pariser Ärzte, deren große Begabung mir sonst wohlbekannt ist, sich über das Wesen Ihrer Krankheit getäuscht haben. Herr Marquis, wenn Sie nicht irgendein Unglücksfall trifft, können Sie alt werden wie Methusalem. Ihre Lungen sind so kräftig wie die Blasebälge einer Schmiede, und Ihr Magen könnte einen Straußenmagen beschämen. Aber, wenn Sie sich weiter in zu warmer Temperatur aufhalten, laufen Sie dennoch Gefahr, einfach und schnell auf den Friedhof zu kommen. Herr Marquis werden mich nach ein paar Worten verstehen. Die Chemie hat nachgewiesen, daß die Atmung des Menschen ein Verbrennungsprozeß sei, dessen größere oder geringere Intensität von der stärkeren oder schwächeren Zufuhr verbrennbarer Stoffe abhängt, die der menschliche Organismus in sich aufgehäuft hat. Sie haben einen Überfluß an solchen verbrennbaren Stoffen. Sie sind, wenn ich mich so ausdrücken darf, vermöge der hitzigen Veranlagung von Menschen, die zu großen Leidenschaften bestimmt sind, sozusagen überoxydiert. Wenn Sie die leichte reine Luft atmen, die den Lebensprozeß der Menschen von träger Konstitution beschleunigt, unterstützen Sie noch den ohnehin allzu heftigen Verbrennungsprozeß in sich. Eine der Grundbedingungen für Ihre Existenz ist also: die dicke Luft der Kuhställe oder der Täler. Die lebenerhaltende Luft für Menschen, die ihr Genie verzehrt, finden Sie über den fetten Weiden Deutschlands, zum Beispiel in Baden-Baden und Teplitz. Wenn Sie nicht eine Scheu vor England haben, wird Ihnen dort die neblige Luft die innere Glut dämpfen. Sicher aber ist unser Badeort hier, der tausend Fuß über dem Mittelländischen Meer liegt, für Sie lebensgefährlich. Das ist meine Meinung,« sagte er mit einer Gebärde der Bescheidenheit, »daß ich sie sage, ist gegen unser Interesse, denn wir hätten ja das Unglück, Sie zu verlieren, wenn Sie ihr folgen wollen.«

Ohne diese letzten Worte hätte sich Rafael von der falschen Biederkeit des honigsüßen Arztes berücken lassen. Er war jedoch ein zu tiefer Beobachter, um nicht aus dem Tonfall, der Gebärde und dem Blicke, die diesen sanft scherzhaften Satz begleiteten, den Auftrag herauszufühlen, mit dem der kleine Mann ohne Zweifel von dieser ganzen fröhlichen Gesellschaft von Kranken betraut worden war. Diese Nichtstuer mit blühenden Wangen, die gelangweilten alten Weiber, diese herumzigeunernden Engländer, die verliebten kleinen Frauenzimmer, die ihren Männern davongelaufen waren und sich von ihren Liebhabern hatten hierher in den Badeort führen lassen, unternahmen es also, einen armen hinfälligen, schwachen, sterbenskranken Menschen von hier zu vertreiben, dem sie es ansehen mußten, daß er unfähig sei, einer täglichen Verfolgung Widerstand zu leisten! Rafael entschloß sich jedoch, den Kampf aufzunehmen, denn er erhoffte sich ein Vergnügen von dieser Intrige. Er antwortete dem Arzte: »Da Sie über meine Abreise so untröstlich wären, will ich versuchen, von Ihrem guten Rat Gebrauch zu machen und doch hier zu bleiben. Morgen schon lasse ich mir hier ein Haus errichten, in dem wir die Luft gemäß Ihrer Anordnung verändern werden.«

Der Arzt deutete sich das bittere spöttische Lächeln, das um Rafaels Lippen spielte; er begnügte sich damit, zu grüßen, ohne ein weiteres Wort zu finden.

In einem wüsten, zerklüfteten Bergkessel, sieben- oder achthundert Fuß über dem Mittelländischen Meere, schimmert der See von Bourget, eine so blaue Wasserlache, wie es keine solche mehr auf der Welt gibt. Von der Höhe des Dent du Chat sieht dieser See wie ein verirrter Türkis aus. Dieses hübsche kleine Wasser hat einen Umfang von neun Meilen und an manchen Stellen eine Tiefe von fast fünfhundert Fuß. Wie schön ist es, im Boot über die Wasserfläche unter einem heiteren Himmel hinzugleiten, nur das Raunen der Zweige zu hören und am Horizont wolkenumzogene Berggipfel und den flimmernden Schnee des savoischen Berglandes vor sich zu sehen! Man kommt an großen Granitblöcken vorbei, die von Farren und Zwerggebüsch überwachsen sind, dann wieder an lachenden Hügeln; das eine Ufer ist eine Wüste, das andere zeigt üppige Vegetation – ein Armer, der dem Mahle eines Reichen beiwohnt. An keinem Orte könnte man einen schöneren Zusammenklang zwischen Wasser, Himmel, Bergen und Erde finden. Hier gibt es Balsam für alle Verwirrungen des Lebens. Dieser Ort bewahrt das Geheimnis der Schmerzen, er tröstet und lindert sie und versenkt die Liebe in Ernst und Sammlung, darin die Leidenschaft tiefer und reiner wird. Hier wird ein Kuß zu etwas Großem. Dies ist der See der Erinnerungen, er begünstigt sie, tönt sie mit der Farbe seiner Wellen und wird zum Spiegel, aus dem alles noch einmal widerstrahlt.

Rafael vermochte seine Last nur inmitten dieser schönen Landschaft zu ertragen, hier weilte er, ohne Schmerzen, verträumt und ohne Wünsche. Nach dem Besuch des Arztes ging er spazieren und ließ sich nachher an der einsamen Landspitze eines schönen Hügels ans Land setzen, auf dem das Dorf Saint-Innocent liegt. Von diesem kleinen Vorgebirge umfängt der Blick die Berge von Bugey, zu deren Füßen die Rhone fließt, und das Becken des Sees. Rafael liebte es, von hier aus das gegenüberliegende Ufer zu betrachten, die melancholische Abtei von Haut-Combe, die Grabstätte der Könige von Sardinien, die sich zu Füßen der Berge gelagert hatten wie Pilger, die das Ende ihrer Fahrt erreicht haben. Ein gleichmäßiges rhythmisches Schwirren von Ruderschlägen störte das Schweigen der Landschaft und erfüllte sie mit einer eintönigen Stimme, die dem Psalmodieren der Mönche glich.

Rafael war erstaunt, in dieser gewöhnlich so verlassenen Gegend des Sees Menschen zu erblicken: er spähte, noch immer in seiner Träumerei befangen, nach den Gestalten in dem Boote aus und erkannte im Heck die alte Dame, die ihn am Abend zuvor so unfreundlich angelassen hatte.

Als das Schiff an Rafael vorbeifuhr, wurde er einzig von der Gesellschafterin dieser Dame gegrüßt, einem armen adligen Mädchen, das ihm jetzt zum erstenmal auffiel. Nach einigen Augenblicken schon hatte er die Leute im Boot vergessen, die rasch hinter dem Vorgebirge verschwunden waren; da vernahm er plötzlich in seiner Nähe das Rauschen eines Kleides und den Laut leichter Schritte. Er wandte sich um und erblickte die Gesellschaftsdame. Ihr verlegenes Wesen ließ ihn vermuten, daß sie mit ihm sprechen wolle, und er ging ihr entgegen. Sie mochte etwa sechsunddreißig Jahre alt sein, war groß, mager, trocken und kühl; wie alle alten Jungfern war sie eingeschüchtert von seinem Blick, der sich nicht recht mit ihrem unentschiedenen, gehemmten, schwunglosen Gange vertragen wollte. Sie war zugleich alt und jung; in einer gewissen Würde ihres Auftretens sprach sich der hohe Wert aus, den sie ihren Vorzügen und Vollkommenheiten beilegen mochte. Sie hatte im übrigen die verschwiegenen klösterlichen Gebärden der Frauen, die sich daran gewöhnt haben, sich selber zu lieben, um irgendwie doch ihre Bestimmung zur Liebe zu erfüllen.

»Mein Herr, Ihr Leben ist in Gefahr, kommen Sie nicht mehr in das Kurhaus!« sagte sie zu Rafael und machte schnell ein paar Schritte nach rückwärts, als ob sie ihre Tugend schon gefährdet sähe.

Lächelnd antwortete ihr Rafael: »Mein Fräulein, wollen Sie nicht die Freundlichkeit haben, sich klarer auszudrücken, da Sie sich die Mühe gemacht haben, zu mir zu kommen …«

Sie sprach weiter: »Ohne den triftigen Grund, der mich herführt, hätte ich nicht die Gefahr auf mich genommen, mir die Gunst der Frau Gräfin zu verscherzen. Denn wenn sie jemals erführe, daß ich Ihnen davon Mitteilung gemacht habe …«

»Wer sollte es ihr denn sagen, mein Fräulein?'« fragte Rafael.

»Das ist wahr«, antwortete das alte Mädchen und sah ihn mit dem flackernden Blick eines Käuzchens, das dem Sonnenlicht ausgesetzt wird, an. Sie fuhr fort: »Denken Sie aber nun an sich! Ein paar junge Leute, die Sie aus dem Badeorte vertreiben möchten, haben sich das Versprechen gegeben, Sie zu beleidigen und Sie dadurch zum Duell zu zwingen.«

Die Stimme der alten Dame erklang von ferne. Der Marquis sagte: »Mein Fräulein, meine Dankbarkeit …«

Seine Beschützerin hatte sich schon zurückgezogen, da sie von neuem die Stimme ihrer Herrin vernahm, deren Gekläff abermals zwischen den Felsen erklungen war.

»Armes Mädchen, die Unglücklichen verstehen einander und helfen einander immer …« dachte Rafael, der sich am Fuße eines Baumes niedergelassen hatte.

Der Schlüssel zu allen Wissenschaften ist zweifellos das Fragezeichen; wir verdanken die meisten der großen Entdeckungen dem Wie? und die Weisheit des Lebens besteht vielleicht darin, bei jedem Anlasse Warum? zu fragen. Aber auch dieses künstliche Vorauswissen zerstört uns unsere Illusionen. Ohne weitere philosophische Erwägungen beschäftigte sich Rafael dann in seinen schweifenden Gedanken mit der guten Tat der alten Jungfer und fand auch sie bitter wie Galle.

Er sprach zu sich: »Daß ich von einer Gesellschafterin geliebt werde, daran ist nichts Außergewöhnliches: ich bin siebenundzwanzig Jahre alt, habe einen Titel und zweimal hunderttausend Franken Rente. Aber daß ihre Herrin, die mit den Katzen an Wasserscheu wetteifert, sie im Schiff in meine Nähe gebracht hat, das ist schon eine recht sonderbare und erstaunliche Sache. Diese zwei Frauen sind doch nach Savoyen gekommen, um hier wie die Murmeltiere zu schlafen. Sie fragen mittags, ob es schon Tag ist; sollten die schon vor acht Uhr aufgestanden sein, um meine Verfolgung aufzunehmen?«

So war die alte Jungfer mit ihrer vierzigjährigen Unschuld für ihn bald nur mehr eine neue Gestalt jener künstlichen und boshaften Welt und, was sie sagte, schien ihm eine kleinliche List, ein ungeschicktes Komplott und Weiberklatsch.

Entweder war das ganze Duell ein Märchen, oder man wollte ihm damit nur Angst einjagen. Diesen engherzigen Leuten, die frech und zudringlich wie Fliegen waren, war es gelungen, seine Eitelkeit aufzustacheln, seinen Stolz zu reizen und seine Neugier zu wecken. Er wollte sich weder von ihnen zum besten halten lassen, noch für einen Feigling gelten: vielleicht auch belustigt von dem kleinen Drama kam er noch an demselben Abend in das Kurhaus. Er stand an den Marmor des Kamins gelehnt, blieb ruhig inmitten des Hauptsaales und war darauf bedacht, sich keine Blöße zu geben. Forschend sah er jedoch in alle Gesichter und forderte so durch sein Umsichschauen irgendwie die Gesellschaft heraus. Wie eine Dogge, die ihrer Kraft sicher ist, erwartete er ohne unnützes Bellen den Angriff. Als der Abend sich schon dem Ende zuneigte, ging er in dem Spielsalon auf und nieder, von der Eingangstür bis zur Tür des Billardzimmers, durch die er von Zeit zu Zeit einen Blick auf die jungen Leute warf, die hier ihre Partie spielten. Nach einigem Auf- und Niedergehen hörte er sie seinen Namen nennen. Obwohl sie mit leiser Stimme sprachen, erriet Rafael leicht, daß er der Gegenstand einer Auseinandersetzung geworden war, und hörte endlich auch ein paar lauter gesprochene Sätze:

»Du?«

»Jawohl, ich!«

»Ich rate dir davon ab!«

»Wollen wir wetten?«

»Oh, er wird gehen!«

Im Augenblicke, da Rafael neugierig, den Gegenstand ihrer Wette zu erfahren, sich ihnen näherte, um aufmerksam dem Gespräche zuzuhören, verließ ein großer kräftiger junger Mann von angenehmem Äußeren, aber mit dem starren, unverschämten Blick von Leuten, die der Macht ihres Geldes vertrauen, das Billardzimmer. Er wandte sich in ruhigem Ton an Rafael: »Mein Herr, ich habe mir vorgenommen, Sie auf eine Sache aufmerksam zu machen, die Sie nicht zu wissen scheinen: Ihr Gesicht und Ihre Person mißfallen hier allen Leuten und mir ganz besonders … Sie sind zu höflich, als daß Sie sich nicht dem allgemeinen Wohl opfern würden. Ich bitte Sie also, sich nicht mehr im Kurhause zu zeigen.«

Rafael antwortete kühl: »Mein Herr, dieser Scherz ist seinerzeit unter dem Kaiserreich schon in einigen Garnisonen gemacht worden – heutzutage verstößt er stark gegen den guten Ton.«

Der junge Mann entgegnete ihm: »Ich scherze nicht. Ich wiederhole es Ihnen, Ihre Gesundheit leidet sehr unter Ihrem hiesigen Aufenthalt. Die Hitze, die Lichter, die Luft im Salon und die Gesellschaft schaden einem Kranken, wie Sie es sind.«

»Wo haben Sie Medizin studiert, mein Herr?« fragte Rafael.

»Ich bin Baccalaureus der Schießschule von Lepage in Paris und habe das Lizenziat bei dem Florettkönig Cérisier erworben.«

»Dann bleibt Ihnen ein einziger Grad noch zu erwerben: studieren Sie den Kodex der Höflichkeit, dann werden Sie ein vollendeter Kavalier sein.«

In diesem Augenblick kamen die anderen jungen Leute lächelnd oder schweigsam vom Billard herbei. Die übrigen Spieler waren aufmerksam geworden und verließen ihre Karten, um einen Streit mit anzuhören, der ihnen so willkommen war. Rafael war allein inmitten dieser feindseligen Welt; er suchte sein kaltes Blut zu bewahren und sich nicht das geringste Unrecht zuschulden kommen zu lassen. Sein Gegner aber hatte sich ein Spottwort erlaubt, darin sich die Beleidigung in einer außerordentlich schneidenden geistreichen Form verbarg. Da antwortete er ihm sehr ernst: »Mein Herr, es ist heute nicht mehr gestattet, einem Manne eine Ohrfeige zu geben, so weiß ich nicht, wie ich ein so feiges Benehmen wie das Ihre züchtigen soll.«

»Genug, genug! Sie werden sich morgen erklären!« riefen ein paar junge Leute, die sich zwischen die beiden Gegner gedrängt hatten.

Rafael verließ den Salon. Er galt als Beleidiger; er hatte ein Rendezvous auf einer kleinen abschüssigen Wiese bei dem Schlosse von Bordeau vereinbart, nicht weit von einer neuangelegten Straße, auf der der Sieger würde Lyon erreichen können. Rafael würde also entweder im Bette liegen oder den Kurort Aix verlassen müssen, und so würde die Gesellschaft triumphieren.

Am anderen Morgen gegen acht Uhr kam Rafaels Gegner, gefolgt von zwei Zeugen und einem Wundarzte, als erster auf die Kampfstätte.

»Wir werden es hier sehr hübsch haben! Das Wetter ist köstlich für ein Duell!« rief er fröhlich, die blaue Himmelskuppel, das Wasser des Sees und die Felsen betrachtend, ohne den geringsten Hintergedanken von Zweifel oder Besorgnis. Er fuhr fort: »Wenn ich ihn nur an der Schulter streife, lege ich ihn doch schon für einen Monat ins Bett, nicht wahr, Doktor?«

Der Wundarzt antwortete: »Mindestens! Aber lassen Sie den jungen Weidenbaum da in Ruhe, sonst ermüden Sie sich die Hand und sind nicht mehr Herr Ihres Schusses. Sie könnten den Mann töten, statt ihn nur zu verwunden.«

Das Geräusch eines Wagens wurde hörbar.

»Da kommt er!« riefen die Zeugen, die alsbald auf der Straße eine Reisekutsche gewahrten, die mit vier Pferden bespannt war und von zwei Postillonen gelenkt wurde. Rafaels Gegner bemerkte: »Das ist eine sonderbare Art! Er kommt mit der Post, um sich erschießen zu lassen …«

Beim Duell ebenso wie beim Spiel üben die geringsten Zwischenfälle ihre Wirkung auf die handelnden Personen, die am meisten am Gelingen interessiert sind.

So sah der junge Mann beunruhigt der Ankunft dieses Wagens entgegen, der auf der Straße halt machte.

Der alte Jonathas stieg schwerfällig als erster ab, um Rafael beim Aussteigen zu helfen. Er stützte ihn mit seinen schwachen Armen und bezeugte ihm alle peinlichste Sorgfalt, wie sie nur ein Verliebter an seine Geliebte verschwenden kann. Die beiden verschwanden dann auf dem Fußsteige, der die große Straße mit dem als Kampfplatz bezeichneten Orte verband, und tauchten erst nach einer längeren Zeit wieder auf: sie gingen sehr langsam. Die vier Zuschauer dieser sonderbaren Szene ergriff eine tiefe Bewegung, da sie nun Rafael, der sich auf den Arm seines Dieners stützte, vor sich sahen. Er war bleich und sichtlich erschöpft, ging wie ein Gichtkranker, hielt den Kopf gesenkt und sprach kein Wort; man hätte sie für zwei Greise halten können, die auf gleiche Weise zerstört waren, der eine durch die Zeit, der andere durch den Gedanken; dem ersten stand sein Alter auf seinen weißen Haaren geschrieben, der andere aber schien alterslos.

»Mein Herr, ich habe nicht geschlafen!« wandte Rafael sich an seinen Gegner. Der eisige Ton dieser Worte und der furchtbare Blick, der sie begleitete, machten den eigentlichen Herausforderer erbeben. Er wurde sich seines Unrechts bewußt und schämte sich heimlich seines Benehmens. In der Haltung, im Ton der Stimme und in der Gebärde Rafaels war etwas sehr Sonderbares. Der Marquis machte eine Pause und alle anderen schwiegen wie er. Unruhe und Erwartung hatten ihren Höhepunkt erreicht.

Rafael sprach weiter: »Es ist noch Zeit, mir eine leichte Genugtuung zu geben. Geben Sie sie mir, mein Herr, sonst sterben Sie. Sie rechnen in diesem Augenblicke noch immer auf Ihre Geschicklichkeit und scheuen vor der Idee eines Kampfes, in dem Sie alle Vorteile zu haben glauben, nicht zurück. Aber ich will großmütig sein, mein Herr, ich mache Sie im voraus auf meine Überlegenheit aufmerksam. Ich besitze eine furchtbare Macht. Mein bloßer Wunsch schon genügt, um Ihre Geschicklichkeit zunichte zu machen, Ihren Blick zu trüben, Ihre Hand zittern und Ihr Herz beben zu machen und um Sie zu töten. Aber ich möchte nicht genötigt sein, diese meine Macht auszuüben, sie kommt mich zu teuer zu stehen. Sie wären dann nicht der einzige, der stirbt. Wenn Sie sich aber weigern, sich zu entschuldigen, wird Ihre Kugel, trotz Ihrer Geschicklichkeit im Morden, hier diesen kleinen Wasserfall treffen, die meine aber wird, ohne daß ich ziele, Ihnen mitten ins Herz gehen!«

Wirre Stimmen unterbrachen Rafael. Während er diese Worte sprach, hatte er die unerträgliche Helle seines starren Blickes auf seinen Gegner gerichtet, er hatte seinen Körper gestrafft und sein unbewegtes Gesicht glich dem eines bösen Wahnsinnigen.

»Heiß ihn schweigen!« hatte sich der junge Mann an den einen seiner Zeugen gewandt, »seine Stimme dreht mir die Eingeweide um.«

Der Wundarzt und die Zeugen schrien Rafael zu: »Hören Sie auf, Herr, die Unterhaltungen sind ganz überflüssig.«

»Meine Herren, ich erfülle eine Pflicht. Hat der junge Mann keine Anordnungen mehr zu treffen?«

»Genug, genug!«

Der Marquis stand aufrecht, ohne Bewegung und ohne einen Augenblick seinen Gegner aus den Augen zu verlieren. Dieser stand im Banne einer magischen Macht wie ein Vogel, den der Blick der Schlange trifft: er war gezwungen, diesen mörderischen Blick auszuhalten, er floh ihn und suchte ihn immer wieder.

»Gib mir Wasser, ich habe Durst!« sagte er zu demselben Zeugen.

»Fürchtest du dich?«

»Ja,« antwortete er, »die Augen dieses Menschen glühen und faszinieren mich.«

»Willst du dich bei ihm entschuldigen?«

»Es ist nicht mehr Zeit dazu.«

Die beiden Gegner standen fünfzehn Schritte voneinander entfernt. Jeder von ihnen hatte ein Paar Pistolen neben sich. Sie mußten zwei Schüsse nach Belieben abfeuern, jedoch erst nach dem Zeichen, das die Zeugen zu geben hatten.

»Was treibst du denn, Charles?« schrie plötzlich der junge Mann, den Rafaels Gegner zum Sekundanten hatte, »du lädst ja die Kugel vor dem Pulver.«

Er antwortete mit einem Murmeln: »Ich bin verloren! Ihr habt mich so gestellt, daß ich die Sonne im Gesicht habe.«

»Sie ist hinter Ihnen!« rief ihm Rafael mit einer Stimme voll Ernst und Feierlichkeit zu. Er lud langsam seine Pistole, ohne sich durch das bereits gegebene Zeichen noch durch die Sorgfalt, mit der sein Gegner seine Waffe bereit machte, beunruhigen zu lassen. Seine übernatürliche Sicherheit hatte etwas so Schreckliches an sich, daß sogar die beiden Postillone, die eine grausame Neugier herbeigeführt hatte, davon gepackt wurden. Rafael spielte mit seiner Macht oder er wollte sie erproben – er sprach mit Jonathas und sah ihn an, während sein Gegner seinen Schuß auf ihn abgab. Die Kugel durchschlug einen Ast der Weide und tanzte über das Wasser hin.

Dann schoß Rafael aufs Geratewohl. Er traf seinen Gegner ins Herz; ohne das Hinsinken des jungen Mannes zu beachten, griff er schnell nach seinem Chagrinleder, um zu sehen, was ihn ein Menschenleben koste. Der Talisman war nicht mehr größer als ein kleines Eichenblatt.

»Was habt ihr denn da zu gaffen, Postillons? Vorwärts!« rief der Marquis.

Am selben Abend noch kam er nach Frankreich, schlug sogleich die Richtung nach der Auvergne ein und begab sich zu den Heilquellen von Mont-Dore.

*

An den Quellen von Mont-Dore fand Rafael die Gesellschaft wieder, die sich hastig von ihm zurückzog, wie Tiere eines ihresgleichen fliehen, das sie tot aufgefunden haben. Dieser Haß war aber nun ein gegenseitiger. Sein letztes Abenteuer hatte ihm eine tiefe Abneigung gegen die Gesellschaft eingeflößt. So war es auch seine erste Sorge, sich eine abgelegene Zufluchtsstätte in der Umgebung des Badeortes zu suchen. Seine Instinkte fühlten das Bedürfnis nach einer Annäherung an die Natur, nach ihrem lauteren Atem und jenem pflanzenhaften Leben, dem wir uns auf dem Lande so gerne ergeben.

Am Tage nach seiner Ankunft erstieg er, nicht ohne Beschwerde, den Gipfel von Sancy und überblickte von hier aus die höhergelegenen Täler, die luftigen Höhenlandschaften, die versteckten Seen und die ländlichen Hütten in den Monts-Dore, deren wilde düstere Züge seit neuestem die Künstler anlocken. Da und dort fand er wunderbare Landschaften voll Anmut und Frische, die in einem lebhaften Gegensatze zu dem finstern Anblick der einsamen Gebirgszüge standen. Etwa eine halbe Meile von dem Kurorte entfernt entdeckte Rafael eine Stelle, an der die Natur fröhlich und spielerisch wie ein Kind sich das Vergnügen gemacht zu haben schien, ihre Schätze zu verbergen. Als er diese malerische und liebliche Stätte erblickte, war er augenblicklich entschlossen, hier zu leben. Denn hier mußte das Leben still, ursprünglich und fruchtbringend sein wie das Leben einer Pflanze.

Man stelle sich eine weite Vertiefung in Gestalt eines umgekehrten hohlen Kegels aus Granit vor, eine Art Kessel, dessen Ränder unregelmäßig gezackt sind. Weite Hochflächen ohne Pflanzenwuchs umgeben ihn, sie sind blaugrau und glatt und werfen wie ein Spiegel die Strahlen der Sonne zurück. Felsen gibt es hier, von wilden Rissen zerspalten, von Schluchten zerfurcht, über denen mächtige Blöcke hängen, deren Sturz die Wasser des Regens langsam vorbereiten, und die zuweilen von ein paar verkrüppelten, windzerzausten Bäumen gekrönt sind. Da und dort erschließen sich düstere kühle Felsenbuchten, aus denen sich Kastanienbäume hoch wie Zedern erheben. Aus dem gelblichen Gestein tun Grotten ihren schwarzen tiefen Mund auf, Brombeersträucher und Blumen umgeben ihn und eine Zunge von Grün kommt daraus hervor.

Im Grunde dieser Bergsenke, die der Krater eines alten Vulkans sein mochte, lag ein Teich, dessen Wasser wie ein Diamant blitzte. Rings um das tiefe Wasserbecken aus Granit gab es Weiden und Eschen, Gladiolen und tausend starkduftende Pflanzen standen in Blüte und eine Wiese zog sich darum hin, die grün wie eine englische Rasenfläche war. Ihr schönes zartes Gras wurde von der Feuchtigkeit bewässert, die aus den Felsenspalten hervorsickerte; gedüngt wurde es von den Pflanzenresten, die die Gewitterregen von den hohen Gipfeln in den Talgrund herabtrugen. Der Teich, der unregelmäßig und mit Zacken so spitz wie Wolfszähne in den Felsgrund eingeschnitten war, mochte eine Ausdehnung von drei Morgen haben. Die Wiese war, je nachdem die Felsen und das Wasser sich einander näherten, ein bis zwei Morgen breit. An manchen Stellen aber war sie so schmal, daß kaum die Kühe Platz für ihren Weg fanden.

In einer bestimmten Höhe hörte der Pflanzenwuchs auf. In den absonderlichsten Formen ragte der Granit in die Lüfte und seine Farben waren von jenem Dufte, der die höheren Berge den Wolken des Himmels ähnlich macht. Über dem sanften Tale erheben sich diese nackten kahlen Felsen wie wilde Bilder der Unfruchtbarkeit und Öde und drohen mit Bergstürzen. Die Formen dieser Felsen sind so absonderlich, daß einer von ihnen der Kapuzinerfelsen genannt wird, so sehr ähnelt er einem Mönch. Zuweilen aber werden diese Felsnadeln, die kühnen Säulen und die Höhlen hoch oben nacheinander von der Sonne oder den Farbenspielen der Atmosphäre erleuchtet; dann färben sie sich golden, stehen in Purpur getaucht, werden leuchtend oder matt rosenrot und mählich wieder grau. Diese Höhen bieten den Blicken ein ständiges Schauspiel dar – sie wechseln die Farben wie die irisierenden Lichter am Halse der Taube. Oft aber kommt in der Morgenröte oder beim Sonnenuntergänge zwischen zwei dünnen Platten des vulkanischen Gesteins, die wie von einem Beilhieb getrennt aussehen, ein schöner Strahl von Licht durch und dringt bis auf den Grund dieser korbförmigen Senke, wo er dann über die Wasser des Teiches wie ein goldener Strahl hinspielt, der durch die Fensterladen eines spanischen Zimmers, das sorgsam für die Mittagsruhe verschlossen ist, sich hindurchstiehlt. Wenn die Sonne über diesem alten Krater steht, den irgendeine vorsintflutliche Umwälzung mit Wasser gefüllt hat, werden die felsigen Wände heiß, als ob sich der alte Vulkan wieder entzündete, und die jähe Hitze bringt die Samen zum Keimen, befruchtet den Pflanzenwuchs, gibt den Blumen ihre Farben und reift die Früchte dieses kleinen verschollenen Erdwinkels.

Als Rafael hier ankam, sah er zuerst etliche Kühe, die auf der Wiese weideten; als er einige Schritte gegen den Weiher zu machte, erblickte er an dem Platze, wo die Wiese ihre größte Breite hatte, ein bescheidenes Haus, aus Granit gebaut und mit Holz gedeckt. Das Dach dieser Almhütte schmückten in schöner Harmonie mit der Umgebung Moose, Efeu und Blumen, die auf ein hohes Alter des Baues schließen ließen. Dünner Rauch stieg aus dem verfallenen Schornstein; er vertrieb die Vögel nicht, die hier nisteten. Neben der Tür stand eine große Bank zwischen zwei sehr hohen Geißblattbüschen, die rot in Blüte standen und balsamisch dufteten. Zwischen all den Weinranken, Kletterrosen und Jasmin, die ungehindert emporwucherten, waren kaum die Mauern zu sehen. Die Bewohner des Hauses kümmerten sich nicht um diesen ländlichen Schmuck und ließen ihm seine natürliche mutwillige Anmut. Über einem Stachelbeerstrauch lagen Wäschestücke in der Sonne zum Trocknen. Eine Katze hockte auf einer Hanfbrechmaschine, und darunter lag ein frischgescheuerter gelber Kochkessel inmitten von Kartoffelschalen. An der anderen Seite des Hauses erblickte Rafael eine Hecke von vertrockneten Dornzweigen, die sicherlich die Hühner daran hindern sollte, über die Felder und den Küchengarten zu kommen.

Die Welt schien hier zu enden. Diese Behausung glich den Vogelnestern, die geschickt in eine Felsenhöhlung gebaut sind, kunstvoll und nachlässig zugleich. Was Rafael nun vor sich sah, war ein schlichtes gutes Stück Natur, wahrhaftige Ländlichkeit, die doch ihre Poesie hatte, weil sie tausend Meilen entfernt von all unseren frisierten Gedichten blühte und nicht aus einer Idee, sondern als ein rechter Triumph des Zufalls aus sich selber emporwuchs.

Als Rafael hier ankam, fielen die Strahlen der Sonne schräg von rechts in das Tal und machten alle Farben der Pflanzen aufglühen. Scharf hoben sich Licht und Schatten voneinander ab. Die Sonne erleuchtete die gelben und grauen Gründe der Felsen, das vielerlei Grün des Laubwerks, die blauen, roten und weißen Massen der Blumen, die Kletterpflanzen mit ihren Glocken, den schillernden Samt des Mooses und die purpurnen Träubchen des Heidekrauts; sie strahlte über die klare Wasserfläche hin, in der sich treulich die granitnen Gipfel, die Bäume, das Haus und der Himmel spiegelten. Auf diesem lieblichen Bilde hatte alles seinen besonderen Glanz, vom Glimmerschiefer bis zu dem Büschel goldiger Gräser, die im sachten Halbschatten versteckt wuchsen. Alles war harmonisch anzusehen, die scheckige Kuh mit glänzendem Fell, die zierlichen Wasserpflanzen, die wie Fransen auf dem Wasser einer kleinen Bucht trieben, aus der das Summen azurener und smaragdfarbener Insekten klang, und die Baumwurzeln, die wie sandbedecktes Haar eine Art von unförmigem Gesicht aus Kieseln krönten.

Der laue Geruch des Wassers und der Blumen, die dieses einsame Versteck mit ihrem Dufte erfüllten, erregten in Rafael ein Gefühl, das fast wollüstig war. Das majestätische Schweigen, das in dieser Landschaft, in deren Einsamkeit sicherlich kein Steuereinnehmer kam, herrschte, wurde mit einem Male vom Gebell zweier Hunde gestört. Die Kühe wandten ihre Köpfe dem Eingang des Talkessels zu, zeigten ihre feuchten Mäuler und fraßen weiter, nachdem sie Rafael eine Weile stumpfsinnig angeglotzt hatten. Oben in den Felsen hingen, wie durch Zauberei emporgeführt, eine Ziege und ihr Zicklein, sprangen von Stein zu Stein, lagerten sich endlich auf einer Granitplatte in Rafaels Höhe und schienen ihn fragend anzusehen. Das Anschlagen der Hunde hatte ein dickes Kind aus dem Hause gelockt, das nun mit offenem Munde den Fremden anstaunte. Dann kam auch ein weißhaariger alter Mann aus dem Hause. Diese beiden Wesen hingen innig mit der Landschaft, der Luft, den Blumen und dem Hause zusammen. Gesundheit überströmte das üppige Stück Natur; Alter und Jugend waren hier schön. In all diesen Erscheinungen des Lebens war ein ursprüngliches Gewährenlassen, eine Gewöhnung an das Glück, die allem unserm philosophischen Geschwätz widersprach und das Herz von seinen verkünstelten Leidenschaften heilen können mußte.

Der Alte hatte ein braunes Gesicht, das rauh von vielen Falten und Runzeln war, eine gerade Nase und vorspringende Backen, rotgeädert wie ein welkes Weinblatt; alles war eckig an ihm und sprach selbst dort noch von Kraft, wo sie ihn schon verlassen hatte. Seine schwieligen Hände, die nun wohl nicht mehr arbeiteten, waren mit spärlichen weißen Haaren überwachsen. Seine Haltung eines wahrhaft freien Mannes ließ vermuten, daß er in Italien aus Liebe zu seiner kostbaren Freiheit vielleicht Brigant geworden wäre. Das Kind war ein rechtes Bergkind, es hatte schwarze Augen, die ohne Zwinkern in die Sonne schauen konnten, ein schokoladebraunes Gesicht und wirre braune Haare. Es war gewandt und wie ein Vogel von einer natürlichen Bestimmtheit in seinen Bewegungen. Es war armselig gekleidet, durch die Risse seines Gewandes sah die frische weiße Haut hervor.

Kind und Greis standen schweigend nebeneinander, von demselben Gefühl bewegt, und der Ausdruck ihrer Gesichter war so vollkommen gleich, wie ihr müßiggängerisches Leben gleich war. Der Greis war zu den Spielen des Kindes zurückgekehrt und das Kind hatte sich schon den Ernst des Greises zu eigen gemacht, so hatten die beiden Schwachen miteinander eine Art Bündnis geschlossen, das Bündnis einer Kraft, die zu Ende geht, mit einer, die sich erst entfalten will.

Bald darauf erschien eine Frau von etwa dreißig Jahren auf der Schwelle des Hauses, im Gehen spinnend. Sie war eine rechte Auvergnatin, von starken Farben, fröhlichen Wesens, freimütig, mit blitzend weißen Zähnen. Ihr Gesicht und ihre Gestalt, ihre Haartracht und ihr Kleid waren auvergnatisch; ihre runden festen Brüste und ihre Sprache waren die der Auvergne: sie war eine vollendete Idealisierung dieses Landes, seines arbeitsamen Charakters, seiner Unwissenheit, seiner Sparsamkeit und seiner Herzlichkeit. Sie begrüßte Rafael und begann ein Gespräch mit ihm. Die Hunde hatten sich beruhigt. Der alte Mann setzte sich auf eine Bank in der Sonne. Das Kind folgte seiner Mutter auf Schritt und Tritt, in schweigender Aufmerksamkeit betrachtete es den Fremden.

»Haben Sie hier denn keine Angst, liebe Frau?«

»Woher sollten wir denn Angst haben? Wenn wir den Eingang verrammeln, kann doch kein Mensch hereinkommen. Oh, wir haben keine Angst!« Sie ließ den Marquis in die große Stube des Hauses eintreten: »Was könnten denn die Diebe bei uns holen kommen?«

Sie zeigte auf die rauchgeschwärzten Mauern, an denen als einziger Schmuck ein paar rot, blau und grün kolorierte Bilder hingen, die den »Tod des Frommen«, das »Leiden Jesu Christi« und »Die Grenadiere der kaiserlichen Garde« darstellten. Sonst gab es in dem Zimmer noch ein altes mit Säulchen geschmücktes Bett aus Nußbaumholz, einen Tisch mit gedrehten Füßen, ein paar Schemel, einen Backtrog, ein Stück Speck, das von der Decke herabhing, einen Salztopf und eine Bratpfanne; auf dem Kamin standen ein paar angemalte Gipsfiguren in verblichenen Farben.

Als Rafael das Haus verließ, erblickte er inmitten der Felsen oben einen Mann, mit einer Hacke in der Hand, der neugierig vorgeneigt herabsah.

Mit dem vertraulichen Lächeln der Bäuerinnen sagte die Auvergnatin: »Das ist der Mann. Er gräbt da oben.«

»Und der alte Mann ist Ihr Vater?«

»Entschuldigen der Herr, das ist der Großvater von meinem Mann. Wie Sie ihn sehen, ist er hundert Jahre alt. Und neulich hat er unsern kleinen Buben zu Fuß nach Clermont geführt. Der war einmal ein starker Mann! Jetzt tut er nichts mehr als schlafen, trinken und essen. Er spielt immer mit dem kleinen Buben. Manchmal schleppt ihn der Kleine auch auf die Berge hinauf, da geht er halt mit.«

Rafael war entschlossen, mit diesem Greise und dem Kinde zu leben, ihre Luft zu atmen, ihr Brot zu essen, ihr Wasser zu trinken und ihren Schlaf zu schlafen, um Blut wie das ihre in seinen Adern zu haben. Es war der Einfall eines Sterbenden. Eine Auster an diesem Felsen zu werden und seine irdische Hülle für ein paar Tage länger dem Tode abzuringen, war für ihn die tiefste Weltweisheit, die wahrhaftige Formel des menschlichen Daseins, das schönste Ideal des Lebens, das einzig wirkliche Leben. Ein tiefer Gedanke der Selbstsucht erfüllte sein Herz und verschlang das ganze All. Für ihn gab es kein All mehr, er selber war sich das All. Einem Kranken beginnt die Welt am Kopfende seines Bettes und hört am Fußende auf. Diese Landschaft war für Rafael das Bett.

*

Wer hätte nicht einmal in seinem Leben einer beschäftigten Ameise zugeschaut, einer Weinbergschnecke Strohhalme in ihr einziges Atemloch gesteckt, den Tanz einer Wasserjungfer angestaunt und die tausend Adern, die sich bunt wie eine gotische Fensterrose auf dem rötlichen Grunde eines Eichenblattes abzeichnen, bewundert? Wer hat nicht schon entzückt durch eine lange Zeit dem Spiel des Regens und des Sonnenlichtes auf einem braunen Ziegeldache zugesehen, die Tropfen des Taues, die Blütenblätter der Blumen und die Mannigfaltigkeit ihrer Kelche betrachtet? Wer hätte sich nicht schon jenen erdgebundenen, teilnahmslos beschäftigten Träumereien hingegeben, die kein Ziel haben und dennoch zu Gedanken führen? Wer hat sich nicht noch einmal ein Stückchen zweiter Kindheit erschaffen und von dem süßen trägen Leben der Wilden, nur ohne ihre Arbeit, gekostet?

Dieses Leben führte Rafael nun ein paar Tage lang, ohne Sorgen und wunschlos, und er empfand ein täglich deutlicheres wunderbares Wohlbefinden, das seine Unruhe stillte und seinen Leiden Frieden gab. Er stieg auf die Felsen und ließ sich auf einem Gipfel nieder, von dem aus sein Blick eine unermeßliche Landschaft umfaßte. Hier verweilte er ganze Tage, wie eine Pflanze im Sonnenschein, wie ein Hase in seinem Lager. Er machte sich mit den Erscheinungen der Pflanzenwelt und den Eigentümlichkeiten des Himmels vertraut, er forschte nach dem Fortschreiten aller Dinge der Erde, der Wasser und der Lüfte. Er suchte an der geheimen Bewegung dieser ganzen Natur teilzunehmen und völlig in ihrem nachgiebigen Gehorsam aufzugehen, um so dem herrischen, aber lebenerhaltenden Gesetze untertänig zu werden, das die Instinktwesen beherrscht. Er wollte nicht länger die Last seines Selbst tragen. Wie die Verbrecher der alten Zeiten, wenn sie verfolgt wurden, sich gerettet sahen, sobald sie an einem Altar niedergesunken waren, versuchte er, sich in das Heiligtum des Lebens einzuschleichen. Und es gelang ihm, ein Teil der mächtigen zeugenden Natur zu werden. Er hatte die Unbilden des Wetters auf sich genommen, war in den Höhlen der Felsen gewesen, hatte die Eigentümlichkeiten und Gewohnheiten aller Pflanzen kennengelernt; er hatte die Gesetze der Gewässer erforscht und war mit den Tieren bekanntgeworden. Nun war er so vollkommen diesem belebten Stück Erde nahegekommen, daß er dessen Seele begreifen gelernt hatte und in seine Geheimnisse eingedrungen war. Nun waren ihm die unendlichen Formen aller Naturreiche nur die Weiterentwicklungen eines und desselben Stoffes, nur Umformungen ein und derselben Bewegung, nur die ungeheure Atmung eines unermeßlichen Wesens, das wirkte, dachte, wanderte und wuchs, und mit dem er selbst wachsen, wandern, denken und wirken wollte. In seiner Phantasie hatte sich sein Leben in das Leben des Felsens vermengt und Wurzeln in ihm getrieben.

Diesem geheimnisvollen Eindringen in die Natur verdankte er einen Schein von Gesundung, den die Natur ihm schenkte, wie sie den Schmerzen wohltätige Delirien und Stunden der Stille gewährt. Während der ersten Zeit seines Aufenthaltes in dieser lächelnden Landschaft genoß Rafael die Freuden einer zweiten Kindheit: er machte allerlei Nichtigkeiten ausfindig, unternahm tausend Dinge, von denen er nicht eines zu Ende brachte, und vergaß am nächsten Tage schon seine Pläne vom Tag vorher; er war unbekümmert glücklich und glaubte sich gerettet.

Eines Morgens hatte ihn eine jener Träumereien, in denen sich Schlaf und Wachen mischt, darin die Wirklichkeiten phantastisch werden und die Traumbilder wie Wirklichkeiten erscheinen, bis zum Mittage im Bette gehalten. Da hörte er plötzlich, ohne erst zu merken, daß dies nicht die Fortsetzung eines Traumes sei, wie seine Wirtin dem alten Jonathas, der wie täglich nach ihm fragen kam, Auskunft über seinen Gesundheitszustand gab. Die Auvergnatin glaubte sicherlich, daß er noch schliefe, und dämpfte das volle Orgelwerk ihrer bäurisch lauten Stimme nicht im mindesten: »Es geht nicht besser, es geht nicht schlechter. Er hat sich heute wieder die ganze Nacht beinahe die Seele aus dem Leib gehustet. Er hustet und spuckt, der liebe junge Herr, daß es ein Jammer ist. Ich und mein Mann, wir fragen uns, wo er die Kraft zu so einem Husten hernimmt. Das bricht einem ja das Herz! Was für eine verdammte Krankheit er nur hat! Es geht ihm gar nicht gut! Wir haben immer Angst, daß wir ihn einmal in der Früh tot im Bett finden. Wie blaß er ausschaut, wie ein Wachs-Jesus. Heilige Maria, ich seh ihn doch alle Tage, wenn er aufsteht – der arme Kerl ist mager wie ein paar Bretternägel. Und er riecht halt auch schon schlecht, so ist das mit ihm! Aber ihm ist das ganz gleich, er rennt herum, als ob er noch eine Gesundheit abgeben könnte. Und dabei jammert er gar nicht! Aber ihm wäre wirklich besser, wenn er unter der Erde läge, als daß er so auf den Wiesen herumgeht, denn er macht schon ein Leiden durch wie unser Heiland. Ich wünsch' es ihm nicht, Herr, es wäre ja auch gar nicht unser Nutzen. Aber wir hätten ihn auch gern, wenn er uns auch nicht so viel geben täte, es ist nicht nur wegen dem Nutzen. Aber so eine verfluchte Krankheit haben auch nur die Pariser! Woher sie sie nur kriegen? Der arme Mensch! Das kann nicht gut ausgehn mit ihm! Sehn Sie, das Fieber bohrt in einem Menschen, das bringt einen um! Und er weiß gar nichts davon, er merkt gar nichts. Man könnt' weinen darüber, Herr Jonathas! Man muß schon sagen, daß ihm gut wär', wenn er nicht mehr leiden müßt'. Sie sollten eine Novene für ihn beten. Ich hab' schon die schönsten Heilungen durch die Novenen erlebt. Ich möcht' gern für ihn eine Kerze zahlen, wenn ich so einem braven Herrn damit was Gutes tun könnte. Er ist so lieb, wie ein gutes Lamm …«

Rafaels Stimme war zu schwach geworden, als daß er sich hätte bemerkbar machen können, so mußte er dieses fürchterliche Geschwätz über sich ergehen lassen. Die Ungeduld aber riß ihn endlich aus seinem Bett, er trat auf die Türschwelle und schrie Jonathas an: »Alter Schuft, du willst also mein Henker sein!«

Die Bäuerin glaubte, ein Gespenst zu erblicken, und lief davon.

Rafael fuhr fort: »Ich verbiete dir, dir die geringsten Sorgen über meine Gesundheit zu machen!«

»Ja, Herr Marquis!« murmelte der alte Diener. Er trocknete seine Tränen.

»Und du wirst sehr gut daran tun, künftig nicht ohne meinen ausdrücklichen Befehl hierher zu kommen!«

Jonathas wollte gehorchen. Bevor er sich aber zurückzog, sah er seinen Herrn mit einem Blicke voll Treue und Mitleid an – und in diesem Blicke las Rafael sein Todesurteil. Entmutigt und mit einem Male wieder vom richtigen Gefühl für seinen Zustand erfaßt, setzte er sich auf die Türschwelle, kreuzte die Arme über der Brust und senkte den Kopf.

Jonathas näherte sich erschrocken seinem Herrn: »Gnädiger Herr …«

»Geh fort, geh fort!« schrie ihn der Kranke an. Am nächsten Morgen stieg Rafael in die Felsen empor und ließ sich in einer mooserfüllten Vertiefung nieder, von wo aus er den schmalen Weg, der vom Kurorte zu seiner Wohnstätte führte, überblicken konnte. Am Fuße des Felsens sah er plötzlich Jonathas, der abermals mit der Auvergnatin redete. Eine boshafte Macht deutete ihm das Kopfschütteln der beiden, die Gebärden der Verzweiflung und die trübselige Aufrichtigkeit der Frau, und schickte ihm im Winde sogar ihre bitteren Worte in sein Schweigen empor.

Schaudererfüllt flüchtete er auf die höchsten Spitzen der Berge und blieb bis zum Abend dort oben; doch er vermochte es nicht, die finsteren Gedanken zu verscheuchen, die die grausame Teilnahme, deren Gegenstand er geworden war, in seinem Herzen erregt hatte. Mit einem Male aber erhob sich vor ihm die Auvergnatin selber wie ein Schatten im Schatten des Abends, und seine überreizte Phantasie wollte ihm den schwarz- und weißgestreiften Rock der Bäuerin wie das vertrocknete Gerippe eines Gespenstes erscheinen lassen.

Sie redete ihn an: »Mein lieber Herr, es wird schon feucht. Wenn Sie dableiben, wird es mit Ihnen gehen wie mit einem Apfel, der in der Nässe liegt. Sie müssen nach Hause gehen! Das ist nicht gesund, die feuchte Luft jetzt einzuatmen, wo Sie doch noch dazu seit der Frühe nichts gegessen haben!«

»Da soll doch der Teufel …« schrie er sie an, »Sie alte Hexe, ich befehle Ihnen, mich nach meinem Belieben tun zu lassen, was ich will. Sonst verlasse ich heute noch Ihr Haus! Es ist wirklich genug, daß Sie mir jeden Morgen schon mein Grab graben, lassen Sie mir wenigstens am Abend meine Ruhe …«

»Ihr Grab, Herr? Ihr Grab graben? Wo haben Sie denn Ihr Grab? Wo denn? Ich möchte Sie lieber so alt werden sehen wie unsern Vater, und nicht im Grab. Das Grab! Wir kommen früh genug hinein ins Grab! …«

»Genug!« sagte Rafael.

»Stützen Sie sich auf meinen Arm, Herr!«

»Nein!«

Das Gefühl, das ein Mensch am schwersten verträgt, ist das Mitleid – besonders, wenn er es verdient. Der Haß ist ein Mittel, das die Spannkraft erhöht, das belebt und Rachegedanken eingibt; das Mitleid aber tötet, denn es macht die Schwäche noch schwächer. Es ist das Übel, das als Schmeichler kommt, die Verachtung in der Güte oder die Güte in der Beleidigung. Rafael fand bei dem Hundertjährigen ein Mitleid voll Triumph, bei dem Kinde ein neugieriges Mitleid, bei der Frau ein zudringliches Mitleid und bei ihrem Manne ein Mitleid voll Eigennutz. Unter welcher Form immer dieses Gefühl sich ihm zeigte, stets redete es ihm von seinem Tode. Einem Dichter wird alles zum Gedichte, zu einem entsetzenerfüllten oder freudigen, je nach den Bildern, die ihn bedrängen; seine überempfindliche Seele kennt keine sanften Zwischentöne, für sie gibt es nur die starken heftigen Farben. Dieses Mitleid wurde in Rafaels Herzen zu einem schauerlichen Gedichte der Trauer und der Schwermut. Als er sich so sehr wünschte, der Natur näher zu kommen, hatte er nicht mit der plumpen Natürlichkeit der ländlichen Herzen gerechnet. Wenn er sich unter einem Baume allein glaubte und einer jener hartnäckigen Hustenanfälle ihn befiel und ihn wie zerschlagen hinwarf, sah er die feuchtglänzenden Augen des kleinen Jungen auf sich gerichtet, der wie ein Wilder im Gras auf der Lauer lag und ihn mit jener kindlichen Neugier anstarrte, in der ebensoviel Spaß und Vergnügen wie Interesse und Gefühllosigkeit ist. Das furchtbare »Bruder, du mußt sterben« der Trappisten meinte Rafael unaufhörlich in den Augen der Bauern, mit denen er lebte, zu lesen. Er wußte schon nicht mehr, was er am meisten fürchtete, ihre Worte oder ihr Schweigen. Alles an ihnen störte ihn.

Eines Morgens erblickte er zwei schwarzgekleidete Männer, die ihn umschlichen und ihm heimlich nachspürten und nachforschten. Als sie sich entdeckt sahen, taten sie, als ob sie zu einem Spaziergange hierher gekommen wären, und redeten ihn mit banalen Worten an. Er antwortete ihnen schroff abweisend. Er hatte sie als den Arzt und den Pfarrer des Kurortes erkannt, die wohl Jonathas hierhergeschickt haben mochte; vielleicht aber auch hatten seine Wirtsleute sie kommen lassen oder es hatte sie der Geruch nahen Todes herbeigelockt. Er sah sein eigenes Leichenbegängnis vor sich, er hörte den Gesang der Priester und zählte die Kerzen, und er vermochte all die Schönheiten dieser üppigen Natur, an derem Herzen er geglaubt hatte, dem Leben begegnet zu sein, nun nur mehr durch einen schwarzen Schleier zu sehen. Alles, was ihm vordem ein langes Leben versprochen hatte, prophezeite ihm nunmehr das nahe Ende.

Am anderen Morgen reiste er nach Paris zurück, nachdem ihm zum Abschied noch die melancholischen und gutgemeinten kläglichen Wünsche seiner Wirtsleute das Herz bitter gemacht hatten.

*

Rafael fuhr die ganze Nacht hindurch und erwachte in einem der lieblichsten Täler der Provinz Bourbonnais, deren Landschaften und Ausblicke an ihm vorüberwirbelten wie die luftigen Bilder des Traumes. Grausam lockend entfaltete die Natur alle ihre Schönheit seinen Blicken. Bald entrollte ein Fluß sein leuchtendes Band vor ihm, bald hoben sich die Glockentürme bescheidentlich verborgener Ortschaften aus einer Bucht gelblicher Felsen, eintönige Weinhügel taten jäh ein kleines Tal auf, in dessen Grunde Mühlen gingen, und immer wieder tauchten auf den Höhen strahlende Schlösser auf. Dörfer hingen an den Berglehnen und Straßen, von stolzen Pappeln gesäumt, zogen vorüber. Endlich schimmerte diamanten die Loire zwischen ihren goldfarbenen Sandufern empor. Unendliche Verlockungen umgaben ihn. Die Natur konnte wie ein von Leben überströmendes Kind kaum mehr all ihre Liebe und die treibenden Kräfte des Junimondes in sich fassen und drängte sich fordernd und lockend in die erloschenen Blicke des Kranken. Er schloß die Vorhänge seines Reisewagens und versuchte, wieder einzuschlafen.

Als sie abends nach Gosne kamen, erweckte ihn fröhliche Musik: er war in ein dörfliches Fest hineingeraten. Die Post lag neben dem Hauptplatz. Während der Zeit, die die Postillone zum Wechseln der Pferde brauchten, sah er die Tänze der fröhlichen Dorfbewohner, die hübschen blumengeschmückten Mädchen, die einander neckten, die festlich erregten jungen Burschen und die vom fröhlichen Trunke geröteten Gesichter der alten Bauern vor sich. Kinder trieben ihr übermütiges Spiel und alte Frauen standen lachend und redend beieinander. Alle sprachen durcheinander. In der allgemeinen Freude wurden sogar die Kleider und die aufgestellten Tische schöner; der Platz und die Kirche sahen fröhlich drein und selbst die Dächer, Fenster und Türen der Dorfhäuser schienen sich sonntäglich angetan zu haben.

Rafael konnte, wie die Sterbenden, die jedes Geräusch stört, einen bösen Ausruf nicht unterdrücken; er kämpfte mit dem Wunsche, die Geigen zum Schweigen zu bringen, all der Bewegung um ihn Einhalt zu gebieten und das ganze freche Fest und Geschrei auseinanderzujagen. Tief verdrossen bestieg er seinen Wagen. Als er nach einer Weile wieder auf den Dorfplatz hinausschaute, sah er all die Freude verscheucht, die Bäuerinnen auf der Flucht und die Bänke verlassen. Auf dem Bretterboden des Orchesters blies noch ein blinder Musikant auf seiner Klarinette einen gellenden Rundtanz weiter. Diese Musik ohne Tänzer und der zerlumpte Greis mit seinem mürrischen Gesicht und den spärlichen Haaren, der sich im Schatten einer Linde verbarg, gaben zusammen ein schauerlich wahres Bild von Rafaels Wunsch. Strömender Regen stürzte vom Himmel, wie er sich oftmals jäh aus den elektrisch geladenen Juniwolken ergießt, ohne lange zu dauern. Alles war so natürlich, daß Rafael nach einem Blick zum Himmel, über den weißliche Wolken im Winde hintrieben, gar nicht daran dachte, sein Chagrinleder nachzusehen. Er lehnte sich in die Ecke des Reisewagens zurück und fuhr bald darauf die Landstraße dahin.

Am anderen Tage war er daheim, in seinem Zimmer, in seiner Ecke am Kamin. Er hatte sich ein großes Feuer anzünden lassen, denn ihn fror. Jonathas brachte ihm Briefe. Sie waren alle von Pauline. Ohne Hast öffnete er den ersten und entfaltete ihn, als ob er eine Steuermahnung wäre. Er las den ersten Satz: »Fort! Fliehst Du vor mir, mein Rafael? … und niemand kann mir sagen, wo Du bist! … Wenn ich es nicht weiß, wer sollte es dann wissen?«

Er wollte nicht weiterlesen: kalt griff er nach den Briefen und warf sie in den Kamin. Mit ausgebrannten glanzlosen Blicken sah er dem Spiel der Flammen zu, die die duftenden Papiere bogen, schrumpfen machten, einrollten und zerstückelten. Ein paar unversehrte Fetzen lagen in der Asche; er sah auf ihnen die Anfänge von Sätzen, halb verbrannte Worte und Gedanken und gedankenlos begann er zu lesen:

»... Vor Deiner Türe gesessen … gewartet … Laune … Ich gehorche … Nebenbuhlerinnen … ich nicht … Deine Pauline … liebt … also nicht mehr Pauline? … Wenn Du mich hast verlassen wollen, hättest Du doch nicht fortgehen müssen … ewige Liebe … Sterben! …«

Die Worte erweckten sein Gewissen. Er griff nach der Feuerzange und rettete ein letztes Stück von einem Briefe aus den Flammen. Pauline. schrieb:

»Ich habe innerlich gemurrt, aber ich habe mich doch nicht beklagt, Rafael! Da Du mich von Dir entfernt hast, hast, Du mir sicherlich die Last eines Kummers ersparen wollen. Du wirst mich vielleicht eines Tages töten, aber Du bist zu gut, um mich leiden zu sehen. So darfst Du aber auch nicht mehr von mir fortgehen! Ich kann die größten Qualen ertragen, aber nur bei Dir! Dann wäre der Kummer, den Du mir zu tragen gäbest, kein Kummer mehr. In meinem Herzen ist noch viel, viel mehr Liebe, als ich Dir habe zeigen können. Ich kann alles aushalten, nur nicht fern von Dir weinen zu müssen und nicht zu wissen, was Du …«

Rafael legte das feuergeschwärzte Briefstückchen auf den Kamin, plötzlich aber warf er es ins Feuer zurück. Dieses Papier war ihm ein zu lebendiges Bild seiner Liebe und seines schicksalüberschatteten Lebens.

»Hol den Doktor Bianchon!« befahl er Jonathas.

Horace kam und fand Rafael im Bette.

»Mein Freund, kannst du mir einen schwach opiumhaltigen Trank zusammenbrauen, der mich in einen ständigen Dämmerzustand versetzen könnte, ohne daß die Anwendung des Medikamentes mir schadet?«

»Nichts ist leichter als das!« erwiderte der junge Arzt, »aber du müßtest doch ein paar Stunden des Tages wach sein, um zu essen.«

Rafael unterbrach ihn: »Ein paar Stunden? Nein, nein, ich will höchstens eine Stunde lang wach sein!«

»Was willst du denn damit erreichen?« fragte Bianchon.

»Schlafen heißt doch noch leben!« antwortete der Kranke. Während der Arzt sein Rezept schrieb, befahl Rafael Jonathas: »Laß keinen Menschen zu mir, auch nicht Fräulein Pauline von Witschau!«

Der alte Diener begleitete den jungen Arzt bis zur Freitreppe und fragte ihn dann: »Gibt es noch eine Hilfe für ihn, Herr Horace?«

»Es kann noch lange dauern, er kann aber auch heute abend sterben. Er kann ebensogut leben wie sterben. Ich weiß mir keinen Rat,« erwiderte Bianchon mit einer zweifelnden Gebärde. »Man müßte ihn zerstreuen!«

»Ihn zerstreuen? Herr Doktor, Sie kennen ihn nicht! Er hat vor einigen Tagen einen Menschen getötet, ohne mit einer Wimper zu zucken. Für ihn gibt es keine Zerstreuungen!«

*

Rafael verbrachte einige Tage in dem Nirwana seines künstlichen Schlafes. Unter der Gewalt, die das Opium auf unsere Seele ausübt, sank dieser Mensch voll Phantasie und Tätigkeitstrieb bis in die Tiefe jener trägen Wesen hinab, die im Dunkel der Wälder verkommen, ohne selbst eine Bewegung zum Erraffen der leichtesten Beute zu tun. Er verbarg sich sogar vor dem Lichte der Sonne – der Tag drang nicht mehr in sein Gemach. Gegen acht Uhr abends verließ er sein Bett: ohne ein klares Bewußtsein seiner Existenz befriedigte er seinen Hunger und legte sich dann sofort wieder zu Bett. Wirre Bilder trugen seine kalten, welken Stunden ihm zu, nur Schein von Licht und Dunkel zog über schwarzem Grunde an ihm vorüber. Er lag in einem tiefen Schweigen begraben, in einer völligen Verneinung der Bewegung und des Geistes. Eines Abends erwachte er erheblich später als gewöhnlich und fand sein Mahl nicht vorbereitet. Er zog die Glocke. Jonathas kam.

Er rief ihm entgegen: »Du kannst mein Haus verlassen! Ich habe dich reich gemacht, du wirst deine alten Tage sorglos verbringen können. Aber ich will dich nicht länger mit meinem Leben spielen lassen. Du Schurke! Mich hungert. Wo ist mein Essen? Antworte!«

Ein Lächeln der Befriedigung huschte über Jonathas' Gesicht. Er griff nach einer Kerze, deren Licht schwach durch die weiten Gemächer des Palais flackerte, und geleitete seinen Herrn, der wieder ganz zur Maschine geworden war, zu einem weiten Gang und öffnete hier unvermutet eine Tür. Im Augenblicke überflutete Lichtschein Rafael, der geblendet stand und voll Staunens ein unerhörtes Schauspiel erblickte. In allen Kronleuchtern strahlten die Kerzen, die seltensten Blumen seines Glashauses schmückten, kunstvoll angeordnet, einen Tisch, der von Silber, Gold, Perlmutter und Porzellan funkelte. Ein königliches Mahl dampfte auf ihm, und die köstlichsten Gerichte reizten den Gaumen.

Rafael sah seine Freunde versammelt, erblickte geschmückte verführerische Frauen, entblößte Busen und Schultern, Haare voll Blumen, sah strahlende Augen und Schönheit in vielen Gestalten, in wollüstigen Verkleidungen doppelt erregend; die eine hob ihre lockenden Formen durch ein irisches Jäckchen hervor, eine andere trug den lasziven Rock der Andalusierinnen; hier stellte eine halbnackt die Jägerin Diana dar, hier barg sich eine andere züchtig verliebt im Kostüm der Lavallière, beide aber waren in gleichem Maße zu aller Raserei willig. Freude, Verliebtheit und Lust blitzten in den Augen aller Gäste. Im Augenblicke, da Rafaels totenhaftes Gesicht in der Türöffnung erschien, scholl ihm ein jähes Zujauchzen entgegen, auflohend wie der Glanz dieses unerwarteten Festes. Stimmen, Düfte, Licht und die hinreißende Schönheit der Frauen stürzten sich auf alle seine Sinne und erweckten seine Gier. Freudige Musik scholl aus einem angrenzenden Gemache, hüllte den berauschenden Festlärm in Ströme von Harmonien und gab dieser seltsamen Vision ihre Vollendung.

Rafael fühlte, wie eine liebkosende Hand die seine drückte, die Hand einer Frau, deren frische weiße Arme ihn umfangen wollten; es war Aquilinas Hand. Da begriff er, daß dieses Bild nicht unwirklich und phantastisch war wie die huschenden Gesichte seiner farblosen Träume. Er stieß einen bösen Schrei aus, warf heftig die Türe zu und schlug schreiend seinem alten Diener die Faust ins Gesicht: »Schurke! Du hast also geschworen, mich umzubringen?!«

Bebend vor der Gefahr, die ihm gedroht hatte, fand er noch die Kraft, sich in sein Zimmer zurückzuschleppen. Er trank rasch eine starke Dosis seines Schlaftrankes und legte sich zu Bett.

»Zum Teufel!« rief Jonathas, sich aufrichtend, »der Doktor Bianchon hat mir doch befohlen, ihn zu zerstreuen …«

Es war fast Mitternacht. In dieser Stunde blühte Rafael durch eine jener Launen der Krankheit, die die Ärzte zum Staunen und zur Verzweiflung bringen, im Schlaf wunderbar wieder auf. Lebendige Röte färbte seine bleichen Wangen und Genie strahlte von seiner Stirne, die anmutig wie eine Mädchenstirn war. Auf seinem stillen entspannten Gesichte stand das Leben wieder in voller Blüte. Er sah nun aus wie ein Kind, das von seiner Mutter behütet eingeschlafen ist. Sein Schlaf war jetzt ein guter Schlaf und aus seinem roten Munde kam rein und gleichmäßig der Atem. Er lächelte: sicherlich hatte ihn ein Traum in ein schöneres Leben getragen. Vielleicht sah er sich hundert Jahre alt und seine Enkel wünschten ihm ein langes Leben. Vielleicht auch erblickte er, im Sonnenscheine von seiner ländlichen Bank unter einem Baume wie ein Prophet von Berggipfeln niederschauend, das Land der Verheißung in gnädiger Ferne …

»Du bist da? …«

Diese Worte, die eine silberhelle Stimme sprach, verscheuchten jäh die wolkigen Gesichte seines Schlafes. Im Lampenscheine erblickte Rafael Pauline auf seinem Bette sitzend, Pauline, die in Trennung und Leid noch schöner geworden war. Rafael sah bestürzt dieses Gesicht vor sich, das weiß war wie die Blütenblätter der Wasserrose und das, eingerahmt von den langen schwarzen Haaren, noch weißer aus dem Schatten schimmerte. Tränen hatten ihre leuchtende Spur über ihre Wangen gezogen und hingen nun zitternd und zum Fallen bereit. Pauline saß in einem weißen Kleide gesenkten Hauptes auf seinem Bette und ihre leichte Last drückte kaum die Decke nieder. Sie war wie ein Engel, der aus den Himmeln herniedergestiegen ist, wie eine Erscheinung, die ein Hauch verscheuchen kann.

Da Rafael die Augen aufschlug, rief sie: »Ich habe alles vergessen! Ich habe meine Stimme nur mehr dazu, um dir zu sagen: ich gehöre dir! Mein Herz ist nichts mehr als Liebe. Du Engel meines Lebens, nie noch bist du so schön gewesen! Deine Augen schauen mich drohend an … Oh, jetzt errate ich alles … Du hast ohne mich die Genesung gesucht, du fürchtetest mich …«

»Fort, fort! Laß mich!« sprach Rafael endlich mit dumpfer Stimme. »So geh doch! Wenn du hier bleibst, muß ich sterben! Willst du mich sterben sehen?«

»Sterben!« wiederholte sie, »kannst du denn ohne mich sterben? Sterben! Du bist doch jung! Sterben … Ich liebe dich doch … Sterben!« sagte sie noch einmal mit tiefer rauher Stimme. Mit einer wilden Bewegung griff sie nach seinen Händen.

»Kalt …«, flüsterte sie, »oder bilde ich es mir nur ein? …«

Rafael holte unter seinem Kopfkissen das Fetzchen seines Chagrinleders hervor, das nun zart und klein wie ein Immergrünblättchen geworden war.

Er zeigte es ihr und sagte: »Pauline, du schönes Sinnbild meines schönen Lebens, wir müssen Abschied nehmen!«

»Abschied?« wiederholte sie erschrocken.

»Ja! Dies hier ist ein Talisman, der meine Wünsche erfüllt – er zeigt dir mein Leben. Sieh, wieviel mir davon geblieben ist. Wenn du mich noch weiter so ansiehst, muß ich sterben!«

Pauline glaubte, daß Rafael wahnsinnig geworden sei. Sie nahm den Talisman und holte die Lampe. In dem flackernden Lichte, das nun auf gleiche Weise Rafael und den Talisman beleuchtete, prüfte sie mit höchster Aufmerksamkeit das Gesicht ihres Geliebten und das letzte Stückchen des Zauberleders. Da er Pauline so schön in ihrer Angst und ihrer Liebe sah, blieb er nicht mehr Herr seiner Gedanken.

Die Erinnerungen ihrer Liebkosungen und der Verzückungen ihrer Leidenschaft flammten triumphierend in seiner lange entschlafenen Seele wieder auf wie ein schlecht gelöschtes Feuer.

»Pauline, komm … Pauline!«

Ein furchtbarer Schrei brach aus der Kehle Paulines: ihre Augen weiteten sich, ihre Brauen, die unerhörte Schmerzen aneinandergepreßt hatten, riß das Grauen empor – sie las in Rafaels Augen wieder die wilden Wünsche nach ihr, die ehedem ihr Glück gewesen waren. Aber – da Rafaels Wunsch nach ihr wuchs, fühlte sie das Stückchen Chagrinleder in ihrer Hand kleiner werden. Einer jähen Eingebung folgend entfloh sie in das Nachbarzimmer und versperrte die Türe hinter sich.

Schreiend stürzte der Sterbende ihr nach: »Pauline! Pauline! Ich liebe dich! Ich bete dich an! Ich verlange nach dir! Ich verfluche dich, wenn du mir nicht öffnest! Ich will durch dich sterben!«

Mit einer wunderbaren Kraft, die das letzte Aufflammen des Lebens war, schleuderte er die Türe zu Boden und stand vor seiner Geliebten, die sich halbnackt auf einem Sofa wand. Pauline hatte vergeblich versucht, sich die Brust zu zerfleischen, jetzt wollte sie sich mit ihrem Schal erwürgen und so einen raschen Tod finden.

»Wenn ich sterbe, wird er leben!« flüsterte sie und zerrte den Knoten, den sie geschlungen hatte, zu.

Ihre Haare hingen wirr, ihre Schultern waren nackt und ihre Kleider in Unordnung; da sie sich so im Kampfe mit dem Tode glühenden Antlitzes und weinend in furchtbarster Verzweiflung vor Rafael, der trunken vor Liebesgier war, wand, sah er tausendfache Schönheit, die seine Raserei noch heftiger anfachte. Wie ein Raubvogel stürzte er sich auf sie, zerriß den Schal und wollte sie in seine Arme nehmen.

Er suchte nach Worten, um ihr den Wunsch zu sagen, der alle seine Kräfte verzehrte: aber es brachen nur von Röcheln erstickte Laute aus seiner ausgehöhlten Brust und sein Atem klang, als ob er aus der Tiefe des Leibes emporstiege. Endlich vermochte er auch keinen Ton mehr hervorzubringen. Er verbiß sich in Paulinens Brust …

Jonathas kam voll Entsetzens über die Schreie, die er gehört hatte. Er mühte sich, Pauline den Leichnam zu entreißen, über dem sie in einer Ecke kauerte.

»Was wollen Sie denn? Er gehört mir! Ich habe ihn getötet, ich habe es ja prophezeit!«

*


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