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Zweiter Teil

Die Frau ohne Herz

Nach einer Weile begann Rafael mit einer gleichgültigen Gebärde: »Ich weiß wirklich nicht, ob das nur vom Wein oder vom Punsch kommt, daß ich in diesem Augenblick in einer Art Erleuchtung mein ganzes Leben wie in einem Gemälde zusammengefaßt sehe, auf dem alle Gestalten, die Schatten, Farben, Lichter und Halbtöne getreu dargestellt sind. Diese dichterische Spielerei meiner Phantasie hätte nichts Überraschendes für mich, wenn nicht gleichzeitig eine sonderbare Mißachtung für meine vergangenen Leiden und Freuden in mir wäre. Aus der Entfernung sehe ich jetzt mein Leben wie in ein einziges seelisches Phänomen zusammengedrängt. Der lange träge Schmerz, der zehn Jahre gedauert hat, läßt sich heute in ein paar Sätze zusammenfassen, in denen der ganze Schmerz nur mehr ein Gedanke und alle Lust eine philosophische Reflexion geworden ist. Ich urteile, statt zu fühlen …«

»Du bist langweilig wie eine Kammerrede …«, rief Emile.

»Das ist möglich«, fuhr Rafael ohne Widerspruch fort. »Um deine Geduld nicht zu mißbrauchen, will ich dir die ersten siebzehn Jahre meines Lebens ersparen. Bis dahin habe ich gelebt wie du und tausend andere im Konvikt oder im Gymnasium, in den eingebildeten Kümmernissen und den wirklichen Freuden, die das Köstlichste unserer Erinnerungen sind – aus ihr wünscht unsere überfeinerte Feinschmeckerei noch die Gemüse zurück, die wir an Freitagen bekommen haben – solange wir sie eben nicht von neuem gekostet haben. Schöne Jahre! Was wir damals arbeiteten, schien uns verächtlich, und doch haben wir dabei das Arbeiten gelernt …«

»Komm schon zum Drama!« unterbrach ihn Emile, belustigt und gerührt zugleich.

Mit einer Gebärde forderte Rafael die Erlaubnis weiterzusprechen und fuhr fort: »Als ich die Schule verließ, zwang mich mein Vater in eine strenge Disziplin: er gab mir ein Zimmer, das neben seinem lag – ich legte mich abends vor neun Uhr schlafen und stand morgens um fünf auf. Er wollte mir mein Rechtsstudium zu einer Gewissenssache machen. Ich arbeitete zugleich an der Hochschule und bei einem Rechtsanwalt. Meine Tageseinteilung war eine sehr strenge, und mein Vater verlangte beim Essen peinlichste Rechenschaft über …«

»Was geht das alles mich an?« fuhr Emile ihn an.

»Der Teufel soll dich holen! Wie willst du meine Gefühle verstehen, wenn ich dir nicht die unmerklichen Geschehnisse erzähle, die meine Seele beeinflußten, mich schüchtern machten und mich so lange in der kindlichen Naivität des jungen Menschen gefangen hielten. Bis zu meinem einundzwanzigsten Jahre also krümmte ich mich unter einer Despotie, die nicht minder streng war wie eine Ordensregel. Um dir die Traurigkeiten meines Daseins zu zeigen, genügt es vielleicht, wenn ich dir meinen Vater beschreibe: er war ein großer, magerer, vertrockneter Mann, hatte ein Gesicht wie eine Messerklinge, eine fahle Haut, sprach kaum, war boshaft wie eine alte Jungfer und pedantisch wie ein Amtsvorstand. Daß er mein Vater war, hing drohend über meinen Kindereien und fröhlichen Gedanken und lastete wie eine Bleikuppel über meinem Leben. Wenn ich ihm ein sanftes, zärtliches Gefühl zeigen wollte, behandelte er mich wie ein Kind, das eine Dummheit sagt. Ich hatte mehr Scheu vor ihm als vor meinen Schulmeistern: für ihn blieb ich stets acht Jahre alt. Ich sehe ihn noch immer vor mir: in seinem braunen Mantel hielt er sich gerade wie eine Osterkerze und sah aus wie ein sauerer Hering, der in den roten Umschlag eines Schmähblattes eingewickelt ist. Bei alledem liebte ich meinen Vater: er war im Grunde gerecht. Vielleicht hassen wir die Strenge dann nicht, wenn sie durch einen großen Charakter und die Reinheit der Sitten gerechtfertigt und von Güte durchdrungen ist. Mein Vater ließ mich niemals allein, ich hatte bis zu meinem zwanzigsten Jahr nie zehn Franken zur Verfügung, zehn lumpige Halunken von Franken, die mir ein unermeßlicher vergeblicher Schatz gewesen wären, an deren Besitz ich träumend die unaussprechlichsten Köstlichkeiten knüpfte. – Aber er versuchte wenigstens, mir Zerstreuung zu verschaffen. Nachdem er mir monatelang ein Vergnügen versprochen hatte, führte er mich ins Theater, in ein Konzert oder auf einen Ball; ich war dann voll Hoffnung, dort eine Geliebte zu finden. Eine Geliebte – so hieß für mich die Unabhängigkeit! Aber ich war verschämt und furchtsam, beherrschte die Sprache der Salons nicht und kannte keinen Menschen – so kam ich immer wieder als der gleiche Neuling und mit der gleichen Sehnsucht im Herzen heim. Am anderen Tage stand ich, von meinem Vater wie ein Eskadronpferd angetrieben, vor dem Morgengrauen wieder auf und ging zu meinem Advokaten, zum Kolleg oder in den Justizpalast. Jedes Abweichen von dem einförmigen Wege, den mein Vater mir vorgezeichnet hatte, hätte für mich bedeutet, mir seinen Zorn zuzuziehen. Er hatte mir gedroht, mich bei meinem ersten Fehltritte als Schiffsjungen nach den Antillen zu schicken. Ein furchtbarer Schauder packte mich oft, wenn ich es zufällig einmal wagte, ein oder zwei Stunden zum Vergnügen herumzustreifen. Stelle dir die ausschweifendste Einbildungskraft, das liebevollste Herz, die zärtlichste Seele und den Geist eines Dichters unter der unaufhörlichen Überwachung durch den versteinertsten, galligsten und kaltherzigsten Menschen der Welt vor! Verheirate ein junges Mädchen mit einem Skelett und du wirst diese Existenz verstehen, deren Einzelheiten ich dir ja nur sagen kann: ohnmächtige Pläne, den Anblick meines Vaters zu fliehen, Verzweiflungen, die erst der Schlaf stillte, unterdrückte Sehnsucht, düstere Schwermut, die mir nur die Musik zerstreute. Ich verströmte mein ganzes Elend in Melodien. Beethoven oder Mozart waren oft meine geheimen Vertrauten. Heute muß ich lächeln, wenn ich mich der Vorurteile erinnere, die mich in meiner Unschuld und Tugend damals in Verwirrung brachten. Wenn ich meinen Fuß in ein Gasthaus setzte, glaubte ich mich zugrunde gerichtet. Ein Kaffeehaus erschien mir in meiner Einbildung als eine Stätte der Ausschweifung, wo die Menschen ihre Ehre einbüßten und ihr Vermögen aufs Spiel setzten. Was das Wagen von Geld im Spiel anbelangt, hätte ich dazu erst welches haben müssen. Und wenn du mir auch dabei einschläfst, ich muß dir doch von einer der furchtbarsten Freuden meines Lebens erzählen, von einer jener Freuden, die sich in das Herz einkrallen, wie das heiße Eisen sich in die Schulter des Zuchthäuslers eingräbt. Ich war auf einem Balle bei dem Herzog von Navarreins, einem Vetter meines Vaters. Damit du aber meine Lage völlig verstehst, mußt du wissen, daß ich einen abgetragenen Anzug, schlechtgemachte Schuhe, eine Kutscherhalsbinde und schon getragene Handschuhe anhatte. Ich stellte mich in einen Winkel, um dort mein Eis zu essen und die hübschen Frauen zu beobachten. Mein Vater bemerkte mich. Niemals habe ich den Grund dieser Anwandlung von Vertrauen erraten – damals war ich wie betäubt davon: er gab mir seine Börse und seine Schlüssel in Verwahrung. Zehn Schritte von mir saßen ein paar Leute beim Spiele. Ich hörte das Klirren des Goldes. Ich war zwanzig Jahre alt und sehnte mich danach, einmal einen ganzen Tag lang alle Verbrechen meines Alters zu begehen. Zu dieser Ausschweifung des Geistes fände man weder in den Launen der Kurtisanen, noch in den Träumen der jungen Mädchen eine Analogie. Seit einem Jahre schon sah ich mich im Traume gut angezogen in einem Wagen an der Seite einer schönen Frau, spielte den großen Herrn, aß bei Very, fuhr abends ins Theater und war entschlossen, erst am nächsten Tag zu meinem Vater zurückzukehren. Ich hatte den ganzen Spaß auf fünfzig Taler geschätzt, und er lockte mich wie das Schulschwänzen.

Ich ging nun in ein Boudoir, wo ich allein war, und zählte mit brennenden Augen und zitternden Fingern das Geld meines Vaters; es waren hundert Taler. Diese Summe rief mir alle Freuden meines Fluchttraumes wieder ins Bewußtsein, sie tanzten vor mir wie die Hexen in ›Macbeth‹ um ihren Kessel, mit all ihren tausend Lockungen, Schaudern und Köstlichkeiten. Da entschloß ich mich, ein Schurke zu sein. Ich hörte nicht auf das Sausen in meinen Ohren noch auf das heftige Klopfen meines Herzens: ich nahm aus der Börse zwei Zwanzig-Franken-Stücke, die ich jetzt noch vor mir sehe. Die Jahreszahlen darauf waren verwischt, und das Bild Napoleons schnitt Grimassen. Ich barg die Börse wieder in meiner Tasche, ging zu einem der Spieltische zurück und umkreiste nun, die zwei Goldstücke in der feuchten, verkrampften Hand, die Spieler wie ein Falke den Hühnerstall. Unaussprechliche Ängste hatten mich in ihrer Gewalt. Ich sah plötzlich mit durchdringendem Blicke um mich; als ich sicher war, von keinem Menschen meiner Bekanntschaft gesehen zu werden, setzte ich auf einen kleinen dicken fröhlichen Menschen, auf dessen Haupt ich nun mehr Wünsche und Gebete häufte, als man für gewöhnlich während dreier Stürme auf dem Meere zum Himmel schickt. Dann stellte ich mich mit einem für mein Alter erstaunlichen Instinkt von Verschlagenheit oder Machiavellismus in die Nähe der Tür und überblickte die Salons, ohne hier aber etwas zu sehen. Meine Seele und meine Blicke umflatterten den schicksalsvollen grünen Tisch. An diesem Abend habe ich meine ersten physiologischen Beobachtungen gemacht, denen ich es danke, daß ich nachher tiefer eindringen und etliche Geheimnisse unserer zwiefachen Natur fassen konnte. Ich kehrte dem Tische, auf dem sich mein künftiges Glück entscheiden sollte, den Rücken zu, ein Glück, das um so tiefer sein mußte, weil es verbrecherisch war. Zwischen den beiden Spielern und mir bildeten vier oder fünf Reihen von sich unterhaltenden Menschen eine dichte Hecke. Das Brausen der Stimmen verhinderte mich, den Klang des Goldes zu unterscheiden, der sich überdies noch mit dem Lärm des Orchesters mischte. Trotz aller dieser Hindernisse aber vernahm ich vermöge meiner leidenschaftlichen Besessenheit, die Zeit und Raum aufzuheben vermochte, deutlich die Worte der zwei Spieler; ich kannte ihre Points und wußte so genau, welcher von ihnen den König aufschlug, als ob ich ihnen in die Karten gesehen hätte. Nach zehn Gängen des Spiels war ich ob seiner Launenhaftigkeit bleich geworden. Plötzlich ging mein Vater an mir vorbei. Und ich verstand die Worte der Heiligen Schrift: ›Der Geist Gottes ging an seinem Angesichte vorüber.‹ Ich hatte gewonnen.

Ich lief zu dem Tische und glitt mit der Geschicklichkeit eines Aales, der durch eine zerrissene Masche des Netzes schlüpft, durch den Wirbel von Leuten rund um die Spieler. Plötzlich waren meine schmerzenden Nerven voll Fröhlichkeit. Mir war wie einem zum Tode Verurteilten zumute, der auf dem Wege zur Hinrichtung dem Könige begegnet ist. Noch eine Prüfung wartete meiner. Ein ordengeschmückter Mann forderte seinen Gewinn von vierzig Franken, der fehlte, ein. Unruhige Augen verdächtigten mich; ich erbleichte, und Schweiß rieselte von meiner Stirne. Das Verbrechen, meinen Vater bestohlen zu haben, schien sich jetzt rächen zu wollen. Da sagte der gute dicke Mann mit einer Stimme, die mir wie die eines Engels geklungen haben mag: ›Alle die Herren haben gesetzt!‹ und zahlte die vierzig Franken aus. Ich erhob meine Stirn wieder und warf nun Blicke des Triumphes auf die Spieler. Nachdem ich in der Börse meines Vaters das herausgenommene Geld ersetzt hatte, ließ ich meinen Gewinn bei dem würdigen ehrenhaften Mann stehen, der fortfuhr zu gewinnen. Als ich mich dann im Besitze von hundertsechzig Franken sah, wickelte ich sie so fest in mein Taschentuch, daß sie sich bis zu meiner Heimkehr weder bewegen noch klingen konnten – und hörte zu spielen auf.

›Was hast du beim Spiel getan?‹ fragte mich mein Vater, als wir in die Droschke stiegen.

Ich antwortete zitternd: ›Ich habe zugesehen.‹

Da sprach er weiter: ›Es wäre nichts Ungewöhnliches gewesen, wenn du durch die Eitelkeit gezwungen worden wärest, auch etwas Geld auf den grünen Tisch zu legen. In den Augen der Leute von Welt bist du alt genug, um Dummheiten begehen zu können. So hätte ich dich auch entschuldigt, Rafael, wenn du dich meiner Börse bedient hättest …‹

Ich antwortete nichts; als wir zu Hause waren, gab ich meinem Vater die Schlüssel und sein Geld zurück. Er betrat sein Zimmer, leerte die Börse auf den Kamin, zählte die Goldstücke, wandte sich mit vieler Freundlichkeit zu mir und sprach, indem er jeden Satz vom anderen durch eine längere oder kürzere bedeutungsvolle Pause schied:

›Mein Sohn, du bist bald zwanzig Jahre alt. Ich bin mit dir zufrieden. Du brauchst ein Taschengeld, schon darum, damit du sparen und die Dinge des Lebens kennen lernst. Von heute ab gebe ich dir hundert Franken im Monat, du kannst über das Geld nach deinem Gutdünken verfügen. Das hier ist für die drei ersten Monate dieses Jahres‹, setzte er hinzu und streichelte eine Reihe Goldstücke, als ob er die Summe nochmals richtigstellen wollte.

Ich muß gestehen, ich war nahe daran, mich vor ihm niederzuwerfen und zu bekennen, daß ich ein Dieb, ein Schuft – und noch Ärgeres – ein Lügner sei. Die Scham hielt mich davon zurück. Ich wollte ihn umarmen – er drängte mich leicht von sich fort.

Er sagte mir dann noch: ›Mein Kind, jetzt bist du ein Mann. Was ich tue, ist eine ganz einfache Sache, für die du mir nicht danken mußt. Wenn ich ein Recht auf deine Dankbarkeit habe, Rafael,‹ fuhr er sanft, doch voll Würde fort, ›kann es nur dafür sein, daß ich deine Jugend vor dem Unheil bewahrt habe, das die jungen Leute in Paris zerstört. Von jetzt ab wollen wir zwei Freunde sein. In einem Jahr bist du Doktor der Rechte. Du hast dir unter mancherlei Plage und Verzicht gründliche Kenntnisse und Liebe zur Arbeit erworben, wie sie ein Mann braucht, um mit Geschick seine Geschäfte zu führen. Trachte, mich kennenzulernen, Rafael! Ich möchte weder einen Advokaten noch einen Notar aus dir machen, sondern einen Staatsmann, der der Ruhm unseres armen Hauses werden könnte. Also, auf morgen!‹ setzte er hinzu und scheuchte mich mit einer geheimnisvollen Gebärde hinweg.«

*

»Von diesem Tage an führte mich mein Vater offen in seine Pläne ein. Ich war der einzige Sohn, meine Mutter hatte ich im Alter von zehn Jahren verloren. Der Vater, der älteste Sohn eines historischen Geschlechts, das jetzt in der Auvergne schon fast vergessen ist, kam seinerzeit, da er geringe Lust hatte, den Degen an der Seite, hinter dem Pfluge einherzugehn, nach Paris, um es hier mit dem Teufel aufzunehmen, Dank dem Scharfsinn, der, wenn er mit Energie gepaart ist, die Männer aus dem Süden Frankreichs so überlegen macht, gelang es ihm, ohne die Hilfe anderer, im Zentrum der Macht selber Fuß zu fassen. Die Revolution zerstörte bald sein Glück; aber er hatte es verstanden, die Erbin eines großen Hauses zur Frau zu gewinnen – unter dem Kaiserreiche dann glaubte er den Augenblick gekommen, unserem Hause den alten Glanz wiederzugeben. Die Restauration gab meiner Mutter beträchtliche Güter zurück – aber sie ruinierte meinen Vater. Er hatte früher schon einige Ländereien im Auslande, die der Kaiser seinen Generalen geschenkt hatte, aufgekauft – nun schlug er sich zehn Jahre mit den Liquidierenden, mit Diplomaten, mit preußischen und bayrischen Gerichtshöfen herum, um auch wirklich zu dem doch verbrieften Besitz dieser unglückseligen Schenkungen zu gelangen. Mein Vater stieß mich in das unentwirrbare Labyrinth dieses weitläufigen Prozesses hinein, von dem unsere Zukunft abhing. Wir konnten zum Ersatz der Einkünfte und des Preises der Waldungen, die von 1814 bis 1817 geschlagen worden waren, verurteilt werden: in diesem Falle hätte das Vermögen meiner Mutter kaum hingereicht, die Ehre unseres Namens zu retten. So geriet ich von dem Tage an, an dem mir mein Vater anscheinend eine Art Freiheit gegeben hatte, erst recht unter das verhaßte Joch. Ich mußte kämpfen wie auf dem Schlachtfelde; ich arbeitete Tag und Nacht, lief zu den Staatsmännern, mühte mich, sie durch falsche Berichte zu täuschen, sie für unsere Angelegenheit zu interessieren, ich versuchte sie, ihre Frauen, ihre Diener, ihre Kinder zu berücken, und dieses scheußliche Geschäft unter eleganten Formen und angenehmen Scherzen zu verstecken. Nun verstand ich die Kümmernisse, deren Spuren das Gesicht meines Vaters welk gemacht hatten. Nahezu ein Jahr lang führte ich zum Schein das Leben eines Weltmanns, aber dieser Anschein und mein Eifer, mich bei den Verwandten und den Leuten, die uns von Nutzen sein konnten, in Gunst zu setzen, verbarg nur meine maßlose Arbeit. Meine einzigen Zerstreuungen waren auch weiterhin das Prozessieren und die Besprechungen über unsere Denkschriften. Vorher hatte ich tugendhaft gelebt, weil es mir unmöglich gemacht worden war, mich den Leidenschaften eines jungen Menschen hinzugeben; jetzt aber fürchtete ich bei jeder Nachlässigkeit, meinen Vater oder mich selbst damit zugrunde zu richten – so wurde ich mir selber zum Despoten und wagte weder ein Vergnügen noch eine Ausgabe mehr. Solange wir jung sind und die Reibung an den Menschen und Dingen uns die erste zarte Blüte der Empfindung, die Knospenfrische der Gedanken und die reine Vornehmheit des Gewissens, die uns niemals mit dem Bösen zu paktieren erlaubt, noch nicht zerstört hat, haben wir ein lebendiges Gefühl für unsere Pflichten: unser Ehrgefühl spricht laut und verschafft sich Gehör. Wir sind offen und unverbogen: so war ich damals. Ich wollte das Vertrauen meines Vaters rechtfertigen. Vor kurzem hatte ich ihn noch um eine schäbige Summe bestehlen wollen: doch jetzt trug ich mit ihm an der Last seiner Geschäfte, seines Namens, seines Hauses – und ich hätte ihm heimlich meinen ganzen Besitz und meine Hoffnungen gegeben, wie ich ihm meine Vergnügungen opferte und dabei noch glücklich über mein Opfer war. Als dann Herr von Villèle ein kaiserliches Dekret über den Verlust der Schenkungsgüter ausgrub, das unseren Fall entschied und uns zugrunde richtete, unterschrieb ich denn auch die Urkunde über den Verkauf meines Eigentums und behielt nichts als die wertlose Insel in der Loire, auf der das Grab meiner Mutter war. Heute hätten mich vielleicht allerlei krumme Argumente, philosophische und politische Redereien davon abgehalten, das zu tun, was mein Advokat damals eine Eselei nannte. Aber mit einundzwanzig Jahren ist man eben voll Großherzigkeit, Gefühlswärme und Liebe. Die Tränen, die ich damals in den Augen meines Vaters sah, waren für mich der schönste Reichtum – und die Erinnerung an diese Tränen hat mich hernach oft in meinem Elend getröstet. Zehn Monate, nachdem mein Vater seine Gläubiger befriedigt hatte, starb er an seinem Kummer: der Gedanke, daß er mich bei all seiner Liebe zugrunde gerichtet hatte, hat ihn getötet. Im Spätherbst des Jahres 1826 – ich war zweiundzwanzig Jahre alt – ging ich allein mit dem Leichenbegängnisse meines ersten Freundes, meines Vaters. Wenige junge Menschen mögen so allein mit ihren Gedanken, so ohne Zukunft und ohne Vermögen, so in Paris verloren, hinter einem Leichenwagen hergegangen sein. Die Waisen, deren sich die öffentliche Mildtätigkeit angenommen hat, haben wenigstens das Schlachtfeld als Zukunft vor sich, ihr Vater ist die Regierung, ihre Zuflucht sind die Spitäler. Ich hatte nichts. Drei Monate hernach zahlte mir der Auktionskommissär elfhundertzwölf Franken als mein ganzes flüssiggemachtes väterliches Erbteil aus: die Gläubiger hatten mich gezwungen, unsere Einrichtung zu verkaufen. Ich war von Kindheit an gewöhnt, die mich umgebenden Luxusdinge für sehr wertvoll zu halten – so konnte ich einen Ausdruck des Erstaunens über diesen armseligen Erlös nicht unterdrücken: der Auktionskommissär sagte mir:

»Das war doch alles sehr altmodisch!«

Dieses furchtbare Wort verdarb mir den Glauben an meine Kindheit und nahm mir die ersten Illusionen, die die teuersten von allen sind.

Mein Vermögen bestand nun in einer Versteigerungsliste, meine Zukunft ruhte in einem Leinensäckchen, das elfhundertzwölf Franken enthielt. Die Gesellschaft erschien mir in der Gestalt eines Auktionsbeamten, der mit dem Hute auf dem Kopfe zu mir sprach. Ein Kammerdiener, der mich gerne hatte – und dem meine Mutter ehedem eine Lebensrente von vierhundert Franken ausgesetzt hatte – sagte mir, als ich das Haus verließ, aus dem ich in meiner Kindheit so oft fröhlich im Wagen fortgefahren war: »Seien Sie recht sparsam, Rafael!« Der brave Mann weinte.

*

Nach einer Pause sprach Rafael weiter: »Mein lieber Emile, das sind die Ereignisse, die mich bestimmten, meine Seele formten – und mich auf den elendsten Platz der menschlichen Gesellschaft stellten. Weitläufige Verwandtschaft verband mich mit ein paar reichen Häusern – mein Stolz hätte mir den Zutritt zu ihnen verwehrt, wenn mir nicht ihre Mißachtung und Gleichgültigkeit schon ihre Türen verschlossen hätten. Obwohl ich also mit Leuten verwandt war, die sehr viel Einfluß hatten und gegen Fremde mit ihrer Protektion verschwenderisch waren, hatte ich weder Verwandte noch Protektoren. Da meine Seele immer an allen Äußerungen gehindert worden war, verschloß sie sich immer mehr in sich. Ich war offen und natürlich – und wirkte doch kalt und verstellt. Die Despotie meines Vaters hatte mir alles Selbstvertrauen genommen. Ich war scheu und linkisch, ich glaubte nicht, daß meine Stimme die geringste Macht ausüben könnte, ich mißfiel mir, ich fand mich häßlich und schämte mich meiner selbst. Trotz der inneren Stimme, die die begabten Menschen aufrecht erhalten muß – und die mir zurief: ›Mut! Geh deinen Weg!‹ – trotz jäher Offenbarungen meiner Macht in der Einsamkeit, trotz der Hoffnungen, die mich belebten, wenn ich die jetzt vielbewunderten Kunstwerke mit denen verglich, die durch meine Gedanken schwebten, trotz alledem zweifelte ich an mir wie ein Kind. Ich war die Beute ausschweifendsten Ehrgeizes, ich glaubte mich zu großen Dingen erkoren und – ich fühlte mich im Nichts. Ich brauchte Männer – und ich hatte keine Freunde. Ich mußte mir einen Weg durch die Welt bahnen – und ich blieb allein dabei: ich fürchtete mich nicht, aber ich schämte mich.

Als mein Vater mich ein Jahr lang in den Wirbel der großen Welt geschickt hatte, war ich mit einer reinen, frischen Seele zu den Menschen gekommen. Wie alle großen Kinder erwartete ich mir heimlich schöne Liebschaften. Ich traf unter den jungen Leuten meines Alters eine Sekte von Prahlhänsen, die sich erhobenen Hauptes mit nichtssagenden Reden, ohne zu zittern, neben Frauen setzten. Die imponierten mir am meisten: sie redeten Unverschämtheiten, nagten am Griffe ihres Stockes, säuselten Redensarten, setzten die hübschesten Frauen vor sich selber herab, taten, als hätten sie in allen Betten gelegen, und als ob sie sich gar nichts aus diesem Vergnügen machten; sie umwarben die Tugendhaftesten und Keuschesten, als seien sie die leichteste Beute, die man mit einem einfachen Worte gewinnen könne, mit der ersten gewagten Gebärde und dem ersten frechen Blicke. Ich schwöre dir auf Ehre und Gewissen, es schien mir damals viel leichter, Macht oder literarisches Ansehen als eine junge, anmutige, geistreiche Frau von Wert zu erobern. Ich fand die Verwirrungen meines Herzens, meine Gefühle und meine Vergötterung sehr im Mißklang zu den Anschauungen der Gesellschaft. Ich war kühn – aber nur in der Seele, nicht in den Umgangsformen. Später dann habe ich es erfahren, daß die Frauen es nicht lieben, wenn man um sie bettelt. Ich habe ihrer genug gesehen, die ich von ferne anbetete und für die mein Herz zu jeder Probe bereit gewesen wäre, sie hätten mir die Seele und meine Kraft, die vor keinem Opfer und keiner Qual zurückschreckte, zermartern dürfen. Sie aber gehörten Dummköpfen, die ich nicht einmal als Portiers hätte haben mögen.

Wie oft habe ich stumm und reglos die Frau meiner Träume bewundert, wenn sie auf einem Ball auftauchte: in solchen Augenblicken gab ich mein ganzes Sein in Gedanken ewigen Zärtlichkeiten hin, ich drängte alle meine Hoffnungen in einen Blick und bot ihr verzückt die Liebe eines jungen Menschen dar, die den Keim aller Enttäuschungen schon in sich trägt. In manchen Augenblicken hätte ich mein Leben für eine einzige Nacht hingegeben. Niemals aber habe ich Ohren für meine leidenschaftlichen Werbungen, noch Blicke, um die meinen darein zu versenken, noch ein Herz für mein Herz gefunden – so lebte ich in den Qualen ohnmächtiger Kraft, die sich selbst verzehrt, dahin, sei es, weil es mir an Kühnheit fehlte, oder an Gelegenheit oder an Erfahrung. Vielleicht hatte ich daran verzweifelt, mich verständlich machen zu können, oder ich habe davor gezittert, allzusehr verstanden zu werden? Indessen erfaßte mich schon ein Sturm bei jedem höflichen Blicke, der mich hätte treffen können. So sehr ich bereit war, einen solchen Blick oder ein Wort für ein Zeichen zarter Verständigung zu nehmen, habe ich es im rechten Augenblick doch nie gewagt, zu sprechen oder zu verstummen. Meine Empfindungen trugen die Schuld, daß meine Worte nichtssagend und mein Schweigen dumm wirkte. Sicher war ich zu kindisch für eine verkünstelte Gesellschaft, die im Lampenlichte lebt und alle ihre Gedanken nach den konventionellen Phrasen oder den von der Mode diktierten Worten richtet. Ich verstand mich also weder darauf, im Schweigen zu sprechen, noch im Sprechen zu schweigen.

So mußte ich die Flammen, die mich verbrannten, in mir bewahren – und hatte doch eine Seele, wie sie die Frauen gerne fänden, ich war voll des Überschwanges, nach dem sie begierig sind, besaß die Kraft wirklich, mit der sich die Dummköpfe brüsteten – und doch waren alle Frauen tückisch grausam gegen mich. Ich bewunderte noch die Salonhelden, wenn sie sich ihrer Triumphe rühmten – und ahnte die Lüge in ihnen nicht. Sicher beging ich einen Fehler, da ich Liebe auf ein bloßes Wort hin erwartete und im Herzen einer genußsüchtigen, leichtsinnigen Frau, die hungrig nach Luxus und trunken vor Eitelkeit ist, eine solche große, starke Leidenschaft finden wollte. Oh, sich geboren zu fühlen, um zu lieben und eine Frau sehr glücklich zu machen, und keinen Menschen gefunden zu haben, nicht einmal eine mutige, hochherzige Marcelline oder irgendeine alternde Marquise! Schätze im Reisesack mit sich zu tragen und keinem Kinde, keinem neugierigen jungen Mädchen zu begegnen, das sie hätte bewundern können! Oft wollte ich mich in Verzweiflung töten.«

»Hübsch tragisch ist der heutige Abend!« murmelte Emile.

Rafael fuhr fort: »Laß mich das Urteil über mein Leben sprechen! Wenn deine Freundschaft dir nicht die Kraft gibt, meine Elegien anzuhören, und du mir nicht den Kredit gewähren kannst, dich eine halbe Stunde meinetwegen zu langweilen, dann schlaf! Aber dann fordere keine Rechenschaft mehr von mir über meinen Selbstmord, der in mir grollt, sich erheben will, mich ruft – und den ich grüße. Um über einen Menschen urteilen zu können, muß man doch wenigstens das Geheimnis seiner Gedanken, seines Unglücks und seiner Erregungen kennen! Wenn man von seinem Leben nicht mehr wissen will als bloß die äußeren Ereignisse, heißt das nur, es chronologisch ordnen und zur Geschichte für die Flachköpfe machen.«

Der bittere Ton dieser Worte traf Emile so sehr, daß er von diesem Augenblick an Rafael mit seiner ganzen Aufmerksamkeit zuzuhören suchte. Dabei sah er ihn mit leerem Blicke an.

Dieser fuhr zu erzählen fort: »Jetzt nämlich gibt die Beleuchtung den Ereignissen ein ganz anderes Aussehen. Gerade das, was ich früher an den Dingen als ein Unglück betrachtete, hat vielleicht die Fähigkeiten in mir hervorgebracht, auf die ich später stolz geworden bin. Philosophische Neugier, schrankenlose Arbeit und Liebe zu den Büchern haben mich von meinem siebenten Jahre bis zu meinem Eintritt in die Welt beständig beschäftigt, und ihnen danke ich es wohl, daß ich mir Gedanken machte und so im weiten Bereiche der menschlichen Erkenntnis vorwärtsschreiten durfte. Die Verlassenheit, zu der ich verurteilt war, die Gewöhnung, meine Gefühle zurückzudrängen und in meinem Herzen zu leben, haben mir die Macht verliehen, zu vergleichen und mich zu besinnen. Meine Seele verlor sich nicht an die Verlockungen der Welt, die auch die schönste Seele entwürdigen und zu einem Lumpenzeug machen; indem sie ihre Feinfühligkeit immer mehr konzentrierte, ist sie das vollkommenste Organ eines höheren Willens, als leidenschaftliche Wünsche es sind, geworden. Die Frauen verkannten mich. Ich habe sie mit der Schärfe, die nur mißachtete Liebe besitzt, beobachtet. Heute sehe ich ein, daß die Aufrichtigkeit meines Charakters nicht hat gefallen können. Die Frauen fordern vielleicht ein wenig Verstellung von uns? Ich bin zugleich ein Mann und ein Kind, oberflächlich und grüblerisch, vorurteilslos und voll Aberglaubens und bin oft so sehr Frau wie sie selber; sie aber mögen wohl meine Kindlichkeit für Zynismus und die Reinheit meiner Gedanken für Lasterhaftigkeit gehalten haben. Wissen bedeutete für sie Langeweile und meine schmerzliche Sehnsucht weibische Schwäche. Die unbändige Phantasie, die das Unglück der Dichter ist, ließ mich sicher als der Liebe unfähig, unbeständig in den Ideen und energielos erscheinen. Wenn ich schwieg, wirkte ich tölpelhaft – und ich habe sie vielleicht erschreckt, wenn ich ihnen zu gefallen versuchte. So haben die Frauen ihr Urteil über mich gesprochen.

In Qual und Tränen habe ich das Urteil der Welt empfangen – aber dieses Leiden hat seine Frucht getragen. Ich wollte mich an der Gesellschaft rächen; ich wollte die Seelen aller Frauen besitzen, indem ich mir ihren Verstand unterwarf – und wollte alle Blicke auf mich gerichtet sehen, wenn ein Diener an der Türe eines Salons meinen Namen meldete. Ich hatte mich seit meiner Kindheit zum großen Manne bestimmt. Ich habe mich gegen die Stirne geschlagen und wie André Chénier gesagt: ›Es ist etwas da!‹ Ich glaubte in mir zu fühlen, daß ich dazu bestimmt sei, einen großen Gedanken auszudenken, ein System aufzustellen, der Welt Wissen zu schenken.

Mein lieber Emile, heute bin ich kaum sechsundzwanzig Jahre alt – und bin sicher, unbekannt zu sterben, und niemals der Geliebte einer Frau, von deren Besitz ich geträumt hatte, gewesen zu sein. Aber laß mich dir meine Narrheiten weiter erzählen! Wir alle haben doch mehr oder minder unsere Wünsche für die Wirklichkeit gehalten. Ich möchte keinen jungen Menschen zum Freunde haben, der sich nicht im Traume Kränze geflochten, Piedestals errichtet und sich nie in seinen Wünschen wunderbare Geliebte zu eigen gemacht hätte. Ich war oft General, Kaiser, ich war Byron – ich war – nichts. Genug! Da ich so auf den Gipfeln menschlicher Macht spielte, erfuhr ich, daß alle Gebirge und alle Schwierigkeiten noch zu überwinden wären. Die ungeheuerliche Eigenliebe, die in mir siedete, der hohe Glaube an meine Bestimmung, der vielleicht zum Genie wird, wenn sich der Mensch in der Berührung mit den Dingen des Alltags nicht seine Seele zerfetzen läßt (wie ein Schaf seine Wolle an einem Dornengestrüpp, durch das es dringt, verliert), diese Gaben haben mich gerettet. Ich wollte mich mit Ruhm bedecken und schweigend für die Geliebte, die ich eines Tages zu haben hoffte, arbeiten. Alle Frauen kann man in einer erleben – und diese Eine erwartete ich in der ersten zu treffen, die sich meinen Blicken darbot: denn ich sah in jeder von ihnen eine Königin – und es hätten alle, wie die Königinnen die Pflicht haben, in der Liebe den ersten Schritt zu tun, mir entgegenkommen müssen, da ich voll Leid, arm und schüchtern war.

Für die, die mich damals bemitleidet hätte, hätte ich über die Liebe hinaus so viele Dankbarkeit gehabt, daß ich sie ihr ganzes Leben angebetet hätte. Später dann haben mich meine Beobachtungen grausame Wahrheiten kennen gelehrt. Mein lieber Emile, so war ich also in der Gefahr, ewig allein zu bleiben. Die Frauen haben die Neigung, an einem begabten Menschen nichts als seine Fehler zu sehen – und an einem Flachkopf nur seine Vorzüge; sie empfinden große Sympathie für die Vorzüge eines Flachkopfs, weil diese ihnen eine ständige Schmeichelei für ihre eigenen Fehler bedeuten; der überlegene Mann aber bietet ihnen nicht genug Vergnügen, um damit seine Unvollkommenheiten aufwiegen zu können. Das Talent ist ein Wechselfieber – keine Frau möchte seine bösen Dinge mit in Kauf nehmen; alle wollen in ihren Liebhabern nur Anlässe zur Befriedigung ihrer Eitelkeit haben, denn sie selbst sind es, was sie in uns lieben. Ein Mann, der arm und stolz ist, ein Künstler mit der Macht seines Schaffens, ist beleidigend egoistisch, nicht wahr? Um ihn kreist ein Wirbelsturm von Gedanken, in den er alles hineinreißt, selbst seine Geliebte, die der Bewegung folgen muß. Kann eine verwöhnte Frau an die Liebe eines solchen Mannes glauben? Wird sie sie suchen? Ein solcher Liebhaber hat nicht Zeit genug, sich neben ihrem Diwan all den kleinen Äffereien des Gefühls zu überlassen, auf die die Frauen so viel halten und in denen die falschen und gefühllosen Männer so viel leisten. Er hat nicht einmal zu seinen Arbeiten Zeit genug – woher sollte er denn die Zeit nehmen, sich zu erniedrigen und lächerliches Zeug zu treiben? Ich war bereit, auf einmal mein Leben hinzugeben – aber ich hätte es nicht allmählich zertreten lassen. Wie ein Börsenagent die Aufträge einer bleichen, gezierten Modedame ausführt, darin ist etwas Gemeines, das einen Künstler abstoßen muß. Die abstrakte Liebe genügt einem armen jungen hochherzigen Menschen nicht, er verlangt auch nach aller wirklichen Hingebung. Die kleinen Geschöpfe, die ihr Leben damit hinbringen, daß sie Kaschmirtücher probieren und Kleiderständer der Moden aus sich machen, kennen die Hingebung nicht – sie fordern sie, aber sie kennen in der Liebe nur den Genuß des Befehlens, nicht den des Gehorsams. Die Frau, die wahrhaft mit Leib und Seele Gattin ist, läßt sich willig dahin führen, wohin der geht, in dem ihr Leben, ihre Kraft, ihr Ruhm und ihr Glück beschlossen ist. Die überlegenen Männer brauchen orientalische Frauen, deren einziger Gedanke die Erforschung der Bedürfnisse des Mannes ist; denn für sie ist das Unglück das Mißverhältnis zwischen ihren Wünschen und ihren Mitteln. Und ich, der ich glaubte, ein Mensch voll Genie zu sein, begehrte gerade diese kleinen Modepuppen zu Geliebten. Ich trug Ideen in mir, die den gangbaren so entgegengesetzt waren, ich wollte ohne Leiter in den Himmel steigen, besaß Schätze, die keinen Kurs hatten, und ausgebreitete Kenntnisse, die mein Gedächtnis überlasteten und die ich noch nicht geordnet und völlig verdaut hatte; ich hatte keine Verwandten und Freunde und war allein in der furchtbarsten Wüste, dieser gepflasterten, belebten, denkenden, lebendigen Wüste, wo einem alle ärger noch als feindselig begegnen – nämlich gleichgültig. Der Entschluß, den ich damals gefaßt habe, war in all seiner Tollheit natürlich. Er enthielt etwas Unmögliches, das machte mir Mut. Es war wie eine Wette mit mir selber: ich war Spieler und Einsatz zugleich. Mein Plan war der folgende.«

*

»Meine elfhundert Franken mußten drei Jahre für meinen Lebensunterhalt hinreichen – während dieser Zeit wollte ich ein Werk in die Welt setzen, das die Aufmerksamkeit auf mich ziehen und mir ein Vermögen oder einen Namen schaffen könnte. Ich ergötzte mich an dem Gedanken, von Milch und Brot wie ein Einsiedler in der Thebais zu leben, versunken in die Welt der Bücher und der Ideen, inmitten des brausenden Paris, im unerreichbaren Bereiche des Schweigens und der Arbeit zu sein, in denen ich mich verpuppen und begraben wollte, um dann strahlend und glorreich auferstehen zu können. Ich wollte zu sterben wagen, um leben zu können. Indem ich meine Bedürfnisse auf das Lebensnotwendigste beschränkte, fand ich, daß dreihundertundfünfundsechzig Franken im Jahre meiner Armut genug sein mußten. Und wirklich hat diese kümmerliche Summe für mein Leben ausgereicht, seit ich mich unter meine eigene klösterliche Zucht begeben hatte.«

»Das ist unmöglich!« rief Emile.

»Ich habe nahezu drei Jahre so gelebt!« erwiderte Rafael mit einem gewissen Stolze. »Rechnen wir einmal!« fuhr er fort, »drei Sous für Brot, zwei Sous für Milch und drei Sous für Wurst bewahrten mich davor, Hungers zu sterben, und erhielten meinen Geist in einer seltsamen Helligkeit. Ich habe die wunderbarsten Wirkungen der Diät auf die Phantasie beobachtet. Meine Behausung kostete mich drei Sous im Tag, nachts verbrannte ich für drei Sous Öl; mein Zimmer hielt ich selbst in Ordnung. Ich trug nur Flanellhemden, um nicht mehr als zwei Sous im Tage für die Wäsche auszugeben. Ich heizte mit Kohlen und hatte die Ausgaben dafür so über das Jahr verteilt, daß sie mich keinen Tag mehr als zwei Sous kosteten. Ich besaß genügend Kleider, Wäsche und Schuhe für drei Jahre – und ich kleidete mich nur an, wenn ich zu bestimmten öffentlichen Vorlesungen oder in die Bibliotheken ging. Alle diese Ausgaben zusammen machten achtzehn Sous aus – es blieben mir also noch zwei Sous für unvorhergesehene Dinge. Ich erinnere mich nicht, während der ganzen langen Arbeitszeit auf dem Pont des Arts Brückenzoll gezahlt noch Trinkwasser gekauft zu haben: das holte ich mir morgens am Brunnen auf der Place Saint-Michel, Ecke der Rue des Grès. Oh, ich trug meine Armut mit Würde. Ein Mensch, der eine schöne Zukunft vor sich fühlt, geht durch das Leben des Elends wie ein Unschuldiger zur Hinrichtung: ohne sich zu schämen. Ich wollte nicht an eine Krankheit denken. Wie Aquilina aber sah ich der Möglichkeit des Spitals furchtlos ins Auge. Ich habe übrigens nicht einen Augenblick an meiner guten Gesundheit gezweifelt. Schließlich darf der Arme sich doch erst niederlegen, wenn er stirbt.

Ich schnitt mir die Haare selber bis zu dem Augenblick, da ein Engel der Liebe und Güte – aber ich will nicht vorgreifen. Du, mein lieber Freund, sollst nur wissen, daß ich, weil ich keine Geliebte hatte, mit einem großen Gedanken, einem Traum, einer Lüge lebte, an die wir ja alle mehr oder minder glauben. Heute lache ich über mich, über dieses heilige erhabene Ich, das nicht mehr ist.

Daß ich unsere Gesellschaft, die Welt, unsere Sitten und Bräuche aus der Nähe gesehen habe, hat mir die Gefahr meiner unschuldigen Gläubigkeit gezeigt – und auch die Überflüssigkeit meines glühenden Arbeitens. Für den Ehrgeizigen sind alle Vorräte unnötig; das Gepäck dessen, der das Glück verfolgt, muß so leicht als möglich sein. Der Fehler der bedeutenden Menschen ist, daß sie ihre jungen Jahre damit vertun, sich der Frauengunst würdig zu erweisen. Indessen die armen Kerle Kräfte und Wissen aufsparen, um einmal ohne Anstrengung die Last einer Macht, die stets vor ihnen flieht, tragen zu können, kommen und gehen die Intriganten, die reich an Worten, aber arm an Gedanken sind, setzen die Dummköpfe in Erstaunen und erwerben sich das Vertrauen der Halb-Dummen: die einen mühen sich, die andern schreiten vorwärts, die einen sind frech, die andern bescheiden. Der Mann von Genie verbirgt seinen Stolz, der Intrigant trägt den seinen zur Schau – so muß der notwendigerweise an sein Ziel kommen. Die Mächtigen haben es so nötig, an gemachte Verdienste und sich aufdrängende Talente zu glauben. Nur ein ganz kindlicher Mensch, ein Gelehrter, kann darauf hoffen, daß seine Verdienste belohnt werden würden.

Ich will gewiß nicht Gemeinplätze von der Tugend noch das tausendmal gesungene Hohe Lied vom verkannten Genie hersagen: Ich möchte logisch den Grund deduzieren, warum mittelmäßige Leute so oft Erfolg haben. Es ist leider so: die Arbeit selber ist so voll mütterlicher Güte, daß es vielleicht ein Verbrechen ist, andere Genugtuungen zu fordern als die reinen, sanften Freuden, mit denen sie ihre Kinder nährt. Ich erinnere mich, wie ich zuweilen mein Brot in die Milch tauchte, tief atmend bei meinem Fenster saß und meine Blicke über die Landschaft der Dächer schweifen ließ, die braun, grau, rot, mit Schiefer und Ziegeln, mit gelben und grünen Moosen bedeckt vor mir lagen. Erst erschien mir dieser Anblick einförmig, bald aber entdeckte ich seine eigentümlichen Schönheiten. Abends drangen aus schlechtgeschlossenen Fensterladen lichte Streifen und belebten das tiefe Dunkel dieses seltsamen Landes. Dann wieder warfen die bleichen Laternen von unten ihre gelblichen Lichter durch den Nebel herauf und zeichneten schwach das Auf und Nieder der aneinander gedrängten Dächer in die nächtlichen Gassen. Manchmal erschienen auch sonderbare Gesichter inmitten dieser trüben Einöde: zwischen den Blumen eines luftigen Gärtleins erblickte ich das scharfe eckige Profil einer alten Frau, die ihre Kapuzinerkresse begoß, oder ich sah im Rahmen eines morschen Dachfensters ein junges Mädchen, das sich unbeobachtet glaubte, bei der Toilette; ich konnte aber nur eine schöne Stirn und langes Haar, von einem hübschen Arm hochgehoben, erblicken. In den Dachrinnen bewunderte ich allerlei Eintagswachstum, arme Pflanzen, die bald ein Unwetter davontrug. Ich studierte die Moose, deren Farben der Regen auffrischte und die in der Sonne sich in trockenen braunen Samt, mit tanzenden Reflexen darauf, verwandelten. Endlich wurden die schönen flüchtigen Wirkungen des Tageslichtes, die Traurigkeiten des Nebels, das jähe Aufblitzen der Sonne, das magische Schweigen der Nacht, die Geheimnisse der Morgenröte, der Rauch jedes einzelnen Kamins und alle die kleinen Wechselfälle dieses merkwürdigen Stückes Natur mir vertraut und meine Unterhaltungen. Ich liebte mein Gefängnis und blieb willig darin. Diese Savannen von Paris, die Ebenen der Dächer, zwischen denen sich die volkreichen Abgründe auftaten, stimmten zu meiner Seele und waren wie meine Gedanken. Es macht müde, plötzlich die Welt wiederzufinden, wenn man von himmelnahen Höhen und aus der Entrückung des Geistes niedersteigen muß; dort habe ich die nackte Armut der Klöster völlig verstehen gelernt.«

*

»Als ich ganz entschlossen war, meinem neuen Lebensplane zu folgen, suchte ich in allen Vierteln von Paris nach einer Unterkunft. Eines Abends kam ich von der Estrapade auf dem Heimwege durch die Rue des Cordiers. An der Ecke der Rue de Cluny sah ich ein kleines Mädchen von etwa vierzehn Jahren, das mit einer Kameradin Federball spielte: ihr Lachen und ihre Spitzbübereien erheiterten die Nachbarn. Es war ein schöner warmer Septemberabend. Vor allen Türen saßen Frauen wie an einem Feiertag in einer Provinzstadt, miteinander plaudernd. Ich beobachtete zuerst das Mädchen: sein Gesicht hatte einen wunderbaren Ausdruck und der Körper stand wie für einen Maler da.

Es war ein reizender Anblick. Ich forschte nach der Ursache solcher guten alten Geselligkeit mitten in Paris: ich sah, daß ich in einer Sackgasse war, die wenig begangen werden mochte. Da fiel mir ein, daß Jean-Jacques Rousseau in dieser Gegend gewohnt habe: ich fand das Hotel Saint-Quentin. Die Verwahrlosung, in der es sich befand, ließ mich hoffen, ein billiges Quartier zu bekommen – und so wollte ich es mir ansehen. Ich betrat ein Zimmer zu ebener Erde; ich erblickte die klassischen Kupferleuchter, ordentlich rundum mit Kerzen besteckt – und ich war betroffen von der Sauberkeit in diesem Raum, der für gewöhnlich in den andern Hotels recht übel gehalten ist. Ich fand ihn wie ein gemaltes Genrebild; das blaue Bett, die Gerätschaften und die Möbel deuteten auf einen Menschen hin, der auf das Äußere hält. Die Hotelwirtin, eine Frau um die Vierzig, mit Zügen, die vom Unglück redeten und mit vom vielen Weinen glanzlos gewordenen Augen, erhob sich und kam auf mich zu: ich sagte ihr demütig, was ich für die Miete ausgeben könne. Ohne ein Zeichen von Verwunderung suchte sie einen Schlüssel unter all den andern und führte mich zu den Mansarden hinauf. Sie schloß mir ein Zimmer auf, das die Aussicht auf die Dächer und die Höfe der Nachbarhäuser hatte, aus deren Fenstern lange Stangen, an denen Wäsche hing, hervorstanden. Diese Mansarde mit ihren schmutzigen gelben Wänden war schrecklich – aber in all ihrem Elendgeruch schien sie wie geschaffen für einen Gelehrten.

Die Zimmerdecke stieg schräg ab und durch die Fugen der Ziegel sah man den Himmel. Das Zimmer hatte Platz für ein Bett, einen Tisch und ein paar Sessel – unter den spitzen Dachwinkel konnte ich mein Klavier stellen. Die arme Frau hatte nicht Geld genug, um diesen den venezianischen Bleikammern ebenbürtigen Käfig zu möblieren – so war er bis jetzt nicht vermietet gewesen. Da ich bei der Versteigerung des Mobiliars die Dinge, die für mich irgendwie persönlichere Bedeutung hatten, mir hatte bewahren können, war ich bald mit ihr einig und zog am folgenden Tage bei ihr ein.

In diesem luftigen Grabe habe ich an die drei Jahre gelebt, habe Tag und Nacht ohne Unterlaß und mit solcher Lust gearbeitet, daß mich das Studium die schönste Aufgabe und die glücklichste Lösung des Menschenlebens dünkte. Die Stille und das Schweigen, das dem Gelehrten so nötig ist, sind sanft und betäubend wie die Liebe. Die Denkarbeit, das Durchforschen der Ideen und die stillen Betrachtungen der Wissenschaft beschenken uns mit unsagbaren Köstlichkeiten, unbeschreiblich wie alle Dinge des Geistes, dessen Erscheinungen unseren äußeren Sinnen nicht wahrnehmbar sind. So müssen wir die Geheimnisse des Geistes immer mit Gleichnissen aus der materiellen Welt erläutern. Die Lust, in einem klaren See, umgeben von Felsen, Blumen und Wäldern, zu schwimmen, einsam und von lauer Brise gestreichelt, vermöchte den Unwissenden ein schwaches Bild von dem Glücke zu geben, das ich empfand, wenn meine Seele in den Hellen fremden Lichtes badete, wenn ich die wirren, furchtbaren Stimmen der Inspiration vernahm und durch mein bebendes Hirn aus unbekannten Quellen die Bilder rieselten. Eine Idee sehen, die aus dem Felde der menschlichen Abstraktion emporkeimt, sich wie die Sonne erhebt, und schöner noch, wie ein Kind wächst, die Reifezeit erreicht und wirklich männlich wird – das ist eine Freude, die allen irdischen Freuden überlegen ist – oder vielmehr das ist göttliche Lust.

Das Studium verleiht allem, das uns umgibt, eine Art Magie. Der elende Schreibtisch mit seiner braunen Lederdecke, an dem ich schrieb, mein Klavier, mein Bett, mein Lehnstuhl, das krause Durcheinander der Papiertapeten, meine Möbel – alle die Dinge um mich waren beseelt und wurden mir zu schlichten Freunden, zu schweigsamen Helfern für meine Zukunft. Wie oft habe ich sie angeschaut und ihnen meine ganze Seele aufgetan! Oft auch, wenn meine Blicke über den abbröckelnden Bewurf der Decke wanderten, fiel mir eine neue Entwicklungsmöglichkeit eines Gedankens ein, ich fand einen überwältigenden Beweis meines Systems – oder Worte, die mir die glücklichsten schienen, um fast unübersetzbare Gedanken auszusprechen. Da ich gezwungen war, die Gegenstände, die mich umgaben, zu betrachten, entdeckte ich eines jeden Gesicht und Charakter: oftmals sprachen sie zu mir. Wenn über die Dächer hin die untergehende Sonne durch mein enges Fenster einen verstohlenen Schein warf, wurden sie bunt, erbleichten, blitzten auf, wurden traurig oder fröhlich – und überraschten mich immer wieder mit neuen Veränderungen ihres Lebens.

Diese geringfügigen Geschehnisse im Leben des Einsamen, die den zerstreuten Weltmenschen entgehen, sind die Tröstungen der Gefangenen. Ich war der Gefangene einer Idee, eingesperrt in ein System – aber mir half die Aussicht auf ein ruhmreiches Leben. So oft ich eine Schwierigkeit überwunden hatte, küßte ich im Traume die zarten Hände der reichen vornehmen Dame mit den schönen Augen, die mir eines Tages das Haar streicheln und mir voll Zärtlichkeit sagen würde: ›Du hast viel gelitten, mein armes Kind!‹

Ich hatte zwei große Werke zu schreiben unternommen. Eine Komödie sollte mir schnell einen Namen und ein Vermögen schaffen und mir den Zutritt zu der Welt auftun, in der ich wieder erscheinen und die Hoheitsrechte des Genies ausüben wollte. Ihr alle habt dann in diesem Meisterwerke nur den ersten Fehlgriff des jungen Menschen, der eben die Schule verließ, und eine kindische Nichtigkeit gesehen. Euer Spott hat den üppigen Illusionen die Flügel gestutzt: sie sind seither nicht mehr nachgewachsen.

Nur du, mein lieber Emile, hast die tiefe Klage, die die andern in meinem Herzen wachriefen, gestillt. Du allein hast meine ›Theorie des Willens‹ bewundert, hast meine lange Arbeit gewürdigt, für die ich die orientalischen Sprachen, Anatomie und Physiologie studiert habe und der ich den größten Teil meiner Zeit gewidmet habe. Wenn mich nicht alles täuscht, muß dieses Werk die Arbeiten von Mesmer, Lavater, Gall und Bichat vollenden und dem menschlichen Wissen einen neuen Weg auftun. In diesem Opfer aller meiner Tage war mein schönes Leben beschlossen, in dieser Seidenraupenarbeit, die der Welt unbekannt bleiben wird, und deren einzige Genugtuung die Arbeit selber war. Von der Zeit an, da ich zur Vernunft gekommen war, bis zu dem Tage, an dem ich meine ›Theorie‹ beendet hatte, habe ich beobachtet, gelernt, geschrieben, habe ohne Unterlaß gelesen – mein ganzes Leben ist ein langes Pensum gewesen.

Ich war voll weichlicher Liebe zu orientalischer Trägheit, war verliebt in meine Träume und voll Sinnlichkeit – und habe immerzu gearbeitet und es verschmäht, von den Lockungen des Pariser Lebens zu kosten. Ich war ein Feinschmecker – und lebte aufs kärgste. Ich liebte Wanderungen und Seereisen, sehnte mich danach, vielerlei Länder zu sehen – ich hatte wie ein Kind meine Freude daran, Kiesel über das Wasser hintanzen zu lassen – und ging hin, um schweigend den Professoren in den öffentlichen Vorträgen der Bibliothek und des Museums zuzuhören. Ich schlief auf meiner Matratze einsam wie ein Benediktinermönch und die Frau blieb meine stets unerreichbare Sehnsucht. So war mein Leben ein grausamer Widerspruch und eine unablässige Lüge. Aber so sind die Menschen!

Zuweilen wachten meine natürlichen Wünsche wie ein Brand auf, der lang geglommen hat. In der Fata Morgana einer Fiebererscheinung sah ich mich dann, mich, der ich mich nach allen Frauen sehnte und keine besaß, der ich arm war und in einer Mansarde wohnte, umgeben von den entzückendsten Geliebten. Hingelehnt auf die schwellenden Kissen einer prächtigen Equipage fuhr ich durch die Straßen von Paris; alle Laster hetzten mich, ich war untergetaucht in Ausschweifung und Begehren, ich war trunken, ohne genossen zu haben, wie der heilige Antonius in seiner Versuchung. Glücklicherweise löschte der Schlaf die verzehrenden Visionen aus; am andern Morgen rief mich lächelnd die Wissenschaft – und ich blieb ihr treu.

Ich stellte mir vor, daß die sogenannten tugendhaften Frauen oft die Beute solcher Wirbelstürme der Tollheit, der Sehnsucht und der Leidenschaften sein müssen, die sich in uns, ohne daß wir dagegen etwas vermögen, erheben. Freilich haben solche Träume auch ihren Reiz: sie sind wie Gespräche, die man an Winterabenden am Kamin führt und in denen man durch China reist. Aber was wird aus der Tugend während dieser köstlichen Reisen, da in den Gedanken alle Hemmungen verschwunden sind?«

*

»Während der zehn ersten Monate meiner Zurückgezogenheit führte ich das arme einsame Leben, wie ich es dir beschrieben habe. Im Morgengrauen ging ich, ohne gesehen zu werden, mir die Vorräte für den Tag einzukaufen. Ich brachte mein Zimmer selbst in Ordnung und war Diener und Herr zugleich. Ich führte meine Diogenesexistenz mit einem unglaublichen Stolz. Indessen hatten aber die Wirtin und ihre Tochter meine Sitten und Gewohnheiten ausgekundschaftet, meine Person erforscht und, vielleicht weil sie selber sehr unglücklich waren, mein Elend verstanden. So spann sich die unausweichliche Verbindung zwischen ihnen und mir an: Pauline, jenes entzückende kleine Geschöpf, dessen kindliche geheime Anmut mich eigentlich hierhergelockt hatte, erwies mir einige Dienste, die ich unmöglich zurückweisen konnte. Alle Unglücklichen sind Geschwister, sie sprechen dieselbe Sprache, sind voll der Großmut derer, die nichts besitzen, gehen verschwenderisch mit ihrem Gefühl um und zahlen mit ihrer Zeit und ihrer Person. Unmerklich richtete sich Pauline bei mir ein, wollte mir dienen und ihre Mutter verbot es ihr nicht. Ich entdeckte die Mutter dabei, wie sie meine Wäsche in Ordnung brachte und rot wurde, als sie bei dieser menschenfreundlichen Beschäftigung ertappt wurde. Gegen meinen Willen wurde ich ihr Schützling und nahm ihre Dienste an.

Um diese sonderbare Zuneigung zu verstehen, tut es not, die Entrückung der Arbeit zu kennen, die Tyrannei der Ideen und den instinktiven Widerstand, den der Mensch, der nur für seine Gedanken lebt, gegen die kleinen Dinge des materiellen Lebens empfindet. Ich konnte der zarten Aufmerksamkeit nicht widerstehen, mit der Pauline mir unhörbaren Schrittes mein karges Mahl zutrug, wenn sie bemerkte, daß ich seit sieben oder acht Stunden nichts mehr zu mir genommen hatte. Mit der Anmut des Weibes und der Unschuld der Kindheit lächelte sie mir zu und machte ein Zeichen, um mir zu sagen, daß ich sie nicht sehen solle. Sie war Ariel, glitt sylphengleich unter mein Dach und sah meine Bedürfnisse im voraus.

Eines Abends erzählte mir Pauline in ergreifender Kindlichkeit ihre Geschichte. Ihr Vater war in der kaiserlichen Garde bei den Grenadieren zu Pferde Eskadronschef gewesen. Beim Übergang über die Beresina war er von den Kosaken gefangen genommen worden. Als später Napoleon den Austausch der Gefangenen vorschlug, ließen ihn die russischen Behörden vergeblich in Sibirien suchen: nach Aussage der andern Gefangenen war er in der Absicht, nach Indien zu entkommen, entflohen. Seit dieser Zeit hatte Frau Gaudin, meine Wirtin, keinerlei Nachricht mehr von ihrem Gatten erhalten können. Dann kam der Zusammenbruch von 1814 und 1815. Sie war allein, ohne Vermögen und ohne Hilfe. Da entschloß sie sich, ein Hotel garni zu übernehmen, um ihre Tochter ernähren zu können. Sie hoffte noch immer, ihren Gatten wiederzusehen. Ihr schmerzlichster Kummer war, daß Pauline keine gute Erziehung erhalten könne, ihre Pauline, das Patenkind der Prinzessin Borghese, der die schöne Zukunft, die ihr ihre kaiserliche Beschützerin verheißen hatte, versagt bleiben sollte. Als mir Frau Gaudin diesen bittern Schmerz anvertraute, sagte sie mir mit herzzerreißendem Tone: ›Ich gäbe gern den Papierfetzen, durch den Gaudin Baron des Kaiserreiches geworden ist, und das Witschnauer Gut her, wenn ich dafür Pauline in Saint-Denis erziehen lassen könnte.‹

Plötzlich durchfuhr mich ein Gedanke: um mich für die Fürsorge, die die beiden Frauen an mich verschwendeten, erkenntlich zu zeigen, wollte ich mich anbieten, die Erziehung Paulinens zu vollenden. Die Schlichtheit, mit der die beiden Frauen meinen Vorschlag annahmen, glich der Aufrichtigkeit, die ihn mir diktiert hatte. Nun gab es für mich Stunden der Erholung: die Kleine hatte die glücklichsten Anlagen und lernte so leicht, daß sie mich im Klavierspiele bald überflügelt hatte. Sie gewöhnte sich daran, in meiner Gegenwart laut zu denken, und enthüllte so tausend zarte Eigenschaften ihres Herzens, das sich dem Leben auftat, wie sich ein Blumenkelch mählich in der Sonne entfaltet. Sie hörte mir aufmerksam und freudig zu und ihre schwarzen samtigen Augen, die immer zu lächeln schienen, hafteten dabei auf mir. Sie wiederholte ihre Aufgaben in sanftem, liebkosendem Tone und äußerte eine kindliche Freude, wenn ich mit ihr zufrieden war.

Ihre Mutter wurde jeden Tag unruhiger, da sie ein junges Mädchen vor allen Gefahren zu behüten hatte, das immer mehr von den Versprechungen seiner Kindheit zu verwirklichen begann: sie sah es daher mit Vergnügen, wenn sich die Kleine den ganzen Tag lang einschloß, um zu lernen. Mein Klavier war das einzige, das sie zur Verfügung hatte, und sie benützte meine Abwesenheit, um zu üben.

Wenn ich heimkehrte, fand ich Pauline in ihrer bescheidenen Kleidung in meinem Zimmer. Bei der geringsten Bewegung aber zeichnete sich ihre anziehende, geschmeidige Gestalt unter dem groben Stoff ihres Kleides ab. Wie die Heldin des Märchens von der Eselshaut trug sie an ihren winzigen Füßen plumpe Schuhe. Aber alle die Köstlichkeiten, der Reichtum und Überfluß ihrer Mädchenschönheit war für mich wie verloren. Ich hatte mir befohlen, in Pauline nur eine Schwester zu sehen; ich hätte davor geschaudert, das Vertrauen ihrer Mutter zu täuschen. Ich bewunderte das reizende Mädchen wie ein Bild, wie das Bildnis einer toten Geliebten; sie war mein Kind, meine Statue. Als ein neuer Pygmalion wollte ich aus einer Jungfrau, die lebte, Farben hatte, empfand, sprach, einen Marmor machen. Ich war sehr streng mit ihr, aber je mehr ich sie meine Lehrerdespotie fühlen ließ, um so sanfter und unterwürfiger wurde sie. Edle Gefühle ermutigten mich zu meiner Zurückhaltung, aber auch der Erwägungen eines Staatsanwaltes ermangelte ich nicht. Ich habe kein Verständnis für Redlichkeit in Gelddingen ohne die Redlichkeit der Gedanken.

Eine Frau zu betrügen oder Bankerott zu machen, ist für mich immer dieselbe Sache gewesen. Ein junges Mädchen zu lieben oder sich von ihr lieben zu lassen, stellt einen richtigen Vertrag dar, dessen Bedingungen eingehalten werden müssen. Wir dürfen wohl eine Frau, die sich verkauft, verlassen, nicht aber ein junges Mädchen, das sich verschenkt; denn es kennt die Tragweite seines Opfers nicht. Ich hätte also Pauline geheiratet – und das wäre ein Wahnsinn gewesen, denn es hätte bedeutet, eine sanfte jungfräuliche Seele dem gräßlichsten Unglück preiszugeben. Meine Armut redete ihre selbstsüchtige Sprache und schob immer wieder ihre eiserne Hand zwischen mich und dieses liebe Geschöpf. Ich gestehe es übrigens zu meiner Schande: ich verstehe Liebe im Elend nicht. Vielleicht rührt diese Verderbtheit in mir von der menschlichen Krankheit her, die wir Zivilisation nennen. Eine Frau, und sei sie anziehend wie die schöne Helena oder Galathea, hat nicht die geringste Macht mehr über meine Sinne, wenn sie arm und schlecht gekleidet ist. Es lebe die Liebe in Seide gekleidet, auf Kaschmirdecken ruhend, umgeben von den Wundern des Luxus, die sie so schön schmücken, weil sie selber vielleicht ein Luxus ist! Ich liebe es, in meiner Begierde prunkvolle Kleider zu zerknittern, Blumen zu zerdrücken und mit zerstörerischer Hand in die kunstvollen Bauwerke einer duftigen Frisur einzudringen. Brennende Augen, hinter einem Spitzenschleier verborgen, durch den die Blicke dringen wie die Flammen durch den Kanonenrauch, haben für mich eine phantastische Anziehungskraft. Meine Liebe will seidene Strickleitern, die ich schweigend in einer Winternacht erklettere. Oh, was für ein Vergnügen es ist, schneebedeckt in ein durchduftetes mit Seide bespanntes Zimmer zu kommen und hier eine Frau zu finden, die auch Schnee von sich schüttelt – denn welchen anderen Namen könnte man den Hüllen von wollüstigen Musselinen geben, in denen sie sich unbestimmt wie ein Engel in seiner Wolke abzeichnet – und die sie bald verlassen wird. Mein Glück muß bedacht sein, meine Sicherheit voll Wagnis. Ich möchte die geheimnisvolle Frau wiedersehen, die inmitten der großen Welt lebt, die umgeben von Huldigungen tugendhaft ist, die in Spitzen gehüllt geht, von Diamanten funkelt, die einer ganzen Stadt befiehlt, die so hoch steht und so stolz ist, daß keiner seine Wünsche auf sie zu richten wagt. Inmitten ihres Hofes soll sie mir heimlich einen Blick zuwerfen, der all ihre Verstellung Lügen straft und mir verheißt, daß sie die ganze Welt und alle Menschen mir zum Opfer bringen wolle. Ich habe mich hundertmal lächerlich gefunden, wenn ich ein paar Ellen Spitzen, Samt oder feinen Batist, die Kunststücke des Friseurs, Wachskerzen, einen schönen Wagen, einen Titel, Wappen und Kronen, vom Glasmaler gemalt oder vom Goldschmied verfertigt, kurz, alles das liebte, was künstlich und nicht ganz Frau an der Frau ist. Ich habe mich über mich lustig gemacht; ich habe nachgedacht, es war alles vergeblich. Nur eine aristokratische Frau entzückt mich, mit ihrem feinen Lächeln, der Vornehmheit ihrer Manieren und ihrer Hochachtung vor sich selber. Indem sie zwischen sich und der Welt eine Schranke errichtet, schmeichelt sie allen meinen Eitelkeiten, die die Hälfte der Liebe sind. Dadurch, daß alle mich beneiden, hat das Glück für mich erst seinen Reiz. Wenn meine Geliebte nichts von dem, was andere Frauen tun, tut, wenn sie nicht geht und lebt wie die andern, wenn sie sich in einen Mantel hüllt, den andere nicht haben können, und einzig ihre eigenen Parfüme um sie sind, scheint sie mir viel mehr mein eigen zu sein: je mehr sie sich selbst mit dem, was an der Liebe irdisch ist, von der Erde entfernt, um so schöner wird sie in meinen Augen. Zum Glück für mich haben wir in Frankreich seit zwanzig Jahren keine Königin mehr, sonst hätte ich die Königin geliebt. Um die Lebensformen einer Fürstin haben zu können, muß eine Frau sehr reich sein. Was konnte mir also Pauline neben all meinen romanhaften Phantasien sein? Konnte sie mir Nächte verkaufen, die das Leben kosten, eine Liebe, die tötet und alles Menschliche aufs Spiel setzt? Man stirbt schwerlich für arme Mädchen, die sich einem schenken. Ich habe mich niemals von diesen phantastischen Empfindungen und Träumereien befreien können. Ich bin für die unmögliche Liebe geboren; der Zufall aber hat es gewollt, daß ich über meine Wünsche hinaus eine zärtliche Dienerin gefunden habe. Wie oft hätte ich die winzigen Füße Paulines in Seide hüllen mögen, wie gerne hätte ich ihre Gestalt, die schmal wie eine junge Pappel war, in ein Kleid von Gaze geschlossen, über ihre Brüste einen leichten Schleier gelegt, sie über die Teppiche ihres eigenen Hauses geleitet und wäre mit ihr in einem eleganten Wagen gefahren. Dann hätte ich sie anbeten können. Ich hätte ihr ein Selbstbewußtsein gegeben, das sie nicht besaß, aber ich hätte ihr damit alle ihre Vorzüge, ihre kindliche Grazie, ihre natürliche Anmut und ihr unschuldiges Lächeln genommen und sie dafür in den Styx unserer Laster getaucht; ich hätte ihr Herz unverwundbar gemacht, sie unsere Verbrechen kennen gelehrt und aus ihr eine der schauerlichen Puppen unserer Salons gemacht: ein gebrechliches Wesen, das sich morgens zu Bett legt, um abends im Morgenrote der Kerzen erst wieder aufzuleben. Pauline war ganz Gefühl und Frische; ich aber wollte sie kühl und damenhaft. In den letzten Tagen meines Wahnsinns hat mir die Erinnerung Pauline so gezeigt, wie sie uns die Bilder unserer Kindheit malt. Oft hat mich Zärtlichkeit erfüllt, wenn ich köstlicher Augenblicke gedachte: ich sah das anbetungswürdige Mädchen bei meinem Tische sitzen und nähen, friedlich, still, gesammelt im schwachen Lichte des Tages, das in meine Höhle herabstieg und zarte silberne Lichter auf ihr schönes schwarzes Haar zeichnete. Ich hörte ihr junges Lachen wieder, hörte ihre wohlklingende Stimme anmutige Kantilenen singen, die sie ohne Mühe erfand. Oft war Pauline beim Musizieren wie entrückt, ihr Gesicht glich völlig dem edlen Kopfe, in dem Carlo Dolci hatte Italien darstellen wollen. Inmitten der Ausschweifungen zeigte mein grausames Gedächtnis mir dieses Mädchen als ein Bild der Tugend. Aber überlassen wir das arme Kind seinem Geschicke. Wie unglücklich sie auch sein mag, ich habe ihr Gräßliches erspart, indem ich sie vor der Hölle meines Lebens bewahrt habe.«

*

»Bis zum letzten Winter war mein Leben das stille und arbeitsreiche, von dem ich dir ein schwaches Bild zu geben versucht habe. In den ersten Dezembertagen des Jahres 1829 begegnete ich Rastignac, der trotz des elenden Zustandes meiner Kleider meinen Arm nahm und sich mit einem wirklich brüderlichen Interesse nach meinen Verhältnissen erkundigte. Von seiner freundlichen Art gefangen, erzählte ich ihm kurz von meinem Leben und meinen Hoffnungen: er begann zu lachen und behandelte mich nun wie ein Genie und wie einen Idioten zugleich. Seine hochstaplerische Gascognerart, seine Weitläufigkeit und seine Lebemannsklugheit übten auf mich eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Rastignac bewies mir, daß ich unbekannt im Spital verrecken werde, er mit meinem Leichenbegängnis gehen und mit ansehen werde, wie ich ins Armengrab kommen würde. Er sprach mir von Charlatanerie; mit dem Schwung, der ihn so verführerisch macht, stellte er mir alle genialen Menschen als Charlatane dar. Er erklärte mir, daß ich einen Sinn zu wenig hätte, was meine Todesursache sein müßte, wenn ich weiter allein in der Rue des Cordiers bliebe. Nach seiner Meinung müßte ich in die Gesellschaft gehen und die Leute an meinen Namen gewöhnen, und zwar ohne das armselige ›Herr‹ davor, das einen großen Mann schon zu seinen Lebzeiten nicht mehr kleidet.

»Die Dummköpfe nennen dieses Geschäft Intrigieren,« sagte er, »und die moralischen Leute haben dafür das Wort: Verschwenderleben, aber wir wollen uns nicht bei den Leuten aufhalten und lieber nach den Ergebnissen fragen. Du arbeitest – also wirst du nie etwas erreichen! Ich bin zu allem fähig und zu nichts gut genug, ich bin faul wie ein Hummer – und ich werde alles erreichen. Ich mache mich breit, ich schiebe mich vorwärts, man macht mir Platz. Ich prahle und man glaubt mir. Ich mache Schulden, sie werden bezahlt. Mein Lieber, die Verschwendung ist ein politisches System. Das Leben eines Menschen, dessen Beruf es ist, Geld auszugeben, wird oft zu einer Spekulation: er plaziert seine Kapitalien in Freundschaften, in Vergnügungen, in Protektionen, in Bekanntschaften. Ein Geschäftsmann dagegen wird keine Million riskieren: Zwanzig Jahre lang schläft er nicht, trinkt er nicht, unterhält er sich nicht; er brütet über seiner Million und läßt sie durch ganz Europa traben. Er langweilt sich, er liefert sich allen Dämonen aus, die die Menschen erfunden haben – und zuletzt kommt vielleicht, wie ich das schon erlebt habe, eine Liquidation und er bleibt ohne einen Sou, ohne einen Namen und ohne einen Freund. Der Verschwender unterhält sich, indem er lebt und seine Pferde laufen läßt. Wenn er durch einen Zufall sein Geld verliert, hat er die Möglichkeit, zum Oberschatzmeister ernannt zu werden, sich gut zu verheiraten oder einem Minister oder einer Gesandtschaft attachiert zu werden. Er hat noch Freunde, einen Ruf und stets Geld. Er kennt die Triebfedern der Gesellschaft und weiß sie zu seinem Vorteile zu handhaben. Wenn das System nicht logisch ist, will ich ein Narr sein! Darin liegt doch die Moral der Komödie, die die Gesellschaft alle Tage spielt. Dein Werk ist beendet,« fuhr er nach einer langen Pause fort. »Du hast eine ungeheure Begabung. Du bist jetzt an dem Punkt angelangt, an dem ich begonnen habe; jetzt mußt du dir selber dienen, dir Erfolg schaffen, das ist das Sicherste. Du mußt also Verbindungen mit den Cliquen anknüpfen und ihre Wortführer für dich gewinnen; ich werde die halbe Arbeit für deinen Ruhm übernehmen – ich werde der Juwelier sein, der die Diamanten in deiner Krone gefaßt hat. Du sollst morgen abend hier sein; wir wollen den Anfang machen. Ich werde dich in einem Hause einführen, wo ganz Paris verkehrt, unser Paris der Lebemänner, der Millionäre, der Berühmtheiten und der Leute, deren Worte Geld bedeuten. Wenn die sich heute eines Buches angenommen haben, wird es zum Modebuch: wenn es wirklich gut ist, haben sie, ohne es zu wissen, dem Genie den Weg bereitet. Wenn du Verstand hast, mein Kind, wirst du dir mit deiner ›Theorie‹ ein Vermögen machen, indem du die Theorie des Vermögens besser begreifen lernst. Morgen abend wirst du die schöne Feodora, die gefeiertste Frau von Paris, sehen.«

»Ich habe von ihr niemals reden gehört …«

Rastignac erwiderte lachend: »Du bist ein Kaffer. Feodora nicht zu kennen! Das ist eine Frau, die ihrem künftigen Gatten gegen achtzigtausend Franken Rente in die Ehe bringt, die aber keiner zur Frau will oder die keinen zum Mann will! Sie ist eine Art weiblichen Problems, eine Pariserin, die halb Russin ist, eine Russin, die halb Pariserin ist. Angesichts dieser schönsten und anmutigsten Frau von Paris entstehen tausend romantische Dichtungen, auch wenn sie dann nie ein Buch werden. Du bist nicht nur ein Kaffer, du bist das Zwischenglied zwischen einem Kaffer und einem Tier … Adieu, also auf morgen!«

Er machte eine Wendung und verschwand, ohne meine Antwort abzuwarten, da er nicht annehmen konnte, daß ein vernünftiger Mensch sich weigern könne, Feodora vorgestellt zu werden. Ich kann nicht ausdrücken, wie faszinierend dieser Name auf mich wirkte … Feodora … Dieser Name verfolgte mich wie ein böser Gedanke, mit dem man nicht zurechtkommen kann. Eine Stimme in mir sagte: ›Du wirst zu Feodora gehen!‹, ich schlug mich mit dieser Stimme herum, ich schrie ihr zu, daß sie lüge, aber sie machte alle meine Einwände mit dem Namen Feodora zunichte.

Dieser Name und diese Frau wurden für mich zum Symbol aller meiner Wünsche und der Aufgabe meines Lebens. Der Name lockte mich mit allen lügnerischen Reizen der großen Welt und ließ vor mir die Feste des vornehmen Paris und alles Flitterwerk der Eitelkeit aufglänzen. Die Frau erschien mir erfüllt von allen Problemen der Leidenschaft, die mich toll machten. Vielleicht war es gar nicht die Frau noch der Name, sondern alle meine Begierden richteten sich von neuem in meiner Seele auf, um mich in Versuchung zu führen. War die Gräfin Feodora, die reich war, keinen Liebhaber hatte und allen Verführungen von Paris widerstand, nicht die Inkarnation meiner Hoffnungen und Visionen? Ich erschuf mir ein Wunderbild einer Frau, ich zeichnete sie in Gedanken und träumte von ihr. Ich schlief die Nacht nicht; ich war ihr Geliebter, ich durchlebte in wenigen Stunden ein ganzes Leben der Liebe und genoß alle ihre wollüstig flammenden Wunder. Am andern Morgen war ich unfähig, die lange Qual des Wartens bis zum Abend zu ertragen – ich ging, mir einen Roman aus der Leihbibliothek zu holen, und verbrachte den Tag lesend; so machte ich es mir unmöglich, zu denken oder die Zeit zu berechnen. Während des Lesens klang der Name Feodora wie ein Ton aus der Ferne, der nicht stört und eben noch hörbar ist, in mir auf. Zum Glück besaß ich noch einen schwarzen Anzug und eine weiße Weste, die beide ganz anständig waren. Von meinem ganzen Gelde waren mir etwa noch dreißig Franken geblieben, die ich unter mein Kleiderzeug und in meinen Laden verstreut hatte, um zwischen einem Hundert-Sousstück und meinen Phantasien die dornige Hecke des Suchens und die Zufälle einer Irrfahrt in meinem Zimmer aufzurichten. Da ich mich angezogen hatte, durchforschte ich einen Ozean von Papieren nach meinem Schatze. Das wenige Geld, das ich noch hatte, mag dir eine Vorstellung geben, was meine Handschuhe und der Wagen mir für Reichtümer davontrugen: sie verschlangen das Brot eines ganzen Monats. Aber für unser Vergnügen fehlt es uns ja niemals an Geld, nur um den Preis der nützlichen und notwendigen Dinge feilschen wir. Wir vertun unbedenklich Goldstücke an eine Tänzerin – und wir halten einen Handwerker hin, dessen Familie hungrig auf die Bezahlung einer Rechnung wartet. Wie viele Leute tragen Anzüge für hundert Franken, einen Diamanten am Knaufe ihres Stockes und essen für fünfundzwanzig Sous zu Mittag. Es scheint eben, daß uns für die Befriedigung unserer Eitelkeit kein Preis zu hoch ist.

Rastignac hielt pünktlich die Verabredung ein; er lächelte über meine Verwandlung und scherzte darüber. Aber dann, auf dem Wege zur Gräfin, gab er mir hilfreiche Ratschläge über die Art, wie ich mich zu ihr stellen solle. Er schilderte sie mir geizig, eitel und mißtrauisch, aber geizig auf prunkvolle Weise, eitel voll Einfalt und gutmütig bei allem Mißtrauen: »Du weißt ja, wie es mit mir steht, weißt auch, wieviel ich bei einem Wechsel in der Liebe zu verlieren hätte. Ich habe Feodora uninteressiert und kaltblütig beobachtet, meine Bemerkungen müssen also richtig sein. Ich dachte daran, dich ihr vorzustellen und war dabei auf dein Glück bedacht. Gib acht bei allem, was du ihr sagst, sie hat ein grausames Gedächtnis! Sie ist von einer geistigen Gewandtheit, die einen Diplomaten zur Verzweiflung bringen könnte, denn sie erriete den Augenblick, in dem er die Wahrheit sagt. Unter uns gesagt, glaube ich, daß ihre Ehe vom Zaren nicht anerkannt worden ist, denn der russische Botschafter begann zu lachen, als ich ihm von ihr sprach. Er empfängt sie nicht und grüßt sie sehr flüchtig, wenn er ihr im Bois begegnet. Nichtsdestoweniger gehört sie zur Gesellschaft der Frau von Sérisy, verkehrt bei Frau von Nucingen und Frau von Restaud. In Frankreich ist ihr Ruf tadellos. Die Herzogin von Carigliano, die altväterischeste Marschallin der ganzen Bonapartistenclique, verbringt oft mit ihr den Sommer auf ihrer Besitzung. Eine Menge junger Gecken, darunter sogar der Sohn eines Pairs von Frankreich, haben ihr ihren Namen im Tausch gegen ihr Vermögen angeboten: sie hat alle sehr höflich abgewiesen. Vielleicht beginnt sie erst bei einem Grafentitel etwas zu empfinden. Du bist doch Marquis, also vorwärts, wenn sie dir gefällt! Hier hast du das, was ich Instruktionen nenne.«

Der scherzende Ton ließ mich glauben, daß Rastignac nur meine Neugierde aufstacheln wollte: indessen hatte aber meine voreilige Leidenschaft schon ihren Höhepunkt erreicht, als wir vor der blumengeschmückten Säulenhalle hielten. Da wir die breite teppichbelegte Treppe, auf der ich alle Merkmale englischen Komforts bemerkte, emporstiegen, schlug mir das Herz: ich errötete, ich strafte meine Herkunft, meine Gefühle, meinen Stolz Lügen, ich fühlte mich blöde und kleinbürgerlich. Ich kam ja aus einer Mansarde, aus drei Jahren der Armut, und verstand es noch nicht, meine Schätze über die Kleinlichkeiten des Lebens zu stellen; ich verstand die unermeßliche Macht geistiger Reichtümer noch nicht – ich wußte nicht, daß die Studien die rechte Vorbereitung für die Kämpfe in der Welt und in der Gesellschaft gewesen seien.«

*

»Ich sah eine mittelgroße, etwa zweiundzwanzigjährige Frau, ganz weiß gekleidet, von einem Kreis von Männern umgeben; sie hielt einen Fächer aus Straußenfedern in der Hand. Als sie Rastignac eintreten sah, erhob sie sich, kam uns entgegen, lächelte anmutig und machte mir mit wohlklingender Summe ein Kompliment, das zweifellos vorbereitet war: unser Freund hatte mich als einen Mann von Welt angekündigt und seine Gewandtheit und sympathische Art verschafften mir einen schmeichelhaften Empfang. Ich wurde der Gegenstand einer besonderen Aufmerksamkeit, die mich verwirrte; zum Glück hatte aber Rastignac von meiner Bescheidenheit gesprochen. Ich begegnete hier Gelehrten, Schriftstellern, ehemaligen Ministern und Pairs von Frankreich. Die Unterhaltung wurde bald nach unserm Kommen wieder fortgesetzt. Ich merkte, daß ich eine gute Meinung über mich zu rechtfertigen habe, und gewann meine Sicherheit wieder. Ich versuchte dann, wenn ich zum Reden kam, ohne einen Mißbrauch mit Worten zu treiben, in mehr oder minder scharfsinnigen, tiefen oder geistreichen Worten das Ergebnis des Gespräches zusammenzufassen. Ich erregte einiges Aufsehen. Zum tausendsten Male in seinem Leben war Rastignac Prophet gewesen. Als genug Menschen versammelt waren, daß jeder wieder seine Freiheit hatte, nahm mein Führer meinen Arm, und wir promenierten durch die Gemächer.

»Gib dir nur nicht den Anschein, allzusehr von der Gräfin entzückt zu sein, sie könnte sonst den Grund deines Besuches erraten!«

Die Salons waren mit erlesenem Geschmack eingerichtet, ich sah mit vielem Verständnis ausgewählte Bilder an den Wänden. Wie bei sehr reichen Engländern hatte ein jeder Raum seinen besonderen Charakter; ein Grundgedanke bestimmte die Harmonie zwischen den seidenen Tapeten, dem Zimmerschmuck, der Form der Möbel und dem geringsten Zierat. In einem Gemache waren die Türen mit Gobelins verhängt, die Rahmen der Stoffe, die Stehuhr und die Teppichmuster waren gotisch, die Decke bestand aus braunen geschnitzten Balken, die eigenartig und anmutig kassettiert waren, die Holztäfelung war kunstvoll gearbeitet, nichts störte den Gesamteindruck des schönen Zimmers, nicht einmal die Fenster, die bunte und kostbare Scheiben hatten. Ich war von dem Anblick eines kleinen modernen Salons überrascht, an den irgendein moderner Künstler die ganze Weisheit unserer Einrichtungskunst verschwendet hatte; hier war alles leicht, frisch und zart, ohne Übertreibung, und sparsam in der Vergoldung. Voll Liebe war hier, traumhaft wie eine deutsche Ballade, ein richtiges Versteck für eine Leidenschaft von 1827 geschaffen, durchduftet von seltenen Blumen. Nach diesem Zimmer erblickte ich einen vergoldeten Salon im Geschmacke des Jahrhunderts Ludwigs XIV., dessen Malereien einen sonderbaren aber angenehmen Gegensatz zu unserer heutigen Kunst boten.

»Du wirst hier recht gut untergebracht sein,« sagte Rastignac mit einem Lächeln leichter Ironie. »Ist das nicht verführerisch?« fuhr er fort, sich niedersetzend. Plötzlich aber sprang er auf, faßte mich an der Hand und führte mich in das Schlafzimmer, wo er mir unter einem Baldachin von Musseline und weißem Moiré ein wollüstiges, von einer Lampe schwach beleuchtetes Bett zeigte, ein Bett, würdig einer jungen Fee, die mit einem Genius vermählt ist.

»Ist das nicht Schamlosigkeit, Unkeuschheit und Koketterie über jedes Maß hinaus, uns diesen Thron der Liebe betrachten zu lassen?« sagte er mit leiser Stimme. »Sich keinem hinzugeben, aber allen zu erlauben, hier ihre Karte abzugeben! Wenn ich frei wäre, möchte ich diese Frau unterwürfig und weinend vor meiner Türe sehen …«

»Bist du ihrer Tugend denn so sicher?«

»Die kühnsten und geschicktesten Meister der Verführung gestehen, daß sie an ihr gescheitert sind, lieben sie noch und sind ihre ergebenen Freunde. Ist die Frau nicht ein Rätsel?«

Diese Worte versetzten mich in eine Art Rauschzustand und meine Eifersucht begann bereits, selbst die Vergangenheit zu fürchten. Glückbebend kehrte ich eilends in den Salon zurück, wo ich die Gräfin verlassen hatte, und begegnete ihr in dem gotischen Gemache. Sie hielt mich mit einem Lächeln fest, hieß mich neben sich Platz nehmen und begann mich über meine Arbeit zu befragen: sie schien besonderes Interesse dafür zu haben, zumal da ich ihr mein System scherzend darstellte und es nicht gelehrtenhaft entwickelte. Sichtlich unterhielt es sie, zu lernen, daß der menschliche Wille eine materielle Kraft wie der Dampf sei und daß es keinen Widerstand gegen diese Macht gebe, wenn der Mensch sich nur daran gewöhne, sie in sich zu sammeln, ihre Fülle zu handhaben und diesen flüchtigen Stoff mit Beständigkeit auf die Seelen auszustrahlen und daß dieser Mensch nach seinem Gutdünken alles mit seiner Kraft beeinflussen könne, selbst die absoluten Naturgesetze. Feodoras Einwürfe lehrten mich ihre besondere geistige Beweglichkeit kennen. Es machte mir Spaß, ihr Augenblicke lang recht zu geben, um ihr zu schmeicheln, und dann ihre Frauenargumente mit einem Worte wieder zunichte zu machen, indem ich ihre Aufmerksamkeit auf eine Tatsache des täglichen Lebens richtete, auf den Schlaf, eine dem Anschein nach ganz gewöhnliche Sache, die aber für den Gelehrten voll unlösbarer Probleme ist – so stachelte ich ihre Neugier auf. Die Gräfin versank für eine Weile in Schweigen, als ich ihr sagte, daß unsere Ideen vollkommene Wesen seien, die in einer unsichtbaren Welt lebten und dort ihren Einfluß auf unser Schicksal übten: als Beweise zitierte ich ihr die Gedanken von Descartes, Diderot und Napoleon, die ein ganzes Jahrhundert gewiesen haben und noch weisen.

Ich hatte also die Ehre, diese Frau zu unterhalten. Als sie mich verließ, lud sie mich ein, sie zu besuchen. Wie man bei Hof sagt, sollte ich fürderhin ungehinderten Zutritt haben. Ob ich nun nach meiner löblichen Gewohnheit Formeln der Höflichkeit für Herzensworte nahm oder ob Feodora in mir die baldige Berühmtheit sah und ihre Gelehrtenmenagerie um mich vermehren wollte? Ich glaubte ihr zu gefallen. Ich rief mir alle meine physiologischen Kenntnisse und meine früheren Studien wieder ins Gedächtnis, um an diesem Abend aufs genaueste die sonderbare Frau und ihr Wesen zu erforschen. Ich verbarg mich in einer Fensternische und suchte aus ihrem Benehmen ihre Gedanken zu erraten. Ich studierte ihre Haltung als Hausfrau, wie sie kam und ging, sich setzte und plauderte, einen Mann zu sich rief, ihn nach etwas fragte und sich, um ihm zuzuhören, an eine Türverkleidung lehnte. Ich sah ihren Gang, ihre sanften wie gebrochenen Bewegungen, die anmutigen Wellen des fließenden Kleides, und sie erregte so leidenschaftliches Begehren in mir, daß ich den Glauben an ihre Tugend zu verlieren begann. Wenn Feodora auch jetzt die Liebe nicht mehr anerkannte, so mußte sie früher doch voll Leidenschaft gewesen sein; denn ein Wissen um die Wollust sprach sich selbst in der Stellung aus, in der sie den Gesprächen lauschte. Sie hielt sich voll Koketterie an der Wandtäfelung fest, wie eine Frau, die am Fallen, aber ebenso sehr am Entfliehen ist, wenn sie ein zu heftiger Blick beunruhigen sollte. Sie hielt die Arme weich gekreuzt, schien die Worte einzuatmen und ihnen selbst mit dem Blicke voll Geneigtheit zu horchen, sie strömte Gefühl aus. Ihre frischen Lippen schnitten rot in die leuchtende Blässe des Gesichtes ein. Ihr braunes Haar brachte den goldorangenen Glanz ihrer Augen mit den dunklen Flecken darin voll zur Geltung, und ihr Ausdruck schien jedem Worte noch eine besondere Feinheit hinzuzufügen. Der Ausschnitt ihres Kleides endlich ließ die verführerischeste Schönheit sehen. Eine Nebenbuhlerin hätte vielleicht ihre dichten zusammengewachsenen Brauen getadelt und den kaum wahrnehmbaren Flaum ihrer Wangen gerügt. Ich aber sah in allem das Zeichen der Leidenschaft. Liebe stand mir auf ihren italienisch langen Lidern, ihren schönen Venusschultern, ihren Zügen und ihrer zu starken, ein wenig beschatteten Oberlippe geschrieben. Sie war mir mehr als eine Frau, sie war eine Dichtung voll Geheimnis.

Aber diese Reichtümer an weiblichen Reizen, die Harmonie der Linien, alle die Versprechungen ihres schönen Körpers an die Leidenschaft waren durch eine stete Zurückhaltung und ungewöhnliche Bescheidenheit gemildert, die einen starken Gegensatz zu dem Ausdruck ihrer ganzen Persönlichkeit ergaben. Es bedurfte einer so scharfen Beobachtung wie der meinen, um in diesem Wesen die Zeichen der Bestimmung zur Wollust zu gewahren. Aber ich will meinen Gedanken klarmachen. In Feodora waren zwei Frauen vereinigt: die eine war ganz kühl, nur das Antlitz schien liebesbereit zu sein, bevor aber die andere ihre Augen auf einem Manne ruhen ließ, bereitete sie ihren Blick vor, als ob weiß Gott was für ein Geheimnis in ihr wäre, und es ging wie ein Zucken über ihre sonst so klaren Augen. Wenn meine Wissenschaft nicht ganz unzulänglich war und ich nicht noch allzu viele Geheimnisse in der Welt der Seele zu entdecken hatte, mußte die Gräfin eine edle Seele besitzen, deren Gefühle die schöne Anmut in ihr Gesicht ausstrahlten, die uns unterjochte, über alle Moral hinausriß und soviel Macht hatte, weil sie mit der Geheimniskraft des Begehrens zusammenwirkte. Als ich fortging, war ich entzückt und verführt von dieser Frau, berauscht von ihrem Luxus und erregt von allem, was mein Herz an Edlem und Lasterhaftem, an Gutem und Bösem barg. In meinen Gefühlen von Aufgewühltsein, Hingerissenheit und neuer Belebung glaubte ich die Anziehungskraft zu verstehen, die alle die Künstler, Diplomaten, die Männer der Macht und die Börsenleute, die zweideutig wie ihre Kassen mit doppeltem Boden sind, zu ihr zog. Sicher suchten auch sie in ihrer Nähe die fieberhafte Erregung, die alle Kräfte meines Wesens beben machte, mir das Blut bis in die kleinste Ader aufpeitschte, jeden winzigsten Nerv erregte und wild in meinem Hirn zuckte. Sie hatte sich keinem hingegeben, um sich alle zu bewahren. Denn eine Frau ist solange kokett, als sie nicht liebt.

Ich sagte zu Rastignac: »Vielleicht ist sie an irgendeinen alten Kerl verheiratet oder verkauft worden und die Erinnerung an ihre Hochzeitsnacht macht sie vor der Liebe schaudern.«

Ich kehrte zu Fuß vom Faubourg Saint-Honoré, wo Feodora wohnte, nach Hause zurück. Zwischen ihrem Palais und der Rue des Cordiers lag beinahe ganz Paris. Der Weg erschien mir kurz, obwohl es sehr kalt war. Ich wollte es also unternehmen, Feodora im Winter noch zu gewinnen, in diesem strengen Winter – und hatte nicht einmal dreißig Franken in meinem Besitz – und die Entfernung, die uns trennte, war so groß! Nur ein junger Mensch, der arm ist, kann wissen, was eine Leidenschaft an Wagen, Handschuhen, Kleidern und Wäsche kostet. Wenn die Liebe zu lange platonisch bleibt, richtet sie ihn zugrunde. Wirklich, es gibt Lauzuns unter den Studenten der Jurisprudenz, denen es unmöglich ist, sich der leidenschaftlich geliebten Frau zu nähern, bloß weil sie in einer vornehmen Wohnung lebt. Wie sollte ich, der ich schwach, unterernährt, einfach gekleidet, der ich blaß und hager war wie ein Künstler, der ein großes Werk hinter sich hat, es mit den wohlfrisierten, hübschen, reichen, geschniegelten jungen Leuten aufnehmen, die Krawatten trugen, mit denen sie ganz Kroatien in Verzweiflung hätten bringen können, die ihre Tilburys hatten und die sichere Frechheit des Auftretens!

Ich ging über eine Brücke. Und plötzlich schrie ich: »Feodora oder den Tod! Feodora ist das Glück!«

Das schöne gotische Gemach und der Louis XIV.-Salon erschienen vor meinen Augen, ich sah die Gräfin wieder in ihrem weißen Kleide mit den großen Ärmeln, sah ihren verführerischen Gang und die Verlockung ihres Ausschnittes. Als ich in meiner nackten kalten Mansarde, die ungepflegt wie die Perücke eines Naturforschers war, anlangte, umgaben mich noch immer die Bilder von Feodoras Luxus. Dieser Gegensatz war ein schlimmer Berater – so mögen wohl Verbrechen ihren Anfang nehmen. Ich verfluchte schaudernd und voll Wut mein strenges ehrenhaftes Elend und meine Dachstube, in der ich so viele gute Gedanken gedacht hatte. Ich verlangte für mein Geschick und mein Unglück Rechenschaft von Gott, vom Teufel, von der Gesellschaft, von meinem Vater und vom ganzen Universum. Ich ging hungrig zu Bette, brummte lächerliche Beschwörungen vor mich hin, aber ich war fest entschlossen, Feodora zu verführen. Das Herz dieser Frau war das letzte Lotterielos, von dem mein Schicksal abhängen sollte.«

*

»Ich will Dir meine ersten Besuche bei Feodora ersparen und gleich zum eigentlichen Drama kommen. Um zur Seele dieser Frau zu gelangen, versuchte ich es, ihren Geist und ihre Eitelkeit für mich zu gewinnen. Um nur sicher geliebt zu werden, gab ich ihr tausend Gründe, sich selber noch mehr lieben zu können. Ich ließ sie niemals in einem Zustand der Gleichgültigkeit, denn die Frauen wollen Erregungen um jeden Preis – und die gab ich ihr verschwenderisch. Ich hätte lieber ihren Zorn erregt, als sie teilnahmslos gesehen. Als ich aber dann durch meinen festen Willen und mein Begehren, ihre Liebe zu erwecken, ein wenig Einfluß auf sie gewann, wuchs auch meine Leidenschaft, ich war nicht mehr Herr meiner selbst, ich verfiel in die Wahrheit, ich verlor mich und war rettungslos verliebt. Ich weiß nicht genau, was wir in den Dichtungen und im Gespräch Liebe nennen: aber ich habe dieses Gefühl, das sich in meinem doppelten Wesen entwickelte, nirgends dargestellt gefunden, weder in den steifen rhetorischen Phrasen des Jean-Jacques Rousseau (in dessen Wohnung ich vielleicht wohnte), noch in den kühlen Gestaltungen unserer zwei literarischen Jahrhunderte, noch auch auf italienischen Bildern. Ein paar Motive von Rossini, die Madonna von Murillo, die der Marschall Soult besitzt, die Briefe der Lescombat, gewisse Worte da und dort, in den Anekdotensammlungen, besonders aber die Gebete der Ekstatiker und ein paar Stellen in unseren ritterlichen Epen waren einzig imstande, mich in die göttlichen Regionen meiner ersten Liebe emporzutragen. Nichts in den menschlichen Sprachen, keine Übersetzung des Gedankens in Farben, Marmor, Worte oder Töne vermag das Wesentlichste, Wahre, Vollkommene und Unvermittelte der Gefühle der Seele wiederzugeben. Denn wer Kunst sagt, sagt Lüge. Die Liebe geht durch unendliche Umgestaltungen, bevor sie sich in unser Leben senkt und es mit ihren flammenden Farben tönt. Das Geheimnis dieser unmerklichen Durchdringung entgeht der Analyse des Künstlers. Die wahre Leidenschaft drückt sich in Schreien und Seufzern aus, die für den kühlen Menschen nur langweilig sind. Man muß aufrichtig lieben, um bei der Lektüre der Clarissa Harlowe auch nur halb das Liebeswüten des Lovelace mit zu erleben.

Die Liebe ist eine schlichte Quelle, die ihr blumenumwachsenes Kieselbett verlassen hat, und die nun als Fluß und als Strom ihre Natur und ihr Aussehen mit jeder Welle ändert und sich endlich in einen unermeßlichen Ozean ergießt, der den unvollkommenen Geistern voll Eintönigkeit zu sein scheint, an dessen Gestade aber die großen Seelen sich in unendliche Betrachtungen versenken. Wie sollte man es wagen, die unendlichen Tönungen des Gefühls zu beschreiben, dieses Nichts zu schildern, das so hoch im Preis steht, die Worte, deren Betonung alle Schätze der Sprache erschöpfen, und die Blicke, die reicher sind als die reichsten Dichtungen. In den mystischen Stunden, in denen wir unmerklich eine Frau zu lieben beginnen, tut sich ein Abgrund auf, in dem alle menschlichen Dichtungen versinken. Wie könnte man mit erzählenden Worten die lebendigen und geheimnisvollen Ergriffenheiten der Seele wiedergeben, da wir nicht einmal Worte haben, um die sichtbaren Geheimnisse der Schönheit darzustellen. Wie war ich hingerissen! Wie viele Stunden habe ich ekstatisch in ihren Anblick versunken verbracht!

Worüber ich glücklich war? Ich weiß es nicht. In den Augenblicken, da ihr Gesicht von Licht überflutet war, geschah es wunderbarerweise, daß das Licht daraus zurückstrahlte. Der unmerkliche Flaum, der ihre köstliche zarte Haut vergoldete, zeichnete weich ihre Konturen mit jener Anmut ab, wie wir sie in den fernen Linien des Horizontes, die sich im Sonnenlichte verlieren, bewundern. Es schien, als liebkoste sie das Tageslicht, da es sie berührte, und als entströmte ihrem strahlenden Gesichte noch lebendigeres Licht als dem Lichte selber. Dann wieder ging ein Schatten über das süße Gesicht und erweckte darin Farben, die den Ausdruck völlig verwandelten. Oft wieder schien ein Gedanke sich auf ihrer Marmorstirne zu malen; ihr Blick verdunkelte sich, ihre Lider zitterten und die sanften Wellen eines Lächelns gingen über ihre Züge. Die korallenroten Lippen belebten sich, taten sich auf und schlossen sich wieder. Von ihrem Haare fiel ein brauner Ton auf ihre zarten Schläfen. Jedes geringste Ereignis fand an ihr eine Antwort, und jede Nuance ihrer Schönheit war ein neues Fest für meine Augen und beschenkte mein Herz mit unbekannter Süßigkeit. Ich wollte in jeder Veränderung ihres Gesichtes ein Gefühl oder eine Hoffnung lesen. Diese stummen Unterredungen gingen wie Echo von Seele zu Seele und beglückten mich mit tausend flüchtigen Freuden, die sich tief in meine Seele prägten. Ihre Stimme erregte mich zu einer Raserei, deren ich nur mit Mühe Herr werden konnte. Ich hätte wie jener Prinz von Lothringen eine glühende Kohle in meiner Hand nicht gefühlt, wenn sie mir mit ihren zarten Fingern über das Haar gestrichen hätte. Das war nicht mehr Bewunderung und Begehren, sondern schicksalsvolle Bezauberung. Oft, nachdem ich in meine Dachkammer zurückgekehrt war, sah ich weiter Feodora in ihrem Hause und nahm so von ferne an ihrem Leben teil. Wenn sie litt, litt auch ich. Ich sagte ihr dann am nächsten Tage: »Sie haben gelitten!«

Wie oft kam sie nicht im tiefen Schweigen der Nacht zu mir, herbeigerufen durch die Gewalt meiner Ekstase; dann schlug sie mir jäh wie aufschießendes Licht die Feder aus der Hand und jagte Wissenschaft und Arbeit in verzweifelte Flucht: sie zwang mich, sie zu bewundern, indem sie sich mir in der aufreizenden Stellung zeigte, in der ich sie kurz vorher gesehen hatte. Dann wieder eilte ich ihr in der Welt der Erscheinungen entgegen, grüßte sie als meine Hoffnung und bat sie, mich ihre silberne Stimme hören zu lassen – weinend erwachte ich dann.

Eines Tages hatte sie mir versprochen, mit mir ins Theater zu gehen; aus irgendeiner Laune weigerte sie sich plötzlich auszugehen und bat mich, sie allein zu lassen. Verzweifelt über diesen Widerspruch, der mich einen Tag der Arbeit und – ich muß es sagen – meinen letzten Taler gekostet hatte, ging ich in das Theater, wo wir hätten zusammen sein sollen, ging, um das Stück zu sehen, das sie zu sehen gewünscht hatte. Ich hatte kaum Platz genommen, da empfand ich einen elektrischen Schlag im Herzen und eine Stimme sagte mir: Sie ist da! Ich drehte mich um und erblickte die Gräfin im Hintergrund ihrer Parterreloge, im Schatten verborgen. Mein Blick hatte unbeirrbar gesucht und sie mit einer wunderbaren Hellsichtigkeit gefunden. Meine Seele war ihrem Leben wie ein Insekt seiner Blume entgegengeflogen. Was hätte meinen Sinnen ein Zeichen von ihrer Nähe geben können? Über dieses ganz innerliche Erbeben, aus dem ich sie erriet, mögen sich die oberflächlichen Leute verwundern – im Grunde aber sind die Tatsachen unserer inneren Natur ebenso einfach wie die gewöhnlichen Erscheinungen unserer äußeren Welt. So war ich darüber nicht erstaunt – wohl aber verletzt. Meine Studien über die so wenig bekannte seelische Macht des Menschen dienten mir wenigstens dazu, an meiner Leidenschaft ein paar lebendige Beweise meines Systems zu entdecken. Diese Verbindung eines Gelehrten mit einem Verliebten und einer wahrhaftig blinden Anbetung mit einer Art wissenschaftlichen Forschertriebes hatten schon etwas recht Sonderbares an sich. Die Wissenschaft war oft gerade von dem befriedigt, was den Liebhaber zur Verzweiflung brachte; der aber jagte dann, wenn er zu triumphieren glaubte, die Wissenschaft glückselig zum Teufel.

Feodora erblickte mich und wurde ernst. Ich störte sie. Im ersten Zwischenakt machte ich ihr einen Besuch; sie war allein, ich blieb. Obwohl wir niemals über Liebe gesprochen hatten, fühlte ich, daß es nun zu einer Erklärung kommen werde.

Ich hatte ihr noch nichts von meinen Geheimnissen gesagt und es war etwas wie Erwartung zwischen uns. Sie vertraute mir stets ihre Vergnügungspläne an und fragte mich in freundschaftlicher Unruhe, ob ich am nächsten Tage auch sicher zu ihr käme. Sie sah mich fragend an, sooft sie ein Wort über geistige Dinge aussprach, als ob sie damit ausschließlich mir hätte gefallen wollen. Wenn ich trotzte, wurde sie zärtlich. Wenn sie beleidigt schien, hatte ich schon das Recht, sie nach dem Grunde zu fragen. Wenn ich mich eines Fehlers schuldig gemacht hatte, ließ sie sich lange bitten, bevor sie mir Verzeihung gewährte. Wir hatten an diesen kleinen Zänkereien Geschmack gewonnen, mir waren sie voll verliebter Entzückung. Sie entfaltete darin alle ihre Grazie und Koketterie und ich fand eine Fülle von Glück dabei.

In diesem Augenblicke aber war unsere Intimität aufgehoben und wir standen einander wie zwei Feinde gegenüber. Die Gräfin war eisig. Mir ahnte ein Unglück. Als das Stück zu Ende war, sagte sie mir: »Sie werden mich begleiten!«

Das Wetter hatte sich plötzlich geändert; als wir hinaustraten, schneite es und regnete es zugleich. Feodoras Wagen konnte nicht bis zum Tore des Theaters vorfahren. Da ein Dienstmann die gutgekleidete Dame den Boulevard überschreiten sah, spannte er eilig seinen Regenschirm über uns auf. Als wir eingestiegen waren, verlangte er für seine Dienstleistung Geld. Ich hatte nichts. Ich hätte in diesem Augenblicke zehn Jahre meines Lebens für zwei Sous hergegeben. Ein höllischer Schmerz zerstörte in mir all die tausend menschlichen Eitelkeiten. Die Worte: »Mein Lieber, ich habe kein Kleingeld!« waren in abweisendem Tone gesagt, der, wie es ihr scheinen sollte, aus meiner beleidigten Liebe kam – und doch hatte ich sie gesprochen, der ich der Bruder dieses Menschen war, der ich so gut das Elend kannte und einst siebenhunderttausend Franken mit solcher Leichtigkeit hingegeben hatte. Der Diener stieß den Dienstmann zurück und die Pferde stürmten los. Auf dem Weg zu ihrem Palais war Feodora zerstreut oder gab sich, als ob sie es wäre, und antwortete mit geringschätziger Einsilbigkeit auf meine Fragen. Ich schwieg endlich. Es war ein furchtbarer Augenblick. Als wir in ihrem Hause angelangt waren, setzten wir uns an den Kamin.

Nachdem der Kammerdiener das Feuer angeschürt und sich zurückgezogen hatte, wandte sich die Gräfin mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke ihres Gesichtes mir zu und sagte voll Feierlichkeit: »Seit meiner Rückkehr nach Frankreich hat mein Vermögen eine Menge junger Leute in Versuchung geführt. Ich habe Liebeserklärungen erhalten, die meinen Stolz hätten befriedigen können. Ich bin Männern begegnet, deren Gefühl für mich so tief und aufrichtig war, daß sie mich auch geheiratet hätten, wenn ich noch das arme Mädchen von früher gewesen wäre. Sie sollen wissen, Herr von Valentin, daß mir auch neue Reichtümer und neue Titel angeboten worden sind. Aber Sie müssen auch erfahren, daß ich die Menschen, die den schlechten Einfall hatten, mir von Liebe zu reden, nie mehr wiedergesehen habe. Wenn mein Gefühl für Sie ein leichtfertiges wäre, würde ich Ihnen nicht diese Warnung zukommen lassen, die viel mehr der Freundschaft als dem Stolz entspringt. Denn eine Frau setzt sich leicht einer Kränkung aus, wenn sie ein sicherlich schmeichelhaftes Gefühl für Liebe hält und es von vornherein abweist. Ich denke an die Arsinoë- und Araminth-Szenen und habe mich mit Antworten vertraut gemacht, die ich unter solchen Umständen zu hören bekommen könnte. Von Ihnen aber erhoffe ich eine richtige Beurteilung, weil ich einem bedeutenden Manne meine Seele geoffenbart habe.«

Sie wählte ihre Ausdrücke kaltblütig wie ein Advokat oder ein Notar, der seinen Klienten die Wege eines Prozesses oder die Punkte eines Vertrages klarlegt. Der helle verführerische Klang ihrer Stimme verriet nicht die geringste Bewegung; einzig in ihrem immer vornehmen und zurückhaltenden Gesichte schien sich mir eine gewisse Kälte und diplomatische Trockenheit auszusprechen. Sicher hatte sie ihre Worte vorher schon wohl erwogen und sich für diese Szene ein Programm zurecht gemacht. Mein Freund, es gibt wirklich Frauen, die sich ein Vergnügen daraus machen, unsere Herzen zu zerreißen, die überlegt und vorsätzlich uns den Dolch in die Brust stoßen und ihn in der Wunde drehen: aber diese Frauen sind immer noch anbetungswert, wenn sie lieben und geliebt werden wollen. Sie werden uns eines Tages für unsere Schmerzen belohnen wie Gott, von dem man sagt, daß er uns unsere guten Werke vergelten muß. Hundertfach werden sie uns mit Lust die Qual bezahlen, deren Größe sie zu ermessen wissen. So ist ihre Bosheit noch immer voll Leidenschaft. Aber von einer Frau gequält zu werden, die mit Gleichgültigkeit tötet, die Marter ist zu grausam! In jenem Augenblick zertrat Feodora, ohne es zu wissen, all meine Hoffnungen, zerbrach mein Leben und zerstörte meine Zukunft mit der kalten Sorglosigkeit und unschuldigen Grausamkeit eines Kindes, das aus Neugier die Flügel eines Schmetterlings zerreißt.

Feodora sagte dann noch: »Später, so hoffe ich, werden Sie die Beständigkeit des Gefühles, das ich meinen Freunden entgegenbringe, anerkennen. Sie werden finden, daß ich ihnen immer gut und ergeben bin. Ich gebe für sie mein Leben her. Müßten Sie mich nicht verachten, wenn ich mir Liebe gefallen ließe, ohne sie mitzufühlen? Doch genug! Sie sind der einzige Mensch, dem ich diese letzten Worte gesagt habe.«

Erst würgte ich an Worten und hatte Mühe, den Orkan in meinem Innern zu meistern; bald aber drängte ich meine Empfindungen auf den Grund meiner Seele hinab und lächelte. Ich sagte ihr:

»Wenn ich Ihnen sage, daß ich Sie liebe, verbannen Sie mich. Wenn ich mich der Gleichgültigkeit zeihe, bestrafen Sie mich dafür. Die Frauen haben wie die Priester und die Behörden immer etwas Obrigkeitliches an sich. Schweigen fordert Ihr Urteil nicht heraus, gnädige Frau; gestatten Sie mir also, daß ich schweige. Da Sie so schwesterliche Warnungen an mich richten, müssen Sie befürchtet haben, mich zu verlieren, und dieser Gedanke könnte meinem Stolz ein wenig Genugtuung geben. Aber lassen wir das Persönliche! Sie sind vielleicht die einzige Frau, mit der ich philosophisch über einen allen Naturgesetzen so sehr widersprechenden Entschluß reden könnte. Im Vergleich zu anderen Frauen sind Sie ein Phänomen. Wollen wir zusammen in aller Aufrichtigkeit die Ursache dieser seelischen Anomalie suchen?

Haben Sie, wie viele selbstsichere und in ihre Vollkommenheit verliebte Frauen, jenen verfeinerten Egoismus in sich, der Sie vor dem Gedanken, einem Manne zu gehören, Ihrem Willen zu entsagen und sich der beleidigenden Überlegenheit der Konvention zu fügen, schaudern macht? Sie erschienen mir in diesem Falle tausendmal schöner! Ist Ihnen die erste Liebe schon zur Mißhandlung geworden? Oder macht Sie der Gedanke an die Spuren der Mutterschaft um die Eleganz Ihrer Gestalt und die Schönheit Ihres Busens besorgt? Sollte nicht das einer der stärksten Ihrer geheimen Gründe sein, warum Sie allzu heftige Liebe von sich weisen? Haben Sie vielleicht irgendwelche körperliche Mängel, die Sie wider Ihren Willen zur Tugend zwingen? … Seien Sie nicht beleidigt, ich spreche rein philosophisch, ich forsche, ich bin tausend Meilen von aller Leidenschaft entfernt. Wie die Natur Menschen blind geboren werden läßt, kann sie auch Frauen erschaffen, die taubstumm und blind in der Liebe sind. Sie sind wirklich ein kostbarer Gegenstand für medizinische Beobachtungen! Sie ahnen gar nicht, was Sie wert sind. Sie können aber auch einen ganz gerechtfertigten Abscheu vor den Männern haben, Sie haben recht, auch mir erscheinen sie alle widerlich und abscheulich. Natürlich haben Sie recht,« wiederholte ich und fühlte dabei, wie mir das Herz schwoll, »Sie müssen uns verachten, denn es gibt keinen Mann, der Ihrer würdig wäre!«

Ich wiederhole dir gar nicht alle die Sarkasmen, die ich ihr lachend ins Gesicht sagte, aber das bitterste Wort, die schärfste Ironie erweckten keine Bewegung, keine Gebärde des Ärgers bei ihr. Sie hörte mir mit ihrem gewöhnlichen Lächeln auf den Lippen und in den Augen zu, mit diesem Lächeln, das sie wie ein Kleid anlegte und das für ihre Freunde wie für ihre gewöhnlichsten Bekannten und für Fremde immer dasselbe war.

»Bin ich nicht wirklich gutmütig, daß ich mich so in einem Amphitheater zur Schau stellen lasse?« fragte sie, einen Augenblick wahrnehmend, in dem ich sie schweigend ansah. Lächelnd fuhr sie fort: »Sie sehen, in der Freundschaft gibt es bei mir keine dummen Empfindlichkeiten. Die meisten Frauen würden Sie für Ihre Frechheit vor die Türe setzen lassen.«

»Sie haben die Macht, mich aus Ihrer Nähe zu verbannen, ohne daß Sie Gründe für Ihre Härte angeben müssen.«

Da ich das sagte, fühlte ich in mir die Bereitschaft, sie zu töten, wenn sie mich verabschiedete.

»Sie sind verrückt!« rief sie lächelnd.

Ich fuhr fort: »Haben Sie niemals daran gedacht, was für Folgen die zügellose Liebe eines Mannes für Sie haben könnte? Wie oft haben verzweifelte Menschen ihre Geliebten ermordet!«

Sie antwortete kühl: »Es ist besser, tot als unglücklich zu sein. Ein so leidenschaftlicher Mensch kann auch das Vermögen seiner Frau vergeuden und sie dann eines Tages verlassen und dem Elend überliefern!«

Diese Arithmetik erschütterte mich. Ich sah klar, welcher Abgrund diese Frau von mir trennte, und daß wir einander niemals verstehen könnten.

»Leben Sie wohl!« sagte ich kalt.

»Leben Sie wohl! Und auf morgen!« erwiderte sie und nickte mir freundschaftlich zu. Einen Augenblick sah ich sie an und strömte all meine Liebe, der ich entsagen wollte, über sie hin. Sie stand aufrecht und lächelte mich mit ihrem gewöhnlichen unerträglichen Statuenlächeln an, das Wärme ausdrücken sollte – und Kälte war.«

*

»Mein Freund, begreifst du die Qualen, die auf dem Heimwege durch Schnee und Regen und über das Glatteis der fast eine Meile langen Kais über mich herfielen, nachdem ich nun alles verloren hatte? Dazu wußte ich, daß sie nicht nur nicht an mein Elend dachte, sondern mich für reich wie sie selbst hielt und mich jetzt ruhig in meinem Wagen sitzend glauben mochte. Zu groß war Verlust und Enttäuschung für mich: es handelte sich ja nicht um Geld, sondern um alle die Reichtümer meiner Seele! Auf meinem richtungslosen Wege erwog ich noch einmal alle Worte dieser so sonderbaren Unterredung. Ich verlor mich so sehr in meine Auslegungen, daß ich endlich an der buchstäblichen Bedeutung der Worte und der Gedanken zweifelte. Ich liebte, liebte noch immer diese kalte Frau, deren Herz in jedem Augenblick besiegt werden wollte, und die immer wieder ihre Versprechen vom Vortage verleugnete und andern Tags immer wieder als eine neue Geliebte erschien. Als ich durch das Tor der Akademie ging, schüttelte mich ein Fieberschauer; es wurde mir nun bewußt, daß ich gar nichts gegessen hatte. Ich besaß nicht einen Groschen, und der Gipfel des Unglücks war für mich, daß der Regen meinen Hut verdarb. Wie sollte ich mich jemals noch einer eleganten Frau nähern und mich in einem Salon zeigen, wenn ich keinen ordentlichen Hut mehr hatte! Dank der äußersten Sorgfalt und unter stetigen Flüchen auf die dumme lächerliche Mode, die uns zwingt, den Hut in den Salons immer in der Hand zu halten und so seine Krempe stets zur Schau zu tragen, hatte ich den meinen bis zu dieser Stunde in einem eben noch möglichen Zustand erhalten können. Er war weder besonders neu, noch geradezu alt, er hatte weder sein Haar verloren noch war er auffallend seidenglänzend, man konnte ihn aber ganz gut noch als den Hut eines gutgekleideten Menschen gelten lassen. Jetzt aber hatte seine kunstvoll verlängerte Existenz ihren letzten Abschnitt erreicht, er war beschädigt, verbogen, abgetan, ein lumpiger Überrest, ein würdiges Gleichnis seines Herrn. Da ich keine dreißig Sous für einen Wagen hatte, ging meine so mühevoll erhaltene Eleganz zugrunde. Oh, wie viele ihr unbekannte Opfer habe ich diese drei Monate hindurch Feodora gebracht! Wie oft habe ich das Geld, das ich für das Brot einer Woche gebraucht hätte, hingegeben, um sie einen Augenblick sehen zu können! Meine Arbeit zu verlassen und zu hungern galt mir nichts. Aber die Straßen von Paris zu überqueren, ohne mit Kot bespritzt zu werden, zu laufen, um dem Regen zu entgehen, und so im gleichen Zustand der Kleidung bei ihr anzukommen wie die Gecken, die sie umgaben, das war für einen Verliebten, einen zerstreuten Dichter eine Aufgabe voll bitterer Schwierigkeiten. Mein Glück und meine Liebe hingen davon ab, daß kein Kotspritzer auf meine einzige Weste kam. 0 darauf verzichten zu müssen, sie zu sehen, wenn ich schmutzig oder naß geworden war, wenn ich keine fünf Sous besaß, um meine Schuhe bei einem Schuhputzer von den leichten Kotflecken reinigen zu lassen! Meine Leidenschaft war in all den kleinen unbekannt bleibenden Martern, die für einen reizbaren Menschen maßlos werden, nur gewachsen. Die Armen bringen Opfer, von denen sie zu den Frauen in der Sphäre des Luxus und der Vornehmheit gar nicht sprechen dürfen, denn diese sehen die Welt durch ein Prisma, das ihnen Menschen und Dinge golden färbt. Sie sind aus Selbstsucht optimistisch, um des guten Tons willen grausam, sie ersparen sich das Nachdenken über die Herkunft ihrer Genüsse und entschuldigen sich für ihre Gleichgültigkeit gegen das Unglück mit ihren Vergnügungen, die ihnen keine Zeit zur Teilnahme lassen. Für sie ist ein Groschen niemals eine Million, eher scheint ihnen die Million ein Groschen zu sein. Die Liebe, die kämpft und schwere Opfer bringt, muß diese auch noch voll Zartgefühl mit einem Schleier bedecken und in Schweigen begraben. Die reichen Männer aber, die um eine Leidenschaft ihr Geld und ihr Leben vergeuden, haben doch dabei den Gewinn, daß die Gesellschaft, für sie voreingenommen, ihre verliebten Tollheiten mit einer gewissen Gloriole umgibt. Ihr Schweigen redet dennoch und ihr Verschleiern ist ein Reiz mehr. Mich aber verdammte meine elende Armut zu den schrecklichsten Leiden, ohne daß ich hätte sagen dürfen: »Ich liebe« oder »Ich sterbe«. Waren das aber trotz allem denn Opfer? War ich nicht reich genug belohnt durch die Freude, die ich fühlte, da ich alles für sie hingab? Durch Feodora hatten die gewöhnlichsten Ereignisse meines Lebens unermeßlichen Wert bekommen und waren mir zu einer Quelle tiefster Freuden geworden. Vorher hatte ich mir über Kleidung weiter keine Gedanken gemacht, jetzt aber respektierte ich meinen Anzug wie ein zweites Ich. Wenn ich zwischen einer Verwundung oder einer Beschädigung meines Fracks zu wählen gehabt hätte, hätte es kein Nachdenken für mich gegeben.

Du mußt dich in meine Lage versetzen und das Wüten der Gedanken und die wachsende Raserei auf diesem meinem nächtlichen Heimwege verstehen, die das Gehen vielleicht noch verstärkte. Ich empfand eine höllische Freude, daß ich nun den Gipfel des Elends erreicht hätte. Ich meinte in dieser letzten Krise ein Versprechen des Unglücks sehen zu dürfen – aber die Reichtümer des Elends sind unermeßlich. Meine Haustüre war nur angelehnt, durch die herzförmigen Ausschnitte der Fensterladen drang Lichtschein auf die Straße; Pauline und ihre Mutter sprachen drinnen und warteten auf mich. Ich hörte meinen Namen und horchte auf. Pauline sagte: »Rafael ist viel hübscher als der Student auf Nr. 7. Seine blonden Haare haben eine so schöne Farbe. Findest du nicht auch, daß seine Stimme so etwas Eigentümliches hat? Ich weiß nicht was – aber sie greift einem ans Herz. Und dann, er sieht zwar ein bißchen stolz aus, aber er ist so gut und hat so feine Manieren. Er sieht so vornehm aus – ich bin überzeugt, daß alle Frauen wahnsinnig in ihn verliebt sind!« »Du sprichst von ihm, als ob du ihn liebtest«, bemerkte Frau Gaudin.

Sie erwiderte lachend: »Ich liebe ihn auch wie einen Bruder, ich wäre schön undankbar, wenn ich ihn nicht gern hätte! Ich habe doch bei ihm Musik gelernt und Zeichnen und Grammatik, überhaupt alles, was ich kann. Liebe Mutter, du gibst nicht sehr auf meine Fortschritte acht. Aber du wirst sehen, in einiger Zeit kann ich so viel, daß ich Stunden geben werde, und dann können wir endlich auch ein Dienstmädchen nehmen!«

Ich zog mich leise zurück. Dann machte ich ein bißchen Lärm und betrat das Zimmer, um hier eine Lampe zu nehmen, die Pauline anzuzünden pflegte. Das liebe Kind hatte mir mit ihren Worten einen köstlichen Balsam für meine Wunden gegeben, ihr kindliches Lob meiner Person machte mir wieder ein wenig Mut. Ich verlangte so sehr danach, an mich selber zu glauben und ein unparteiisches Urteil über den wirklichen Wert meiner Vorzüge zu hören. Meine Hoffnungen belebten sich wieder und warfen vielleicht einen Schein auf die Dinge, die ich sah. Vielleicht hatte ich auch noch nie mit genügendem Ernst das Bild betrachtet, das die beiden Frauen meinen Blicken inmitten dieses Saales so oft dargeboten hatten. Jetzt aber bewunderte ich das in seiner Wirklichkeit entzückende Gemälde dieses bescheidenen Stillebens, das den schlichten Bildern der flämischen Maler glich. Die Mutter saß in einem Winkel an dem halb erloschenen Kamin und strickte an einem Strumpfe. Ein gütiges Lächeln spielte um ihre Lippen. Pauline bemalte Lampenschirme: ihre Pinsel und Farben lagen auf einem Tischchen und boten den Augen einen hübschen bunten Fleck. Nun aber hatte sie ihren Platz verlassen und stand auf, um eine Lampe anzuzünden, da leuchtete ihr weißes Gesicht im Lampenlichte auf. Man mußte schon wie ich im Joch einer ganz schrecklichen Leidenschaft sein, um nicht ihre rosig durchscheinenden Hände, ihren edlen Kopf und die jungfräuliche Haltung zu bewundern. Nacht und Stille gaben diesem arbeitsamen Wachsein, diesem friedlichen Interieur einen besonderen Reiz. Die unausgesetzte, fröhlich ertragene Arbeit sprach von frommer Ergebenheit und hoher Gesinnung. Eine unbeschreibliche Harmonie herrschte hier zwischen den Menschen und den Dingen. Bei Feodora war der Luxus freudlos und erweckte in mir böse Gedanken; hier aber erheiterten mir die schlichte Armut und die gute Natürlichkeit die Seele. Vielleicht wurde ich durch den Luxus erniedrigt. Bei den zwei Frauen aber, inmitten dieses altersbraunen Saales, wo sich das ganze schlichte Leben drinnen im Herzen abspielte, versöhnte ich mich vielleicht darum mit mir, weil ich hier den Beschützer spielen konnte, was ein Mann so gerne tut. Als ich neben Pauline stand, stellte sie mit zitternden Händen die Lampe nieder und rief mit einem fast mütterlichen Blicke aus: »Lieber Gott, wie bleich Sie sind! Oh, er ist ganz naß. Die Mutter wird Sie abtrocknen.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie dann fort: »Herr Rafael, Sie naschen doch so gern Milch. Wir haben heute abend süßen Rahm gehabt, kommen Sie, kosten Sie!«

Wie ein Kätzchen lief sie zu dem Porzellantopf voll Milch und bot ihn mir mit einer solchen Lebhaftigkeit an, hielt ihn mir auf so nette Weise unter die Nase, daß ich schwankend wurde. »Sie wollen am Ende nicht nehmen?« sagte sie mit beleidigter Stimme. Ihr Stolz und der meine verstanden sich. Pauline schien unter ihrer Armut zu leiden und mich ob meines Hochmuts zu tadeln. Ich war gerührt. Vielleicht war dieser Rahm ihr Frühstück für den nächsten Tag – dennoch nahm ich ihn an. Das liebe Kind suchte seine Freude zu verbergen, dennoch blitzte sie hell aus ihren Augen.

Ich setzte mich und sagte: »Ich habe es nötig gehabt.«

Ein Ausdruck von Besorgnis huschte über ihre Stirn.

»Erinnern Sie sich der Stelle, bei Bossuet, Pauline, wo er beweist, daß Gott ein Glas Wasser reicher belohnt als einen Sieg?«

Sie bejahte. Das Herz klopfte ihr wie einer Grasmücke, die ein Kind in der Hand hält.

Ich redete mit einer recht unsicheren Stimme weiter: »Ich werde Sie jetzt bald verlassen. Lassen Sie mich Ihnen meine Dankbarkeit für alle Fürsorge ausdrücken, die ich von Ihnen und Ihrer Mutter empfangen habe.«

»Oh, rechnen wir doch nicht!« sagte sie lachend, aber ihr Lachen verbarg eine Erregung, die mir weh tat.

Ich tat, als ob ich ihre Worte nicht gehört hätte, und sprach weiter: »Mein Klavier ist eines der besten Instrumente von Erard, es gehört Ihnen. Nehmen Sie es ohne Bedenken an, ich könnte es auf die Reise, die ich jetzt antreten will, wirklich nicht mitnehmen!«

Der Ton von Melancholie in meinen Worten mochte den beiden Frauen meine Absicht klargemacht haben. Sie schienen mich zu verstehen und sahen mich nun mit Schaudern und Neugier zugleich an. Das Gefühl, das ich in den kalten Regionen der großen Welt gesucht hatte, sah ich hier vor mir, wahrhaftig, ohne Prunk, doch heilig und wohl auch beständig.

Die Mutter sagte zu mir: »Man muß sich nicht so viel Sorgen machen. Bleiben Sie doch hier! Mein Mann ist jetzt schon unterwegs. Heute abend habe ich im Evangelium des heiligen Johannes gelesen – da hat Pauline den Schlüssel, der an der Bibel hängt, hochgehoben und der Schlüssel hat sich an der Schnur gedreht. Das bedeutet bestimmt, daß es Gaudin gut geht. Dann hat Pauline dasselbe noch einmal für Sie und den jungen Mann von Nr. 7 versucht – aber der Schlüssel hat sich nur bei Ihnen gedreht. Wir werden bestimmt alle reich werden! Gaudin wird als Millionär zurückkommen. Ich habe ihn im Traume auf einem Schiffe voll Schlangen gesehen – zum Glück war das Wasser trüb, das bedeutet Gold und Edelsteine aus fremden Ländern.«

Die freundlich geplapperten Worte wirkten auf mich wie die Lieder, mit denen eine Mutter ihr krankes Kind in den Schlaf singt; sie gaben meinem Herzen wieder ein wenig Ruhe. Der Ton und der Blick dieser guten Frau atmeten eine Herzlichkeit aus, die zwar den Kummer nicht auszulöschen vermochte, die ihn aber doch stiller machte, einwiegte und ihm den Stachel nahm. Pauline besaß mehr Scharfblick als ihre Mutter, sie sah mich unruhig an und ihre durchdringenden Augen schienen mein Leben und meine Zukunft zu erraten. Ich dankte Mutter und Tochter mit einem Neigen des Kopfes und ging schnell, denn ich fürchtete, weich zu werden.

Als ich dann allein in meiner Dachkammer war, ging ich voll Kummer zu Bett. Meine arge Einbildungskraft erwog tausend aussichtslose Pläne und gab mir unaufhörlich die unmöglichsten Entschlüsse ein. Wenn ein zugrunde gerichteter Mensch sich durch die Trümmer seines Reichtums schleppt, wird er unter ihnen noch immer irgendeine kleine Hilfsquelle finden; ich aber stand dem Nichts gegenüber.

Mein lieber Freund, wir klagen das Elend allzu leichtfertig an, wir sollten nachsichtiger gegen die Wirkungen dieses stärksten gesellschaftlichen Scheidewassers sein! Wo das Elend herrscht, gibt es weder Scham noch Verbrechen, weder Tugenden noch Geist mehr. Ich fand nun keinen rettenden Gedanken und hatte keine Kraft mehr. Ich war wie ein junges Mädchen, das sich vor einem Tiger auf die Knie geworfen hat. Ein armer Mensch ohne Leidenschaften bleibt noch immer der Herr seines Schicksals, aber ein Unglücklicher, der liebt, hat keine Macht mehr über sich und kann sich nicht einmal töten. Die Liebe gibt uns eine religiöse Scheu vor uns selber; wenn wir lieben, achten wir in uns ein anderes Leben. Die Liebe erst stürzt den Menschen in die letzte Tiefe der Qual, weil sie hofft und die Hoffnung sie beredet, jede Marter auf sich zu nehmen. Ich schlief mit dem Gedanken ein, am nächsten Morgen zu Rastignac zu gehen und ihm das seltsame Ergebnis meines Gespräches mit Feodora anzuvertrauen.«

*

»Ah, ich weiß, was Dich herführt!« rief mir Rastignac entgegen, als ich vor neun Uhr bei ihm eintrat. »Du wirst deinen Abschied von Feodora bekommen haben! Ein paar fromme Seelen, die auf deine Herrschaft über die Gräfin eifersüchtig waren, haben von eurer bevorstehenden Heirat geredet. Gott weiß, was für Schlechtigkeiten deine Nebenbuhler dir nachgesagt und wie viele Verleumdungen sie über dich in Umlauf gebracht haben!«

»Oh, jetzt verstehe ich alles!« rief ich aus. Ich bedachte alle Unverschämtheiten, die ich ihr gesagt hatte, und fand das Benehmen der Gräfin wieder wunderbar. Nun kam ich mir als ein Schurke vor, der noch immer nicht genug gelitten hat, und wollte in ihrer Duldsamkeit nur mehr die mitleidige Nachsicht der Liebe erblicken. »Nur nicht zu rasch, mein Freund!« warnte mich da der weltkluge Gaskogner, »Feodora besitzt die natürliche Menschenkenntnis aller tief egoistischen Frauen. Sie hat sich vielleicht schon damals ihr Urteil über dich gebildet, als du an ihr noch nichts andres als ihren Reichtum und ihren Luxus sahst. Trotz deiner Geschicklichkeit wird sie dich durchschaut haben, sie ist so voll Verstellung, daß fremde Verstellung vor ihr keine Gnade finden kann. Ich fürchte, ich habe dich da auf einen üblen Weg gebracht. Bei all ihrer geistigen Gewandtheit und ihren angenehmen Manieren hielt ich dieses Geschöpf schon immer für herrschsüchtig, wie alle Frauen, die ihre Freuden nur mit dem Kopf erleben. Für sie besteht das Glück einzig in Wohlleben und in den gesellschaftlichen Genüssen. Gefühl ist ihr nur eine Rolle, die sie gelegentlich zu spielen hat. Sie würde dich unglücklich machen, dich zu ihrem ersten Bedienten erniedrigen …«

Rastignac sprach zu einem Tauben. Ich unterbrach ihn und erzählte ihm mit gespielter Heiterkeit, daß ich gar kein Geld mehr hätte.

»Gestern abend hat mich ein ganz besondres Pech im Spiele um mein ganzes verfügbares Geld gebracht«, antwortete er mir. »Wenn dieses gemeine Mißgeschick nicht gewesen wäre, hätte ich gern mein Geld mit dir geteilt. Aber gehen wir frühstücken, die Austern werden uns vielleicht einen guten Rat geben …«

Er zog sich an und ließ seinen Tilbury kommen. Dann fuhren wir wie zwei Millionäre beim Café de Paris vor, mit der Unverschämtheit waghalsiger Spekulanten, die von Scheinkapitalien leben. Der Teufel von einem Gaskogner brachte mich durch die Sicherheit seiner Manieren und die Unbeirrbarkeit seines Auftretens in die größte Verwirrung. Als wir nach dem köstlich zubereiteten und ausgewählten Mahl den Kaffee nahmen, sagte mir Rastignac, der einer Menge junger Leute zunickte, die allesamt von angenehmstem Äußern und aufs beste gekleidet waren, als er einen dieser Dandys eintreten sah: »Der da ist dein Mann!«

Er winkte einen eleganten Herrn, der einen passenden Tisch zu suchen schien, heran.

Rastignac flüsterte mir ins Ohr: »Dieser Kerl hat für die Veröffentlichung von Werken, die er selbst nicht versteht, die Ehrenlegion bekommen. Er ist Chemiker, Historiker, Romanschriftsteller und Journalist. Er ist mit einem Drittel, einem Viertel, der Hälfte, an ich weiß nicht wie vielen Theaterstücken beteiligt. Sonst ist er ein Ignorant wie der Maulesel des Don Miguel. Das ist überhaupt gar kein Mensch, das ist nur ein Name, ein Titel, eine dem Publikum vertraute Etikette. Ich glaube, er würde sich hüten, solche Kabinette zu betreten, über denen steht: ›Hier kann man selber schreiben!‹ Aber er ist schlau genug, um einen ganzen Gelehrtenkongreß hineinzulegen. Er ist ein moralischer Bastard, nicht wirklich anständig, aber auch kein vollkommener Gauner. Aber still jetzt! Er hat schon einmal ein Duell gehabt, weiter fragt die Welt nicht und nennt ihn einen Ehrenmann!«

»O mein ausgezeichneter ehrenwerter Freund, wie befinden sich Eure Intelligenz?« rief Rastignac dem Unbekannten zu, der sich am Nebentische niederließ.

»Soso, nicht gut, nicht schlecht. Ich bin erschöpft von der Arbeit. Ich habe das ganze Material in den Händen, um hochinteressante historische Memoiren daraus zu machen, und weiß nicht, wen ich zum Verfasser ernennen könnte! Das regt mich auf, denn ich muß mich beeilen, sonst kommen die Memoirenbücher aus der Mode!«

»Sind das zeitgenössische Memoiren oder alte? Aus der Hofgesellschaft?«

»Über die Halsbandgeschichte!«

»Ist das nicht ein Wunder?« wandte sich Rastignac lachend zu mir, dann kehrte er sich wieder dem Spekulanten zu, zeigte auf mich und sagte:

»Ich stelle Ihnen hier einen meiner Freunde, Herrn von Valentin, vor, eine unserer künftigen literarischen Größen. Er hat eine Tante gehabt, eine Marquise, die mit den Ereignissen bei Hofe sehr vertraut war. Er arbeitet jetzt seit zwei Jahren an einer royalistischen Geschichte der Revolution.«

Er neigte sich zu dem sonderbaren Geschäftsmann und sagte ihm ins Ohr: »Das ist ein ganz begabter Mensch, aber sonst ohne jede Bedeutung. Der könnte Ihnen unter dem Namen seiner Tante die Memoiren schreiben, den Band für hundert Taler.«

»Das Geschäft gefällt mir!« erwiderte der andre und zog seine Halsbinde höher, »Kellner, was ist mit meinen Austern?«

»Schön. Sie geben mir also fünfundzwanzig Louisd'or für die Vermittlung und ihm bezahlen Sie einen Band im voraus!« setzte Rastignac fort.

»Nein, mein Lieber, ich zahle höchstens fünfzig Taler, denn ich möchte die Sicherheit haben, mein Manuskript rechtzeitig zu bekommen.«

Rastignac wiederholte mir leise diese geschäftliche Unterredung und sprach dann weiter, ohne mich um meine Meinung zu befragen: »Also sind wir einig! Wann können wir mit Ihnen das Geschäft abschließen?«

»Kommen Sie morgen abends um sieben Uhr hierher.«

Wir erhoben uns. Rastignac warf dem Kellner etwas Kleingeld hin, steckte die Rechnung unbesehen in die Tasche und wir gingen. Ich war starr über die Leichtigkeit und die Unbedenklichkeit, mit der er meine ehrenwerte Tante, die Marquise von Montbauron, verkauft hatte.

»Ich möchte mich lieber nach Brasilien einschiffen und den Indianern Algebra beibringen, wovon ich kein Wort verstehe, als so den Namen meiner Familie beschmutzen!«

Rastignac unterbrach mich mit einem lauten Auflachen: »Du bist zu dumm. Jetzt nimm erst die fünfzig Taler und schreib die Memoiren! Wenn sie fertig sind, du Idiot, weigerst du dich einfach, den Namen deiner Tante dafür herzugeben. Die ansehnliche Frau von Montbauron, die unter der Guillotine gestorben ist, ist mit ihrem Reifrock, ihrer Schönheit, ihrer Schminke und ihren Pantoffeln wirklich mehr als sechshundert Franken wert. Wenn der Buchhändler dir dann für deine Tante nicht bezahlen will, was sie wert ist, soll er sich irgendeinen alten Industrieritter oder weiß Gott was für eine schmierige Gräfin suchen, die als Verfasser zeichnen könnte!«

»Oh, warum habe ich meine keusche Dachkammer verlassen? Die Gesellschaft hat doch eine zu schmutzige Kehrseite!«

Rastignac erwiderte mir: »Schön, das heb dir für das Dichten auf, hier handelt es sich um Geschäfte. Du bist ein Kind! Hör zu! Über die Memoiren wird das Publikum sein Urteil fällen. Aber mein literarischer Kuppler hat doch schließlich acht Jahre seines Lebens für seine Beziehungen zum Buchhandel hingegeben und sie mit bösen Erfahrungen bezahlen müssen. Du teilst zwar die Arbeit recht ungleich mit ihm, aber dein Geldanteil ist doch noch der bessere. Für dich sind fünfundzwanzig Goldstücke eine weit größere Summe als für ihn tausend Franken. Du kannst ruhig historische Memoiren schreiben, die eine ganz anständige künstlerische Arbeit sind, wenn Diderot auf Bestellung seine sechs Sermone geschrieben hat.«

Ich antwortete ihm gerührt: »Für mich ist das ja eine Lebensnotwendigkeit. Mein lieber Freund, dir schulde ich soviel Dank, fünfundzwanzig Louisd'or machen mich jetzt wirklich reich.«

Er erwiderte lachend: »Viel reicher noch als du glaubst. Hast du denn nicht erraten, daß die Vermittlergebühr, die Finot mir geben will, dir gehört? Aber jetzt gehen wir ins Bois de Boulogne, wir werden deine Gräfin dort sehen, und ich zeige dir die hübsche kleine Witwe, die ich heiraten soll, eine reizende Person, eine Elsässerin, nur ein bißchen dick. Sie liest Kant, Schiller, Jean Paul und noch eine Menge Bücher, die das Wasser aus ihren Lesern hervorpumpen. Dabei hat sie die Manie, mich ununterbrochen um meine Meinung zu fragen, und ich muß tun, als ob ich diese deutsche Rührseligkeit verstände und eine ganze Masse Balladen kennte – aber das sind doch Genußmittel, die mir der Arzt verboten hat. Ich habe ihr ihren literarischen Enthusiasmus noch nicht abgewöhnen können, sie weint ganze Wolkenbrüche, wenn sie Goethe liest, und ich muß aus Gefälligkeit ein bißchen mitweinen, denn sie hat fünfzigtausend Franken Rente, mein Lieber, und die hübschesten kleinen Füße und Hände auf Erden. Wenn sie nicht ihre verdammte Elsässer Aussprache hätte, wäre sie eine vollkommene Frau.«

Wir erblickten die Gräfin, blendend schön, in einem wundervollen Wagen. Sie lächelte uns kokett zu, grüßte herzlich und zeigte mir ein Lächeln, das mir himmlisch und voll Liebe schien. Ich war wieder glücklich, ich glaubte mich geliebt, ich hatte Geld und meine Leidenschaft war größer als mein Elend. Ich war voll glückseligster Fröhlichkeit, war mit allem zufrieden und fand die Geliebte meines Freundes entzückend. Bäume, Luft und Himmel, die ganze Natur, wiederholten mir das Lächeln Feodoras.

Auf dem Rückwege von den Champs Elysées gingen wir zu Rastignacs Hutmacher und Schneider. Die Halsbandgeschichte gestattete mir, meinen armseligen Friedensstand zu verlassen und mich kriegerisch zu rüsten. Künftig wollte ich es ohne Besorgnis mit den jungen Leuten, die Feodora umschwärmten, an Eleganz aufnehmen. Ich kehrte nach Hause zurück und schloß mich ein. Scheinbar still saß ich bei meinem Dachfenster. Aber ich sagte schon meinen Dächern für immer Lebewohl, lebte in der Zukunft, dichtete mein Leben um und genoß im Vorgefühl die Liebe und ihre Freuden. Wie stürmisch das Leben in den vier Wänden einer Dachkammer werden kann! Die Menschenseele ist eine Fee, sie verwandelt Stroh in Diamanten und unter ihrem Zauberstab sprießen Wunderpaläste wie die Feldblumen unter der belebenden Wärme der Sonne empor.«

*

»Andern Tags gegen Mittag klopfte Pauline sacht an meine Tür und brachte mir – rate was? – einen Brief von Feodora. Die Gräfin bat mich, sie im Luxembourg abzuholen und mit ihr zusammen ins Museum und in den Jardin des Plantes zu gehen.

»Der Dienstmann wartet auf Antwort«, sagte sie mir nach einem Augenblick des Schweigens. Ich kritzelte einen Dankbrief. Pauline trug ihn fort. Ich zog mich an. Als ich, recht zufrieden mit mir, meine Toilette beendigt hatte, überlief mich ein eisiger Schauer bei dem Gedanken: Ist Feodora im Wagen oder zu Fuß gekommen? Wird es regnen, wird es schön sein? Aber, ob sie zu Fuß ist oder im Wagen sitzt, ist man denn jemals vor der Launenhaftigkeit einer Frau sicher? Sie wird kein Geld bei sich haben und es wird ihr einfallen, einem kleinen Savoyarden hundert Sous zu geben, weil er so hübsche Lumpen anhat.

Ich besaß keinen roten Heller und konnte vor dem Abend kein Geld haben. Wie teuer muß ein phantasievoller Mensch in diesen Krisen der Jugend seine geistige Kraft bezahlen! In diesem Augenblick durchstachen mich tausend schmerzliche Gedanken wie Pfeile. Ich sah aus meinem Dachfenster zum Himmel auf. Das Wetter war ganz unbeständig. Wenn ich Unglück hatte, konnte ich am Ende gar einen Wagen für den ganzen Tag nehmen! Überdies mußte ich ja in all meinem Glück noch zittern, abends Finot nicht zu treffen. Ich fühlte mich nicht stark genug, in meiner Freude noch so viele Ängste auf mich zu nehmen.

Trotzdem ich sicher war, nichts zu finden, unternahm ich doch eine große Nachforschung im ganzen Zimmer; ich suchte nach den eingebildeten Talern bis in die Tiefe meines Strohsacks, ich durchwühlte alles und schüttelte selbst die alten Schuhe, ob nichts herausfallen wollte. Fieberhafte Erregung hatte mich ergriffen, mit verstörten Blicken spähte ich hinter alle Möbel, nachdem ich sie vom Platze gerückt hatte. Kannst du dir meine Raserei vorstellen, als ich das siebentemal die Lade meines Schreibtisches öffnete, sie schon mit der Gleichgültigkeit der Verzweiflung durchsuchte und darin plötzlich, in einer seitlichen Ritze tückisch versteckt, ein blitzblankes, sternleuchtendes, nobles, schönes Hundertsousstück entdeckte? Ich verlangte von ihm keine Rechenschaft über sein Schweigen und die Grausamkeit, mit der es sich vor meinen Blicken versteckt hatte, ich küßte es wie einen treuen Freund im Unglück und begrüßte es mit einem lauten Ruf – dem ein Echo antwortete. Jäh wandte ich mich um und erblickte Pauline, die erbleicht war. Mit bebender Stimme sagte sie: »Ich habe geglaubt, daß Sie sich weh getan haben. Der Dienstmann … (sie hielt ein, als ob sie erstickte), aber meine Mutter hat ihn bezahlt«, sagte sie noch, dann lief sie in kindlicher Hast davon. Arme Kleine, ich hätte ihr gerne gegönnt, ein Glück wie meines zu fühlen! In diesem Augenblick kam es mir vor, als ob ich alle Freudigkeit der Erde in meiner Seele trüge, und gerne hätte ich ihr das, was ich ihr mit meinem Glücke zu nehmen glaubte, vergolten.

Wir haben fast immer recht, wenn uns Vorgefühle von widrigen Dingen beherrschen. Die Gräfin hatte ihren Wagen weggeschickt. Aus einer jener Launen, von denen sich die schönen Frauen meist selber keine Rechenschaft geben, wollte sie zu Fuß über die Boulevards in den Jardin des Plantes gehen.

»Es wird aber regnen«, sagte ich.

Es machte ihr Vergnügen, mir zu widersprechen. Zufällig blieb das Wetter schön, während wir durch den Luxembourg-Park gingen. Als wir heraustraten, fielen ein paar Tropfen aus einer großen Wolke, deren Aufziehen mich schon die ganze Zeit mit Unruhe erfüllt hatte. Wir stiegen in eine Droschke. Als wir die Boulevards erreicht hatten, hörte der Regen auf, der Himmel heiterte sich wieder auf. Wir kamen vor dem Museum an und ich wollte den Wagen fortschicken. Feodora bat mich, ihn zu behalten. Was für Qualen das waren! Und ich mußte mit ihr plaudern und meine geheime Raserei unterdrücken, die sich doch sicher auf meinem Gesicht in einem dummen krampfhaften Lächeln aussprach. Wir irrten durch den Jardin des Plantes, gingen durch umbuschte Alleen und ich fühlte ihren Arm auf dem meinen; das Ganze schien mir unwirklich und phantastisch, wie ein Traum am hellen Tage. Ihre Bewegungen aber, im Gehen wie im Stehen, hatten trotz ihrer scheinbaren Sinnlichkeit nichts Sanftes und Verliebtes. So oft ich es versuchte, an ihrem inneren Leben teilnehmen zu können, fand ich immer wieder in ihr eine geheimnisvolle Lebendigkeit, die etwas Sprunghaftes und Exzentrisches barg. Den seelenlosen Frauen fehlt alle Weichheit in ihrem Wesen. Ungleich wie unsre Schritte war auch unser Wollen. Es gibt gar keine Worte dafür, diesen Mißklang zweier Wesen wiederzugeben, denn wir sind es nicht gewöhnt, die Bewegungen des Körpers als den Ausdruck von Gedanken aufzufassen. Diese Erscheinungen der menschlichen Natur empfindet man nur instinktiv, ohne einen Ausdruck für sie zu haben.

Während dieser heftigen Paroxysmen meiner Leidenschaft habe ich meine Empfindungen natürlich nicht genau untersucht, ich habe auch nicht mein Vergnügen analysiert, noch meine Herzschläge nachgezählt, wie etwa ein Geizhals seine Goldstücke prüft und wiegt. Erst heute wirft die Erfahrung ihr trauriges Licht über die Geschehnisse der Vergangenheit und die Erinnerung trägt mir diese Bilder zu, wie bei gutem Wetter die Flut Stück um Stück die Trümmer eines Schiffes an das Gestade spült.

Die Gräfin sah mich sonderbar verwirrt an und sagte: »Sie können mir einen sehr wichtigen Dienst leisten. Seitdem ich Ihnen meine Abneigung gegen die Liebe anvertraut habe, fühle ich mich freier und kann Sie auch im Namen der Freundschaft um einen Gefallen bitten. Heute wäre es doch auch viel verdienstlicher von Ihnen, wenn Sie mich zu Dank verpflichten wollten«, fuhr sie lachend fort. Ich sah sie schmerzvoll an. Sie empfand nichts für mich, sie heuchelte, sie war gefühllos. Es schien mir, daß sie wie eine vollendete Schauspielerin eine Rolle vor mir spielte. Plötzlich wieder erweckte ein Ton, ein Blick, ein Wort Hoffnungen. Wenn aber meine wiedererwachte Liebe aus meinen Augen strahlte, hielt sie meinen Blick aus, ohne daß sich die Klarheit des ihren trübte. Ihre Augen schienen wie die der Tiger einen metallischen Glanz in ihrer Tiefe zu haben. In solchen Augenblicken haßte ich sie.

Mit einschmeichelnder Stimme fuhr sie fort: »Die Protektion des Herzogs von Navarreins wäre mir bei einer allmächtigen Persönlichkeit in Rußland sehr nötig, deren Vermittlung ich brauchte, um in einer Angelegenheit, die in gleicher Weise mein Vermögen wie meine gesellschaftliche Stellung betrifft, Gerechtigkeit zu finden: es handelt sich um die Anerkennung meiner Ehe durch den Zaren. Der Herzog von Navarreins ist doch Ihr Vetter? Ein Brief von ihm könnte alles entscheiden.«

»Ich gehöre Ihnen, befehlen Sie!« antwortete ich.

Sie drückte mir die Hand. »Sie sind sehr liebenswürdig. Kommen Sie, essen Sie bei mir, ich werde Ihnen wie einem Beichtvater alles sagen.«

So wollte diese mißtrauische, verschwiegene Frau, von der kein Mensch noch ein Wort über ihre Dinge gehört hatte, mich um Rat fragen!

Ich sagte: »Oh, wie ich jetzt das Schweigen liebe, das Sie mir auferlegt haben! Ich hätte mir aber eine noch härtere Probe gewünscht!«

In diesem Augenblick nahm sie meine trunkenen Blicke entgegen und versagte sich meiner Bewunderung nicht – sie liebte mich also doch! Wir langten vor ihrem Hause an. Zu meinem Glücke reichte der Inhalt meiner Börse hin, um den Kutscher zu bezahlen. Ich verbrachte den Abend bei ihr aufs köstlichste, allein mit ihr. Es war das erstemal, daß ich sie so sehen durfte. Bisher hatte uns immer die Gesellschaft mit ihrer entfremdenden Höflichkeit und ihren kalten Formen voneinander getrennt, auch während ihrer verschwenderischen Diners; nun aber war ich bei ihr, als ob ich immer unter ihrem Dache gelebt hätte, und konnte mir einbilden, sie zu besitzen. Meine ungebärdige Phantasie zerbrach ihre Fesseln, ordnete die Ereignisse des Lebens nach ihrem eigenen Willen an und hüllte mich in alle Köstlichkeiten glücklicher Liebe. Ich stellte mir vor, ihr Gatte zu sein; ich bewunderte nun aus der Nähe jede kleinste Bewegung von ihr: Ich empfand sogar ein Glücksgefühl dabei, als ich sie Hut und Schal ablegen sah. Sie ließ mich einen Augenblick allein und kam frisch frisiert und entzückend zurück. Für mich hatte sie so reizend Toilette gemacht. Während des Essens verschwendete sie an mich ihre Aufmerksamkeit und entfaltete unendliche Anmut in tausend Dingen, die ein Nichts zu sein scheinen und doch das halbe Leben sind. Dann saßen wir, in seidene Kissen gelehnt, vor dem flackernden Feuer inmitten aller nur wünschbaren Schöpfungen von orientalischem Luxus. Als ich diese Frau, deren Schönheit so viele Herzen beben machte, die Frau, die so schwer zu gewinnen war, ganz nahe bei mir sah, ihre Worte hörte und mich als Gegenstand ihrer Koketterien empfinden durfte, wurde meine glückselige Lust fast zum Leiden. Zu meinem Unglück erinnerte ich mich des wichtigen Geschäftes, das ich abschließen sollte, und wollte zu dem gestern vereinbarten Rendezvous gehen.

Als sie mich meinen Hut nehmen sah, rief sie: »Was? Schon?«

Sie liebte mich! Ich glaubte daran, als ich sie diese Worte mit liebkosender Stimme aussprechen hörte. Und ich hätte gern zwei Jahre meines Lebens für jede der Stunden, die sie mir gönnte, gegeben. Mein Glück wuchs nur bei dem Gedanken an all das Geld, das ich um sie verlor. Es war Mitternacht, als sie mich nach Hause schickte.«

*

»Nichtsdestoweniger kostete mich mein verliebtes Heldentum am andern Morgen genug Gewissensbisse: ich fürchtete, die Sache der Memoiren, die für mich eine so große Bedeutung hatte, vertan zu haben. Ich lief zu Rastignac und wir gingen zusammen, den offiziellen Verfasser meiner künftigen Arbeiten beim Aufstehen zu überraschen. Finot las mir einen kleinen Vertrag vor, in dem von meiner Tante keine Rede war. Nachdem ich ihn unterzeichnet hatte, zahlte er mir fünfzig Taler aus. Zu dritt gingen wir dann frühstücken.

Nachdem ich meinen Hut und meine Schulden bezahlt und ein Abonnement für sechzig Mittagessen zu dreißig Sous genommen hatte, blieben mir nur noch dreißig Franken. Aber damit waren alle Schwierigkeiten des Lebens für mich auf einige Zeit beseitigt. Wenn ich auf Rastignac hätte hören wollen, hätte ich Schätze besitzen können, wenn ich mich nur kühnlich des »Englischen Systems« bediente. Er wollte mir einen Kredit eröffnen lassen und mich zum Schuldenmachen überreden, da die Schulden den Kredit lebendig erhielten. Nach seinen Worten war von allen Kapitalien der Welt die Zukunft das beträchtlichste und solideste. Ich sollte solcherart meine Schulden als Hypotheken auf künftige Möglichkeiten auffassen. Er brachte mich zu seinem Schneider, der das Wesen des ›jungen Herrn‹ wohl begriff und mich bis zu meiner Verheiratung in Ruhe lassen sollte.

Von diesem Tage an brach ich mit dem mönchischen Arbeitsleben, das ich durch drei Jahre geführt hatte. Ich ging sehr eifrig zu Feodora und versuchte, die hochmütigen Burschen und die Cliquenhelden ihrer Umgebung zu übertrumpfen. Ich glaubte mich nun für immer dem Elend entronnen. Ich gewann meine geistige Freiheit wieder, ich drängte meine Nebenbuhler in den Schatten und galt nun für einen verführerischen blendenden unwiderstehlichen Menschen. Indessen verbreiteten die geschickten Klatschmäuler über mich den Ausspruch: ›Ein so geistreicher Mensch kann nur mit dem Kopf Leidenschaften empfinden!‹ Wohlwollend priesen sie meinen Geist, allerdings auf Kosten meiner Empfindungsfähigkeit. Sie sagten: ›Der ist glücklich, denn er liebt nicht. Könnte er lieben, dann wäre er nicht immer so guter Laune.‹ Aber wenn Feodora in der Nähe war, war ich doch recht verliebt und dumm. War ich allein mit ihr, wußte ich ihr kein Wort zu sagen; wenn ich aber sprach, führte ich Spottreden über die Liebe. Ich war traurig-fröhlich, wie ein Hofmann, der einen bittern Groll verbergen will. Ich versuchte weiter, mich für ihr Leben, ihr Glück und ihre Eitelkeit unentbehrlich zu machen. Ich besuchte sie alle Tage und war ihr Sklave und das beständige Spielzeug ihrer Laune. Nachdem ich meinen Tag solcherart vergeudet hatte, ging ich nach Hause, arbeitete die Nacht durch und schlief höchstens zwei oder drei Stunden gegen Morgen. Aber ich konnte mich nicht wie Rastignac an das ›Englische System‹ gewöhnen, immer wieder stand ich ohne einen Sou da. Von dieser Zeit an, mein lieber Freund, war ich ein Lebemann ohne Vermögen, ein Dandy ohne Geld, ein namenlos Verliebter – und ich verfiel wieder der Unsicherheit des Lebens, dem tiefen, kalten Elend, das ich sorgfältig unter einem trügerischen Schein von Luxus verbarg. Ich fühlte meine ersten Leiden wieder, aber weniger quälend, ich hatte mich nun wohl schon mit ihren schrecklichen Krisen vertraut gemacht. Oft waren Tee und Kuchen, die so sparsam in den Salons gereicht werden, meine einzige Nahrung. Zuweilen aß ich mich bei den verschwenderischen Diners der Gräfin für zwei Tage satt. Meine ganze Zeit, meine Mühe und Beobachtungskraft verwendete ich darauf, tiefer in das undurchdringliche Wesen Feodoras einzudringen.

Bisher hatten Hoffnung und Verzweiflung meine Meinung beeinflußt; ich sah einmal in ihr die liebevollste Frau, dann wieder erschien sie mir als die gefühlloseste ihres Geschlechtes; aber dieses Auf und Nieder von Freude und Trauer wurde für mich endlich unerträglich. Ich wollte eine Entscheidung dieses schrecklichen Kampfes herbeiführen, ich wollte meine Liebe ertöten. Böse Lichter glommen zuweilen in meiner Seele auf und ließen mich die Abgründe zwischen uns gewahr werden.

Die Gräfin rechtfertigte alle meine Befürchtungen: niemals habe ich sie mit Tränen in den Augen überrascht, im Theater blieb sie bei den rührendsten Szenen heiter und kühl. All ihre Feinfühligkeit galt nur ihr selber und sie ahnte nichts von Qual und Glück der andern. Sie hatte also doch mit mir gespielt! Ich war glücklich gewesen, für sie ein Opfer bringen zu können, ja ich hatte mich fast weggeworfen für sie, indem ich meinem Verwandten, dem Herzog von Navarreins, einen Besuch machte, diesem Egoisten, der über mein Elend schamrot wurde. Er hatte mir zu großes Unrecht angetan, um mich nicht dafür hassen zu müssen. Er empfing mich mit jener kalten Höflichkeit, die jedes Wort und jede Gebärde zu einer Beleidigung macht: sein unruhiger Blick aber erregte mein Mitleid. Ich schämte mich für ihn, ob seiner Kleinlichkeit inmitten aller dieser Größe, ob seiner Armseligkeit in all dem Luxus. Er erzählte mir von beträchtlichen Verlusten, die er durch die Herabsetzung des Zinsfußes auf drei Prozent erlitten hätte. Ich sagte ihm nun, was der Anlaß meines Besuches sei. Da änderte sich sein eisiges Benehmen im Augenblicke, er wurde allmählich sogar herzlich – mich ekelte. Kurz und gut, mein Freund, er kam zur Gräfin und stach mich bei ihr aus. Feodora erfand für ihn die wunderbarsten neuen Zauberkünste, sie berückte ihn und führte ohne mich diese geheimnisvolle Angelegenheit, von der ich kein Wort zu wissen bekam, zu Ende: ich war für sie nur ein Mittel gewesen. Sie bemerkte mich überhaupt nicht mehr. Wenn mein Vetter bei ihr war, empfing sie mich vielleicht noch weniger gern als an dem Tage, da ich ihr vorgestellt war. Eines Abends erniedrigte sie mich vor dem Herzog mit einer Bemerkung und einer Gebärde, für die es kein Wort gibt. Weinend ging ich fort, wälzte tausend Rachepläne in meinen Gedanken und erwog die ungeheuerlichsten Verbrechen …

Ich ging oft mit ihr ins Theater. Ganz nahe bei ihr sitzend, ganz von Liebe erfüllt, betrachtete ich sie und überließ mich dem Zauber der Musik; ich erschöpfte meine Seele in dem doppelten Genusse, zu lieben und die Regungen meines Herzens in der Musik gestaltet zu erleben. Meine Leidenschaft erklang in der Arie auf der Bühne, sie triumphierte überall, nur nicht bei meiner Geliebten. Ich nahm Feodoras Hand, ich durchforschte ihre Züge und ihre Augen, gierig nach einem Ineinanderströmen unserer Gefühle, nach einer jähen Harmonie, die, von der Musik erweckt, unsere Seelen bebend vereinen sollte. Aber ihre Hand blieb stumm, und ihre Augen redeten nicht. Wenn ihr das Feuer meines Herzens aus meinem Angesichte zu heftig aufglühte, erhielt ich wieder jenes gesuchte Lächeln, die konventionelle Phrase, die in den Salons auf allen Lippen schwebt. Sie hörte der Musik nicht zu. Die himmlischen Klänge Rossinis, Cimarosas und Cingarellis erweckten in ihr kein Gefühl. Ihre Seele war unfruchtbar. Sie stellte sich hier zur Schau als ein Schauspiel inmitten dieses Schauspieles. Ihr Lorgnon wanderte unaufhörlich von Loge zu Loge, sie war beunruhigt trotz ihrer Ruhe, sie war ein rechtes Opfer der Mode: ihre Loge, ihr Kopfputz, ihr Wagen, ihre Person waren ihr alles. Man trifft oft Menschen von kräftigem Wuchse, die in ihrem Körper von Bronze ein zartes, feinfühliges Herz haben. Sie aber trug ein Herz von Bronze unter der zarten, anmutigen Hülle. Mein böses Wissen zerriß mir die Hüllen um sie. Wenn der gute Ton darin besteht, sich selbst um des anderen willen zu vergessen, in Stimme und Gebärde eine beständige Freundlichkeit auszudrücken und dem anderen zu gefallen, indem man dessen Selbstbewußtsein hebt, hatte Feodora bei all ihrer Geschicklichkeit doch noch nicht jede Spur ihrer plebejischen Herkunft getilgt. Ihr Selbstvergessen war Falschheit, ihre Manieren waren nicht angeboren, sondern mühsam erworben, ihre Höflichkeit gegen Höherstehende aber schmeckte nach Servilität. Ihre Freunde wollten in ihren honigsüßen Worten den Ausdruck von Güte und in ihrer überheblichen Anmaßung edlen Enthusiasmus sehen.

Nur ich hatte ihre Mienen studiert und war durch die dünne Rinde, die der Gesellschaft genügt, zu ihrem Innern vorgedrungen. Mir konnte sie mit ihren Spielereien nichts mehr vormachen: ich kannte ihre Katzenseele bis in ihre Tiefe. Wenn irgendein Dummkopf ihr Komplimente machte und sie pries, schämte ich mich für sie. Und doch liebte ich sie noch immer. Ich hoffte, unter den Fittichen meiner Dichterseele das Eis ihres Herzens fortschmelzen zu können. Wenn ich ein einziges Mal ihr Herz den Zärtlichkeiten der Frau auftun und sie nur einmal die Erhabenheit der Hingabe hätte lehren können, sie wäre vollkommen, sie wäre ein Engel geworden. Ich liebte sie, als Mann, als Liebhaber, als Künstler; aber um sie zu gewinnen, hätte man sie doch nicht lieben dürfen. Ein gerissener Geck oder ein kalt berechnender Mensch hätte vielleicht über sie triumphiert. Hohl und künstlich, wie sie war, hätte sie sicher die Sprache der Hohlheit erhört und sich in der Falle einer Intrige fangen lassen. Ein eisiger, gefühlloser Mann hätte über sie herrschen können.

Schneidende Schmerzen durchdrangen meine Seele, wenn sie mir in aller Naivität ihren Egoismus enthüllte. Ich sah mit Schmerzen, wie sie allein durchs Leben gehen und eines Tages keinen haben würde, dem sie die Hand reichen könnte, wie sie keines Freundes Blick finden würde, in dem sie den ihren ruhen lassen könnte. Eines Abends hatte ich den Mut, ihr in den lebhaftesten Farben ihr einsames, trauriges Alter darzustellen. Aber ohne Furcht vor der Rache ihrer schauerlich um sich selbst betrogenen Natur sprach sie das gräßliche Wort aus:

›Ich werde doch immer Geld haben. Und mit Geld kann man immer in seiner Umgebung so viel Gefühl hervorrufen, als man es für sein Wohlbefinden braucht.‹

Ich verließ sie, niedergeschmettert von dieser Logik des Wohllebens, von dieser Frau und dieser Gesellschaft – und schämte mich meiner törichten Vernarrtheit in sie. Ich liebte Pauline in ihrer Armut nicht. Hatte also nicht auch die reiche Frau das Recht, einen Rafael zurückzuweisen? Unser Gewissen ist ein untrüglicher Richter, wenn wir es noch nicht in uns ertötet haben. Eine spitzfindige Stimme in mir sagte: ›Feodora liebt keinen und weist keinen ab. Sie ist frei. Aber einmal hat sie sich um Geld hingegeben. Gleichgültig ob als Liebhaber oder als Gatte, der russische Graf hat sie besessen. Sie wird schon noch eine Versuchung in ihrem Leben haben. Warte sie ab!‹ Diese Frau war nicht tugendhaft, nicht lasterhaft, sie lebte fern von allem Menschlichen in ihrer eigenen Sphäre, die Hölle oder Paradies war, und dieses weibliche Mysterium in Kaschmir und Spitzen setzte in meinem Herzen alle menschlichen Empfindungen in Bewegung: Stolz, Ehrgeiz, Liebe, Neugier …«

*

»Eine Modelaune oder die Lust, originell zu erscheinen, die wir alle haben, hatte dazu geführt, daß ein kleines Boulevardtheater damals sehr gepriesen wurde. Die Gräfin äußerte den Wunsch, das weiß gepuderte Gesicht eines der Schauspieler dort zu sehen, der von ein paar geistreichen Leuten sehr gerühmt wurde; und ich hatte die Ehre, sie zur ersten Aufführung irgendeiner scheußlichen Posse dahin zu führen. Die Loge kostete kaum hundert Sous, aber ich besaß keinen roten Heller. Ich hatte noch die Hälfte des Memoirenbandes zu schreiben und so wagte ich es nicht, zu Finot zu gehen und ihn um Hilfe zu bitten. Mein guter Engel Rastignac war nicht in Paris. Diese ewige Geldverlegenheit zermarterte mir das Leben. Einmal, als wir das Theater verließen, regnete es furchtbar, und Feodora zwang mich, mir einen Wagen zu nehmen, und ich konnte mich dieser kostspieligen Verpflichtung nicht entziehen. Sie ließ keine meiner Ausreden gelten, weder, daß ich den Regen gern hätte, noch daß ich Lust hätte, spielen zu gehen. Sie erriet weder aus meiner Haltung noch aus meinen traurig scherzhaften Worten meine Armut. Meine Augen verdunkelten sich, aber sie verstand ja Blicke nicht.

Das Leben junger Leute ist sonderbaren Launen unterworfen! Während der Fahrt erweckte jede Drehung des Rades Gedanken in mir, die mich bis ins Herz brannten. Ich wollte ein Brett vom Wagenboden losreißen, weil ich so auf das Pflaster zu gleiten hoffte: aber ich stieß auf unbesiegliche Hindernisse. Ein wildes Lachen schüttelte mich, dann verfiel ich wieder in stille Dumpfheit und sah stumpf wie ein Mensch am Pranger vor mich hin. Als ich zu Hause ankam, unterbrach Pauline meine ersten stammelnden Worte und sagte mir: »Haben Sie vielleicht kein Kleingeld?« Oh, was war die Musik von Rossini gegen diese Worte!

Aber ich wollte ja vom Theater erzählen. Um die Gräfin hinführen zu können, dachte ich daran, den Goldreif um das Porträt meiner Mutter zu versetzen. Obwohl mir das Leihhaus immer als eines der Tore zum Zuchthaus erschienen war, war es doch noch besser, wenn ich selber mein Bett hinschleppte, als daß ich um ein Almosen bettelte. Der Blick der Leute, die man um Geld angeht, tut so weh! Gewisse Darlehen kosten die Ehre, wie gewisse Zurechtweisungen aus dem Munde einer Freundin die letzte Illusion nehmen.

Pauline arbeitete, die Mutter war zu Bett gegangen. Ich warf einen verstohlenen Blick auf das Bett, dessen Vorhänge ein wenig offenstanden, und glaubte Frau Gaudin tief schlafend, als ich im Schatten ihr stilles gelbliches Profil sich auf dem Kissen abzeichnen sah. Pauline legte den Pinsel neben ihre Malarbeit und fragte mich:

»Haben Sie einen Kummer?«

»Mein liebes Kind, Sie könnten mir einen großen Gefallen tun!« erwiderte ich ihr. Sie sah mich so glücklich an, daß ich erbebte.

»Liebt sie mich denn? …« dachte ich. Ich setzte mich neben sie, um sie beobachten zu können:

»Pauline!« sagte ich leise.

Sie erriet die Frage, die ich stellen wollte; sie senkte die Augen. Ich durchforschte sie und glaubte in ihrem Herzen lesen zu können, wie in dem meinen, so schlicht und rein war ihr Gesicht.

»Haben Sie mich lieb?« fragte ich sie.

»Ein bißchen … leidenschaftlich … nein, nein, gar nicht …« rief sie.

Sie liebte mich nicht. Ihr spottender Ton zusammen mit der freundlichen Gebärde hatten eben nur die überschwängliche Dankbarkeit eines jungen Mädchens zu bedeuten. Ich gestand ihr nun meine Not, die Verlegenheit, in der ich mich befand, und bat sie, mir zu helfen.

»Wie, Herr Rafael, Sie selbst wollen nicht ins Versatzamt gehen – und mich schicken Sie hin?«

Ich errötete, beschämt von der Logik dieses Kindes. Da griff sie nach meiner Hand, als wollte sie mit einer Liebkosung die Aufrichtigkeit ihres Ausspruches wieder gut machen.

Sie sagte: »Ich gehe ja gern hin, aber der Weg ist ganz unnötig. Ich habe heute hinter dem Klavier zwei Hundertsousstücke gefunden, die zwischen die Wandleiste und die Mauer geglitten waren, und ich habe sie auf Ihren Tisch gelegt.«

Nun hob auch die Mutter den Kopf, blickte zwischen den Vorhängen heraus und sagte freundlich: »Sie können noch Geld haben, ich kann Ihnen gern ein paar Taler leihen, mit dem Zurückgeben eilt es nicht.«

»Oh, Pauline, ich möchte reich sein!« rief ich aus und drückte ihr die Hand.

»Warum denn?« sagte sie lebhaft. Ihre Hand bebte in der meinen und antwortete mit einem Erzittern jedem Schlage meines Herzens. Mit einer schnellen Bewegung zog sie sie zurück und sah prüfend meine Hand an: »Sie werden eine reiche Frau heiraten, aber sie wird Ihnen viel Kummer bereiten. O Gott! Sie wird Sie töten! Ich weiß es sicher.«

Ihr Ausruf bewies mir, daß auch sie an den tollen Aberglauben ihrer Mutter glaubte.

»Sie sind recht leichtgläubig, Pauline!«

Sie sah mich erschreckt an: »Oh, das ist ganz bestimmt wahr! Die Frau, die Sie lieben werden, wird Sie töten.«

Sie ergriff wieder ihren Pinsel und tauchte ihn in die Farbe; heftige Erregung war ihr anzumerken. Sie sah mich nicht mehr an. In diesem Augenblicke hätte ich gern an ihre Prophezeiung geglaubt. Ein Mensch ist nicht ganz elend, solange er abergläubisch ist. Ein Aberglaube ist oft noch eine Hoffnung.

Als ich in mein Zimmer zurückkam, erblickte ich tatsächlich zwei blanke Taler, deren Herkunft mir ganz unerklärlich war. In den wirren Gedanken des Halbschlafes suchte ich meine Ausgaben zu überrechnen, um diesen unerwarteten Fund rechtfertigen zu können, aber ich schlief, in unnütze Rechnereien verloren, ein. Als ich am anderen Morgen weggehen wollte, um die Loge zu nehmen, kam Pauline zu mir herein: »Sie haben vielleicht mit zehn Franken nicht genug?« sagte mir das liebe gütige Mädchen errötend, »meine Mutter hat mir aufgetragen, Ihnen dieses Geld zu bringen … bitte, nehmen Sie es.«

Sie legte drei Talerstücke auf meinen Tisch und wollte fortlaufen. Ich hielt sie zurück. Bewunderung trocknete die Tränen, die sich in meine Augen drängten: »Pauline! Sie sind ein Engel! Dieses Geld rührt mich viel weniger als die Verschämtheit, mit der Sie es mir anbieten. Ich habe mir eine reiche, elegante Frau mit einem großen Namen gewünscht. Jetzt möchte ich Millionen besitzen und ein armes Mädchen wie Sie finden, mit einem so reichen Herzen wie das Ihre – dann entsagte ich gern meiner bösen Leidenschaft, die mich töten wird. Sie haben damit vielleicht recht!«

»Genug!« rief sie und lief fort. Ihre Nachtigallenstimme, ihre frischen Triller hallten durch das Stiegenhaus.

»Sie ist glücklich, weil sie noch nicht liebt!« sagte ich mir, da ich der Martern gedachte, die ich seit Monaten auszustehen hatte. Die fünfzehn Franken Paulines waren für mich von größtem Wert. Feodora dachte an die Ausdünstungen, die wir in dem Saal einige Stunden hindurch zu gewärtigen hatten, und bedauerte es, keinen Blumenstrauß zu haben: ich ging ihr Blumen holen und brachte ihr in ihnen mein Leben und meinen Besitz dar. Ich empfand zugleich Gewissensbisse und Freude, da ich ihr den Strauß überreichte, dessen Preis mir enthüllte, wie kostspielig die übliche oberflächliche Galanterie der Gesellschaft sei. Bald aber beklagte sie sich über den ein wenig zu starken Duft des mexikanischen Jasmins; auch empfand sie einen unerträglichen Ekel, wenn sie in den Saal sah, in dem sie auf einem harten Bänkchen sitzen mußte. Sie tadelte mich, sie in dieses Theater geführt zu haben. Obwohl sie in meiner Gesellschaft war, wollte sie fortgehen – und sie ging wirklich. Ich hatte mir schlaflose Nächte gemacht, hatte zwei Monate meines Lebensunterhaltes vergeudet und hatte ihr damit nicht einmal einen Gefallen erweisen können. Niemals war dieser Dämon anmutiger, niemals auch gefühlloser gewesen. Während der Fahrt saß ich dicht neben ihr in dem engen Wagen, ich atmete ihren Hauch, ich rührte ihre duftenden Handschuhe an, ich sah deutlich alle die Schätze ihrer Schönheit, ich empfand einen Wohlgeruch, süß wie Iris: alles an ihr war Frau, und dennoch war sie keine Frau. In diesem Augenblick erhellten sich mir für eine Sekunde die Tiefen dieses geheimnisvollen Lebens.

Ich mußte plötzlich an ein Buch denken, das kürzlich ein Dichter hatte erscheinen lassen: ich sah ein unwahrscheinliches Wesen vor mir, das bald als Offizier ein durchgehendes Pferd bändigt, bald als junges Mädchen sich vor den Spiegel stellt und seine Liebhaber zur Verzweiflung bringt und dann wieder, selber Liebhaber, eine sanfte bescheidene Jungfrau unglücklich macht. Ich erzählte Feodora diese phantastische Geschichte. Aber sie bemerkte nicht ihre Ähnlichkeit mit dieser dichterischen Fabelgestalt, unbefangen unterhielt sie sich dabei, wie ein Kind bei einer Geschichte aus Tausendundeiner Nacht.

Als ich heimkam, sagte ich mir: »Feodora muß unter dem Schutze irgendeines Geheimnisses stehen, um der Liebe eines Menschen in meinem Alter, dem Ansteckungskeim dieses schönen Seelenfiebers widerstehen zu können. Vielleicht ist sie wie die Lady Delacour krebskrank? Sicherlich ist ihr ganzes Leben etwas Künstliches.« Bei diesem Gedanken überlief es mich kalt. Es entstand ein Plan in mir, der zugleich der närrischeste und der klügste war, auf den ein Verliebter verfallen konnte. Um diese Frau auch körperlich erforschen zu können, wie ich sie schon seelisch studiert hatte, um sie endlich ganz zu kennen, beschloß ich, ohne ihr Wissen eine Nacht in ihrem Zimmer zuzubringen. Laß dir erzählen, wie ich diese Sache durchgeführt habe, die an meiner Seele fraß wie die Rachsucht am Herzen eines korsischen Mönches.«

*

»An den Empfangstagen kamen so viele Menschen zu Feodora, daß es dem Portier unmöglich sein mußte, Kommen und Gehen genau zu kontrollieren. Ich war sicher, in ihrem Hause bleiben zu können, ohne einen Skandal zu erregen; so erwartete ich ungeduldig den nächsten Abend der Gräfin. Beim Ankleiden steckte ich ein kleines englisches Federmesser in die Westentasche, da ich keinen Dolch besaß. Wenn man dies literarische Ding bei mir fände, wäre gar nichts Verdächtiges dabei; ich wußte ja nicht, wohin mich mein romanhafter Entschluß führen würde, und wollte doch irgendwie bewaffnet sein.

Als sich die Salons zu füllen begannen, ging ich in das Schlafzimmer, um dort die Verhältnisse zu studieren; ich fand die Fenstergardinen und die Laden schon geschlossen. Das traf sich sehr günstig für mich. Da aber die Kammerfrau nochmals hätte kommen können, um die Vorhänge zu schließen, machte ich die Vorhanghalter los; ich richtete vorzeitig das Zimmer für die Nachtruhe her. Ich hatte die Gefahren meiner Situation, denen ich ausgeliefert war, alle kühl erwogen. Gegen Mitternacht kam ich wieder und versteckte mich in der Fensternische. Damit meine Füße nicht zu sehen seien, stieg ich auf das Fensterbrett, stützte mich mit dem Rücken gegen die Mauer, und hielt mich am Fensterriegel fest. Ich probierte nun mein Gleichgewicht und meine Stützpunkte aus, maß die Entfernung, die mich von den Vorhängen trennte, und machte mich mit allen Schwierigkeiten meiner Lage vertraut; ich konnte, ohne eine Entdeckung fürchten zu müssen, hier bleiben, wenn nicht etwa ein Krampf, Husten oder Niesen mich verrieten. Um mich nicht unnötig zu ermüden, blieb ich unten stehen und erwartete so den kritischen Augenblick, von dem an ich wie eine Spinne im Netz oben verharren würde. In die breiten Falten der Seiden- und Musselin-Vorhänge schnitt ich mit meinem Taschenmesser Gucklöcher, um durch sie alles sehen zu können. Ich hörte von den Salons her undeutlich Murmeln, Lachen und Stimmenlärm. Das unbestimmte Brausen und die dumpfe Bewegung nahmen allmählich ab. Ein paar Herren kamen und holten ihre Hüte, die sie in meiner Nähe auf die Kommode der Gräfin gelegt hatten. Wenn sie an die Vorhänge streiften, schauderte ich im Gedanken an die Zerstreutheit und die möglichen Zufälle solcher Nachforschungen von Leuten, die es eilig hatten zu gehen und überall herumstöberten. Mein Unternehmen begann günstig, da keiner dieser üblen Zufälle eintrat. Den letzten Hut nahm ein alter Verehrer Feodoras fort, der sich allein glaubte, das Bett ansah und einen tiefen Seufzer ausstieß, dem noch irgendein recht energischer Ausruf folgte.

Die Gräfin hatte nur mehr in dem Boudoir, das ihrem Schlafzimmer benachbart war, fünf oder sechs vertraute Freunde bei sich und schlug ihnen vor, dort Tee zu trinken. Die Verleumdungen, denen unsere gegenwärtige Gesellschaft den ganzen Glauben schenkt, der ihr noch geblieben ist, mischten sich nun mit Witzworten, mit geistreichen Urteilen und dem Lärm der Tassen und Löffel. Rastignac erregte mit ein paar mitleidslosen bissigen Ausfällen auf meine Nebenbuhler lautes Gelächter.

Die Gräfin sagte lachend: »Herr von Rastignac ist ein Mann, mit dem man sich nicht verfeinden darf.«

Er antwortete naiv: »Das glaube ich selber. Ich habe mit meinen Abneigungen und mit meinen Freundschaften immer recht behalten. Und meine Feinde nützen mir vielleicht ebenso wie meine Freunde. Ich habe recht eingehende Studien über die moderne Sprache und die Kunstmittel getrieben, die man braucht, um alles angreifen und alles verteidigen zu können. Die Ministerberedsamkeit ist nur eine Vervollkommnung der gesellschaftlichen. Wenn ein Freund geistlos ist, redet man von seiner Ehrlichkeit und Offenheit. Die schwerfällige Arbeit eines anderen stellt man als ein gewissenhaftes Werk dar. An einem schlecht geschriebenen Buche rühmt man die Ideen. Ein anderer Mensch wieder ist ganz unzuverlässig, er entgleitet einem immer wieder: von ihm sagt man, er sei verführerisch, bezaubernd, hinreißend. Wenn es sich aber um Feinde handelt, wird ihr Gutes wie ihr Böses zum Gegenstande der Lästerung; für sie kehrt man die Ausdrücke der Sprache um und wird ebenso scharfsichtig im Entdecken der Fehler, wie man sonst geschickt ist, die Tugenden seiner Freunde herauszustreichen. Der richtige Gebrauch einer solchen moralischen Lorgnette ist das Geheimnis unserer Konversation und der ganzen Kunst des Hofmanns. Sie nicht zu gebrauchen, hieße, sich waffenlos mit Leuten, die eisenbewehrt wie Bannerritter sind, schlagen zu wollen. Ich habe sie gebraucht – zuweilen sogar mißbraucht! Dafür respektiert man mich und meine Freunde – denn überdies ist mein Degen nicht schlechter als meine Zunge!«

Einer der glühendsten Verehrer Feodoras, der ob seiner Unverschämtheit berühmt war und dem es durch sie auch gelungen war, emporzukommen, hob den Handschuh, den Rastignac so verächtlich hingeworfen hatte, auf. Er sprach von mir und begann nun über alles Maß meine Begabung und meine Person herauszustreichen. Diese Art des Spottes hatte Rastignac vergessen. Die Gräfin mißverstand dieses böswillige Lob; sie gab mich mitleidslos preis: um ihre Freunde zu unterhalten, mißbrauchte sie meine Geheimnisse und alles, was sie von meinen Erwartungen und Hoffnungen wußte.

Da entgegnete Rastignac: »Er hat eine Zukunft. Vielleicht wird er eines Tages grausame Rache nehmen. Seine Begabung ist nicht geringer als sein Mut. So halte ich die für sehr kühn, die ihn angreifen, denn er hat ein sehr gutes Gedächtnis.«

»Ein so gutes, daß er sogar fremde Memoiren schreiben kann!« fiel sie ein.

Das tiefe Schweigen um sie her schien ihr zu mißfallen.

»Ja, Memoiren einer falschen Gräfin, Gnädigste,« erwiderte Rastignac, »um die zu schreiben, muß man wieder eine andere Art von Mut haben.«

»Ich traue ihm sehr viel Mut zu; er ist mir treu ergeben«, erwiderte sie.

Eine lebhafte Versuchung überkam mich plötzlich, mich, wie der Schatten des Banko in Macbeth, den Lachenden zu zeigen: ich hätte eine Geliebte verloren, doch einen Freund gewonnen. Da gab mir mit einem Male die Verliebtheit eines ihrer spitzfindigen feigen Paradoxe ein, mit denen sie unsere Schmerzen einzulullen versteht. Ich dachte: »Wenn Feodora mich liebt, muß sie ja ihre Gefühle unter boshaften Scherzen verbergen. Und wie oft hat nicht schon das Herz verlogene Worte des Mundes Lügen gestraft!«

Endlich war nur mehr mein unverschämter Nebenbuhler bei der Gräfin und auch er wollte aufbrechen.

»Was? Schon?« sagte sie mit ihrer schmeichelnden Stimme, die mich erbeben machte. »Wollen Sie mir nicht noch einen Augenblick schenken? Haben Sie mir nichts zu sagen? Wollen Sie mir nicht etwas von Ihren Vergnügungen opfern?«

Er ging.

»Oh, wie mich alle langweilen!« rief sie gähnend. Sie zog stark an einer Schnur, der Klang einer Glocke tönte durch die Gemächer.

Sie kam, eine Stelle aus »Pria che spunti« summend, in ihr Zimmer. Niemals hatte sie jemand singen gehört, dieser Eigensinn hatte die sonderbarsten Auslegungen gefunden. Man sagte, sie habe ihrem ersten Liebhaber ein Versprechen gegeben, da er von ihrem Talent bezaubert und über das Grab hinaus auf sie eifersüchtig gewesen sei, niemandem ein Glück zu gönnen, das nur er genossen haben wollte. Mit allen meinen Kräften trank ich die Töne ein, von Note zu Note schwoll die Stimme an, Feodora schien sich zu beleben, Wunder an Klängen entströmten ihrer Kehle, und nun hatte diese Melodie etwas wahrhaft Himmlisches bekommen. Die Stimme der Gräfin war voll Klarheit und Wohlklang; etwas schwang darin mit, das mir bis ins Herz drang, mich erschütterte und liebkoste. Man sagt, daß die musikalischen Frauen fast immer verliebten Wesens seien. Eine, die so singen konnte, mußte auch zu lieben verstehen! Die Schönheit ihrer Stimme war ein Mysterium mehr an dieser schon so mysteriösen Frau. Ich sah sie nun vor mir, wie ich dich jetzt sehe; sie schien sich selber zuzuhören und besondere Lust dabei zu empfinden, eine Lust, die wie ein Liebesgenuß war. Sie ging zum Kamin und sang das Hauptmotiv aus jenem Rondo zu Ende. Da sie aber verstummte, veränderte sich ihr Gesicht mit einem Male; ihre Züge verfielen, sie sah müde aus. Es war, als ob sie eine Maske ablegte: die Schauspielerin hatte ihre Rolle zu Ende gespielt. Indessen hatten auch die Spuren von Verbrauchtsein, die das Maskentragen in ihrer Schönheit hinterließ, und die wohl auch abendliche Müdigkeit sein mochten, ihren besonderen Reiz. »So ist sie wirklich!« sagte ich mir.

Wie um sich zu wärmen, stellte sie einen Fuß auf die Bronzestange des Kaminvorsatzes, dann zog sie ihre Handschuhe aus, legte ihre Armbänder ab und nahm die goldene Halskette, an der ihr edelsteingeziertes Riechfläschchen hing, ab. Ich empfand ein unsagbares Vergnügen dabei, diese reizenden Bewegungen einer Katze, die sich in der Sonne putzt, mit anzuschauen. Sie sah sich im Spiegel und sagte ganz laut und merklich mißvergnügt: »Heute abend war ich nicht hübsch … mein Teint verwelkt schauerlich schnell … ich müßte vielleicht früher zu Bett gehen, dieses aufreibende Leben aufgeben … aber Justine hält mich zum besten!«

Sie läutete nochmals, die Kammerfrau kam gelaufen. Wo sie wohl ihr Zimmer hatte? Ich weiß es nicht. Sie kam über eine versteckte Stiege. Ich war neugierig, das zu erforschen. Meine Phantasie hatte mir schon öfters diese unsichtbare Dienerin, ein großes braunes wohlgewachsenes Mädchen, als verdächtig erscheinen lassen.

»Die gnädige Frau hat geläutet?«

»Zweimal!« erwiderte Feodora. »Bist du heute taub geworden?«

»Ich habe eben die Mandelmilch für die gnädige Frau zurechtgemacht.«

Justine kniete nieder, band die hohen Stöckelschuhe los, zog sie von den Füßen ihrer Herrin, die gedankenlos in einem Armsessel in der Kaminecke lag und sich gähnend den Kopf kraute. Ihre Bewegungen waren durchaus natürlich, kein Symptom verriet mir geheime Leiden oder Leidenschaften, die ich in ihr vermutet hatte. Sie sagte: »George ist verliebt. Ich werde ihn fortschicken. Er hat heute abend noch nicht die Vorhänge heruntergelassen. Woran denkt er?«

Bei dieser Bemerkung strömte all mein Blut in meinem Herzen zusammen: aber es war weiter von den Vorhängen nicht die Rede.

Die Komtesse redete weiter: »Das Leben ist wirklich leer … Gib acht, daß du mich nicht kratzt, wie gestern! Da siehst du?« Sie zeigte ihr seidiges Knie. »Da ist noch die Spur von deinen Krallen.« Sie steckte die nackten Füße in Samtpantoffel mit Schwanenbesatz und legte ihr Kleid ab, während Justine einen Kamm nahm, um ihre Haare in Ordnung zu bringen.

»Die gnädige Frau müßte heiraten und Kinder haben.«

Feodora schrie fast: »Kinder! Sonst fehlt mir gar nichts! Nicht zu machen, meine Liebe. Einen Mann? Was für einem Mann könnte ich … War ich heute abend gut frisiert?«

»Nicht sehr gut.«

»Du bist eine dumme Kuh.«

Justine fuhr fort: »Nichts steht der gnädigen Frau schlechter, als die Haare zu sehr gekräuselt zu tragen. Große lockere Locken stehen der gnädigen Frau besser zu Gesicht.«

»Wirklich?«

»Bestimmt. Gekräuseltes Haar steht nur Blonden gut.«

»Heiraten! Nein, nein! Die Ehe ist ein Handel, für den ich nicht geboren bin.«

Was für eine traurige Szene für einen Verliebten! Diese Frau, einsam, ohne Verwandte, ohne Freunde, gottlos in der Liebe und ohne Glauben an irgendein Gefühl; und nun doch ein bißchen Schwachheit in ihr, in diesem ja jedem menschlichen Wesen so natürlichen Bedürfnisse nach Mitteilung, das ein Gespräch mit der Kammerfrau oder ein paar trockene nichtige Phrasen befriedigen mußte … ich hatte Mitleid mit ihr.

Justine schnürte sie auf, und ich betrachtete sie neugierig, da nun die letzte Hülle fiel. Ihre jungfräulichen Brüste blendeten mich. Im Kerzenlichte schimmerte ihr rosig weißer Körper durch das Hemd wie eine Silberstatue durch eine Gazehülle. Nein, um keiner Unvollkommenheit willen hatte sie die Späheraugen der Liebe zu scheuen. Leider gewann nun allmählich die Schönheit ihres Körpers Gewalt über meine Entschlüsse. Still und nachdenklich saß die Herrin vor dem Feuer, während die Kammerfrau die Alabasterlampe über dem Bette anzündete. Justine holte eine Wärmflasche, bereitete ihr das Bett und half ihrer Herrin beim Zubettgehen; nach einer langen Zeit endlich voll sorgfältigster Körperpflege, die von der tiefen Selbstverehrung Feodoras zeugte, ging das Mädchen fort. Die Gräfin sah sich mehrmals um, sie war erregt und seufzte: ein leichter hörbarer Laut der Ungeduld kam aus ihrem Munde. Sie griff nach einem Fläschchen auf dem Tische und träufelte vier oder fünf Tropfen einer braunen Flüssigkeit in ihre Milch und trank sie aus. Endlich nach ein paar schweren Seufzern rief sie: »Mein Gott!« Dieser Ausruf und besonders der Ausdruck darin schnürten mir das Herz zusammen. Allmählich wurde sie still. Angst überkam mich: bald aber hörte ich den gleichmäßigen kräftigen Atem eines eingeschlafenen Menschen. Ich trat aus der rauschenden Seide der Vorhänge hervor, ließ mich am Fuß ihres Bettes nieder und betrachtete sie mit einem unbeschreiblichen Gefühl im Herzen. Sie war entzückend. Sie hatte den Arm über den Kopf gehoben, wie ein Kind. Ihr schönes stilles Gesicht in der Spitzenhülle war voll Sanftmut, die all mein Gefühl entflammte. Ich hatte mich überschätzt und die Qual, die mir bevorstand, nicht begriffen: so nahe und so fern von ihr zu sein! Nun mußte ich alle Martern dulden, die ich mir auferlegt hatte. »Mein Gott!« – dieses Stück von einem unbekannten Gedanken, den ich statt aller aufklärenden Erfahrungen mit mir nehmen mußte, hatte plötzlich meine Gedanken über Feodora verändert. Dieses Wort, unbezeichnend und tief zugleich, gegenstandslos und wieder voll von Wirklichkeiten, ließ sich ebensosehr aus Glück wie aus Leiden, aus körperlichen Qualen wie aus Seelenschmerz herleiten. War es eine Beschwörung oder ein Gebet, eine Erinnerung oder eine Frage an die Zukunft, Reue oder Furcht? Ein ganzes Leben war in diesem Worte, ein Beben der Entbehrung oder des Reichtums, sogar ein Verbrechen konnte darin sein. Das Rätsel, das in diesem Scheinwesen von einer Frau verborgen war, war wieder da! Feodora war auf so vielerlei Arten zu deuten, daß sie undeutbar wurde. Der Hauch, der bald schwach, bald bestimmt, bald schwer und bald wieder leicht aus ihrem Munde kam, wurde mir zu einer ganzen Sprache, der ich Gedanken und Gefühle unterlegte. Ich träumte mit ihr, ich hoffte, mich in ihre Geheimnisse einschleichen zu können, indem ich in ihren Schlaf eindrang; tausend widersprechende Gedanken trieben ihr Spiel mit mir. Da ich ihr schönes Antlitz vor mir sah, konnte ich dieser Frau mein Herz nicht versagen. Ich beschloß, noch einen Versuch zu machen. Ich wollte ihr von meinem Leben, von meiner Liebe und meinen Opfern erzählen, um vielleicht damit ihr Mitleid zu erwecken und ihr, die niemals weinte, eine Träne zu entlocken. Auf diese letzte Probe hatte ich alle meine Hoffnungen gesetzt.

Der Lärm der Gasse kündete den nahenden Tag. Einen Augenblick lang stellte ich mir vor, wie Feodora in meinen Armen erwachte. Ich hätte mich ganz sacht an ihre Seite legen, zu ihr gleiten und sie umfangen können. Dieser Gedanke beherrschte mich so grausam, daß ich mich, um ihm widerstehen zu können, ohne die geringste Vorsicht, Lärm zu vermeiden, in den Salon rettete. Zum Glück kam ich zu einer versteckten Tür, die auf eine kleine Stiege führte. Ich fand, wie ich vermutet hatte, den Schlüssel im Schlosse. Ich riß heftig die Tür auf, stieg unbedenklich in den Hof hinab, blickte mich nicht um, ob ich gesehen würde, und war mit drei Sprüngen auf der Straße.«

*

»Zwei Tage nachher sollte ein Dramatiker bei der Gräfin eine Komödie vorlesen. Ich ging mit der Absicht hin, als letzter dort zu bleiben, um ihr ein sonderbares Ansuchen vorzutragen. Ich wollte sie bitten, mir den nächsten Abend zu schenken, ganz nur mir, und niemanden anderen zu empfangen.

Als ich mich allein mit ihr befand, verließ mich der Mut. Jeder Schlag der Stehuhr verstörte mich. Es war eine Viertelstunde vor Mitternacht.

»Wenn ich nicht mit ihr rede,« sagte ich mir, »muß ich mir den Schädel an der Kaminecke zerschmettern!«

Ich gab mir drei Minuten Gnadenfrist; die drei Minuten gingen vorüber, ich zerschlug mir den Schädel nicht an dem Marmor – mein Herz war mir schwer geworden wie ein Schwamm im Wasser.

Sie sagte zu mir: »Sie sind heute ausgesucht liebenswürdig!«

»O gnädige Frau, wenn Sie mich verstehen könnten!«

Sie fragte: »Was haben Sie denn? Sie werden ja bleich?«

»Ich zögere, Sie um eine Gunst zu bitten …«

Sie ermutigte mich mit einer Bewegung – und ich bat sie um den Abend.

»Von Herzen gern,« erwiderte sie, »aber warum wollen Sie nicht jetzt mit mir sprechen?«

»Ich will Sie über die Bedeutung Ihrer Zusage nicht täuschen. Ich möchte den Abend bei Ihnen verbringen, als ob wir Bruder und Schwester wären. Seien Sie also unbesorgt, ich kenne Ihre Abneigungen. Sie müssen mich genügend kennen, um sicher zu sein, daß ich nichts will, was Ihnen mißfallen könnte. Überdies, wer kühne Absichten hat, geht anders vor. Sie haben mir Ihre Freundschaft bewiesen, Sie sind gütig und voll Nachsicht. Sie sollen wissen, daß ich morgen Abschied von Ihnen nehmen muß … Nehmen Sie Ihr Wort nicht zurück!« rief ich, als ich sah, daß sie reden wollte. Ich ging.

Am letzten Maitag, gegen acht Uhr abends, war ich dann mit Feodora in ihrem gotischen Zimmer allein. Nun zitterte ich nicht mehr, ich war meines Glückes sicher. Meine Geliebte mußte mir gehören oder ich flüchtete mich in die Arme des Todes. Ich hatte über meine feige Liebe das Urteil gesprochen. Wenn ein Mann sich seine Schwäche eingesteht, wird er stark.

Die Gräfin trug ein Kleid aus blauem Kaschmir, sie lag auf dem Diwan, die Füße auf einem Kissen. Eine orientalische Haube, wie sie die Maler den biblischen Juden geben, machte ihre verführerische Schönheit um Züge von lockender Fremdartigkeit reicher. Ihr Gesicht war voll neuer, huschend flüchtiger Anmut, die zu sagen schien, daß wir in jedem Augenblicke neue einzigartige Wesen sind, ohne jede Ähnlichkeit mit denen, die wir sein werden, und denen, die wir gewesen sind. Nie noch hatte ich sie so strahlend schön gesehen. Sie sagte lachend: »Wissen Sie, daß Sie meine Neugier erweckt haben?«

Ich setzte mich zu ihr und nahm ihre Hand, die sie mir überließ. Nun antwortete ich kühl: »Ich werde Ihre Neugier nicht enttäuschen. Sie haben eine wirklich schöne Stimme!«

Mit einer unwillkürlichen Bewegung des Erstaunens rief sie: »Sie haben mich doch niemals gehört!«

»Ich werde Ihnen das Gegenteil beweisen, sobald es nötig ist. Daß auch noch Ihr entzückender Gesang ein Geheimnis sein soll! Aber seien Sie ruhig, ich werde mich nicht eindrängen …«

Wir blieben nun gegen eine Stunde in einem vertraulichen Gespräch. Ich hatte zwar Ton und Gehaben eines Mannes angenommen, dem Feodora nichts versagen durfte, aber ich wahrte auch allen Respekt eines Liebhabers. In diesem Spiele vergaß ich absichtlich die Vergünstigung, ihr die Hand küssen zu dürfen. Mit einer entzückenden Bewegung streifte sie den Handschuh zurück, da war ich so sehr dem wollüstigen Glück meiner Illusion verfallen, daß meine ganze Seele sich in diesem Kuß ergoß. Feodora ließ sich in unglaublicher Nachgiebigkeit umschmeicheln und liebkosen. Du darfst mich aber nicht der Dummheit zeihen! Wenn ich einen Schritt über die Grenzen dieser brüderlichen Zärtlichkeit hinaus gewagt hätte, hätte ich die Krallen der Katze zu spüren bekommen. An die zehn Minuten verharrten wir in einem tiefen Schweigen. Ich bewunderte sie und umkleidete sie mit all dem Zauber, den sie nur vortäuschte. In diesem Augenblicke gehörte sie mir, mir allein. Ich besaß dieses reizende Geschöpf, wie man sie besitzen konnte: in der Vorstellung. Ich hüllte sie ein in mein Begehren, ich drückte sie an mich, ich hielt sie umschlungen und in meiner Vorstellung besaß ich sie. In meinem Wachtraum besiegte ich die Gräfin durch die magnetische Kraft des Willens. Ich hatte es immer verwünscht, daß ich mir diese Frau nicht völlig unterworfen hatte. In diesem Augenblick aber wollte ich ihren Körper nicht, ich verlangte nach ihrer Seele, ihrem Leben, nach dem schönen, traumvollkommenen Glück, an das man nicht lange glauben kann.

Ich fühlte, daß die letzte Stunde meines Rausches da war. Ich sprach: »Hören Sie mich. Ich liebe Sie, Sie wissen es, ich habe es Ihnen tausendmal gesagt, Sie müssen mich gehört haben. Da ich unsere Liebe weder geckenhafter Zudringlichkeit noch Schmeicheleien zu verdanken haben wollte, haben Sie mich nicht verstanden. Wieviel Qualen habe ich durch Sie gelitten, an denen Sie doch unschuldig waren. Aber in wenigen Augenblicken werden Sie über mich urteilen können. Es gibt zwei Arten von Elend, gnädige Frau, das eine geht ohne Scheu in seinen Lumpen durch die Straßen, lebt wie Diogenes, braucht wenig zu seiner Nahrung und beschränkt seine Bedürfnisse auf die einfachsten Dinge des Lebens. Dieses Elend ist vielleicht glücklicher als der Reichtum, mindestens sorgloser, es sucht seine Welt dort, wo sie die Mächtigen nicht mehr wollen. Das andere Elend aber ist das des Luxus, das Elend auf spanische Art, das seine Bettlerhaftigkeit unter einem edlen Titel verbirgt. Dieses Elend ist stolz und wohlverbrämt. Es ist die Armut in weißer Weste und in gelben Handschuhen, es fährt im Wagen und muß sein Glück an sich vorbeigehen lassen, weil ihm im rechten Moment ein Centime fehlt. Das eine ist das Elend des niederen Volkes, das andere das der Hochstapler, der Könige und der begabten Menschen. Ich bin weder aus dem niederen Volk, noch bin ich ein König, noch ein Hochstapler, vielleicht bin ich auch nicht einmal begabt: ich bin eine Ausnahme. Mein Name heißt mich eher zu sterben als zu betteln. Beruhigen Sie sich, gnädige Frau, heute bin ich reich, das Stück Erde, das ich besitze, ist für meine Bedürfnisse groß genug!« sagte ich ihr, da ich in ihrem Gesichte jenen Ausdruck der Kälte gewahrte, den unsere Züge annehmen, wenn uns Menschen aus der Gesellschaft überraschend um Geld angehen.

»Erinnern Sie sich des Tages, da Sie ohne mich ins Gymnase gehen wollten und glaubten, ich würde nicht dort sein?«

Sie nickte bejahend.

»Ich habe meinen letzten Taler ausgegeben, um Sie dort sehen zu können … Erinnern Sie sich unseres Spazierganges im Jardin des Plantes? Ihr Wagen damals hat mich mein ganzes Geld gekostet.«

Ich erzählte ihr von meinen Opfern, ich schilderte ihr mein Leben, aber nicht wie ich es dir heute im Weinrausch erzähle, sondern in dem edlen Rausche des Herzens. Meine Leidenschaft ergoß sich in lodernde Worte und in Zeichen des Gefühls, die ich seitdem vergessen habe und die weder die Kunst noch die Erinnerung mehr wiederzugeben vermöchten. Das war nicht mehr der kühle Bericht einer haßerfüllten Liebe: meine Liebe mit all ihrer Kraft und der Güte ihrer Hoffnung gab mir die Worte ein, die mein ganzes Leben darstellten und in der noch die Schreie aus einem zerrissenen Herzen halten. Mein Ton muß der gewesen sein, wie ihn die letzten Gebete eines Sterbenden auf dem Schlachtfelde haben. Sie weinte, ich hielt ein. Mein Gott, ihre Tränen kamen einfach aus derselben künstlichen Erregung, wie man sie für hundert Sous im Theater kauft … ich hatte den Erfolg eines guten Schauspielers gehabt.

»Wenn ich das gewußt hätte …« sagte sie.

Da schrie ich: »Vollenden Sie das nicht! Ich liebe Sie jetzt noch genug, um Sie dafür zu töten …«

Sie wollte an der Klingelschnur ziehen. Ich brach in Lachen aus: »Rufen Sie nicht! Ich lasse Sie in Frieden Ihr Leben weiterleben. Sie töten, hieße den Haß mißverstehen. Fürchten Sie keine Gewalttätigkeit: ich habe eine ganze Nacht an Ihrem Bett verbracht, ohne …«

»Mein Herr!« rief sie errötend.

Nach dieser ersten Regung der Scham, die ja jede Frau, auch die gefühlloseste, besitzt, sah sie mich verächtlich an und sagte: »Da muß Ihnen aber kalt gewesen sein.«

Ich ahnte ihre Gedanken und sprach weiter: »Glauben Sie denn, gnädige Frau, daß ich Ihre Schönheit so hoch schätze? Ihr Gesicht war für mich nur das Versprechen einer Seele, die noch schöner ist, als Sie es sind. Liebe gnädige Frau, die Männer, die in der Frau nur die Frau sehen, können sich jeden Abend Odalisken, eines Harems würdig, kaufen und um einen billigen Preis glücklich sein. Aber ich wollte mehr, ich wollte Herz an Herz mit Ihnen leben, die Sie kein Herz haben. Jetzt weiß ich das. Wenn Sie einem anderen Manne gehörten, würde ich ihn ermorden. Aber nein, dann liebten Sie ihn ja, und sein Tod machte Sie vielleicht unglücklich … Wie ich leide!« rief ich.

Sie sagte belustigt: »Wenn Sie dieses Versprechen trösten kann, kann ich Sie versichern, daß ich niemandem gehören werde …«

Ich unterbrach sie: »Sie lästern Gott, Sie werden dafür bestraft werden. Eines Tages werden Sie auf Ihrem Diwan liegen und kein Geräusch und kein Licht mehr ertragen können, Sie werden in einem Grabe zu leben verdammt sein und unerhörte Qualen leiden. Wenn Sie dann nach der Ursache dieser schleichenden rachsüchtigen Schmerzen forschen werden, sollen Sie sich alles Unglücks erinnern, das Sie so reichlich auf Ihrem Wege hinterlassen haben. Sie haben überall nur Fluch gesät, so werden Sie Haß ernten. Wir sind unsere eigenen Richter und Henker der Gerechtigkeit, die auf Erden herrscht, und die höher ist als die der Menschen, aber niedriger als die göttliche Gerechtigkeit.«

Sie sagte lachend: »Ich bin wohl eine große Verbrecherin, weil ich Sie nicht liebe? Ist das meine Schuld? Nein, ich liebe Sie nicht; Sie sind ein Mann, das genügt. Ich fühle mich so allein sehr glücklich, das ist vielleicht egoistisch, aber warum soll ich dieses Leben gegen die Launen eines Gebieters eintauschen? Die Ehe ist ein Sakrament, von dem wir Frauen nur den Kummer und die Sorgen zu fühlen bekommen. Außerdem langweilen mich Kinder sehr. Habe ich Ihnen nicht freundschaftlich im voraus schon meinen Charakter gezeigt? Warum waren Sie nicht mit meiner Freundschaft zufrieden? Ich möchte Sie gerne über die Unannehmlichkeiten trösten, deren Ursache ich war, da ich mir weiter keine Gedanken über Ihre paar Taler gemacht habe. Ich anerkenne ja die Größe Ihres Opfers, aber für Ihre Ergebenheit und Ihre Aufmerksamkeiten könnte Sie nur die Liebe belohnen – und ich liebe Sie so wenig, daß mir diese ganze Szene nur äußerst unangenehm ist.«

Ich sagte sanft und konnte meine Tränen nicht zurückhalten: »Ich fühle, wie lächerlich ich bin, verzeihen Sie mir! Ich liebe Sie so sehr, daß ich noch mit Genuß Ihre grausamen Worte anhören kann. O ich möchte Ihnen mit all meinem Blute meine Liebe beweisen können!«

Sie sprach lachend weiter: »Alle Männer sagen uns mehr oder weniger diese klassischen Phrasen. Aber es scheint, daß zu unseren Füßen zu sterben doch ziemlich schwierig ist, denn dieser Art von Toten begegne ich dann überall weiter … Aber es ist Mitternacht, erlauben Sie, daß ich schlafen gehe.«

»Ja, um dann in zwei Stunden wieder ›Mein Gott!‹ zu rufen!«

»Ah, vorgestern also? Ja, ich habe an meinen Bankier gedacht, ich hatte vergessen, ihn wegen Papieren, die an diesem Tag gefallen waren, meinen Auftrag zu geben.«

Ich betrachtete sie mit wutfunkelnden Augen. Ich fühlte, daß manchmal ein Verbrechen wie ein Gedicht sein müsse. Sie war sicher so an die leidenschaftlichsten Erklärungen gewöhnt, daß sie meine Tränen und meine Worte vergessen hatte. Ich fragte sie kalt: »Würden Sie einen Pair von Frankreich heiraten?«

»Vielleicht, wenn er Herzog ist.«

Ich nahm meinen Hut und grüßte sie. »Gestatten Sie mir, daß ich Sie bis zur Tür meiner Gemächer begleite?« sagte sie mit beißender Ironie in der Bewegung, in der Haltung des Kopfes und im Ton.

»Gnädige Frau …«

»Mein Herr?«

»Ich werde Sie nie mehr sehen!«

»Das hoffe ich!« antwortete sie mit einer höhnischen Verbeugung.

»Sie wollen Herzogin sein?« redete ich noch weiter in der Raserei, die diese Verbeugung in meinem Herzen entzündet hatte. »Sie sind verrückt nach Titeln und Ehren. Schön, lassen Sie sich nur von mir lieben, befehlen Sie mir, meiner Feder und meiner Stimme, nur Ihnen zu dienen, seien Sie das geheime Prinzip meines Lebens, seien Sie mein Leitstern! Dann können Sie mich als Minister, als Pair von Frankreich, als Herzog zum Gatten haben. Dann kann ich alles werden, was Sie wollen.«

Lächelnd antwortete sie: »Sie haben Ihre Zeit bei Ihrem Advokaten recht gut verwendet: Ihre Plädoyers haben wirklich Wärme.«

Da schrie ich: »Du hast die Gegenwart, aber mir gehört die Zukunft; ich verliere nur eine Frau, aber du verlierst einen Mann und eine Familie. Die Zeit ist schwanger von meiner Rache: Dir wird sie Häßlichkeit und einen einsamen Tod bringen, mir aber den Ruhm!«

»Danke für die Predigt!« sagte sie und hielt ein Gähnen zurück, ihre ganze Haltung sprach den Wunsch aus, mich nicht mehr zu sehen. Dieses letzte Wort zwang mich zu schweigen. In einem Blicke noch warf ich ihr meinen ganzen Haß zu und ging davon.«

*

»Ich mußte Feodora vergessen, mich von meiner Tollheit heilen und wieder in meine arbeitsreiche Einsamkeit zurückfinden – oder sterben. Ich lud mir nun eine unerhörte Arbeitslast auf, ich wollte meine Werke vollenden. Vierzehn Tage hindurch verließ ich meine Mansarde nicht und verbrachte alle Nächte in kraftlosen Arbeiten. Trotz meines Mutes und der Eingebungen meiner Verzweiflung arbeitete ich mit Schwierigkeit und oftmaligen Unterbrechungen. Die Muse war entflohen. Ich konnte das strahlende, tönende Phantom Feodoras nicht verjagen. Jeder meiner Gedanken brütete einen anderen kranken Gedanken aus, einen Wunsch, der schrecklich war wie Gewissensbisse. Ich ahmte die Anachoreten der Thebais nach. Ich betete nicht wie sie, aber wie sie lebte ich in einer Wüste und höhlte meine Seele aus wie sie die Felsen. Wenn es nötig gewesen wäre, hätte ich mir die Lenden mit einer dornenbewehrten Schnur gegürtet, um die Schmerzen der Seele durch die Schmerzen des Leibes zu bändigen.

Eines Abends drang Pauline in mein Zimmer ein. Mit flehender Stimme sagte sie zu mir:

»Sie töten sich. Sie müssen ausgehen und Ihre Freunde aufsuchen …«

»O Pauline, Ihre Prophezeiung behält recht, Feodora tötet mich. Ich will sterben, ich kann das Leben nicht mehr ertragen.«

Lächelnd sagte sie: »Gibt es denn nur eine Frau auf der Welt? Warum machen Sie sich in dem so kurzen Leben so endlosen Kummer?«

Ich sah Pauline erstaunt an. Sie ließ mich allein. Ich bemerkte ihr Weggehen nicht; ich hatte ihre Stimme gehört, ohne den Sinn ihrer Worte zu verstehen. Bald darauf mußte ich das Manuskript meiner Memoiren zu dem Literaturunternehmer tragen. Ich war von meiner Leidenschaft besessen. Ich verstand nicht, wie ich hatte ohne Geld leben können, ich wußte nur, daß die vierhundertfünfzig Franken, die ich zu erwarten hatte, hinreichten, um meine Schulden zu bezahlen. Ich ging also, das Honorar für meine Arbeit abzuholen; auf dem Wege begegnete ich Rastignac, er fand mich verwandelt, abgemagert.

»Aus was für einem Spital kommst du denn?« fragte er mich.

»Diese Frau tötet mich. Ich kann sie nicht verachten und nicht vergessen.«

Lachend antwortete er mir: »Dann ist's doch besser, du bringst sie um. Vielleicht wirst du dann nicht mehr an sie denken.«

Ich antwortete ihm: »Ich habe oft daran gedacht. Aber wenn ich auch manchmal meine Seele mit dem Gedanken an ein Verbrechen labe, an Vergewaltigung oder Mord oder beide zusammen denke, fühle ich doch meine Unfähigkeit, etwas davon in Wirklichkeit zu begehen. Die Gräfin ist ein bewunderungswürdiges Ungeheuer, sie würde um Gnade bitten – und ich bin nicht der Othello, der sie ihr versagen könnte.«

Rastignac unterbrach mich: »Sie ist genau wie alle Frauen, die wir nicht haben können!«

Ich schrie fast: »Ich bin irrsinnig. Manche Augenblicke fühle ich, wie der Wahnsinn in meinem Gehirn aufbrüllt. Meine Gedanken sind Phantome, sie tanzen vor mir, und ich kann sie nicht fassen. Einem solchen Leben ziehe ich gerne den Tod vor. Ich habe mit vollem Bewußtsein nach dem besten Mittel gesucht, um diesem Kampfe ein Ende zu machen. Aber es handelt sich ja nicht mehr um die wirkliche Feodora aus dem Faubourg St. Honoré, sondern um die Feodora, die da drinnen ist!« ich schlug an meine Stirn. »Was hältst du vom Opium?«

»Man leidet schrecklich dabei!« erwiderte Rastignac.

»Und Kohlenoxydgas?«

»Das ist pöbelhaft.«

»Und die Seine?«

»Die Netze und die Morgue sind zu dreckig.«

»Und ein Pistolenschuß?«

»Wenn du dich fehlst, bist du entstellt. Hör zu! Ich habe, wie alle jungen Leute, viel über den Selbstmord nachgedacht. Denn jeder von uns hat sich mit dreißig Jahren schon zwei- oder dreimal umgebracht. Ich habe nichts Besseres gefunden, als seine Existenz im Genusse aufzubrauchen. Du mußt in die Tiefen der Ausschweifung hinabtauchen, entweder du oder dein Liebeswahnsinn, einer von euch beiden geht darin zugrunde. Mein lieber Freund, die Zügellosigkeit ist die Königin unter den Todesarten. Sie hat dem Schlagflusse zu befehlen – und der Schlagfluß ist ein Pistolenschuß, der nicht fehl geht. Die Orgien verschwenden alle Lust des Leides an uns: ist das nicht Opium in kleiner Münze? Die Ausschweifung zwingt uns zu maßlosem Trinken und fordert uns zu tödlichem Zweikampf mit dem Wein heraus. Und ein Malvasierfaß des Herzogs von Clarence schmeckt doch noch weit besser als der Dreck der Seine. Und wenn man vornehm unter den Tisch fällt, ist das doch auch eine Art kleiner periodischer Kohlengasvergiftung. Wenn uns die Wache auf der Straße aufliest und wir dann auf den kalten Betten der Wachstube hingestreckt liegen, genießen wir alle Vergnügungen der Morgue, nur daß wir nicht verquollen, blau, grün und mit aufgetriebenem Bauche daliegen und daß wir uns unserer Lage bewußt sind. Oh, der lange Selbstmord ist etwas anderes als der Tod eines bankerotten Krämers. Die Geschäftsleute haben den Fluß in Unehre gebracht, sie gehen ins Wasser, um ihre Gläubiger zu beschwichtigen. An deiner Steile würde ich mit Eleganz zu sterben versuchen. Wenn du eine neue Todesart kreieren willst, indem du dich auf diese Art mit dem Leben schlägst, bin ich dein Sekundant. Ich langweile mich, ich bin enttäuscht. Die Elsässerin, die man mir als Braut vorgeschlagen hat, hat am linken Fuß sechs Zehen – ich kann nicht mit einer Frau leben, die sechs Zehen hat! So etwas spricht sich herum und ich würde lächerlich. Überdies hat sie nur achtzehntausend Franken Rente, ihr Vermögen vermindert sich und ihre Zehen vermehren sich. Zum Teufel! Wenn wir ein recht wüstes Leben führen, finden wir vielleicht durch einen Zufall das Glück.«

Rastignac riß mich fort. Sein Vorschlag lockte zu verführerisch und entzündete zu viele Hoffnungen, er hatte zu viel Dichterisches an sich, als daß er einem Dichter nicht hätte gefallen müssen.

»Und das Geld?« fragte ich ihn.

»Du hast doch vierhundertfünfzig Franken?«

»Ja, aber ich habe Schulden beim Schneider und bei meiner Wirtin …«

»Du zahlst deinen Schneider? Du wirst nie etwas werden, nicht einmal Minister.«

»Was sollen wir mit zwanzig Louisd'or?«

»Spielen!«

Ich schauderte. Er merkte meine Scheu und fuhr fort: »Du willst dich in das stürzen, was ich das Vergeudungssystem nenne, und du fürchtest dich vor einem grünen Tisch?«

Ich antwortete ihm: »Hör, ich habe meinem Vater versprochen, niemals einen Fuß in ein Spielhaus zu setzen. Nicht nur, daß dieses Versprechen mir heilig ist, ich fühle auch einen unbesieglichen Schauder, sooft ich an einem Spielsaale vorbeikomme. Nimm diese hundert Taler und geh allein hin. Während du unser Vermögen wagst, will ich meine Angelegenheiten in Ordnung bringen und erwarte dich dann in deiner Wohnung!«

Du siehst, mein Freund, wie ich die Herrschaft über mich verlor. Es genügt für einen jungen Menschen, einer Frau zu begegnen, die ihn nicht liebt oder zu sehr liebt, um ihm sein ganzes Leben zu verwirren. Das Glück verschlingt unsere Kräfte, das Unglück löscht unsere Tugenden aus.

Nach meiner Rückkehr in das Hotel de Saint Quentin betrachtete ich lange die Dachstube, in der ich das keusche Leben eines Gelehrten geführt hatte, ein Leben, das vielleicht hätte ehrenvoll und lang sein können und das ich nicht um dieses Lebens der Leidenschaft willen, das mich zum Abgrunde fortriß, hätte verlassen dürfen. Pauline überraschte mich in meiner melancholischen Haltung.

»Was haben Sie denn?« fragte sie mich. Ich erhob mich kalt und zählte das Geld, das ich ihrer Mutter schuldete, auf den Tisch und fügte noch meine Miete für sechs Monate hinzu. Sie sah mich prüfend und erschrocken an.

»Ich verlasse Sie, meine liebe Pauline.«

»Ich habe es geahnt!« schrie sie auf.

»Hören Sie, mein Kind! Ich sage nicht, daß ich nicht mehr hierher zurückkehren werde. Sie sollen mir ein halbes Jahr lang diese meine Zelle bewahren. Wenn ich am fünfzehnten November nicht zurückgekehrt bin, sind Sie meine Erbin.«

Ich zeigte ihr einen Pack Papiere: »Dieses versiegelte Manuskript ist die Niederschrift meines großen Werkes über den Willen. Das sollen Sie dann in der Königlichen Bibliothek abgeben. Mit allem anderen, das ich hier zurücklasse, können Sie schalten, wie Sie mögen.«

Sie sah mich mit Blicken an, die schwer auf meinem Herzen lasteten: Pauline stand vor mir wie das lebendige Gewissen.

»Ich soll keine Stunden mehr haben?« fragte sie, auf das Klavier zeigend.

Ich antwortete nicht.

»Werden Sie mir schreiben?«

»Leben Sie wohl, Pauline.«

Ich zog sie sanft an mich, und mit dem Kusse eines Bruders, dem Kusse eines Greises küßte ich ihre Liebesstirn, die keusch war wie Schnee, der noch nicht die Erde berührt hat. Sie lief fort. Ich wollte Frau Gaudin nicht mehr sehen, ich legte den Schlüssel an seinen gewohnten Platz und ging. Als ich die Rue de Cluny verließ, vernahm ich hinter mir leichte Frauenschritte.

»Ich habe Ihnen diese Börse gestickt. Werden Sie sie auch zurückweisen?«

Im Scheine einer Laterne glaubte ich Tränen in Paulinens Augen zu sehen. Ich seufzte. Uns beide trieb vielleicht derselbe Gedanke und wir trennten uns hastig, wie Menschen, die vor der Pest fliehen.«

*

»Das Leben der Verschwendung, dem ich mich zu weihen gedachte, schien mir einen sonderbaren Ausdruck in dem Zimmer zu haben, darin ich mit vornehmer Sorglosigkeit die Rückkehr Rastignacs abwartete. Mitten auf dem Kamin stand eine Stehuhr, von einer Venus mit der Schildkröte gekrönt, die zwischen ihren Armen eine halbfertig gerauchte Zigarre hielt. Elegante Möbel, Spenden der Liebe, standen darin verstreut. Alte Socken lagen über einen wollüstig weichen Diwan hingeworfen. Der bequeme Lehnstuhl, in dem ich saß, trug Narben wie ein alter Soldat; er bot seine zerrissenen Arme den Blicken dar und zeigte auf seiner Rückenlehne die Spur von Pomade und altem Haaröl, wie sie die Köpfe aller Freunde darauf hinterlassen hatten. Üppigkeit und Armut vertrugen sich hier überall gütlich miteinander, im Bette wie an den Wänden. Der Eindruck dieses Zimmers gemahnte an Neapel, wo um die Paläste die Lazzaroni lungern. Es war das Zimmer eines Spielers oder eines verkommenen Burschen, der seine persönliche Art von Luxus hat und dessen Leben so voll Erregungen ist, daß er sich über kleine Unzusammengehörigkeiten weiter keine Sorgen macht. Diesem Bilde mangelte übrigens nicht eine gewisse Poesie. Es war das Leben darin mit seinem Flitterzeug und seinen Lumpen, heftig und unvollkommen, wie es wirklich ist, aber zugleich lebendig und phantastisch, wie auf einem Rastplatze, auf dem ein Plünderer alles, was seine Freude ist, zusammengeschleppt hat. Mit einem Band Byron, dem Seiten fehlten, hatte Rastignac sein Holzfeuer angezündet: er wagte im Spiel tausend Franken und hatte kein Holz zum Unterzünden, er fuhr im Tilbury spazieren und besaß kein ganzes Hemd. Am anderen Tage schon konnte eine Gräfin, eine Schauspielerin oder das Ecarté ihn mit der Wäscheausstattung eines Königs beschenken. Hier steckte eine Kerze in dem grünen Futteral eines Feuerzeugs, da wieder lag das Bildnis einer Frau, an dessen Rahmen die ziselierten Goldleisten fehlten. Wie hätte auch ein junger Mensch, der von Natur aus so gierig nach Erregungen war, auf die Reize eines an Gegensätzen so reichen Lebens verzichten sollen, das ihm im Frieden alle Freuden des Krieges schenkte? Ich war am Einschlafen, als plötzlich Rastignac mit einem Fußtritt seine Zimmertür aufstieß und schrie: »Sieg! Jetzt können wir sterben, wie wir Lust haben!«

Er zeigte mir seinen Hut, der voll von Goldstücken war, und stellte ihn auf den Tisch. Wir umtanzten ihn wie zwei Kannibalen ihren Beuteschmaus, heulten, stampften, sprangen und boxten aufeinander mit Schlägen los, die ein Rhinozeros gefällt hätten, und jubelten vor dem Ausblicke auf all die Vergnügungen der Welt, die in diesem Hute enthalten waren.

»Siebenundzwanzigtausend Franken!« rief Rastignac und warf noch ein paar Banknoten auf den Haufen Gold. »Für die anderen würde dieses Geld zum Leben genügen, wird es uns aber zum Sterben genug sein? Aber ja! Wir werden in einem Goldbade unseren letzten Atemzug tun … Hurra!«

Abermals begannen wir unsere Sprünge. Dann teilten wir wie Erben, Goldstück für Goldstück; wir begannen bei den doppelten Napoleons und gingen dann von den großen Goldstücken zu den kleinen über; tropfenweise genossen wir unsere Freude, da wir lange sagten: »Das gehört dir … das gehört mir …«

Rastignac rief dann: »Heute gehen wir nicht schlafen! Josef, Punsch!«

Er warf seinem treuen Diener ein paar Goldstücke hin: »Das ist dein Anteil, laß dich dafür begraben, wenn du kannst!«

Am anderen Tag kaufte ich bei Lesage Möbel, ich mietete die Wohnung in der Rue Taitbout, in der du mich kennengelernt hast, und beauftragte den besten Tapezierer mit ihrer Ausschmückung und hielt Pferde. Nun stürzte ich mich in einen Wirbel von Vergnügungen, die leer und wirklich zugleich waren. Ich spielte, gewann und verlor nacheinander riesige Summen, aber immer nur auf Bällen oder bei meinen Freunden, niemals in den Spielhäusern, vor denen mich eine heilige und ursprüngliche Scheu bewahrte. Nach und nach gewann ich mir Freunde, ich verdankte ihre Zuneigung gemeinsamen Händeln sowohl, wie auch jener vertrauensvollen Leichtigkeit, mit der man, wenn man sich unter Kameraden gemein zu machen beginnt, einander seine Geheimnisse ausliefert; es gibt wohl auch kein rascher wirkendes Bindemittel als die gemeinsamen Laster.

Ich versuchte es mit einigen literarischen Kompositionen, die mir Komplimente eintrugen. Die großen Männer des Literaturgeschäftes sahen jetzt in mir keinen Rivalen mehr, den sie fürchten mußten, und rühmten mich, freilich sicher weniger um meiner persönlichen Verdienste willen, als um die ihrer Kameraden zu schmälern. Ich wurde ein Lebemann, wie man das bei euch nennt, ich setzte meinen Ehrgeiz darein, mich recht rasch ins Grab zu bringen und dabei die lustigsten meiner Gefährten durch meine gute Laune und meine Unermüdlichkeit auszustechen. Immer war ich frisch und elegant. Ich galt für geistreich. Nichts an mir verriet die schreckliche Existenz, die aus dem Menschen einen Schlund zum Trinken, einen Verdauungsapparat und eine Art Luxuspferd macht. Bald sah ich die Ausschweifung in ihrer ganzen schauerlichen Majestät – und verstand sie. Sicherlich können die braven gesetzten Männer, die ihre Weinflaschen für ihre Erben etikettieren, weder die Leitgedanken eines solchen verschwenderischen Lebens noch den ihm eigentümlichen Seelenzustand verstehen. Wer wollte es auch versuchen, Provinzlern, für die das Opium und der Tee mit allen ihren Köstlichkeiten nur zwei Medikamente sind, die Poesie eines solchen Lebens beizubringen?

Aber selbst in Paris, der Hauptstadt der Gedanken, begegnet man doch noch solchen halben Genießern. Sie sind unfähig, das Übermaß des Genusses zu ertragen, müde schleppen sie sich nach einer Orgie hinweg, diese guten Bürger, die, nachdem sie eine neue Oper von Rossini gehört haben, die Musik lästern. Sie schwören ein solches Leben ab, wie ein an magere Kost gewöhnter Mensch keine Pasteten von Ruffec mehr essen mag, weil ihm schon die erste den Magen verdorben hat. Die Ausschweifung ist sicherlich ebenso eine Kunst wie die Dichtung und verlangt starke Seelen. Um ihre Geheimnisse zu lüften und ihre Schönheiten auszukosten, muß man zuvor sozusagen gewissenhafte Studien getrieben haben. Wie alle Wissenschaften ist sie am Anfange schwer zugänglich und dornenvoll. Ungeheure Hindernisse umgeben die großen Laster, aber nicht etwa ihre geringfügigen Genüsse, sondern die Systeme darin, die erst die ungewöhnlichsten Erregungen aufzustellen und zusammenzufassen vermögen und die dem Menschen furchtbar werden, da sie ihm ein lebendiges Drama innerhalb seines eigenen Lebens erschaffen, indem sie ihn zu einer ungeheuerlichen Vergeudung seiner Kräfte nötigen. Der Krieg, die Macht und die Künste sind voll der Zerstörerkraft, die außer der Reichweite des Menschlichen liegt; aber tief wie sie ist auch die Ausschweifung: zu ihnen allen ist der Weg schwer. Wenn aber der Mensch erst stürmend in diese Geheimnisse eingedrungen ist, wandert er in einer neuen Welt. Heerführer, Staatsmänner und Künstler werden alle durch das Bedürfnis, ihr Leben, das so hoch über die gemeine Existenz emporragt, heftigen Zerstreuungen auszusetzen, der Zerstörung entgegengetrieben. Schließlich ist der Krieg nur die Ausschweifung im Blute und die Politik die Ausschweifung der Interessen. Alle Maßlosigkeiten sind Geschwister. Die Ungeheuerlichkeiten der Gesellschaft besitzen eine Kraft wie die Abgründe, sie ziehen uns an, wie St. Helena Napoleon an sich zog. Sie machen uns schwindeln, sie locken wunderbar, wir wollen bis auf ihren Grund hinabsehen – und wissen nicht warum. Vielleicht wohnt der Gedanke des Unendlichen in diesen Tiefen, vielleicht ist in ihnen eine höchste Schmeichelei für den Menschen beschlossen, die ihn zutiefst auf sich selber verweist? Als einen Gegensatz zum Paradies seiner Schaffensstunden und zu den Köstlichkeiten seiner Empfängnis fordert der müdgewordene Künstler entweder wie Gott die Ruhe des siebenten Tages oder wie der Teufel die Wollüste der Hölle, um das Werk seiner Sinne dem Werke seiner Begabung entgegenstellen zu können. Lord Byrons Erholung konnte nicht eine geschwätzige Partie Boston sein, die einen kleinen Rentner entzücken mag; der Dichter brauchte ganz Griechenland, um es gegen Mahmoud auszuspielen. Im Kriege wird der Mensch zum Würgengel, zum gigantischen Henker. Was für seltsame Bezauberungen müssen am Werke sein, damit wir alle die gräßlichen Schmerzen, die die Leidenschaften wie ein Dornengürtel umgeben, auf uns nehmen, so feindlich sie unserem hinfälligen Leibe sein mögen! Wenn ein Raucher, der sich im Tabakgenusse übernommen hat, sich in Krämpfen windet und eine Art Todeskampf durchmacht, hat er doch in irgendeiner Schichte seines Lebens an einem wunderbaren Feste teilgenommen.

Europa hat sich nie die Zeit genommen, seine Füße von dem Blute zu säubern, darin es bis an die Knöchel gewatet war, und hat ohne Unterlaß von neuem Kriege begonnen. Auch die Menschenmassen haben ihre Trunkenheiten, wie die Natur selber ihre Liebesrasereien hat. Für einen Privatmann aber, für einen Mirabeau, der unter einer friedlichen Herrschaft lebt und von Weltgewittern träumt, bedeutet die Ausschweifung alles. Sie ist ihm eine unaufhörliche Umarmung des ganzen Seins oder, besser noch, ein Zweikampf mit einer unbekannten Macht, mit einem Ungeheuer; erst entsetzt ihn das Ungeheuer, er muß es bei den Hörnern packen, er hat unerhörte Mühen zu bestehen. Die Natur hat ihm vielleicht einen engen oder trägen Magen mitgegeben: er bändigt ihn, macht ihn weiter, lehrt ihn, den Wein zu vertragen, er gewöhnt sich an die Trunkenheit und an schlaflose Nächte und bringt es endlich zu dem Temperament eines Kürassierobersten. Er erschafft sich selber ein zweites Mal, wie zum Tadel für Gott. Wenn dann der Mensch sich solcherart verwandelt hat, wenn der Neuling ein alter Soldat geworden ist und sich an das Artilleriefeuer und seine Beine an das Marschieren gewöhnt hat, ohne aber noch ganz dem Ungeheuer zu gehören und ohne zu wissen, wer von beiden der Meister ist, kämpfen sie Brust an Brust, abwechselnd Sieger und Besiegter, ein jeder in seiner Sphäre, wo alles wunderbar ist, wo die Schmerzen der Seele einschlafen und einzig die Phantome von Ideen noch zum Leben erwachen. Schon ist dieser grausame Kampf zur Notwendigkeit geworden. Der Verschwender ruft die Fabelfiguren, die in den Legenden ihre Seele für die Macht, das Böse zu tun, dem Teufel verkauften, zur Wirklichkeit – er erkauft mit seinem Tode alles Übermaß der Genüsse des Lebens. Sein Leben verrinnt nicht langsam zwischen zwei eintönigen Ufern, in der Düsterkeit eines Kontors oder einer Studierstube, – hoch auf siedet es und verweht wie ein Sturm. Die Ausschweifung ist sicherlich für den Körper dasselbe, was für die Seele die mystischen Freuden sind. Die Traumbilder des Rausches sind von derselben Seltsamkeit wie die der Ekstase. Wir danken ihnen Stunden voll Entzückung, die wie die fröhlichen Einfälle eines jungen Mädchens sind, köstliche Stunden im Gespräche mit Freunden, Worte, die ein ganzes Leben darzustellen vermögen, aufrichtige Freuden ohne Hinterhältigkeit, Reisen ohne Mühsale und Gedichte, die aus ein paar gewöhnlichen Worten wunderbar aufleuchten. Auf die rohe tierische Befriedigung, in deren Tiefe die Wissenschaft nach der Seele gesucht hat, folgen zauberische Betäubungen, nach denen die verstandesmüden Menschen seufzen. Sie alle fühlen die Notwendigkeit des vollkommenen Ausruhens. Die Ausschweifung ist eine Art Abgabe, die das Genie dem Bösen bezahlt. Schau doch alle großen Männer an: wenn sie nicht lasterhaft sind, dann sind sie von Natur aus Jammergestalten. Eine höhnische oder eifersüchtige Macht zerstört ihnen entweder die Seele oder den Körper, um das Werk ihrer Begabung zunichte zu machen. In den Stunden des Weins stellen sich die Menschen und die Dinge so bei uns ein, wie wir sie sehen wollen. Wir Könige der Schöpfung gestalten sie nach unseren Wünschen um. Wie wir es wollten, gießt in dieser unaufhörlichen Raserei das Spiel sein flüssiges Blei in unsere Adern. Und eines Tages dann gehören wir ganz dem Ungeheuer. Dann erlebt ein jeder, wie ich, ein wüstes Erwachen: die Erschöpfung sitzt am Bettende, die Schwindsucht frißt an dem alten Kriegsmanne, im Herzen des Politikers hängt der Tod nur mehr an einem Faden – und mir wird vielleicht eine Lungenentzündung zurufen: »Schluß!«, wie Rafael von Urbino, den die Wollust getötet hat.

So habe ich gelebt! Ich bin zu spät oder zu früh in diese Welt gekommen, der meine Kraft bestimmt gefährlich geworden wäre, wenn ich sie nur nicht selber zerstört hätte. Durch den Becher des Herkules, am Ende einer Orgie geleert, ist die Welt von Alexander befreit worden. Es gibt enttäuschte Schicksale, die den Himmel oder die Hölle, die Ausschweifung oder das Hospiz auf dem Sankt Bernhard brauchen.«

Rafael wies auf Euphrasia und Aquilina:

»Darum hatte ich nicht den Mut, gegen diese beiden Geschöpfe den Moralisten zu spielen, sie waren mir die Personifikation meiner Geschichte und ein Abbild meines Lebens. Wie hätte ich sie anklagen sollen, da sie mir wie meine Richter erschienen?«

*

»In diesem Leben, das ein lebendiges Gedicht und eine betäubende Krankheit zugleich war, hatte ich noch zwei Krisen voll bitterer Schmerzen durchzumachen. Die erste wenige Tage, nachdem ich mich, wie Sardanapal, auf meinen Scheiterhaufen geworfen hatte: ich begegnete Feodora; wir warteten in der Vorhalle des Theaters auf unsere Wagen.

»Ah, ich finde Sie also noch am Leben?«

Diese Worte waren die Übersetzung ihres Lächelns und des boshaften Flüsterns, mit dem sie sicherlich ihrem Begleiter meine Geschichte erzählte und meine Liebe als eine ganz alltägliche Verliebtheit abtat. Nun beglückwünschte sie sich wohl zu ihrer falschen Scharfsichtigkeit. Oh, für sie zu sterben, sie in allen meinen Lastern, in meinen Trunkenheiten und im Bette der Kurtisanen vor mir zu sehen – und dazu das Opfer ihres Hohnes sein zu müssen! Und nicht meine Brust aufreißen, meine Liebe herausholen und ihr vor die Füße werfen zu können!

Mein Reichtum war leicht erschöpft: aber drei Jahre der Selbstbeherrschung hatten mir zur widerstandsfähigsten Gesundheit verholfen – und an dem Tage, an dem mein Geld zu Ende war, befand ich mich noch immer sehr wohl: um mein Sterben fortsetzen zu können, unterschrieb ich kurzfristige Wechsel: der Tag der Einlösung war gekommen. Wie grausam diese Erregungen auch waren, ein junges Herz spürte in ihnen das Leben nur noch stärker. Ich war noch nicht zum Altern bestimmt, meine Seele war jung, lebendig und frisch. Diese meine erste Schuld rief alle meine guten Eigenschaften wieder ins Leben zurück: mir schien, als kämen sie zagen Schrittes und recht verzweifelt wieder. Ich verstand es, mit ihnen zu paktieren, wie mit jenen alten Tanten, die damit anfangen, daß sie uns ausschelten, und damit aufhören, daß sie weinen und uns Geld geben. Meine Phantasie aber war strenger, sie zeigte mir meinen Namen auf einer Irrfahrt von Stadt zu Stadt, an allen Börsen Europas. Eusebe Salverte sagt: »Unser Name ist unser Selbst.« Von langen Irrgängen kam ich wie mein Doppelgänger nach Hause zurück und war doch gar nicht fortgegangen und fuhr nur aus dem Schlafe auf. Wie habe ich früher die Bankmenschen, diese geschäftigen Gewissensmahner in den grauen Livreen ihrer Herren, mit einem Silberschildchen an der Kappe, gleichgültig angeschaut, wenn sie durch die Straßen von Paris gingen: jetzt aber haßte ich sie im voraus. Eines Morgens würde doch einer von ihnen kommen und von mir Rechenschaft über die elf Wechsel verlangen, auf die ich meinen Namen hingeschmiert hatte. Meine Unterschrift war dreitausend Franken wert, ich selber nicht. Ich sah die Gerichtsvollzieher, deren Gesichter angesichts aller Verzweiflungen und selbst des Todes gleichmütig bleiben, sich vor mir erheben wie die Henker, die zu den Verurteilten sprechen: »Jetzt schlägt es halb vier.« Ihre Gehilfen hatten nun das Recht, sich meiner zu bemächtigen, meinen Namen hinzukritzeln, ihn zu beschmutzen und zu verhöhnen … Ich hatte Schulden.

Gehört man sich noch selber, wenn man Schulden hat? Können nicht andere Menschen Rechenschaft von mir über mein Leben verlangen? Mich fragen, warum ich Pudding à la Chipolata esse, warum ich eisgekühlte Getränke trinke, warum ich schlafe, gehe, denke und mich unterhalte, anstatt sie zu bezahlen? Mitten in einer Dichtung oder einem Gedanken, beim Frühstück, wenn mich Freunde, Fröhlichkeit und heitere Scherze umgeben, kann ich einen Mann in einem verschossenen braunen Anzug mit einem schäbigen Hut in der Hand eintreten sehen. Dieser Mann ist meine Schuld, mein Wechsel, mein Gespenst, vor dem meine Freude verwelkt, das mich zwingt, den Tisch zu verlassen und mit ihm zu sprechen. Er wird mir meine Fröhlichkeit wegnehmen, meine Geliebte, alles, selbst mein Bett. Gewissensbisse sind viel erträglicher, sie bringen uns weder auf die Straße, noch ins Schuldgefängnis, noch stoßen sie uns in diesen scheußlichen Pfuhl des Lasters hinunter. Sie bringen uns höchstens auf das Schafott, wo der Henker uns wieder adelt, denn im Momente unserer Hinrichtung wird jeder an unsere Unschuld glauben. An dem Wollüstling ohne Geld hingegen läßt die Gesellschaft kein gutes Haar. Aber diese Schulden auf zwei Beinen, in verschossenem grünlichen Anzug, mit blauen Brillen und bunten Regenschirmen, diese fleischgewordenen Schulden kann ich an einer Straßenecke treffen, wenn ich gerade lächle, und dann haben sie das schreckliche Recht zu sagen: »Herr von Valentin schuldet mir Geld und zahlt nicht. Ich habe ihn in der Hand. Er soll nur recht freundlich zu mir sein!« Wir müssen unsere Gläubiger grüßen, sie freundlich grüßen und sie danken damit, daß sie sagen: »Wann werden Sie mich bezahlen?« Dann müssen wir lügen, andere Leute um Geld anflehen und uns vor dem Dummkopf, der auf seiner Kassa sitzt, beugen, seinen kalten Blutsaugerblick, der ärger ist als eine Ohrfeige, hinnehmen und uns seine Rechenbuchmoral und seine ganze Dummheit gefallen lassen. Daß Schulden Werke der Phantasie sind, können sie nicht begreifen. Begeisterungsfähigkeit der Seele reißt oft den Schuldenmacher fort und unterjocht ihn, während nichts Großes und Edles sie leitet und beherrscht, die mitten im Gelde leben und nichts kennen als das Geld. Mir graute vor dem Gelde.

Aber ein solcher Wechsel kann sich auch in einen alten tugendreichen Familienvater verwandeln; dann schuldete ich vielleicht einem lebendigen Bild von Greuze das Geld, einem lahmen Manne, der eine Menge Kinder hat, oder der Witwe eines Soldaten, die mir alle flehend die Hände entgegenstreckten. Mit solchen furchtbaren Gläubigern muß man weinen und, wenn man sie bezahlt hat, schuldet man ihnen erst noch Hilfe. Am Abend vor dem Verfalltage ging ich in der trügerischen Ruhe von Menschen zu Bett, die vor ihrer Hinrichtung oder einem Duell schlafen können. Sie lassen sich immer noch von einer trügerischen Hoffnung einwiegen. Als ich aber beim Erwachen in kalter Klarheit meine Seele in das Portefeuille eines Bankiers eingekerkert und mit roter Tinte in die Listen eingetragen fühlte, sprangen plötzlich meine Schulden überall wie Heuschrecken empor, sie waren in meiner Stehuhr, auf meinen Lehnstühlen und in den Verzierungen der Möbel, an deren Benützung ich so große Freude hatte. Wenn ich nun das Opfer der Harpyen des Schuldgefängnisses geworden war, sollten wohl auch diese meine sanften Sklaven von den Leuten des Gerichtsvollziehers hinweggeschleppt und roh zum Verkaufe hingeworfen werden. Aber all das gehörte ja auch noch zu mir selber … Die Glocke meiner Wohnung erklang in meinem Herzen und traf mich wie einen König ein Schlag auf das Haupt. Das war ein Martyrium, und kein Himmel verhieß mir Belohnung dafür. Ja, für einen hochherzigen Menschen ist eine Schuld die Hölle, eine Hölle, verschärft durch Gerichtsvollzieher und Wucherer. Eine unbezahlte Schuld bedeutet Erniedrigung, den Anfang der Schurkerei und, was ärger als all das ist, eine Lüge. Sie ist der erste Anfang aller Verbrechen, und sie richtet den ersten Balken zum Schafott auf.«

*

»Die Wechsel wurden mir protestiert: drei Tage später bezahlte ich sie. Laß dir erzählen, wieso. Ein Spekulant kam zu mir und schlug mir vor, ich solle ihm die Insel in der Loire, die ich besaß und auf der das Grab meiner Mutter war, verkaufen. Ich willigte ein. Als ich beim Notar des Käufers den Kaufkontrakt unterzeichnete, fühlte ich in der Düsterkeit dieser Kanzlei eine Kühle wie aus einem Grab mich umwehen. Ich schauderte, als ich die kalte Feuchtigkeit wiedererkannte, die mir aus dem Grabe, in dem mein Vater lag, entgegengeschlagen hatte. Ich nahm diesen Zufall als ein unheilvolles Vorzeichen. Es schien mir, als hörte ich die Stimme meiner Mutter und erblickte ihren Schatten. Eine unbekannte Macht ließ mir undeutlich mitten im Klange vieler Glocken meinen Namen im Ohre erklingen.

Nachdem ich meine Schulden gezahlt hatte, blieben mir von dem Gelde für meine Insel zweitausend Franken. Nun hätte ich freilich in das friedsame Gelehrtenleben zurückkehren, in meine Mansarde heimkehren können, jetzt, nachdem ich das Leben versucht und den Kopf voll zahlloser Beobachtungen hatte und mich schon eines gewichtigen Rufes erfreute. Aber Feodora hatte ihre Beute nicht aus den Klauen gelassen. Wir waren einander oft begegnet, ich ließ ihr meinen Namen durch ihre Verehrer, die voll Staunens über meinen Geist, meine Pferde, meine Erfolge und meine Wagen waren, ins Ohr posaunen. Sie blieb kalt und gefühllos bei alledem, selbst als Rastignac ihr die furchtbaren Worte »Er tötet sich um Ihretwillen« sagte. Die ganze Welt mußte mir zu meiner Rache dienen. Aber ich war dabei nicht glücklich. Ich höhlte solcherart mein Leben bis auf seinen Schlammgrund aus, aber immer wieder sprach mir mein Gefühl von den Entzückungen erwiderter Liebe, deren Phantom mich durch all die Wechselfälle meines Verschwenderdaseins bis in den tiefsten Abgrund der Orgien verfolgte. Zu meinem Unglücke wurde meine gute Gläubigkeit betrogen: ich wurde für meine Wohltaten mit Undank gestraft – und für meine Schlechtigkeiten mit tausend Genüssen belohnt. Das gibt eine düstere Philosophie, deren Wahrheit der Genußmensch an sich erfahren muß.

Feodora hatte mich mit dem Aussatze der Leerheit angesteckt. Ich forschte in meiner Seele und fand sie brandig und faulig. Der Dämon hatte mir die Spur seiner Kralle auf die Stirn gedrückt. Es war mir von nun an unmöglich geworden, auf die unaufhörlichen Erregungen eines Lebens, das ich in jedem Augenblicke wagte, auf die verruchten Verfeinerungen des Reichtums zu verzichten. Wäre ich auch millionenreich gewesen, ich hätte doch immer weiter gespielt, getafelt und Abenteuer gesucht. Ich wollte nicht mehr mit mir allein bleiben. Ich brauchte Kurtisanen, falsche Freunde, den Wein und das gute Essen, um mich zu betäuben. Die Bande, die den Menschen an die Familie knüpfen, hatte ich für immer zerrissen; ich war ein Galeerensträfling der Lust geworden – Selbstmord mußte mein Geschick vollenden.

In den letzten Tagen, da ich noch Geld besaß, stürzte ich mich jeden Abend in die unerhörtesten Ausschweifungen, aber an jedem Morgen stieß mich der Tod von neuem in das Leben zurück. Ich glaubte, ich hätte unbeschädigt durch eine Feuersbrunst schreiten können. Endlich blieb mir ein einziges Zwanzigfrankenstück übrig, da erinnerte ich mich des Glücks, das Rastignac gehabt hatte …«

»Oh! Oh!« schrie Rafael plötzlich: sein Talisman fiel ihm ein, und er zog das Chagrinleder aus der Tasche.

Sei es, daß die Kämpfe dieses langen Tages ihn zu müde gemacht hatten, als daß er in all diesen Fluten von Wein und Punsch noch Herr seines Verstandes geblieben wäre, sei es, daß das Bild seines Lebens ihn so erregt und er sich im Sturm seiner Worte berauscht hatte, er geriet in eine Aufregung wie ein Mensch, der völlig den Verstand verloren hat. Er schwang das Leder und schrie: »Zum Teufel mit dem Tod! Jetzt will ich leben! Ich bin reich, jetzt habe ich alle Tugenden. Nichts wird mir widerstehen. Wenn man alles kann, ist man doch gut. Oh! Ich habe zweimalhunderttausend Franken Rente gewünscht, jetzt werde ich sie haben. Auf, ihr Schweine, die ihr euch auf diesem Teppich wie im Miste wälzt, auf, begrüßt mich! Ihr gehört mir … Ein hübsches Eigentum! Ich bin reich. Ich kann euch alle kaufen, auch den Herrn Deputierten, der da schnarcht. Auf, Kanaillen der guten Gesellschaft. Preiset mich! Ich bin der Papst!«

Nun wurden die Ausrufe Rafaels, die bisher von dem Basso continuo des Schnarchens übertönt gewesen waren, von den meisten der Schläfer gehört. Sie fuhren schreiend auf, sahen den Störenfried recht unsicher auf seinen Beinen dastehen und schalten mit einem ganzen Konzert von Verwünschungen seine lärmende Betrunkenheit.

»Ruhe!« schrie Rafael ihnen zu, »in eure Hütten, ihr Hunde! … Emile, ich besitze Schätze. Ich werde dir Havannazigarren schenken.«

Der Dichter antwortete ihm: »Ich höre dir ja zu: Feodora oder den Tod! Also weiter! Die zuckersüße Feodora hat dich also betrogen. Die Frauen sind eben Evatöchter. Aber deine Geschichte ist gar nicht dramatisch.«

»Was, du hast heimtückisch geschlafen?«

»Nein … Feodora oder den Tod! Ich hör' ja zu.«

»Wach' aufl« schrie Rafael ihn an und schlug mit dem Chagrinleder auf ihn los, als ob er elektrische Funken aus ihm schlagen wollte.

»Zum Teufel!« rief nun Emile; er erhob sich und faßte Rafael um den Leib: »mein Freund, denk' doch daran, daß du da mit Frauen bist, die zur schlechten Gesellschaft gehören.«

»Ich bin Millionär!«

»Wenn du auch nicht Millionär bist, bist du doch sicherlich äußerst besoffen!«

»Ich bin trunken vor Macht. Ich kann dich töten … Ruhe! Ich bin Nero, ich bin Nabuchodonosor.«

»Rafael, hör' doch, wir sind hier unter üblen Leuten, du müßtest um deiner Würde willen still sein.«

»Mein ganzes Leben war ein zu langes Stillesein. Jetzt will ich mich an der Welt rächen. Ich will nicht mehr mein Vergnügen darin finden, dreckige Taler zu verschwenden, ich will mein Zeitalter nachahmen und darstellen, will Menschenleben, Intelligenzen und Seelen vergeuden! Das ist endlich ein Luxus, der nicht schäbig ist: die Üppigkeit der Pest! Ich will mit dem gelben Fieber, mit dem blauen, grünen Fieber kämpfen, mit Armeen, mit den Schafotten. Ich könnte Feodora haben … aber nein, ich will Feodora ja gar nicht, sie ist meine Krankheit, ich sterbe an Feodora. Ich will Feodora vergessen!«

»Wenn du weiter so schreist, trage ich dich in den Speisesaal hinüber!«

»Siehst du dieses Leder? Es ist das Testament Salomons. Salomon, der arme Schlucker von einem König, gehört mir. Mein ist Arabien, auch das peträische! Das All gehört mir, auch du bist mein eigen, wenn ich will! Oh, wenn ich will, dann nimm dich in acht! Ich kann deine ganze Journalistenbude kaufen, dann bist du mein Diener! Dann mußt du mir Couplets machen und meine Papiere in Ordnung halten. Diener! Bedienter!«

Auf dieses Wort hin trug Emile Rafael in den Speisesaal hinüber: »Aber ja, mein Freund, ja ja, ich bin dein Bedienter. Aber du sollst Chefredakteur einer Zeitung werden, so schweig, benimm dich anständig, aus Rücksicht auf mich! Liebst du mich?«

»Ja, ich liebe dich. Du sollst durch dieses Leder Havannazigarren haben. Das Leder, mein Freund … Das ist ein ausgezeichnetes Mittel. Ich kann Hühneraugen kurieren. Hast du Hühneraugen? Ich schaff sie dir weg.«

»Nie noch hab' ich dich so vertrottelt gesehen …«

»Vertrottelt, mein Freund? Nein. Dieses Leder wird kleiner, sooft ich einen Wunsch tue … das ist eine hübsche Ironie. Der Brahmane, der dahinter steckt, muß ein Witzbold gewesen sein – weißt du – weil die Wünsche so etwas doch ausdehnen müßten.«

»Schön. Gut. Ja.«

»Aber ich sage dir …«

»Ja, das ist sehr wahr. Ich bin deiner Meinung. Der Wunsch dehnt aus …«

»Aber ich sage dir, das Leder!«

»Ja.«

»Du glaubst mir nicht? Ich kenne dich, mein Freund, du bist verlogen wie ein neugekrönter König.«

»Soll ich den verworrenen Reden deiner Betrunkenheit Glauben schenken? Willst du das?«

»Aber ich wette mit dir … ich kann es dir beweisen. Nehmen wir Maß.«

»Also, der wird nicht mehr einschlafen!« rief Emile, da er sah, wie Rafael nun den Speisesaal durchstöberte. Mit Affengeschicklichkeit und dank jener sonderbaren Hellsichtigkeit, wie sie bei Betrunkenen gerade im Gegensatz zu den sonstigen verschwommenen Visionen des Rausches zuweilen auftritt, fand Rafael wirklich ein Schreibzeug und eine Serviette, indes er unaufhörlich wiederholte:

»Nehmen wir Maß! Nehmen wir Maß!«

»Schön, ja,« sagte Emile, »nehmen wir Maß!«

Die beiden Freunde breiteten die Serviette auf den Tisch und legten das Chagrinleder darauf. Emile, dessen Hand noch sicherer war als die Rafaels, zeichnete mit der Feder die Umrisse des Talismans auf die Serviette, während sein Freund zu ihm sagte:

»Ich wünsche mir zweimalhunderttausend Franken Rente. Nicht wahr? Gut, wenn ich sie haben werde, wirst du sehen, wie mein ganzes Leder kleiner geworden ist und damit auch mein Kummer.«

»Ja … Aber jetzt schlaf! Soll ich dich auf das Kanapee da legen? Ist's gut so?«

»Ja, mein Pressesäugling. Du wirst mich unterhalten und mir die Fliegen wegjagen. Der Freund im Unglück hat ein Recht darauf, auch der Freund im Glücke zu sein. So werde ich dir auch Ha … va … nna … zi … gar …«

»Schlaf deinen Goldrausch aus, Millionär!«

»Und du deine Artikel! Guten Abend! Sag' doch Nabuchodonosor guten Abend … O Liebe! Zu trinken! Frankreich … Ruhm … und reich … reich …«

Bald mischte sich das Schnarchen der beiden Freunde in die Musik, die in den Salons ertönte. Wie unnötig dieses Konzert war! Die Kerzen erloschen eine nach der anderen, und die Kristallleuchter blitzten noch ein letztes Mal auf. Die Nacht deckte mit ihrem dichten Schleier diese lange Orgie, in der Rafaels Erzählung wie eine Orgie der Worte gewesen war, von Worten ohne Gedanken und von Gedanken, denen oft der Ausdruck gefehlt hatte.

*

Anderen Tages gegen Mittag erhob sich die schöne Aquilina gähnend, müde und mit den Spuren des Samtmusters von dem Taburett, auf dem ihr Kopf geruht hatte, auf den Wangen. Euphrasie erwachte durch die Bewegung ihrer Gefährtin und erhob sich jäh mit einem heiseren, Rufe; ihr Gesicht, das am Abend vorher so hübsch und weiß und frisch gewesen war, war nun gelblich bleich wie das Gesicht einer Dirne, die ins Spital geht. Allmählich regten sich die Zechgenossen düster stöhnend. Sie befühlten ihre steif gewordenen Arme und Beine; tausenderlei Mißbehagen fiel beim Erwachen über sie her. Ein Diener kam und öffnete Vorhänge und Fenster der Salons. Die letzten Schläfer erhoben sich, da die warmen Strahlen der Sonne ihre Gesichter trafen. Alle waren nun auf den Füßen. Die Bewegungen des Schlafes hatten die eleganten Gebäude der Frisuren zerstört, die Kleider waren wie verwelkt; im strahlenden Tageslichte boten die Frauen nun ein klägliches Schauspiel dar. Die Haare hingen wirr und ohne Anmut um die Gesichter, deren Ausdruck verwandelt war. Die Erschlaffung hatte die vordem so strahlenden Augen getrübt. Der gelbliche Teint, der im Kerzenlicht so schön wirkte, sah nun schauerlich aus; die lymphatischen Angesichter, die, wenn sie ausgeruht sind, so weiß und weich gerundet sind, waren grünlich geworden. Die vorher so köstlich roten Lippen waren trocken und blaß und trugen die schmählichen Male der Betrunkenheit. Die Männer verleugneten ihre Geliebten aus dieser Nacht, als sie sie so verfärbt und leichenhaft wie die zertretenen Blumen der Straßen, über die eine Prozession hinweggegangen ist, wiedersahen. Aber die Männer mit all ihrer Verachtung sahen noch furchtbarer aus.

Abscheulich war der Anblick dieser Menschengesichter mit den hohlen, dunkel umschatteten Augen, die nichts zu sehen schienen, die betäubt vom Wein und stumpf waren vom oft gestörten Schlafe, der statt zu erfrischen nur noch müder macht. Diese verbrauchten Gesichter, auf denen sich nun nackt alle Gier des Leibes, unverschönt durch Seelisches, zeigte, hatten alle etwas Böses und kalt Tierisches. Dieses Erwachen des Lasters ohne Hüllen und Schminke, das Skelett des Bösen, das seine Lumpen abgeworfen hat und nun kalt, leer und ohne die Sophismen des Geistes und die Zauberkünste des Luxus sich zeigte, entsetzte selbst diese furchtlosen Streiter, so sehr sie an den Kampf mit der Ausschweifung gewöhnt sein mochten. Künstler und Dirnen stierten schweigend mit wirren Blicken über die Verwüstung der Gemächer hin, in denen das Feuer der Leidenschaften alles zerstört und verheert halte. Plötzlich aber erhob sich ein satanisches Lachen, als Taillefer, der den Lärm seiner erwachenden Gäste dumpf vernommen hatte, sie mit einer Grimasse zu begrüßen versuchte; sein schweißbedecktes, rotgeädertes Gesicht stand über dieser Höllenszene als das Urbild des Verbrechens ohne Gewissensbisse. Nun war das Gemälde vollkommen: es stellte den Schmutz des Lebens inmitten des Luxus dar, ein furchtbares Gemenge aus menschlichem Prunk und menschlichem Elend, das Erwachen der Ausschweifung, nachdem ihre wilden Hände alle Früchte des Lebens ausgepreßt und nichts mehr übriggelassen haben als erbärmliche Reste und Lügen, an die sie nicht glaubt. Es war, als ob der Tod lächelnd inmitten einer pestverseuchten Familie stände: keine Düfte und Lichter betäubten mehr, die Fröhlichkeit war entwichen. Nur der Ekel war da mit seinen zum Erbrechen reizenden Gerüchen; die Sonne schien grell wie die Wahrheit, und Luft drang reinlich und klar durch das Fenster in den warmen Miasmenbrodem der Orgie ein.

Trotz ihrer Gewöhnung an das Laster mochte wohl das eine oder das andere dieser Mädchen an das Erwachen von ehedem denken, da es rein und unschuldig durch die Fenster im ländlichen Schmuck von Geißblatt und Rosen auf eine morgenfrische Landschaft voll des Zaubers fröhlicher Lerchentriller hinaus in den lichten Dunst des Morgenrotes und auf die phantastischen Geschmeide der Tautropfen geblickt hatte. Andere vielleicht mochten sich das Frühstück in ihrer Familie wieder zurückrufen, den Tisch, um den das unschuldige Lachen der Kinder und des Vaters klang, wo alles einen unbeschreiblichen Zauber atmete und die Gerichte einfach wie die Herzen waren. Ein Künstler dachte an den Frieden seines Ateliers, an seine keusche Statue, an das anmutige Modell, das ihn erwartete. Ein junger Mann erinnerte sich des Prozesses, von dem das Geschick einer Familie abhing, und gedachte eines dringlichen Geschäftes, das seine Anwesenheit erforderte. Ein Gelehrter sehnte sich nach seinem Arbeitszimmer, dahin sein Werk ihn rief. Fast alle klagten sich innerlich an. Da erschien plötzlich frisch und rosig wie der hübscheste Kommis eines beliebten Modegeschäftes Emile. Lachend rief er: »Ihr seid noch häßlicher als Gerichtsvollzieher. Ihr könnt heute schon nichts mehr machen, der Tag ist verloren. Ich glaube, wir frühstücken!«

Auf diese Worte hin ging Taillefer, um Anordnungen zu treffen. Ermattet traten die Frauen vor die Spiegel und suchten ihre Kleider in Ordnung zu bringen. Die Männer rüttelten sich auf. Die lasterhaftesten unter ihnen gaben die bravsten Redensarten von sich. Die Dirnen machten sich über die lustig, die nicht mehr die Kraft aufbringen zu können schienen, dieses aufreibende Fest fortzusetzen. Allmählich begannen die Gespenster sich zu beleben, sie bildeten Gruppen, kamen ins Gespräch und lächelten. Ein paar rasche, gewandte Diener faßten die Möbel an und brachten geschwind ein jedes Ding wieder an seinen Platz. Ein prächtiges Frühstück wurde aufgetragen. Nun drängten alle in den Speisesaal. Wenn auch hier alles die unauslöschlichen Spuren der Exzesse des Vorabends trug, gab es nun doch wenigstens zuweilen ein Aufleuchten von Leben und Gedanken wie in den letzten Zuckungen eines Sterbenden. Wie im Faschingsdienstagszuge war das Bacchanale von den Masken begraben worden, die müde ihrer Tänze und trunken von der Trunkenheit waren und die Lust erschöpft nannten, um sich nicht ihre eigene Erschöpfung eingestehen zu müssen.

Im Augenblicke, da sich die ausdauernde Gesellschaft an den Tisch des Kapitalisten setzte, erschien der Notar Cardot, der am Abend nach dem Diner klüglich verschwunden war, um seine Orgie im Ehebette zu beendigen, mit einem heiteren Lächeln auf seinem amtlichen Gesichte. Er schien eine köstliche Erbschaft gewittert zu haben, bei der es zu teilen, zu inventarisieren und Reinschriften herzustellen gab, eine Erbschaft voll auszufertigender Akten, strotzend von Honoraren, eine, die schmackhaft war wie das zarte Bratenstück, in das eben das Messer des Gastgebers fuhr. »Oh, wir werden unter Assistenz eines Notars frühstücken!« rief de Cursy.

»Sie kommen gerade zurecht, um alle die Stücke hier zu numerieren und mit Ihren Zeichen zu versehen«, lachte der Bankier und zeigte auf das Festmahl. »Hier gibt es kein Testament zu machen, höchstens Heiratskontrakte!« sagte der Gelehrte, der zum erstenmal seit einem Jahre wieder in den Armen einer Frau glücklich geworden war.

»Ah! Ah!«

»Oh! Oh!«

»Einen Augenblick«, entgegnete Cardot, der von dem Chor schlechter Scherze ganz verwirrt geworden war. »Ich komme wegen einer ernsten Sache hierher. Ich bringe einem von Ihnen sechs Millionen!« (Tiefes Schweigen.) Er wandte sich an Rafael, der sich eben recht unzeremoniell damit beschäftigte, sich mit einer Ecke seiner Serviette die Augen auszuwischen. »Mein Herr, hieß Ihre Frau Mutter nicht als Mädchen O'Flaharty?«

»Ja, Barbara Maria«, antwortete Rafael ganz gedankenlos.

Cardot fuhr fort: »Haben Sie Ihren Geburtsschein und den von Frau von Valentin noch?«

»Ja, ich glaube.«

»Schön, mein Herr. Sie sind der einzige und alleinige Erbe des Majors O'Flaharty, der im August 1828 zu Kalkutta verstorben ist.«

»Das bedeutet ein unkalkulierbares Vermögen«, schrie der Besserwisser.

»Der Major hatte in seinem Testament über mehrere Summen zugunsten einiger öffentlicher Wohlfahrtsanstalten verfügt. Die französische Regierung hat von der Ostindischen Handelsgesellschaft die Verlassenschaft reklamiert: sie ist nunmehr flüssig gemacht und greifbar. Seit vierzehn Tagen suche ich vergeblich die Erbberechtigten nach dem Fräulein Barbara Maria O'Flaharty, erst gestern bei Tisch …«

In diesem Augenblick erhob sich Rafael plötzlich und machte eine jähe Bewegung, wie einer, der eine Wunde empfängt. Stummer Beifall umgab ihn: die erste Empfindung der Tischgenossen kam aus dumpfem Neid, alle Augen wandten sich wie Flammen gegen ihn. Dann begann ein Murmeln gleich dem eines erregten Theaterpublikums, lauter Aufruhr erhob sich, wuchs an und ein jeder sprach sein Wort zum Gruße an das ungeheure Vermögen, das der Notar gebracht hatte. Dieser jähe Gehorsam des Schicksals hatte Rafael wieder völlig zur Besinnung gebracht. Rasch breitete er die Serviette, mit der er das Chagrinleder gemessen hatte, auf den Tisch. Ohne irgend etwas zu hören, legte er den Talisman darauf – und ein Schauder überlief ihn, als er einen kleinen Abstand zwischen dem Umriß, der auf das Tuch gezeichnet war, und dem nunmehrigen des Leders gewahrte.

Taillefer rief: »Was hat er denn? Der ist billig zu seinem Geld gekommen.«

»Du, stütz' ihn! Die Freude bringt ihn um«, raunte Bixiou Emile zu.

Eine furchtbare Blässe ließ alle Muskeln aus dem abgemagerten Gesicht des Erben hervortreten, seine Züge verkrampften sich; was in seinem Gesichte hervortrat, war weiß geworden, was eingefallen war, dunkelte schattig: starr blickten die Augen aus der leichenhaften Maske. Rafael sah den Tod. Dieses glänzende Mahl, umgeben von verwelkten Dirnen und überdrüssigen Gesichtern, dieser Todeskampf der Freude war ihm ein lebendiges Abbild seines Lebens. Dreimal blickte Rafael auf den Talisman, der nun zwischen den unerbittlichen Linien auf der Serviette seinen Spielraum hatte. Er wollte zweifeln, aber ein klares Ahnen machte seinen Unglauben zunichte. Die Welt gehörte ihm, er konnte alles – und er wollte nichts mehr. Er war ein Wanderer inmitten der Wüste, er hatte noch ein wenig Wasser für seinen Durst, und er konnte mit jedem Schlucke bemessen, wie lange er noch zu leben hatte. Er sah, wie jeder Wunsch ihm Tage seines Lebens kostete. Seit er an das Chagrinleder glaubte, hörte er sich atmen; und nun fühlte er sich schon krank. Er fragte sich: »Bin ich nicht lungenkrank? Meine Mutter ist doch an einem Lungenleiden gestorben!«

»Jetzt werden Sie sich doch ordentlich unterhalten! Was werden Sie mir denn schenken, Rafael?« fragte ihn Aquilina.

»Trinken wir auf den Tod seines Onkels, des Majors O'Flaharty! Das war ein Mann!«

»Der wird noch Pair von Frankreich werden!«

Der Besserwisser sprach darein: »Was ist denn heutzutage noch ein Pair von Frankreich, seit der Julirevolution!«

»Wirst du deine eigene Loge im Theater haben?«

»Ich hoffe, daß Sie uns anständig bewirten werden!« rief Bixiou.

Emile sagte: »Ein Mann wie er versteht sich darauf, alles im großen Stile zu machen.«

Das Stimmengewirr der lachenden Versammlung scholl Rafael in die Ohren, ohne daß er den Sinn eines einzigen Wortes ausnehmen konnte. Er dachte unbestimmt an das dumpfe wunschlose Dasein eines bretonischen Bauern, der eine Menge Kinder hat, seinen Acker bearbeitet und seinen Apfelwein aus dem Krug trinkt. Der glaubt an die heilige Jungfrau und den König, geht zu Ostern zur Kommunion, tanzt am Sonntag auf einer grünen Wiese und versteht die Predigt seines Pfarrers nicht. Das Schauspiel, das sich während dieser Gedanken Rafael darbot, die vergoldete Täfelung, die Dirnen, das Mahl und all der Luxus um ihn, schnürte ihm den Hals zusammen. Er hustete. Der Bankier schrie: »Wünschen Sie Spargel?«

» Ich wünsche nichts!« brüllte ihn Rafael an.

»Bravo!« rief Taillefer, »Sie verstehen schon, daß ein Vermögen ein Freibrief für Unverschämtheit ist. Jetzt gehören Sie zu uns. Meine Herren, trinken wir auf die Macht des Goldes. Herr von Valentin als sechsfacher Millionär kommt jetzt zur Macht. Er ist König, er kann alles, wie jeder Reiche steht er hoch über allem. Für ihn ist künftig das ›Die Franzosen sind vor dem Gesetze gleich‹ die erste Lüge im Gesetzbuch. Denn nicht er gehorcht mehr den Gesetzen, die Gesetze müssen ihm gehorchen. Für Millionäre gibt es kein Schafott und keine Henker.«

»O doch, sie sind sich selber die Henker«, antwortete Rafael.

»Das ist auch so ein Vorurteil«, rief der Bankier.

»Trinken wir!« sagte Rafael. Er barg seinen Talisman in der Tasche. Emile faßte ihn bei der Hand: »Was tust du da?«

Er wandte sich an die Versammlung, die einigermaßen erstaunt über Rafaels Benehmen war: »Meine Herrschaften, Sie sollen wissen, daß unser Freund Valentin, aber was sage ich? der Herr Marquis von Valentin ein Geheimnis besitzt, mit dem man Reichtum erschaffen kann. Seine Wünsche werden im selben Augenblicke, da er sie in sich formt, auch schon erfüllt. Wenn er nicht für niedrig und herzlos gelten will, wird er uns alle jetzt reich machen!«

Da rief Euphrasie: »Mein kleiner Rafael, ich möchte eine Perlenkette!«

Aquilina folgte: »Wenn er dankbar ist, schenkt er mir zwei Wagen mit schönen flotten Pferden.«

»Wünschen Sie hunderttausend Franken Rente für mich!«

»Für mich Kaschmirkleider!«

»Zahlen Sie meine Schulden!«

»Meinen Onkel, den großen mageren, soll der Schlag treffen!«

»Rafael, ich bin mit zehntausend Franken Rente zufrieden!«

Der Notar rief darein: »Da wird's Schenkungsurkunden auszustellen geben!«

»Mich könnte er von der Gicht kurieren!«

Der Bankier verlangte: »Machen Sie, daß die Renten fallen!«

All diese Sätze prasselten wie ein Feuerwerk auf, und die wilden Wünsche darin waren weit mehr im Ernst als im Scherz gemeint.

Tiefernst sagte Emile nun: »Mein lieber Freund, ich bin mit zweimalhunderttausend Franken Rente zufrieden. Also beiß in den sauren Apfel! Vorwärts!«

Rafael antwortete ihm: »Emile, weißt du denn nicht, was meine Wünsche mich kosten?«

Der Dichter rief: »Das ist eine schöne Ausrede. Man muß sich eben für seine Freunde aufopfern!«

Mit einem finsteren Blicke auf die Zechgenossen antwortete Valentin: »Ich habe fast Lust, euch allen den Tod zu wünschen.«

»Die Sterbenden sind schrecklich grausam«, entgegnete ihm Emile lachend. Ernst werdend fuhr er fort: »Du bist jetzt reich, ich gebe dir zwei Monate, bis auch du ein dreckiger Egoist wirst. Du bist jetzt schon blöd. Du verstehst keinen Spaß mehr. Dir fehlt nur noch, daß du wirklich an dein Chagrinleder glaubst!«

Rafael fürchtete den Hohn der Gesellschaft um ihn; er schwieg, trank maßlos und betrank sich, um für eine Weile seine unheilvolle Macht zu vergessen.

*


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