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Gott und der Staat.

Wer hat recht, die Idealisten oder die Materialisten? Wenn die Frage so gestellt wird, zögert die Antwort nicht. Ohne jeden Zweifel haben die Idealisten unrecht und nur die Materialisten haben recht. Ja, die Tatsachen gehen den Ideen vor; ja, das Ideal ist, wie Proudhon sagte, nur eine Blume, deren Wurzel die materiellen Existenzbedingungen bilden. Ja, die ganze intellektuelle und moralische, politische und soziale Geschichte der Menschheit ist ein Reflex ihrer ökonomischen Geschichte.

Alle Zweige moderner, gewissenhafter und ernster Wissenschaft wirken zusammen, diese große, diese grundlegende und entscheidende Wahrheit zu proklamieren: ja, die soziale Welt, die menschliche Welt im eigentlichen Sinne, die Menschheit mit einem Wort ist nichts anderes als die – für uns und unsern Planeten wenigstens – letzte und oberste Entwicklung, die höchste Manifestierung der Animalität. Aber da jede Entwicklung notwendigerweise eine Verneinung einschließt, die Verneinung ihrer Grundlage oder ihres Ausgangspunktes, ist die Menschheit zugleich und vor allem die bewußte und progressive Verneinung der Animalität in den Menschen, und gerade diese ebenso rationelle als natürliche Verneinung, die nur rationell ist, weil sie natürlich ist, historisch und logisch wie die Entwicklungen und Produkte aller Naturgesetze, gerade diese Verneinung bildet und schafft das Ideal, die Welt der intellektuellen und moralischen Überzeugungen, die Ideen.

Ja, unsere ersten Vorfahren, unsere Adams und Evas waren, wenn nicht Gorillas, doch sehr nahe Cousins des Gorilla, omnivore, intelligente und wilde Tiere, die in unendlich höherem Grade als alle anderen Tierarten die zwei wertvollen Fähigkeiten besaßen: die Fähigkeit zu denken und die Fähigkeit, das Bedürfnis, sich zu empören.

Diese beiden Fähigkeiten und ihr progressives Zusammenwirken im Lauf der Geschichte bilden den bewegenden Faktor, die negierende Kraft in der positiven Entwicklung der menschlichen Animalität und schaffen folglich alles, was das Menschliche in den Menschen bildet.

Die Bibel, ein sehr interessantes und manchmal sehr tiefes Buch, wenn als eine der ältesten erhaltenen Äußerungen menschlicher Weisheit und Phantasie betrachtet, drückt diese Wahrheit sehr naiv in ihrem Mythos von der Erbsünde aus. Jehovah, von allen Göttern, die die Menschen je angebetet, gewiß der eifersüchtigste, eitelste, roheste, ungerechteste, blutgierigste, despotischste und menschlicher Würde und Freiheit feindlichste, schuf Adam und Eva aus man weiß nicht was für einer Laune heraus, ohne Zweifel zum Vertreiben seiner Langweile, die schrecklich sein muß bei seiner ewigen egoistischen Einsamkeit, oder um sich neue Sklaven zu geben; dann stellte er ihnen edelmütig die ganze Erde zur Verfügung mit all ihren Früchten und Tieren, wobei er diesem vollständigen Genuß nur eine einzige Grenze gab. Er verbot ihnen ausdrücklich, die Früchte des Baumes der Erkenntnis zu berühren. Er wollte also, daß der Mensch, alles Bewußtseins von sich selbst beraubt, ewig ein Tier bleibe, immer auf vier Füßen vor dem ewigen Gott, seinem Schöpfer und Herrn. Aber da kam Satan, der ewige Rebell, der erste Freidenker und Weltenbefreier. Er bewirkt, daß der Mensch sich seiner tierischen Unwissenheit und Unterwürfigkeit schämt; er befreit ihn und drückt seiner Stirn das Siegel der Freiheit und Menschlichkeit auf, indem er ihn antreibt, ungehorsam zu sein und die Frucht der Erkenntnis zu essen.

Man weiß, was folgte. Der Herrgott, dessen Voraussicht, eine seiner göttlichen Eigenschaften, ihm hätte sagen müssen, daß dies so kommen würde, geriet in schreckliche und lächerliche Wut: er verflucht Satan und die von ihm selbst geschaffenen Menschen und die Welt, sich gewissermaßen selbst in seiner eigenen Schöpfung schlagend, wie dies Kinder im Zorn zu tun pflegen, und sich nicht begnügend, unsere Vorfahren in der Gegenwart zu treffen, verflucht er sie in allen künftigen Generationen, die an dem Verbrechen ihrer Vorfahren unschuldig sind. Unsere katholischen und protestantischen Theologen finden das sehr tief und sehr gerecht, gerade weil es monströs unbillig und absurd ist! Dann erinnerte er sich, daß er nicht nur ein Gott der Rache und des Zornes, sondern auch ein Gott der Liebe sei, und nachdem er einige Milliarden armer menschlicher Wesen während ihres Lebens gequält und sie zu ewiger Hölle verurteilt hatte, erbarmte er sich der übrigen und um sie zu retten, um seine ewige und göttliche Liebe mit seinem ewigen und göttlichen, immer opfer- und blutgierigen Zorn zu versöhnen, schickte er als Sühnopfer seinen einzigen Sohn auf die Erde, damit er von den Menschen getötet würde. Dies nennt sich das Mysterium der Erlösung, die Grundlage aller christlichen Religionen. Und wenn noch der göttliche Retter die Welt der Menschen gerettet hätte! Mit nichten; in dem von Christus versprochenen Paradies wird es, wie man durch formelle Ankündigung weiß, nur sehr wenige Auserwählte geben. Die übrigen, die ungeheure Majorität der gegenwärtigen und künftigen Generationen, werden ewig in der Hölle braten. Inzwischen liefert zu unserm Trost der stets gerechte, stets gute Gott die Erde den Regierungen der Napoleon III. und Wilhelm I., der Ferdinand von Österreich und der Alexander aller Reußen aus.

Das sind die absurden Geschichten und monströsen Doktrinen, die man mitten im neunzehnten Jahrhundert in allen Volksschulen Europas, auf den ausdrücklichen Befehl der Regierungen, erzählt und lehrt. Das nennt man die Völker zivilisieren! Ist es nicht augenscheinlich, daß all diese Regierungen die systematischen Vergifter, die eigennützigen Verdummer der Volksmassen sind?

Ich ließ mich von meinem Gegenstand abziehen durch den Zorn, der mich stets packt, wenn ich an die elenden und verbrecherischen Mittel denke, durch die man die Völker in ewiger Knechtschaft hält, um sie besser scheren zu können ohne Zweifel. Was sind die Verbrechen aller Tropmann der Welt gegenüber diesem Verbrechen beleidigter Menschheit, das täglich, im vollen Tageslicht, auf der ganzen Fläche der zivilisierten Erde von denen begangen wird, die sich Schützer und Väter der Völker nennen? – Ich kehre zum Mythos von der Erbsünde zurück.

Gott gab Satan recht und erkannte an, daß der Teufel Adam und Eva nicht betrogen hatte, als er ihnen Erkenntnis und Freiheit versprach als Belohnung des Ungehorsams, zu dem er sie verleitet: denn sobald sie von der verbotenen Frucht gegessen hatten, sagte Gott zu sich (siehe die Bibel): »Sieh' da, der Mensch ist wie einer von uns geworden, er kennt das Gute und das Böse: hindern wir ihn, die Frucht des ewigen Lebens zu essen, damit er nicht unsterblich werde wie wir.«

Lassen wir jetzt die fabelhafte Seite dieses Mythos beiseite und betrachten wir seinen wörtlichen Sinn. Dieser ist sehr klar. Der Mensch hat sich befreit, er hat sich von der Animalität getrennt und als Mensch konstituiert; er begann seine Geschichte und seine Entwicklung im menschlichen Sinn durch einen Akt des Ungehorsams und der Erkenntnis, das heißt durch die Empörung und durch den Gedanken.

*

Drei Elemente oder drei Grundprinzipien bilden die wesentlichen Bedingungen aller menschlichen Entwicklung, kollektiver und individueller, in der Geschichte: 1. die menschliche Animalität; 2. der Gedanke; 3. die Empörung. Dem ersten entspricht die soziale und private Ökonomie, dem zweiten die Wissenschaft, dem dritten die Freiheit Der Leser wird eine vollständigere Darstellung dieser drei Prinzipien in dem Appendix dieses Buchs finden, unter dem Titel: Philosophische Betrachtungen über das göttliche Phantom, die wirkliche Welt und den Menschen. (M. B.)
Was hiervon vorliegt, ist von I. Guillaume in Oeuvres III, 179-405 herausgegeben worden. (Der Übers.)
).

Die Idealisten aller Schulen, Aristokraten und Bourgeois, Theologen und Metaphysiker, Politiker und Moralisten, Religiöse, Philosophen oder Dichter – nicht zu vergessen der liberalen Ökonomisten, dieser zügellosen Anbeter des Ideals, wie man weiß –, all diese sind sehr verletzt, wenn man ihnen sagt, daß der Mensch, mit all seiner glänzenden Intelligenz, seinen erhabenen Ideen und grenzenlosen Bestrebungen, wie alles auf der Welt, nichts als Materie, nichts als ein Produkt dieser niedrigen Materie ist.

Wir könnten ihnen erwidern, daß die Materie, von welcher die Materialisten sprechen, – spontan, ewig bewegliche, tätige, produktive Materie, chemisch oder organisch bestimmt und in Erscheinung tretend entsprechend den ihr inhärierenden mechanischen, physischen, animalischen und intelligenten Eigenschaften oder Kräften, – daß diese Materie nichts mit der niedrigen Materie der Idealisten gemein hat. Letztere, ein Produkt ihrer falschen Abstraktion, ist tatsächlich ein dummes, unbelebtes, unbewegliches, zu allem unfähiges Ding, ein caput mortuum , eine häßliche Einbildung jener schönen Einbildung gegenübergestellt, die sie Gott nennen, das höchste Wesen, demgegenüber die Materie, die Materie der Idealisten, von ihnen selbst alles beraubt, was ihre wirkliche Natur ausmacht, notwendigerweise das höchste Nichts darstellt. Sie nahmen der Materie die Intelligenz, das Leben, alle bestimmenden Eigenschaften, tätigen Beziehungen oder Kräfte, selbst die Bewegung, ohne welche die Materie nicht einmal Gewicht hätte, und ließen ihr nur die Undurchdringlichkeit und die absolute Bewegungslosigkeit im Raum; sie legten all diese Kräfte, Eigenschaften und natürlichen Äußerungen dem von ihrer abstrahierenden Phantasie geschaffenen imaginären Wesen bei; dann nannten sie, mit Vertauschen der Rollen, dieses Produkt ihrer Einbildung, dieses Phantom, diesen Gott, der das Nichts ist: »das höchste Wesen«, und erklärten mit notwendiger Konsequenz, daß das wirkliche Wesen, die Materie, die Welt das Nichts sei. Und dann sagen sie uns mit ernster Miene, daß diese Materie unfähig sei, etwas zu produzieren, nicht einmal sich von selbst in Bewegung zu setzen, und daß sie folglich von ihrem Gott erschaffen sein müsse.

In dem Appendix dieses Buchs deckte ich die wahrhaft empörenden Absurditäten auf, zu denen man unvermeidlich geführt wird durch die Einbildung eines Gottes, sei es eines persönlichen, der Welten schafft und organisiert, sei es selbst eines unpersönlichen, der als eine Art im ganzen Weltall verbreiteter göttlicher Seele angesehen wird, die das ewige Prinzip des Weltalls bilden würde, sei es einer unendlichen und göttlichen Idee, die immer anwesend und tätig ist und sich stets in der Gesamtheit der materiellen und endlichen Wesen äußert. Hier will ich mich auf die Hervorhebung eines einzigen Punktes beschränken.

Die sukzessive Entwicklung der materiellen Welt ist vollkommen faßbar, ebenso wie die des organischen, tierischen Lebens und die der im Lauf der Geschichte fortschreitenden, individuellen und sozialen Intelligenz des Menschen auf dieser Welt. Das ist eine ganz natürliche Bewegung vom einfachen zum zusammengesetzten, von unten nach oben oder von dem niedrigeren zu dem höheren, eine all unseren täglichen Erfahrungen und daher auch unserer natürlichen Logik, den Gesetzen unseres Geistes entsprechende Bewegung, dieser nur auf Grund dieser selben Erfahrungen entstehenden und sich entwickelnden Logik, die sozusagen nur deren mentale, zerebrale Wiedergabe oder bewußtes Resumé ist.

Das System der Idealisten bietet uns das gerade Gegenteil. Es stürzt alle menschlichen Erfahrungen absolut um und den allgemeinen gesunden Menschenverstand, der die wesentliche Bedingung alles Verständnisses unter den Menschen ist, der von der so einfachen und einstimmig anerkannten Wahrheit, daß zweimal zwei vier sind, sich bis zu den erhabensten und kompliziertesten wissenschaftlichen Betrachtungen erhebt, ohne je etwas durch Erfahrung oder Beobachtung der Dinge nicht streng Bestätigtes zuzugeben, und so die einzige ernstliche Basis menschlicher Kenntnisse bildet.

Statt den natürlichen Weg zu folgen von unten nach oben, vom Niedrigen zum Höheren, vom relativ Einfachen zum Komplizierten, statt klug und verständig die tatsächliche fortschreitende Bewegung von der anorganisch genannten Welt zur organischen, Pflanzen-, dann Tier-, dann speziell menschlichen Welt zu begleiten und die Bewegung der chemischen Materie oder des chemischen Wesens zur lebenden Materie oder dem lebenden Wesen und vom lebenden zum denkenden Wesen, statt dessen schlagen die idealistischen Denker, von dem von der Theologie ererbten göttlichen Phantom besessen, verblendet und angetrieben, den ganz entgegengesetzten Weg ein. Sie gehen von oben nach unten, vom Höheren zum Niedrigen, vom Komplizierten zum Einfachen. Sie beginnen mit Gott, sei es als Person, sei es als göttliche Substanz oder Idee, und ihr erster Schritt ist ein schrecklicher Fall von den erhabenen Höhen des ewigen Ideals in den Schlamm der materiellen Welt, von der absoluten Vollkommenheit zur absoluten Unvollkommenheit, von dem Gedanken zum Wesen oder vielmehr vom höchsten Wesen zum Nichts. Wann, wie und warum das göttliche, ewige, unendliche Wesen, das absolut Vollkommene, wahrscheinlich von sich selbst gelangweilt, sich zu diesem verzweifelten salto mortale entschloß, das hat kein Idealist, Theologe, Metaphysiker, Dichter je selbst zu verstehen gewußt, noch es den Profanen erklären können. Alle vergangenen und gegenwärtigen Religionen und alle übersinnlichen philosophischen Systeme drehen sich um dieses einzige und frevelhafte Mysterium Ich nenne es »frevelhaft«, weil, wie ich in dem erwähnten Appendix erwiesen zu haben glaube, dieses Mysterium die Konsakrierung aller in der Welt der Menschen begangenen und noch stattfindenden Greuel war und, ist, und ich nenne es »einzig«, weil alle andern theologischen und metaphysischen Absurditäten, die den Menschengeist verdummen, nur die notwendigen Konsequenzen dieses Mysteriums sind..

Heilige Männer, inspirierte Gesetzgeber, Propheten und Messien suchten darin das Leben und fanden darin nur Folter und Tod. Es verzehrte sie, wie die antike Sphinx, weil sie es nicht zu erklären wußten. Große Philosophen, von Heraklit und Plato bis Descartes, Spinoza, Leibnitz, Kant, Fichte, Schelling und Hegel, ohne der indischen Philosophen zu gedenken, schrieben Haufen von Büchern und schufen ebenso ingeniöse wie erhabene Systeme, in denen sie nebenbei viele schöne und große Dinge sagten und unsterbliche Wahrheiten entdeckten, die aber dieses Mysterium, den Hauptgegenstand ihrer übersinnlichen Forschungen, ebenso unergründet ließen, wie es vor ihnen gewesen war. Da aber die gigantischen Anstrengungen der bewunderungswürdigsten Genies, die die Welt kennt, die seit wenigstens dreißig Jahrhunderten immer von neuem diese Sisyphusarbeit unternahmen, nur dazu führten, dieses Mysterium noch unverständlicher zu machen, können wir hoffen, daß es uns heute durch die routinehafte Spekulation irgendeines pedantischen Schülers einer künstlich aufgewärmten Metaphysik enthüllt werde und das zu einer Zeit, in der alle lebendigen und ernsten Geister sich von dieser zweifelhaften Wissenschaft abgewendet haben, die das Resultat einer historisch gewiß erklärlichen Transaktion zwischen der Unvernunft des Glaubens und der gesunden wissenschaftlichen Vernunft ist?

Es ist augenscheinlich, daß dieses schreckliche Mysterium unerklärlich ist, das heißt, daß es absurd ist, weil das Absurde allein sich nicht erklären läßt. Es ist augenscheinlich, daß wer dasselbe zu seinem Glück, zu seinem Leben braucht, auf seine Vernunft verzichten und, wenn er kann, zum naiven, blinden, dummen Glauben zurückkehrend, mit Tertullian und allen aufrichtigen Gläubigen diese Worte wiederholen muß, welche die wahre Quintessenz der Theologie enthalten: Credo quia absurdum . Dann hört jede Diskussion auf und es bleibt nur die triumphierende Dummheit des Glaubens. Aber eine andere Frage stellt sich sofort: Wie kann in einem intelligenten und unterrichteten Menschen das Bedürfnis entstehen, an dieses Mysterium zu glauben?

*

Nichts ist natürlicher, als daß der Glaube an Gott, den Schöpfer, Organisator, Richter, Herren, Verflucher, Retter und Wohltäter der Welt sich im Volk erhalten hat, und zwar vor allen: bei der Landbevölkerung, viel mehr als beim städtischen Proletariat. Das Volk ist leider noch sehr unwissend und wird in seiner Unwissenheit erhalten durch die systematischen Anstrengungen aller Regierungen, welche diese Unwissenheit sehr begründeter Weise für eine der wichtigsten Bedingungen ihrer eigenen Macht halten. Von der täglichen Arbeit erdrückt, ohne Muße, geistigen Verkehr, Lektüre, kurz aller Mittel und der meisten Antriebe beraubt, welche das menschliche Denken entwickeln, akzeptiert das Volk meist ohne Kritik und en bloc die religiösen Traditionen, die es von der frühesten Kindheit in allen Lebensverhältnissen umgeben und die von einer Menge offizieller Vergifter allerart, Priestern und Laien, künstlich in ihm am Leben erhalten werden, wodurch sie sich in ihm in eine Art geistiger und moralischer Gewohnheit verwandeln, die nur zu oft viel mächtiger ist, als sein natürlicher gesunder Menschenverstand.

Noch eine andere Ursache erklärt und legitimiert in gewissem Grade den absurden Glauben des Volks. Dies ist die elende Lage, zu der dasselbe durch die bestehende Gesellschaftsordnung in den zivilisiertesten Ländern Europas unabänderlich verurteilt ist. In intellektueller und moralischer wie in materieller Hinsicht aus ein Minimum menschlicher Existenz reduziert, in seine Lebensweise eingesperrt wie ein Gefangener in den Kerker, ohne Ausblick, ohne Ausweg, ohne Zukunft sogar, wenn man den Ökonomisten glauben will, müßte das Volk die merkwürdig enge Seele und den niedrigen Instinkt der Bourgeois haben, wenn es nicht das Bedürfnis empfinden würde, aus diesen Verhältnissen herauszukommen; dazu gibt es aber nur drei Mittel, zwei phantastische und ein wirkliches. Die beiden ersteren sind die Schenke und die Kirche, körperliche oder geistige Ausschweifung; das dritte ist die soziale Revolution. Ich schließe daraus, daß letztere allein, viel mehr wenigstens als alle theoretische Propaganda der Freidenker, imstande sein wird, den religiösen Glauben und die Ausschweifungsgewohnheiten im Volk bis zu ihren letzten Spuren zu zerstören, einen Glauben und Gewohnheiten, die viel enger miteinander verknüpft sind, als man glaubt: durch Ersatz der gleichzeitig illusorischen und brutalen Genüsse dieser körperlichen und geistigen Zügellosigkeit durch die ebenso feinen wie wirklichen Genüsse der in jedem und in allen sich vollständig entwickelnden Menschlichkeit wird die soziale Revolution allein die Macht haben, gleichzeitig alle Schenken und alle Kirchen zu schließen.

Bis dahin wird die Masse des Volkes glauben und wird dabei, wenn auch nicht die Vernunft, wenigstens das Recht, dies zu tun, auf seiner Seite haben.

Es gibt eine Menschenkategorie, die, wenn sie auch nicht selbst glauben, sich wenigstens gläubig stellen müssen. Das sind alle Folterer, Unterdrücker und Ausbeuter der Menschheit. Geistliche, Monarchen, Staatsmänner, Krieger, öffentliche und private Finanziers, Beamte allerart, Polizisten, Gendarmen, Kerkermeister und Henker, Monopolisten, Kapitalisten, Steuereintreiber, Unternehmer und Hausbesitzer, Advokaten, Ökonomisten, Politiker aller Farben, bis zum letzten Greisler, alle wiederholen einstimmig diese Worte Voltaires:

Wenn es keinen Gott gäbe, müßte man einen erfinden.
Denn, ihr versteht, das Volk braucht eine Religion. Diese ist das Sicherheitsventil.

Es gibt endlich eine ziemlich zahlreiche Kategorie ehrlicher, aber schwacher Seelen, die zu intelligent sind, die christlichen Dogmen ernst zu nehmen, sie im einzelnen verwerfen, aber nicht die nötige Kraft und Entschlossenheit haben, sie als Ganzes zu verwerfen. Sie geben alle speziellen Absurditäten der Religion der Kritik preis, sie weisen alle Wunder zurück, aber sie klammern sich verzweifelt an die Hauptabsurdität, die Quelle aller anderen, an das Wunder, das alle anderen Wunder erklärt und rechtfertigt, an die Existenz Gottes. Ihr Gott ist nicht das starke und mächtige Wesen, der brutal positive Gott der Theologie. Er ist ein nebelhaftes, durchsichtiges, illusorisches Wesen, so illusorisch, daß, wenn man ihn zu packen glaubt, er sich in das Nichts verwandelt; er ist eine Spiegelung, ein Irrlicht, das weder wärmt noch erhellt. Und doch halten sie an ihm fest und glauben, daß mit seinem Verschwinden alles mit ihm verschwinden würde. Das sind ungewisse, krankhafte Seelen, die sich in der gegenwärtigen Zivilisation nicht zurechtfinden, die weder der Gegenwart noch der Zukunft angehören, blasse Phantome, die immer zwischen Himmel und Erde hängen und die sich in ganz gleicher Stellung zwischen der Bourgeoispolitik und dem Sozialismus des Proletariats befinden. Sie fühlen sich nicht stark genug, einen Gedanken bis zu Ende zu denken, zu wollen und sich zu entschließen, und sie verlieren Zeit und Mühe, immer das Unversöhnliche versöhnen zu wollen. Im öffentlichen Leben nennt man sie Bourgeoissozialisten.

Eine Diskussion ist weder mit ihnen noch gegen sie möglich. Sie sind zu krank.

Es gibt aber eine kleine Zahl illustrer Männer, von denen niemand ohne Respekt zu sprechen wagt und deren kräftige Gesundheit, Geistesstärke und guten Glauben niemand zu bezweifeln sich träumen läßt. Es genügt, Mazzini, Michelet, Quinet, John Stuart Mill Herr Stuart Mill ist vielleicht der einzige, dessen ernstgemeinten Idealismus zu bezweifeln erlaubt ist, aus zwei Gründen: erstens, weil er, wenn auch nicht ein unbedingter Schüler, doch ein leidenschaftlicher Bewunderer, ein Anhänger der positiven Philosophie Auguste Comtes ist, welche, trotz ihrer vielen Verschweigungen, in Wirklichkeit atheistisch ist; zweitens, weil Herr Stuart Mill Engländer ist und in England sich als Atheist zu erklären selbst heute noch bedeutet, sich außerhalb der Gesellschaft zu stellen. zu nennen. Edle und starke Seelen, große Herzen, große Geister, große Schriftsteller und, was Mazzini betrifft, der heroische und revolutionäre Wiedererwecker einer großen Nation, sind sie alle Apostel des Idealismus und Verächter, leidenschaftliche Gegner des Materialismus, folglich auch des Sozialismus, in der Philosophie wie in der Politik.

Gegen sie also muß diese Frage diskutiert werden.

Konstatieren wir zuerst, daß keiner der erwähnten illustren Männer und kein anderer halbwegs bedeutender idealistischer Denker unserer Zeit sich mit der logischen Seite dieser Frage im engeren Sinn beschäftigt hat. Keiner versuchte, philosophisch die Möglichkeit des göttlichen salto mortale von den ewigen und reinen Regionen des Geistes in den Schlamm der materiellen Welt zu lösen. Fürchteten sie, an diesen unlösbaren Widerspruch heranzugehen, verzweifelten sie an seiner Lösung, nachdem dieselbe den größten Genies der Geschichte fehlgeschlagen, oder betrachteten sie ihn schon als hinreichend gelöst? Das ist ihr Geheimnis. Tatsache ist, daß sie die theoretische Demonstration der Existenz eines Gottes beiseite ließen und nur ihre praktischen Motive und Konsequenzen entwickelten. Sie sprachen alle davon wie von einer allgemein akzeptierten Tatsache, die als solche keinem Zweifel mehr ausgesetzt sein kann, und beschränkten sich, an Stelle jedes Beweises, das Alter und die Allgemeinheit des Glaubens an Gott zu konstatieren.

Diese imponierende Einstimmigkeit gilt mehr als alle Nachweise der Wissenschaft in den Augen vieler illustrer Männer und Autoren, so, um nur die berühmtesten zu nennen, nach der beredt ausgedrückten Meinung Joseph de Maistres und der des großen italienischen Patrioten Giuseppe Mazzini. Wenn die Logik einer kleinen Zahl konsequenter und sogar sehr großer, aber isolierter Denker zu verschiedenem Resultat führt, sagen sie, dies sei um so schlimmer für diese Denker und ihre Logik, denn die allgemeine Zustimmung zu einer Idee, ihre universelle Akzeptierung von altersher wurden immer als siegreichster Beweis ihrer Wahrheit betrachtet. Das Gefühl der ganzen Welt, eine überall und immer auftretende und sich behauptende Überzeugung können nicht fehlgehen. Sie müssen ihre Wurzel in einer im Wesen des Menschen selbst liegenden Notwendigkeit haben. Und da festgestellt wurde, daß alle Völker der Vergangenheit und Gegenwart an die Existenz Gottes glaubten und noch glauben, ist evident, daß die, die so unglücklich sind, daran zu zweifeln, trotz aller Logik, die sie zu diesem Zweifel brachte, abnormale Ausnahmen, Monströsitäten sind.

Das Alter und die Allgemeinheit eines Glaubens soll also, gegen alle Wissenschaft und Logik, ein hinreichender und unwiderleglicher Beweis für seine Richtigkeit sein. Warum dies?

Bis zum Jahrhundert von Copernicus und Galilei glaubte alle Welt, die Sonne drehe sich um die Erde. Hat sich nicht alle Welt geirrt? Was ist älter und allgemeiner als die Sklaverei? Die Menschenfresserei, vielleicht. Seit Beginn der historischen Gesellschaft bis heute gab es immer und überall Ausbeutung der erzwungenen Arbeit der Massen, von Sklaven, Leibeigenen oder Lohnarbeitern durch eine herrschende Minorität, Unterdrückung der Völker durch Kirche und Staat. Muß man daraus schließen, daß diese Ausbeutung und Unterdrückung der Existenz der menschlichen Gesellschaft selbst absolut inhärierende Notwendigkeiten sind? Diese Beispiele zeigen, daß das Argument der Verteidiger des Herrgotts nichts beweist.

Nichts ist tatsächlich so allgemein und so alt, als das Unrechte und Absurde; Wahrheit und Gerechtigkeit dagegen sind in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften am wenigsten allgemein verbreitet und am jüngsten. Dies erklärt auch die konstante historische Erscheinung unerhörter Verfolgungen, deren Gegenstand ihre ersten Verkünder seitens der offiziellen, patentierten und interessierten Vertreter der »allgemeinen« und »alten« Glaubensdogmen stets waren und noch sind, oft auch seitens derselben Volksmassen, die, nachdem sie die ersten Verkünder gehörig gemartert, stets deren Ideen schließlich annehmen und zum Sieg führen.

Uns Materialisten und revolutionären Sozialisten erstaunt und erschreckt diese historische Erscheinung in keiner Weise. Gestützt auf unser Gewissen, unsere Liebe der Wahrheit um jeden Preis, auf die Leidenschaft für die Logik, die an sich allein eine große Macht bildet, und außerhalb welcher es kein Denken gibt; gestützt auf unsere Leidenschaft für die Gerechtigkeit und unseren unerschütterlichen Glauben an den Triumph der Menschlichkeit über alle theoretischen und praktischen Bestialitäten; gestützt endlich auf das gegenseitige Vertrauen und die Hilfe, die die kleine Zahl unserer Gleichgesinnten einander geben, nehmen wir alle Folgen dieser historischen Erscheinung auf uns, da wir in derselben die Äußerung eines sozialen Gesetzes sehen, das ebenso natürlich, notwendig und unabänderlich ist wie alle andern die Welt lenkenden Gesetze.

Dieses Gesetz ist eine logische, unvermeidliche Konsequenz des tierischen Ursprungs der menschlichen Gesellschaft; es ist aber, angesichts aller wissenschaftlichen, physiologischen, psychologischen, historischen Beweise, die sich in unserer Zeit angehäuft haben und angesichts seiner so eklatanten Demonstration durch die Taten der Deutschen als Eroberer Frankreichs, wirklich nicht möglich, an diesem Ursprung zu zweifeln. Wenn man aber diesen tierischen Ursprung des Menschen akzeptiert, erklärt sich alles. Die Geschichte erscheint uns dann als die revolutionäre Negierung der Vergangenheit, bald langsam, apathisch, verschlafen, bald leidenschaftlich und mächtig. Sie besteht in der progressiven Negierung der ursprünglichen Animalität des Menschen durch die Entwicklung seiner Menschlichkeit. Der Mensch, ein wildes Tier, Cousin des Gorilla, ging von der tiefen Nacht des animalischen Instinkts aus, um zum Licht des Geistes zu gelangen, was all seine vergangenen Abirrungen ganz natürlich erklärt und uns zum Teil über seine gegenwärtigen Irrtümer tröstet. Von der tierischen Sklaverei ausgehend durchschritt er die göttliche Sklaverei, einen Zwischenzustand zwischen seiner Animalität und Menschlichkeit, und schreitet heute zur Eroberung und Verwirklichung seiner menschlichen Freiheit vor. Daraus folgt, daß das Alter eines Glaubens, einer Idee, weit entfernt, etwas zu deren Gunsten zu beweisen, sie uns im Gegenteil verdächtig erscheinen lassen müssen. Denn hinter uns liegt unsere Animalität, vor uns unsere Menschlichkeit, und das menschliche Licht, das einzige, das uns erwärmen und erleuchten kann, das einzige, das uns befreien, uns würdig, frei, glücklich machen und die Brüderlichkeit unter uns verwirklichen kann – dieses Licht leuchtet nie am Anfang, sondern, je nach der Zeit, in der man lebt, stets am Ende der Geschichte. Schauen wir also nie nach rückwärts, schauen wir immer nach vorwärts, denn vor uns ist unsere Sonne und unser Heil, und wenn es erlaubt ist, ja sogar nützlich und notwendig, zurückzuschauen, um unsere Vergangenheit zu studieren, geschieht dies nur, um zu konstatieren, was wir gewesen sind und was wir nicht mehr sein dürfen, was wir glaubten und dachten und was wir nicht mehr glauben und denken dürfen, was wir getan und was wir niemals wieder tun dürfen.

Soweit über das Alter. Was die Allgemeinheit eines Irrtums betrifft, beweist dieselbe nur eines: die Ähnlichkeit, wenn nicht die völlige Identität der menschlichen Natur in allen Zeiten und allen Zonen. Und da feststeht, daß alle Völker, zu allen Zeiten ihrer Geschichte, an Gott glaubten und noch glauben, müssen wir daraus einfach schließen, daß die aus uns selbst hervorgegangene Gottesidee ein in der Entwicklung der Menschheit historisch notwendiger Irrtum ist, und uns fragen, warum und wie sie historisch entstand und warum die ungeheure Mehrheit der Menschheit sie noch heute als wahr akzeptiert?

Solange wir uns nicht erklären können, wie die Idee einer übernatürlichen oder göttlichen Welt in der historischen Entwicklung des menschlichen Bewußtseins entstand und notwendigerweise entstehen mußte, so lange mögen wir wohl wissenschaftlich von der Absurdität dieser Idee überzeugt sein, wir werden aber nie erreichen, sie in der Meinung der Mehrheit zu zerstören. Denn wir wären nie imstande, sie in denselben Tiefen des menschlichen Wesens zu zerstören, in denen sie entstand und zu einem unfruchtbaren, aussichts- und endlosen Kampf verurteilt, müßten wir uns immer begnügen, sie nur an der Oberfläche zu bekämpfen, in ihren zahllosen Äußerungen, deren kaum vom gesunden Menschenverstand niedergeschlagene Absurdität sofort in neuer und nicht weniger sinnloser Form wieder entstehen würde. Solange die Wurzel aller die Welt marternden Absurditäten, der Glaube an Gott, intakt bleibt, wird sie stets neue Schößlinge treiben. So beginnt in unseren Tagen, in gewissen Sphären der höchsten Gesellschaft, der Spiritismus sich auf den Ruinen des Christentums zu installieren.

Nicht nur im Interesse der Massen, auch im Interesse der Gesundheit unseres eigenen Geistes müssen wir uns bemühen, die historische Genesis der Gottesidee zu begreifen, die Reihe der Ursachen, welche diese Idee im Bewußtsein der Menschen produzierten und entwickelten. Wenn wir uns auch Atheisten nennen und für solche halten, solange wir diese Ursachen nicht verstanden haben, werden wir uns stets mehr oder weniger von dem Lärm dieses allgemeinen Gewissens dominieren lassen, dessen Geheimnis wir nicht herausgefunden haben, und bei der natürlichen Schwäche selbst des Stärksten gegen den allmächtigen Einfluß des sozialen Milieus, das ihn umgibt, riskieren wir stets früher oder später, auf die eine oder die andere Art, in den Abgrund der religiösen Absurdität zurückzufallen. Beispiele solcher schmachvoller Konversionen sind häufig in der gegenwärtigen Gesellschaft.

*

Ich führte den Hauptgrund der noch heute von dem religiösen Glauben auf die Massen ausgeübten Macht an. Diese mystischen Neigungen bedeuten bei den Massen nicht so sehr eine Geistesabirrung als tiefe innere Unzufriedenheit. Sie sind der instinktive und leidenschaftliche Protest des menschlichen Wesens gegen die Enge, die Flachheit, die Schmerzen und die Schande eines elenden Lebens. Gegen diese Krankheit, sagte ich, gibt es nur ein einziges Mittel: die soziale Revolution.

Im Appendix suchte ich die Ursachen der Entstehung und historischen Entwicklung der religiösen Halluzinationen im Menschenbewußtsein auseinanderzusetzen. Hier will ich diese Frage der Existenz eines Gottes oder des göttlichen Ursprungs der Welt und des Menschen nur vom Standpunkt ihrer moralischen und sozialen Nützlichkeit behandeln und über die theoretische Ursache dieses Glaubens nur wenige Worte sagen, um meine Gedanken besser klarzumachen.

Alle Religionen, mit ihren Göttern, Halbgöttern, Propheten, Messien und Heiligen wurden von der leichtgläubigen Phantasie von Menschen geschaffen, die noch nicht zur vollen Entwicklung und zum Vollbesitz ihrer intellektuellen Fähigkeiten gelangt waren; der Himmel der Religion ist also nichts als eine Lichtspiegelung, in der der Mensch, von Unwissenheit und Glauben exaltiert, sein eigenes Bild wiedersieht, aber vergrößert und verkehrt, das heißt vergöttlicht. Die Geschichte der Religionen, die des Ursprungs, der Größe und des Verfalls der Götter, wie sie im menschlichen Glauben aufeinander folgten, ist also nichts als die Entwicklung der Intelligenz und des kollektiven Bewußtseins der Menschen. Je nachdem sie auf ihrem historischen Vormarsch in sich selbst oder in der äußeren Natur eine Kraft, eine Fähigkeit oder selbst einen großen Fehler fanden, übertrugen sie dieselben auf ihre Götter, übertrieben, ins maßlose ausgedehnt, wie Kinder zu tun pflegen, durch einen Akt ihrer religiösen Phantasie. Dank dieser Bescheidenheit und frommen Generosität der gläubigen und leichtgläubigen Menschen bereicherte sich der Himmel durch das, was der Erde geraubt wurde, und konsequenterweise, je reicher der Himmel wurde, desto elender wurden die Menschheit, die Erde. Sobald einmal die Gottheit installiert war, wurde sie natürlich als Grund, Ursache, Schiedsrichter und absoluter Verfüger über alle Dinge proklamiert: die Welt war nichts mehr, die Gottheit alles, und der Mensch, ihr wahrer Schöpfer, der sie ohne sein Wissen aus dem Nichts herausgezogen, kniete vor ihr nieder, betete sie an und erklärte sich als ihre Kreatur und ihr Sklave.

Das Christentum ist gerade die Religion par excellence , weil es in seiner Ganzheit die Natur, die eigentliche Essenz jedes religiösen Systems ausdrückt und äußert, nämlich die Verarmung, die Versklavung und die Vernichtung der Menschheit zum Vorteil der Gottheit.

Da Gott alles ist, sind die wirkliche Welt und der Mensch nichts. Da Gott die Wahrheit, die Gerechtigkeit, das Gute, das Schöne, die Macht und das Leben ist, ist der Mensch die Lüge, die Unbill, das Übel, die Häßlichkeit, die Ohnmacht und der Tod. Da Gott der Herr ist, ist der Mensch der Sklave. Der Mensch ist unfähig, die Gerechtigkeit, die Wahrheit und das ewige Leben selbst zu finden, und kann sie nur durch eine göttliche Offenbarung erreichen. Aber wer Offenbarung sagt, sagt auch Offenbarer, Messien, Propheten, Priester und Gesetzgeber, die Gott selbst inspirierte, und sobald diese einmal als Vertreter der Gottheit auf der Erde anerkannt sind, als die heiligen Unterweiser der Menschheit, die Gott selbst auswählte, um die Menschheit auf den Weg des Heils zu leiten, müssen sie notwendigerweise absolute Macht ausüben. Alle Menschen schulden ihnen unbegrenzten und passiven Gehorsam; denn gegenüber der göttlichen Vernunft gibt es keine menschliche Vernunft, und vor der Gerechtigkeit Gottes bleibt keine irdische Gerechtigkeit bestehen. Als Sklaven Gottes müssen die Menschen auch Sklaven der Kirche und des Staates sein, insoweit als der Staat von der Kirche konsakriert ist. Dies begriff von allen bestehenden und vergangenen Religionen das Christentum am besten, nicht ausgenommen selbst die alten orientalischen Religionen, welche übrigens nur bestimmte und privilegierte Völker umfaßten, während das Christentum die Prätention hat, die ganze Menschheit zu umfassen, und von allen christlichen Sekten hat der römische Katholizismus allein dies mit strenger Konsequenz proklamiert und verwirklicht. Deshalb ist das Christentum die absolute Religion, die letzte Religion, und die apostolische römische Kirche die einzig konsequente, legitime und göttliche.

Ob es also den Metaphysikern und religiösen Idealisten, Philosophen, Politikern oder Dichtern gefällt oder nicht: die Gottesidee enthält die Abdankung der menschlichen Vernunft und Gerechtigkeit in sich, sie ist die entschiedenste Negation der menschlichen Freiheit und führt notwendigerweise zur Versklavung der Menschen, in Theorie und in Praxis.

Wenn wir also nicht die Versklavung und Herabwürdigung der Menschen wollen, wie die Jesuiten, die protestantischen Mômiers, Pietisten oder Methodisten, können und dürfen wir dem Gott der Theologie und dem Gott der Metaphysik nicht die geringste Konzession machen. Denn wer in diesem mystischen Alphabet A sagt, sagt schließlich unvermeidlich auch Z, und wer Gott anbeten will, muß, ohne sich kindische Illusionen zu machen, tapfer auf seine Freiheit und Menschlichkeit verzichten.

Wenn Gott existiert, ist der Mensch ein Sklave; der Mensch kann und soll aber frei sein: folglich existiert Gott nicht.

Ich fordere jeden heraus, diesem Kreis zu entgehen, und nun mag man wählen.

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Ist es nötig zu erinnern, wie sehr und wie die Religionen die Völker verdummen und korrumpieren? Dieser und der nächste Absatz sind dem Manuskript des Appendix von Bakunin selbst entnommen und dort ausgestrichen; s. Oeuvres III, S. 297. (D. Übers.) Sie töten in ihnen die Vernunft, dieses Hauptwerkzeug der menschlichen Emanzipation, und führen sie zum Schwachsinn, der wesentlichen Bedingung ihrer Sklaverei. Sie entehren die menschliche Arbeit und machen sie zum Zeichen und zur Quelle der Knechtschaft. Sie töten Begriff und Gefühl der menschlichen Gerechtigkeit und lassen immer die Wagschale sich neigen auf die Seite der triumphierenden Schurken, der privilegierten Objekte der göttlichen Gnade. Sie töten menschlichen Stolz und Würde und schützen nur die Kriechenden und Demütigen. Sie ersticken im Herz der Völker jedes Gefühl menschlicher Brüderlichkeit und erfüllen es mit göttlicher Grausamkeit.

Alle Religionen sind grausam, alle sind auf Blut gegründet; denn alle ruhen hauptsächlich auf der Idee des Opfers, das heißt auf der beständigen Opferung der Menschheit zugunsten der unersättlichen Rache der Gottheit. In diesem blutigen Mysterium ist der Mensch immer das Opfer, und der Priester, auch ein Mensch, aber ein durch die Gnade privilegierter, ist der göttliche Henker. Dies erklärt uns, warum die Priester aller Religionen, die besten, die menschlichsten, die sanftesten beinahe immer auf dem Grund ihres Herzens – und wenn nicht im Herzen, in ihrer Einbildung, ihrem Geist (und man kennt den großen Einfluß beider auf das Herz der Menschen), – warum, sage ich, in den Gefühlen jedes Geistlichen etwas Grausames und Blutdürstiges liegt.

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All das wissen unsere illustren Idealisten der Gegenwart besser als irgend jemand. Sie sind gelehrte Leute, die ihre Geschichte kennen, und da sie gleichzeitig lebende Menschen sind, große Seelen, von aufrichtiger und tiefer Liebe zum Wohl der Menschheit durchdrungen, so verfluchten und brandmarkten sie all diese Untaten, all diese Verbrechen der Religion mit unerreichter Beredsamkeit. Sie weisen mit Entrüstung jede Solidarität mit dem Gott der positiven Religionen und seinen vergangenen und gegenwärtigen irdischen Vertretern zurück.

Der Gott, den sie anbeten oder anzubeten glauben, unterscheidet sich von den wirklichen Göttern der Geschichte gerade dadurch, daß er durchaus kein positiver und auf irgendeine Weise, theologisch oder selbst metaphysisch bestimmter Gott ist. Er ist weder das höchste Wesen Robespierres und Jean Jacques Rousseaus, noch der pantheistische Gott Spinozas, noch selbst der gleichzeitig immanente und transzendente und sehr zweideutige Gott Hegels. Sie hüten sich, ihm irgendeine positive Bestimmung zu geben, da sie sehr gut fühlen, daß eine solche Bestimmung ihn der auflösenden Tätigkeit der Kritik aussetzen würde. Sie werden nie sagen, ob es ein persönlicher oder unpersönlicher Gott ist, ob er die Welt erschaffen hat oder nicht; sie sprechen nicht einmal von seiner göttlichen Fürsorge. All das könnte ihn kompromittieren. Sie werden sich begnügen zu sagen: »Gott« und nichts weiter. Aber was ist dann ihr Gott? Nicht einmal eine Idee, sondern ein bloßer Hauch.

Er ist der Gattungsname für alles, das ihnen groß, gut, schön, edel, menschlich erscheint. Aber warum sagen sie dann nicht: »Mensch«? Ach, weil König Wilhelm von Preußen und Napoleon III. und alle ihresgleichen auch Menschen sind, und dies setzt sie in große Verlegenheit. Die wirkliche Menschheit bildet eine Ansammlung des Erhabensten und Schönsten und des Erbärmlichsten und Monströsesten, das es gibt. Wie ziehen sie sich heraus? Sie nennen das eine göttlich, das andere bestialisch, und stellen sich die Göttlichkeit und die Animalität als zwei Pole vor, zwischen die sie die Menschheit stellen. Sie wollen oder können nicht begreifen, daß diese drei Ausdrücke nur einen einzigen bilden und daß, wenn man sie trennt, man sie zerstört.

Sie sind nicht stark in der Logik und man möchte glauben, daß sie sie verachten. Das unterscheidet sie von den pantheistischen und deistischen Metaphysikern und drückt ihren Ideen den Charakter eines praktischen Idealismus auf, der seine Inspirationen viel weniger aus der strengen Entwicklung eines Gedankens schöpft, als aus den historischen, kollektiven und individuellen Erfahrungen, beinahe sagte ich Emotionen des Lebens. Dies gibt ihrer Propaganda einen Schein von Reichtum und Lebenskraft, aber nur einen Schein; denn das Leben selbst wird unfruchtbar, wenn es von einem logischen Widerspruch paralysiert ist.

Dieser Widerspruch ist der folgende: sie wollen Gott und sie wollen die Menschheit. Sie versteifen sich darauf, zwei Begriffe zusammenzubringen, die, einmal getrennt, sich nur wieder treffen können, um sich gegenseitig zu zerstören. Sie sagen in einem Atemzug: »Gott, und die Freiheit des Menschen«, »Gott, und die Würde, Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das Wohl der Menschen«, – ohne sich um die unvermeidliche Logik zu kümmern, nach welcher, wenn Gott existiert, dies alles zum Nichtvorhandensein verurteilt ist. Denn wenn Gott existiert, ist er notwendigerweise der ewige, höchste, absolute Herr, und wenn ein solcher Herr existiert, ist der Mensch Sklave; wenn er aber Sklave ist, sind für ihn weder Gerechtigkeit, noch Gleichheit, Brüderlichkeit, Prosperität möglich. Mögen sich immer [diese Idealisten], gegen den gesunden Menschenverstand und alle geschichtliche Erfahrung, ihren Gott von der zartesten Liebe für die menschliche Freiheit beseelt vorstellen: ein Herr, was er immer tun und wie liberal er sich zeigen mag, bleibt nichtsdestoweniger ein Herr, und seine Existenz schließt notwendigerweise die Sklaverei von allem, das unter ihm ist, ein. Wenn also Gott existierte, gäbe es für ihn nur ein einziges Mittel, der menschlichen Freiheit zu dienen: zu existieren aufzuhören.

Als eifersüchtiger Liebhaber der menschlichen Freiheit, die ich als die absolute Grundbedingung von allem, das wir in der Menschheit verehren und achten, ansehe, drehe ich Voltaires Satz um und sage: wenn Gott wirklich existierte, müßte man ihn beseitigen.

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Die strenge Logik, die mir diese Worte diktiert, ist zu augenscheinlich, als daß ich diesen Gedankengang weiter entwickeln müßte. Und es scheint mir unmöglich, daß die erwähnten illustren Männer, deren Namen so berühmt und so mit Recht geachtet sind, nicht selbst davon betroffen wurden und den Widerspruch nicht bemerkten, der darin liegt, daß sie von Gott und der menschlichen Freiheit gleichzeitig sprachen. Zur Nichtbeachtung des Widerspruchs muß sie der Gedanke veranlaßt haben, daß diese Inkonsequenz oder diese logische Lizenz in der Praxis zum besten der Menschheit notwendig ist.

Vielleicht auch verstehen sie die Freiheit, von der sie als von einer von ihnen sehr geachteten, ihnen sehr lieben Sache sprechen, in ganz anderem Sinn als wir Materialisten und revolutionäre Sozialisten sie auffassen. Sie sprechen tatsächlich nie von ihr, ohne sofort ein anderes Wort hinzuzufügen, das Wort Autorität, ein Wort und eine Sache, die wir aus vollem Herzen verabscheuen.

Was ist die Autorität? Ist es die unvermeidliche Macht der Naturgesetze, die sich in der Verkettung und notwendigen Aufeinanderfolge der Erscheinungen der physischen und sozialen Welt äußern? Gegen diese Gesetze ist tatsächlich die Empörung nicht nur verboten, sondern auch unmöglich. Wir mögen sie verkennen oder wir kennen sie noch nicht, aber wir können ihnen nicht ungehorsam sein, weil sie die Basis und Grundbedingung unserer Existenz sind; sie umgeben und durchdringen uns, regeln all unsere Bewegungen, Gedanken, Handlungen, so daß, selbst wenn wir ihnen ungehorsam zu sein glauben, wir nur ihre Allmacht zeigen.

Ja, wir sind absolut die Sklaven dieser Gesetze. Aber es liegt nichts Erniedrigendes in dieser Sklaverei oder vielmehr, es ist gar keine Sklaverei. Denn Sklaverei setzt einen äußeren Herrn, einen Gesetzgeber voraus, der sich außerhalb desjenigen befindet, dem er gebietet; diese Gesetze liegen aber nicht außer uns, sie sind uns inhärierend, bilden unser Wesen, unser ganzes körperliches, intellektuelles und moralisches Wesen; wir leben, atmen, handeln, denken und wollen nur durch sie. Außerhalb derselben sind wir nichts, existieren wir nicht. Woher kämen uns also die Macht und der Wille, uns gegen dieselben zu empören?

Den Naturgesetzen gegenüber ist für den Menschen nur eine Freiheit möglich: sie zu erkennen und sie immer mehr anzuwenden, seinem Ziel der kollektiven und individuellen Emanzipation oder Humanisierung entsprechend. Sind diese Gesetze einmal erkannt, üben sie eine von der Masse der Menschen nie diskutierte Autorität aus. Man muß zum Beispiel ein Narr oder ein Theologe sein, oder wenigstens ein Metaphysiker, Jurist oder Bourgeoisökonom, um sich gegen das Gesetz, daß zweimal zwei vier sind, zu empören. Man muß den Glauben haben, um sich einzubilden, daß man im Feuer nicht verbrennt und im Wasser nicht ertrinkt, außer man nimmt zu irgend etwas Zuflucht, das auch wieder auf einem andern Naturgesetz beruht. Aber diese Empörungen oder vielmehr diese Versuche oder tollen Einbildungen einer unmöglichen Empörung bilden nur eine seltene Ausnahme; denn im allgemeinen kann man sagen, daß die Masse der Menschen im täglichen Leben beinahe unbedingt vom gesunden Menschenverstand geleitet wird, das heißt von der Summe der allgemein anerkannten Naturgesetze.

Das große Unglück ist, daß eine große Menge von der Wissenschaft schon erkannter Naturgesetze den Volksmassen unbekannt bleibt, dank der Sorgfalt der bevormundenden Regierungen, die, wie bekannt, nur zum besten der Völker existieren. Ein anderer Nachteil ist der, daß der größte Teil der auf die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft bezüglichen Naturgesetze, die ebenso notwendig, unveränderlich, unvermeidlich sind wie die die physische Welt regierenden Gesetze, noch nicht von der Wissenschaft selbst hinreichend festgestellt und anerkannt sind.

Sobald sie einmal von der Wissenschaft erkannt und aus der Wissenschaft durch ein breites System von Volkserziehung und -unterricht in das Bewußtsein aller übergegangen sein werden, wird die Frage der Freiheit vollständig gelöst sein.

Die verbissensten Autoritäten müssen zugeben, daß dann politische Organisation, Leitung und Gesetzgebung nicht mehr nötig sein werden, drei Dinge, die, mögen sie dem Willen des Herrschers oder den Abstimmungen eines vom allgemeinen Stimmrecht gewählten Parlaments entspringen und mögen sie selbst dem System der Naturgesetze entsprechen, stets auf gleiche Weise der Freiheit der Massen verhängnisvoll und feindlich sind, weil sie ihnen ein System äußerlicher und daher despotischer Gesetze auflegen.

Die Freiheit des Menschen besteht einzig darin, daß er den Naturgesetzen gehorcht, weil er sie selbst als solche erkannt hat und nicht weil sie ihm von außen her von irgend einem fremden Willen, sei er göttlich oder menschlich, kollektiv oder individuell, auferlegt sind.

Man nehme eine wissenschaftliche Akademie, die aus den erleuchtetsten Vertretern der Wissenschaft besteht; man nehme an, dieselbe sei mit der Gesetzgebung, der Organisation der Gesellschaft beauftragt, sei von der lautersten Wahrheitsliebe erfüllt und erlasse nur Gesetze, die den neuesten Entdeckungen der Wissenschaft absolut entsprechen. Nun, ich behaupte, daß diese Gesetzgebung und diese Organisation Monströsitäten sein werden, und zwar aus zwei Gründen. Erstens, weil die menschliche Wissenschaft immer notwendigerweise unvollkommen ist und man, wenn man das schon Entdeckte mit dem noch nicht Entdeckten vergleicht, von ihr sagen kann, daß sie noch immer in der Wiege liegt. Wenn man also das praktische Leben der Gesellschaft und des einzelnen zwingen würde, sich strikt und ausschließlich den letzten Ergebnissen der Wissenschaft anzupassen, würde man Gesellschaft und Individuen zu den Qualen eines Prokrustesbettes verurteilen, das sie bald zerzerren und erdrücken würde, da das Leben immer unendlich viel weiter ist als die Wissenschaft.

Der zweite Grund ist dieser: eine Gesellschaft, die den von einer wissenschaftlichen Akademie gegebenen Gesetzen nicht deshalb gehorchen würde, weil sie selbst den vernünftigen Charakter dieser Gesetze begriff, in welchem Fall die Existenz der Akademie unnötig würde, sondern weil die Gesetzgebung dieser Akademie im Namen einer Wissenschaft auferlegt wird, die man verehren würde, ohne sie zu begreifen, – eine solche Gesellschaft wäre nicht eine Gesellschaft von Menschen, sondern von stummen Tieren. Sie wäre eine zweite Ausgabe der armen Republik Paraguay, die sich so lange von der Gesellschaft Jesu regieren ließ. Eine solche Gesellschaft würde bald auf die tiefste Stufe des Idiotismus herabsinken.

Ein dritter Grund noch macht eine solche Regierung unmöglich. Eine mit solcher sozusagen absoluten Souveränität bekleidete wissenschaftliche Akademie würde, auch wenn sie aus den erleuchtetsten Männern besteht, unfehlbar und bald selbst moralisch und intellektuell korrumpiert werden. Dies ist schon heute bei den wenigen ihnen überlassenen Privilegien die Geschichte aller Akademien. Das größte wissenschaftliche Genie, sobald es Akademiker, offizieller, patentierter Gelehrter wird, sinkt unvermeidlich und schläft ein. Es verliert seine Spontaneität, seine revolutionäre Kühnheit und die unbequeme und wilde Energie, die für das Wesen der größten Genies charakteristisch ist, die stets berufen sind, hinfällige Welten zu zerstören und die Grundlagen neuer Welten zu legen. Es gewinnt zweifellos an Höflichkeit, utilitärer und praktischer Weisheit, was es an Denkkraft verliert. Es wird, mit einem Wort, korrumpiert.

Privilegien, jede privilegierte Stellung haben die Eigentümlichkeit, Geist und Herz der Menschen zu töten. Der politisch oder ökonomisch Privilegierte ist intellektuell und moralisch depraviert. Dieses soziale Gesetz kennt keine Ausnahme und paßt auf ganze Nationen wie auf Klassen, auf Korporationen und auf Individuen. Es ist das Gesetz der Gleichheit, der obersten Bedingung von Freiheit und Menschlichkeit. Der Hauptzweck dieses Buchs ist, dasselbe zu entwickeln und seine Wahrheit in allen Äußerungen menschlichen Lebens zu zeigen.

Eine wissenschaftliche Körperschaft, der die Regierung der Gesellschaft anvertraut wäre, würde sich bald gar nicht mehr mit der Wissenschaft, sondern mit ganz anderen Dingen beschäftigen; sie würde, wie alle bestehenden Mächte, sich damit befassen, sich ewige Dauer zu verschaffen, indem sie die ihr anvertraute Gesellschaft immer dümmer und folglich ihrer Regierung und Leitung immer bedürftiger machte.

Was aber von wissenschaftlichen Akademien gilt, gilt in gleicher Weise von allen konstituierenden und gesetzgebenden Versammlungen, selbst den aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangenen. Letzteres mag zwar ihre Zusammensetzung erneuern, was aber nicht hindert, daß sich in wenigen Jahren ein Korps von Politikern bildet, die tatsächlich, nicht rechtlich privilegiert sind und durch ihre ausschließliche Beschäftigung mit den öffentlichen Angelegenheiten eines Landes eine Art politischer Aristokratie oder Oligarchie bilden. Ein Beispiel sind die Vereinigten Staaten und die Schweiz.

Also keine Gesetzgebung von außen her und keine Autorität; beide sind voneinander unzertrennlich und führen zur Knechtung der Gesellschaft und zur Verdummung der Gesetzgeber selbst.

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Folgt hieraus, daß ich jede Autorität zurückweise? Dieser Gedanke liegt mir fern. Wenn es sich um Stiefel handelt, wende ich mich an die Autorität des Schusters; handelt es sich um ein Haus, einen Kanal oder eine Eisenbahn, befrage ich die Autorität des Architekten oder des Ingenieurs. Für irgendeine Spezialwissenschaft wende ich mich an diesen oder jenen Gelehrten. Aber weder der Schuster, noch der Architekt und der Gelehrte dürfen mir ihre Autorität auflegen. Ich höre sie frei an und mit allem ihrer Intelligenz, ihrem Charakter, ihrem Wissen gebührenden Respekt, reserviere aber mein unbestreitbares Recht der Kritik und der Kontrolle. Ich begnüge mich nicht, eine einzige Spezialautorität zu konsultieren, ich befrage mehrere, vergleiche ihre Meinungen und wähle die, die mir die richtigste zu sein scheint. Aber ich erkenne keine unfehlbare Autorität an, selbst nicht in ganz spezialen Fragen; folglich, welchen Respekt ich immer für die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit einer Person habe, setze ich in niemand absoluten Glauben. Ein solcher Glaube wäre verhängnisvoll für meine Vernunft, meine Freiheit und den Erfolg meines Unternehmens selbst, er würde mich sofort in einen dummen Sklaven und ein Werkzeug des Willens und der Interessen anderer verwandeln.

Wenn ich mich vor der Autorität von Spezialisten beuge und bereit bin, ihren Angaben und selbst ihrer Leitung in gewissem Grade und solange es mir notwendig erscheint, zu folgen, tue ich dies, weil diese Autorität mir von niemand auferlegt ist, nicht von den Menschen und nicht von Gott. Sonst würde ich sie mit Abscheu zurückstoßen und ihre Ratschläge, ihre Leitung und ihre Wissenschaft zum Teufel jagen, in der Gewißheit, daß sie mich die Brocken menschlicher Wahrheit, in viele Lügen eingehüllt, die sie mir geben könnten, durch den Verlust meiner Freiheit und Würde bezahlen machen würden.

Ich neige mich vor der Autorität von Spezialisten, weil sie mir von meiner eigenen Vernunft auferlegt ist. Ich bin mir bewußt, daß ich nur einen sehr kleinen Teil der menschlichen Wissenschaft in allen Einzelheiten und positiven Entwicklungen umfassen kann. Die größte Intelligenz genügt nicht, alles zu umfassen. Daraus folgt für die Wissenschaft wie für die Industrie die Notwendigkeit der Arbeitsteilung und Assoziation. Ich empfange und ich gebe, so ist das menschliche Leben. Jeder ist abwechselnd leitende Autorität oder er wird geleitet. Es gibt also keine fixe und konstante Autorität, sondern einen beständigen Wechsel von gegenseitiger Autorität und Subordination, die vorübergehend und vor allem freiwillig sind.

Diese gleiche Ursache verbietet mir also, eine fixe, konstante und universelle Autorität anzuerkennen, weil es keinen universellen Menschen gibt, der imstande wäre, mit jenem Reichtum an Details, ohne den die Anwendung der Wissenschaft auf das Leben nicht möglich ist, alle Wissenschaften, alle Zweige des sozialen Lebens zu umfassen. Und wenn es möglich wäre, daß eine solche Universalität je in einem einzigen Mann verwirklicht würde, und wenn er sich derselben bedienen wollte, um uns seine Autorität aufzulegen, müßte man diesen Mann aus der Gesellschaft jagen, weil seine Autorität unvermeidlich alle andern zur Sklaverei und zum Schwachsinn reduzieren würde. Ich glaube nicht, daß die Gesellschaft Männer von Genie mißhandeln soll, wie sie es bis jetzt getan hat. Aber ich glaube ebensowenig, daß sie sie zu fett machen, vor allem ihnen irgendwelche Privilegien oder ausschließlichen Rechte einräumen soll, und dies aus drei Ursachen: erstens weil ihr oft passieren würde, einen Charlatan für einen Mann von Genie zu halten; dann weil sie durch dieses System von Privilegien selbst ein wahres Genie in einen Charlatan verwandeln, demoralisieren, dumm machen kann, und endlich, weil sie sich einen Despoten geben würde.

Ich resumiere. Wir erkennen also die absolute Autorität der Wissenschaft an, weil die Wissenschaft kein anderes Objekt hat, als die geistige Wiedergabe, wohlerwogen und so systematisch als möglich, der dem materiellen, intellektuellen und moralischen Leben der physischen und der sozialen Welt inhärierenden Naturgesetze; diese beiden Welten bilden tatsächlich nur ein und dieselbe natürliche Welt. Außerhalb dieser Autorität, der einzig legitimen, weil rationellen, und der menschlichen Freiheit entsprechenden erklären wir alle andern Autoritäten für lügenhaft, willkürlich, despotisch und verhängnisvoll.

Wir erkennen die absolute Autorität der Wissenschaft an, aber wir weisen die Unfehlbarkeit und Universalität der Vertreter der Wissenschaft zurück. In unserer Kirche – man erlaube nur einen Augenblick dieses Wort zu gebrauchen, das ich im übrigen verabscheue; Kirche und Staat sind meine beiden bêtes noires –, in unserer Kirche, wie in der protestantischen Kirche haben wir einen Chef, einen unsichtbaren Christus, die Wissenschaft, und wie die Protestanten, selbst konsequenter als die Protestanten, wollen wir in derselben weder Papst, noch Konzile, noch Konklaves unfehlbarer Kardinäle, noch Bischöfe und selbst keine Priester dulden. Unser Christus ist vom protestantischen und christlichen Christus darin verschieden, daß letzterer ein persönliches Wesen und unserer unpersönlich ist; der christliche Christus, der schon in einer ewigen Vergangenheit zur Vollendung gelangte, stellt sich als vollkommenes Wesen dar, während die Vollendung und Vervollkommnung unseres Christus, der Wissenschaft, immer in der Zukunft liegen, was soviel heißt, als daß sie nie zur Verwirklichung gelangen werden. Wenn wir nur die absolute Autorität der absoluten Wissenschaft anerkennen, setzen wir also in keiner Weise unsere Freiheit aufs Spiel.

Ich verstehe unter »absoluter Wissenschaft« die wirklich universelle Wissenschaft, die, in seiner ganzen Ausdehnung und all seinen unendlichen Details das Universum, das System oder die Zusammenordnung aller sich in der beständigen Entwicklung der Welten äußernden Naturgesetze, ideal reproduzieren würde. Es ist evident, daß diese Wissenschaft, das erhabenste Objekt aller Anstrengungen des menschlichen Geistes, nie in absoluter Vollständigkeit verwirklicht werden wird. Unser Christus wird also ewig unvollendet bleiben, was den Stolz seiner patentierten Vertreter unter uns bedeutend vermindern muß. Gegen diesen Sohn Gottes, in dessen Namen sie uns ihre unverschämte und pedantische Autorität aufzulegen die Prätension haben würden, werden wir an Gott den Vater appellieren, der die wirkliche Welt, das wirkliche Leben ist, von denen jener nur der nur allzu unvollkommene Ausdruck ist und deren unmittelbare Vertreter wir selbst sind, – die lebenden Wesen, die wir leben, arbeiten, kämpfen, lieben, streben, genießen und leiden.

Aber während wir die absolute, universelle und unfehlbare Autorität der Männer der Wissenschaft zurückweisen, neigen wir uns gern vor der respektablen, aber relativen und sehr vorübergehenden, sehr beschränkten Autorität der Vertreter der Spezialwissenschaften und verlangen nichts Besseres, als sie zu befragen, wenn die Reihe an sie kommt, sehr dankbar für die wertvollen Fingerzeige, die sie uns geben, unter der Bedingung, daß sie selbst bereit sind, von uns gleiche Angaben zu akzeptieren über Dinge und in Fällen, in denen wir gelehrter sind als sie. Im allgemeinen ist es uns ganz erwünscht zu sehen, daß Männer von großem Wissen, großer Erfahrung, großen Geistes und vor allem großen Herzens auf uns natürlichen, legitimen, frei akzeptierten Einfluß ausüben, der nie im Namen irgendeiner offiziellen, himmlischen oder irdischen Autorität aufgelegt wird. Wir akzeptieren alle natürlichen Autoritäten und Einflüsse, die im Wesen der Sache, nicht aber im Recht liegen; denn jede im Recht liegende und daher offiziell aufgelegte Autorität und jeder Einfluß dieser Art wird sofort Unterdrückung und Lüge und würde uns unfehlbar, wie ich hinreichend bewiesen zu haben glaube, Sklaverei und Absurdität auflegen.

Mit einem Wort, wir weisen alle privilegierte, patentierte, offizielle und legale Gesetzgebung, Autorität und Beeinflussung zurück, selbst wenn sie aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangen sind, da wir überzeugt sind, daß sie nur immer zum Nutzen einer dominierenden und ausbeutenden Minorität gegen die Interessen der ungeheuren geknechteten Majorität sich wenden können.

In diesem Sinn sind wir wirklich Anarchisten.

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Die modernen Idealisten verstehen die Autorität in ganz verschiedenem Sinn. Obgleich von dem traditionellen Aberglauben aller bestehenden positiven Religionen befreit, geben sie nichtsdestoweniger der Idee der Autorität einen göttlichen, absoluten Sinn. Diese Autorität ist nicht die einer wunderbar offenbarten Wahrheit, noch die einer streng wissenschaftlich bewiesenen Wahrheit. Sie begründen sie auf ein wenig quasi philosophischer Argumentierung und auf viel vag religiösem Glauben, auf viel ideal, abstrakt poetischem Gefühl. Ihre Religion ist wie ein letzter Versuch der Vergöttlichung von allem, was die Menschlichkeit in den Menschen bildet.

Dies ist das gerade Gegenteil unserer Arbeit. Wir glauben, in Hinsicht auf Menschenfreiheit, Menschenwürde und Menschenwohl dem Himmel die von ihm der Erde geraubten Güter nehmen zu müssen, um sie der Erde zurückzugeben; jene aber bemühen sich, einen letzten religiös heroischen Diebstahl zu begehen, und möchten im Gegenteil dem Himmel, diesem heute entlarvten göttlichen Dieb, den die kühne Pietätlosigkeit und wissenschaftliche Analyse der Freidenker ihrerseits plündert, alles zurückgeben, was die Menschheit an Größtem, Schönstem und Edelstem besitzt.

Die Idealisten glauben ohne Zweifel, daß menschliche Ideen und Dinge, um bei den Menschen größere Autorität zu genießen, mit einer göttlichen Weihe bekleidet sein müssen. Wie äußert sich diese Weihe? Nicht durch ein Wunder, wie bei den positiven Religionen, sondern durch die Größe und Heiligkeit der Ideen und Dinge selbst: was groß, schön, edel, gerecht ist, gilt als göttlich. In diesem neuen religiösen Kult wird jeder sich an diesen Ideen, diesen Dingen Inspirierende ein unmittelbar von Gott selbst geweihter Priester. Und der Beweis dafür? Die Größe der Ideen, die er ausdrückt, der Dinge, die er vollbringt, sind der Beweis; kein anderer ist nötig. Sie sind so heilig, daß sie nur von Gott inspiriert sein können.

Dies ist in wenigen Worten ihre ganze Philosophie, eine Philosophie von Gefühlen, nicht von wirklichen Gedanken, eine Art metaphysischer Pietismus. Dies scheint unschuldig, ist es aber durchaus nicht, und die sehr präzise, enge und trockene Lehre, die sich unter dem unfaßbaren Vagen dieser poetischen Formen versteckt, führt zu denselben verderblichen Resultaten wie alle positiven Religionen: zur vollständigsten Negierung von Menschenfreiheit und Menschenwürde.

Wenn man alles, was man Großes, Edles, Schönes in der Menschheit findet, als göttlich proklamiert, erkennt man implicite an, daß die Menschheit für sich nicht imstande gewesen wäre, es hervorzubringen; dies läuft auf dasselbe hinaus, wie wenn man sagte, daß sie, sich selbst überlassen, ihrer eigenen Natur nach elend, ungerecht, niedrig und häßlich ist. Dadurch kommen wir zum Kern jeder Religion, der Herabsetzung der Menschheit zum größeren Ruhm der Gottheit. Und sobald man die natürliche Inferiorität des Menschen und seine fundamentale Unfähigkeit, sich aus sich selbst heraus, außerhalb aller göttlichen Inspiration, zu gerechten und wahren Ideen zu erheben, zugibt, wird es nötig, auch alle theologischen, politischen und sozialen Konsequenzen der positiven Religionen zuzugeben. Sobald Gott, das vollkommene und höchste Wesen, sich der Menschheit gegenüberstellt, entstehen von überall göttliche Vermittler, Auserwählte, von Gott Inspirierte, um das Menschengeschlecht in seinem Namen zu leiten und zu regieren.

Könnte man nicht annehmen, daß alle Menschen in gleicher Weise von Gott inspiriert sind? Dann brauchte man allerdings keine Vermittler. Aber diese Annahme ist unmöglich, weil ihr die Tatsachen zu sehr widersprechen. Man müßte dann der göttlichen Inspiration alle Absurditäten und Irrtümer, alle Greuel, Schändlichkeiten, Erbärmlichkeiten und Dummheiten, die in der Welt der Menschen vorkommen, zuschreiben. Es gibt also auf der Welt nur wenige göttlich inspirierte Menschen. Dies sind die großen Männer der Geschichte, die tugendhaften Genies, wie der illustre italienische Bürger und Prophet Giuseppe Mazzini sagt. Unmittelbar von Gott selbst inspiriert und auf allgemeine, durch das Volksstimmrecht ausgedrückte Zustimmung gestützt – Dio e Popolo –, sind sie berufen, die menschlichen Gesellschaften zu regieren Vor sechs oder sieben Jahren hörte ich Herrn Louis Blanc in London beinahe dieselbe Idee ausdrücken: »Die beste Regierungsform, sagte er zu mir, wäre die, welche immer tugendhafte Männer von Genie an die Spitze der Regierung brächte.«.

So sind wir wieder bei der Kirche und dem Staat angelangt. Zwar würde die Kirche nicht mehr Kirche, sondern Schule heißen in dieser neuen Organisation, die, wie alle alten politischen Organisationen, von Gottes Gnaden sein würde, sich aber diesmal, wenigstens der Form nach, als notwendige Konzession an den modernen Geist und wie in den Präambeln der kaiserlichen Dekrete Napoleons III. auf den (fiktiven) Willen des Volks stützen würde. Aber auf den Bänken dieser Schule würden nicht nur die Kinder sitzen: dort säße der ewig Unmündige, der Schüler, der für immer als unfähig gilt, seine Prüfungen zu machen, die Kenntnisse seiner Lehrer zu erwerben und ihrer Disziplin zu entwachsen, das Volk Ich fragte eines Tages Mazzini, welche Maßregeln man zur Emanzipation des Volkes treffen würde, wenn seine unitäre Republik definitiv errichtet wäre? »Die erste Maßregel, sagte er mir, wird die Gründung von Schulen für das Volk sein.« – Und was wird man dem Volk in diesen Schulen lehren? – »Die Pflichten der Menschen, Aufopferung und Hingabe.« – Aber woher werden sie eine hinreichende Zahl Lehrer nehmen, diese Dinge zu lehren, die keiner zu lehren das Recht und die Fähigkeit hat, wenn er nicht selbst das Beispiel davon gibt? Ist die Zahl der Menschen, die im Opfer und der Hingabe den höchsten Genuß finden, nicht ungemein gering? Diejenigen, die sich im Dienst einer großen Idee opfern, einer hohen Leidenschaft gehorchend und diese persönliche Leidenschaft befriedigend, außerhalb welcher das Leben selbst jeden Wert in ihren Augen verliert, diese denken gewöhnlich an ganz etwas anderes, als aus ihrer Handlung eine Lehre zu machen; diejenigen aber, die eine Lehre daraus machen, vergessen meist, sie in Handlung umzusetzen, aus dem einfachen Grunde, weil die Doktrin das Leben, die lebendige Spontaneität der Aktion, tötet. Männer wie Mazzini, bei denen Lehre und Aktion eine bewunderungswürdige Einheit bilden, sind sehr seltene Ausnahmen. Im Christentum gab es auch große, heilige Männer, die alles, was sie sagten, wirklich taten oder sich wenigstens leidenschaftlich bemühten, es zu tun, deren von Liebe überschäumende Herzen voll Verachtung für die Genüsse und Güter dieser Welt waren. Aber die ungeheure Mehrheit der katholischen und protestantischen Geistlichen, die berufsmäßig die Lehre der Keuschheit, Enthaltsamkeit und Entsagung predigten und predigen, dementierte allgemein ihre Lehre durch ihr Beispiel. Nicht grundlos, sondern nach mehrhundertjähriger Erfahrung bildeten sich bei den Völkern aller Länder Redensarten wie: ausschweifend wie ein Pfaffe, ein Feinschmecker wie ein Pfaffe, ehrgeizig wie ein Pfaffe, habgierig, selbstsüchtig und begehrerisch wie ein Pfaffe. Es steht also fest, daß die von der Kirche geweihten Lehrer der christlichen Tugenden, die Geistlichen, in ihrer ungeheuren Mehrheit das Gegenteil von dem taten, was sie predigten. Dieses Zahlenverhältnis schon, die Universalität der Tatsache, zeigt, daß die Schuld nicht den einzelnen zuzuschreiben ist, sondern der unmöglichen und in sich selbst widerspruchsvollen sozialen Lage zufällt, in der sich die einzelnen befinden. Die Lage des christlichen Geistlichen enthält einen doppelten Widerspruch. Zuerst den zwischen der Lehre der Abstinenz und Entsagung und den positiven Tendenzen und Bedürfnissen der menschlichen Natur, Tendenzen und Bedürfnisse, die in einigen, stets sehr seltenen, individuellen Fällen beständig zurückgehalten, komprimiert und selbst völlig vernichtet werden können durch den konstanten Einfluß einer mächtigen intellektuellen und moralischen Macht, die in gewissen Augenblicken kollektiver Exaltation gleichzeitig von sehr vielen Menschen vergessen oder vernachlässigt werden können, die aber so tief in der Menschennatur stecken, daß sie schließlich immer in ihre Rechte treten, so daß, wenn sie gehindert werden, sich auf regelmäßige und normale Weise zu äußern, sie zuletzt stets schädliche und monströse Befriedigung suchen. Dies ist ein Naturgesetz, das also unausweichlich, unwiderstehlich ist und unter seinen verhängnisvollen Einfluß fallen unvermeidlich alle christlichen Geistlichen und speziell die der römisch-katholischen Kirche. Dieses Gesetz kann die Lehrer der Schule, das heißt die Priester der modernen Kirche, nicht treffen, es sei denn, daß man sie auch zwinge, christliche Abstinenz und Entsagung zu predigen.
Aber ein anderer Widerspruch ist beiden gemeinsam. Dieser liegt im Titel und der Stellung des Lehrers [ maître] [Durch den Doppelsinn Lehrer und Herr des Wortes maître wird diese Stelle nicht genau übersetzbar. (Der Übers.).]. Ein Herr [ maître], der befiehlt, unterdrückt und ausbeutet, ist eine sehr logische und ganz natürliche Persönlichkeit. Aber ein Herr [ maître], der sich den ihm nach seinem göttlichen oder menschlichen Privileg Subordinierten opfert, ist ein widerspruchvolles und ganz unmögliches Wesen. Das ist die Heuchelei selbst, die der Papst so gut personifiziert, der sich den letzten Diener der Diener Gottes nennt – und zum Zeichen dessen, nach Christi Beispiel, einmal jährlich die Füße von zwölf römischen Bettlern wäscht, – und sich gleichzeitig als Stellvertreter Gottes, zum absoluten und unfehlbaren Herrn der Welt proklamiert. Brauche ich daran zu erinnern, daß die Priester aller Kirchen, weit entfernt, sich den ihnen anvertrauten Herden zu opfern, dieselben stets opferten, ausbeuteten und im Herdenzustand erhielten, teils, um ihre eigenen persönlichen Leidenschaften zu befriedigen, teils, um der Allmacht der Kirche zu dienen? Dieselben Bedingungen und Ursachen bringen stets dieselben Wirkungen hervor. Ebenso wird es aber den göttlich inspirierten und vom Staat patentierten Lehrern der modernen Schule ergehen. Sie werden notwendigerweise, die einen unbewußt, die andern mit voller Kenntnis der Sache, die Lehre vom Opfer des Volks an die Macht des Staats und zum Nutzen der privilegierten Klassen lehren.
Muß man also allen Unterricht aus der Gesellschaft beseitigen und alle Schulen abschaffen? Nein, durchaus nicht, man muß mit vollen Händen Unterricht in den Blassen verbreiten und alle Kirchen, all diese dem Ruhm Gottes und der Versklavung der Menschen gewidmeten Tempel in ebensoviel Schulen menschlicher Emanzipation verwandeln. Aber verständigen wir uns zuerst: Schulen im eigentlichen Sinn dürfen in einer normalen, auf die Gleichheit und den Respekt der menschlichen Freiheit gegründeten Gesellschaft nur für Kinder und nicht für Erwachsene existieren; damit sie Schulen der Befreiung und nicht der Knechtung werden, muß in ihnen vor allem die Fiktion von Gott, dem ewigen und absoluten Verknechter, beseitigt werden; Erziehung und Unterricht der Kinder müßten ganz auf die wissenschaftliche Entwicklung der Vernunft und nicht des Glaubens gegründet werden, auf die Entwicklung der persönlichen Würde und Unabhängigkeit, nicht die der Frömmigkeit und des Gehorsams, auf den Kult der Wahrheit und Gerechtigkeit um jeden Preis und vor allem die Achtung vor der Menschheit, welche in all und jedem an Stelle der Verehrung Gottes treten muß. Das Autoritätsprinzip bildet bei der Kindererziehung den natürlichen Ausgangspunkt; es ist legitim, notwendig, wenn auf Kinder in niedrigem Alter angewendet, deren Intelligenz noch in keiner Weise entwickelt ist. Da aber die Entwicklung jeder Sache, folglich auch die der Erziehung, die sukzessive Regierung des Ausgangspunkts bildet, muß sich das Autoritätsprinzip graduell mit dem Fortschritt der Erziehung und des Unterrichts der Kinder vermindern und ihrer wachsenden Freiheit Platz machen. Jede rationelle Erziehung ist im Grunde nichts anderes als diese progressive Opferung der Autorität zum Nutzen der Freiheit, da der Endzweck der Erziehung kein anderer sein soll als der, Menschen zu bilden, die frei sind und die Freiheit anderer achten und lieben. So muß der erste Schultag, wenn die Schute Kinder niedrigen Alters empfängt, die kaum einige Worte zu stammeln vermögen, der Tag der größten Autorität und beinahe vollständiger Abwesenheit der Freiheit sein, der letzte Schultag aber der der größten Freiheit und der absoluten Beseitigung jeder Spur des tierischen oder göttlichen Prinzips der Autorität.
Das Autoritätsprinzip, auf Erwachsene oder Ältere angewendet, wird eine Monstrosität, eine flagrante Regierung der Menschheit, eine Quelle intellektueller und moralischer Sklaverei und Verderbtheit. Unglücklicherweise ließen die väterlichen Regierungen die Volksmassen in so tiefer Unwissenheit dahinbrüten, daß es notwendig werden wird, nicht nur für die Kinder des Volkes, sondern für das Volk selbst Schulen zu gründen. Aber aus diesen Schulen müssen die geringsten Anwendungen oder Äußerungen des Autoritätsprinzips absolut eliminiert werden. Es werden nicht mehr Schulen sein, sondern Volksakademien, in denen nicht mehr von Schülern und Lehrern die Rede sein kann, in welche das Volk, wenn es dies für nötig hält, frei kommt, freien Unterricht zu nehmen, und in denen es nach seiner eigenen Erfahrung seinerseits die Lehrer, die ihm unbekannte Kenntnisse bringen, in vielem unterweisen kann. Das wird also ein gegenseitiger Unterricht sein, ein Akt intellektueller Brüderlichkeit zwischen der gebildeten Jugend und dem Volk.
Die wahre Schule für das Volk und alle erwachsenen Leute ist das Leben. Die einzige große und allmächtige, gleichzeitig natürliche und rationelle Autorität, die einzige, die wir respektieren können, wird die des kollektiven und öffentlichen Geistes einer auf die Gleichheit und Solidarität und die Freiheit und den gegenseitigen menschlichen Respekt all ihrer Mitglieder gegründeten Gesellschaft sein. Ja, das ist eine nicht göttliche, ist eine ganz menschliche Autorität, vor der wir uns gern beugen, da wir sicher sind, daß sie die Menschen, statt sie zu knechten, befreien wird. Man kann sicher sein, daß sie tausendmal mächtiger sein wird, als all eure göttlichen, theologischen, metaphysischen, politischen und juridischen Autoritäten, die Kirche und Staat einsetzten, mächtiger als eure Strafgesetze, Kerkermeister und Henker.
Die Macht des Kollektivgefühls oder des öffentlichen Geistes ist schon heute eine sehr ernste. Die zu Verbrechen Geneigtesten wagen selten, ihr zu trotzen, sie offen herauszufordern. Sie werden versuchen, sie zu täuschen, aber sich wohl hüten, sie zu brüskieren, außer wenn sie sich wenigstens von irgendeiner Minorität gestützt fühlen. Kein Mensch, für wie mächtig er sich halten mag, wird je die Kraft haben, die einstimmige Verachtung der Gesellschaft auszuhalten; keiner kann leben, ohne nicht wenigstens sich von der Zustimmung und Achtung irgendeines Teils dieser Gesellschaft gehalten zu fühlen. Es muß jemand von einer ungeheuren und sehr aufrichtigen Überzeugung getrieben werden, um den Mut zu finden, gegen alle zu reden und zu handeln, und nie wird ein egoistischer, verdorbener und feiger Mann diesen Mut haben.
Nichts beweist besser die natürliche und unvermeidliche Solidarität, dieses alle Menschen verbindende Geselligkeitsgesetz, als letzterer Umstand, den jeder von uns täglich an sich selbst und all seinen Bekannten beobachten kann. Wenn aber diese soziale Macht existiert, warum hat sie bis jetzt nicht genügt, die Menschen zu moralisieren, zu humanisieren? Die Antwort ist sehr einfach: weil diese Macht bis heute selbst nicht humanisiert wurde, und dies geschah nicht, weil das soziale Leben, dessen treuer Ausdruck sie immer ist, bekanntlich auf den Gotteskultus und nicht die Achtung der Menschen gegründet ist, auf die Autorität und nicht auf die Freiheit, auf das Privileg und nicht auf die Gleichheit, auf die Ausbeutung und nicht auf die Brüderlichkeit der Menschen, auf Unrecht und Lüge und nicht auf Gerechtigkeit und Wahrheit. Ihr tatsächliches Wirken, das immer mit den Humanitären Theorien, die sie bekennt, im Widerspruch steht, übte folglich beständig einen bösen und korrumpierenden, keinen moralischen Einfluß. Sie unterdrückt nicht Laster und Verbrechen, sie schafft sie. Ihre Autorität ist folglich eine göttliche, antimenschliche Autorität, ihr Einfluß ist schlecht und verhängnisvoll. Sollen beide wohltätig und menschlich gemacht werden? Macht die soziale Revolution! Macht, daß alle Bedürfnisse wirklich solidarisch werden, daß die materiellen und sozialen Interessen eines jeden seinen menschlichen Pflichten konform werden! Hierzu gibt es nur ein einziges Mittel: zerstört alle Einrichtungen der Ungleichheit, gründet die ökonomische und soziale Gleichheit aller, und auf dieser Basis wird sich die Freiheit, die Moralität, die solidarische Menschlichkeit aller erheben.
Ich werde noch einmal auf diese Frage, die wichtigste des Sozialismus, zurückkommen.
. Der Staat wird nicht mehr Monarchie heißen, sondern Republik, wird aber nichtsdestoweniger der Staat sein, das heißt eine offiziell und regulär von einer Minorität kompetenter Männer, von tugendhaften Männern von Genie oder Talent, errichtete Vormundschaft zur Überwachung und Leitung der Konduite dieses großen, unverbesserlichen enfant terible, des Volks. Die Schullehrer und Staatsbeamten werden sich Republikaner nennen, aber nichtsdestoweniger Vormünder, Hirten sein, und das Volk wird das bleiben, was es bis jetzt gewesen ist, eine Herde. Achtung also vor den Scherern, denn wo es eine Herde gibt, gibt es auch Scherer und Verzehrer der Herde.

In diesem System wird das Volk ewig Schüler und Mündel sein. Trotz seiner Souveränität, die ganz fiktiv ist, wird es das Werkzeug von Gedanken, Willen und folglich auch von Interessen sein, die nicht seine eigenen sein werden. Zwischen dieser Lage und der, die wir Freiheit, die einzige wahre Freiheit, nennen, ist ein Abgrund. Es würde unter neuen Formen die alte Unterdrückung und Knechtschaft sein, und wo Knechtschaft ist, ist Elend, Vertierung, die eigentliche Materialisierung der Gesellschaft, der privilegierten Klassen und der Massen.

Durch Vergöttlichung menschlicher Dinge kommen die Idealisten stets zum Triumph eines brutalen Materialismus. Und das aus einem sehr einfachen Grunde: das Göttliche verflüchtigt sich und erhebt sich zu seinem Vaterland, dem Himmel, und das Brutale bleibt allein auf der Erde.

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Ja, der theoretische Idealismus hat den brutalsten Materialismus in der Praxis zur notwendigen Folge, nicht für die, die ihn guten Glaubens predigen – für diese ist die Unfruchtbarkeit all ihrer Bemühungen das gewöhnliche Resultat –, aber für die, die ihre Lehren im Leben für die ganze Gesellschaft zu verwirklichen sich bemühen, solange sich diese von den idealistischen Lehren beherrschen läßt.

Es fehlt nicht an historischen Beweisen für diese allgemeine Tatsache, die zuerst sonderbar erscheinen mag, sich aber natürlich erklärt, sobald man näher nachdenkt.

Man vergleiche die beiden letzten Zivilisationen der antiken Welt, die griechische und die römische Zivilisation. Welche von beiden ist die materialistischere, in ihrem Ausgangspunkt natürlichere und menschlich idealere? Die griechische Zivilisation. Welche dagegen ist die an ihrem Ausgangspunkt abstrakt idealere, die die materielle Freiheit des Menschen der idealen Freiheit des Bürgers opfert, vertreten durch die Abstraktion des juridischen Rechts und die natürliche Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zur Abstraktion des Staates, und welche ist die in ihren Konsequenzen brutalere? Ohne Zweifel die römische. Die griechische Zivilisation war zwar, wie alle antiken Zivilisationen, die römische einbegriffen, exklusiv national und hatte die Sklaverei zur Grundlage. Aber trotz dieser beiden ungeheuren historischen Fehler konzipierte und verwirklichte sie nichtsdestoweniger als erste die Idee der Menschheit: sie veredelte und idealisierte wirklich das Leben der Menschen; sie verwandelte die Menschenherden in Assoziationen freier Menschen; sie schuf die Wissenschaften, Künste, eine unsterbliche Dichtkunst und Philosophie und die ersten Begriffe der Menschenachtung durch die Freiheit. Mit der politischen und sozialen Freiheit schuf sie das freie Denken. Und am Ende des Mittelalters, zur Zeit der Renaissance, genügte es, daß einige griechische Emigranten einige ihrer unsterblichen Bücher nach Italien brachten, um das Leben, die Freiheit, den Gedanken, die Menschheit, die in dem finstern Kerker des Katholizismus vergraben waren, zur Wiedererstehung zu bringen. Die menschliche Emanzipation, das ist der Name der griechischen Zivilisation. Und der Name der römischen Zivilisation? Eroberung mit all ihren brutalen Konsequenzen. Und ihr letztes Wort? Die Allmacht der Cäsaren. Das ist die Herabwürdigung und Sklaverei der Nationen und Menschen.

Und noch heutzutage, was tötet und erdrückt brutal, materiell in allen Ländern Europas die Freiheit und Menschlichkeit? Der Triumph des cäsarischen oder römischen Prinzips.

Vergleichen wir jetzt zwei moderne Zivilisationen: die italienische und die deutsche. Die erstere vertritt zweifellos in ihrem allgemeinen Charakter den Materialismus, die letztere im Gegenteil das Abstrakteste, Reinste, Übersinnlichste, was es an Idealismus gibt. Welches sind die praktischen Früchte beider?

Italien leistete der Sache der menschlichen Emanzipation schon ungeheure Dienste. Es war das erste Land, welches wieder aufstand und in weitem Sinn das Prinzip der Freiheit in Europa durchführte und der Menschheit ihre Adelstitel wiedergab: Industrie, Handel, Dichtkunst, Künste, positive Wissenschaften und freies Denken. Seit dem wurde es durch drei Jahrhunderte vom kaiserlichen und päpstlichen Despotismus erdrückt und von seiner herrschenden Bourgeoisie in den Kot gezogen, so daß es heute allerdings sehr verfallen, im Vergleich zu dem, was es war, erscheint. Und doch, welcher Unterschied, wenn man es mit Deutschland vergleicht! Trotz dieser, wie wir hoffen, vorübergehenden Dekadenz kann man in Italien menschlich und frei leben und atmen, von einem Volk umgeben, das für die Freiheit geboren zu sein scheint. Selbst das bourgeoise Italien kann mit Stolz auf Männer, wie Mazzini und Garibaldi, weisen. In Deutschland atmet man die Luft ungeheurer politischer und sozialer Knechtschaft, die ein großes Volk mit wohlbedachter Resignation und gutem Willen philosophisch erklärt und akzeptiert. Seine Helden – ich spreche von denen des gegenwärtigen, nicht des künftigen Deutschland, des adligen, bureaukratischen, politischen und bourgeoisen, nicht des proletarischen Deutschland – sind ganz das Gegenteil von Mazzini und Garibaldi: es sind heute Wilhelm I., der rohe und naive Vertreter des protestantischen Gottes, und die Herren von Bismarck und Moltke, die Generale Manteuffel und Werder. In all seinen internationalen Beziehungen war Deutschland, seit es besteht, langsam, systematisch eindringend, erobernd, immer bereit, seine eigene freiwillige Knechtschaft auf die benachbarten Völker auszudehnen; seit es sich als einheitliche Macht konstituierte, wurde es eine Drohung, eine Gefahr für die Freiheit von ganz Europa. Der Name Deutschland bedeutet heute brutale und triumphierende Servilität.

Um zu zeigen, wie sich der theoretische Idealismus sofort und unvermeidlich in praktischen Materialismus verwandelt, braucht man nur das Beispiel aller christlichen Kirchen und natürlich, vor allem, das der apostolischen römischen Kirche anzuführen. Was gibt es Erhabeneres, im idealen Sinn, Uneigennützigeres, von allen irdischen Interessen Losgelösteres, als die von dieser Kirche gepredigte Lehre Christi – und was gibt es brutal Materialistischeres, als die konstante Praxis derselben Kirche seit dem 8. Jahrhundert, seitdem sie sich als Macht zu konstituieren begann? Was war und ist wohl der Hauptgegenstand all ihrer Streitigkeiten mit den Herrschern Europas? Die weltlichen Güter, die Einkünfte der Kirche zuerst und dann die weltliche Macht, die politischen Privilegien der Kirche. Man muß ihr die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie zuerst in der modernen Geschichte diese unbestreitbare, aber sehr wenig christliche Wahrheit entdeckte, daß Reichtum und Macht, ökonomische Ausbeutung und politische Unterdrückung der Massen der untrennbare Ausdruck des Reichs der göttlichen Idealität auf der Erde sind: der Reichtum befestigt und vermehrt die Macht, die Macht entdeckt und schafft immer neue Reichtumsquellen, und beide sichern besser als Martyrium und Glaube der Apostel, besser als die göttliche Gnade den Erfolg der christlichen Propaganda. Diese historische Wahrheit verkennen auch die protestantischen Kirchen nicht. Ich spreche natürlich von den unabhängigen Kirchen von England, Amerika und der Schweiz, nicht von den unterjochten Kirchen Deutschlands. Letztere haben keine eigene Initiative; sie tun, was ihre Herren, ihre weltlichen Souveräne, die gleichzeitig ihre geistlichen Chefs sind, ihnen zu tun befehlen. Es ist bekannt, daß die protestantische Propaganda, die Englands und Amerikas besonders, sich sehr eng an die Propaganda der materiellen, der Handelsinteressen dieser beiden großen Nationen anschließt; es ist auch bekannt, daß letztere Propaganda durchaus nicht die Bereicherung und materielle Prosperität der Länder, in die sie in Gesellschaft von Gottes Wort eindringt, zum Gegenstand hat, sondern die Ausbeutung dieser Länder mit Hinsicht auf die wachsende Bereicherung und ökonomische Prosperität gewisser sehr ausbeutender und gleichzeitig sehr frommer Klassen des eigenen Landes.

Mit einem Wort, es ist durchaus nicht schwer, die Geschichte in der Hand, zu beweisen, daß die Kirche, daß alle christlichen und nicht christlichen Kirchen neben ihrer spiritualistischen Propaganda, wahrscheinlich zur Beschleunigung und Erhöhung des Erfolgs derselben, niemals unterließen, sich zu großen Gesellschaften zu organisieren zur ökonomischen Ausbeutung der Massen, der Arbeit der Massen, unter dem Schutz und mit dem direkten und spezialen Segen irgendeiner Gottheit, – daß alle Staaten, die bekanntlich an ihrem Ursprung mit all ihren politischen und juridischen Institutionen und herrschenden und privilegierten Klassen nichts anderes waren, als weltliche Sukkursalen dieser verschiedenen Kirchen, gleicherweise als Hauptgegenstand dieselbe indirekt von der Kirche legitimierte Ausbeutung zum Nutzen weltlicher Minoritäten haben, – und daß im allgemeinen die Aktion des Herrgotts und aller göttlichen Idealitäten auf der Erde immer und überall schließlich zur Begründung des einer kleinen Zahl wohlbekommenden Materialismus auf dem fanatischen und beständig dem Hunger ausgesetzten Idealismus der Massen führte.

Was wir heute sehen, ist ein neuer Beweis dafür. Wer sind heute, abgesehen von den oben erwähnten, in der Irre gehenden großen Herzen und Geistern die erbittertsten Verteidiger des Idealismus? Zuerst alle fürstlichen Höfe. In Frankreich waren es Napoleon III. und seine Frau, Madame Eugenie; ihre Exminister, Höflinge und Exmarschälle, von Rouher und Bazaine zu Fleury und Piétri; die Männer und Frauen dieser kaiserlichen Welt, die Frankreich so gut idealisiert und gerettet haben; ihre Journalisten und Gelehrten, die Cassagnac, Girardin, Duvernois, Veuillot, Leverrier, Dumas, dann die schwarze Phalanx der Jesuiten und Jesuitinnen jeder Kleidung; der ganze Adel und die ganze obere und mittlere Bourgeoisie Frankreichs; liberale Doktrinäre und Liberale ohne Doktrin: die Guizot, Thiers, Jules Favre, Pelletan und Jules Simon, alles verbissene Verteidiger der Bourgeoisausbeutung. In Preußen, in Deutschland ist es Wilhelm I., der wahre gegenwärtige Demonstrator des Herrgotts auf der Erde; all seine Generäle, alle seine pommerschen und andern Offiziere, seine ganze Armee, die, auf ihren religiösen Glauben gestützt, soeben Frankreich auf die bekannte ideale Art erobert hat. In Rußland ist es der Zar und sein ganzer Hof, sind es die Murawieff und Berg, alle Erwürger und frommen Bekehrer Polens. Mit einem Wort, überall dient heute der religiöse oder philosophische Idealismus – letzterer ist nur die mehr oder weniger freie Übersetzung des ersteren – der materiellen, blutigen und brutalen Gewalt, der schamlosen materiellen Ausbeutung als Fahne; die Fahne des theoretischen Materialismus, die rote Fahne der ökonomischen Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit wird dagegen erhoben von dem praktischen Idealismus der unterdrückten und hungernden Massen, der die größte Freiheit und das menschliche Recht jedes einzelnen in der Brüderlichkeit aller Menschen der Erde zu verwirklichen sucht.

Wer sind die wahren Idealisten, die Idealisten nicht der Abstraktion, sondern des Lebens, nicht des Himmels, sondern der Erde, und wer sind die Materialisten?

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Es ist augenscheinlich, daß die Hauptbedingung des theoretischen oder göttlichen Idealismus das Opfer der Logik, der menschlichen Vernunft, der Verzicht auf die Wissenschaft ist. Man sieht andererseits, daß man durch Verteidigung der idealistischen Lehren unbedingt zur Partei der Unterdrücker und Ausbeuter der Volksmassen hingezogen wird. Diese beiden großen Ursachen sollten, scheint es, genügen, jeden großen Geist, jedes große Herz vom Idealismus zu entfernen. Wie kommt es, daß unsere illustren zeitgenössischen Idealisten, denen gewiß weder Geist, noch Herz, noch guter Wille fehlt und die ihre ganze Existenz dem Dienst der Menschheit geweiht haben, – wie kommt es, daß diese darauf bestehen, in den Reihen der Vertreter einer hinfort verurteilten und entehrten Doktrin zu bleiben?

Ein sehr mächtiger Grund muß sie hierzu treiben. Dies kann weder die Logik, noch die Wissenschaft sein, da diese beide ihr Verdikt gegen die idealistische Lehre abgegeben haben. Ebensowenig können es persönliche Interessen sein, da diese Männer über alles derartige unendlich erhaben sind. Es muß also ein mächtiges moralisches Motiv sein. Welches? Es gibt nur ein einziges: diese illustren Männer denken ohne Zweifel, daß die idealistischen Theorien oder der idealistische Glaube zur Würde und moralischen Größe des Menschen wesentlich notwendig sind, und daß die materialistischen Lehren denselben, im Gegenteil, auf das Niveau der Tiere herunterbringen würden.

Und wenn gerade das Gegenteil hiervon wahr wäre?

Jede Entwicklung, sagte ich, schließt die Negierung des Ausgangspunktes ein. Da nach der materialistischen Schule der Ausgangspunkt materiell sein muß, muß seine Negierung notwendigerweise ideal sein. Von der Totalität der wirklichen Welt ausgehend, oder von dem, das man abstrakt die Materie nennt, gelangt sie logisch zur wirklichen Idealisierung, das heißt zur Humanisierung, zur vollen und ganzen Emanzipation der Gesellschaft. Da im Gegenteil und aus dem gleichen Grunde der Ausgangspunkt der idealen Schule ideal ist, gelangt dieselbe notwendigerweise zur Materialisierung der Gesellschaft, zur Organisation eines brutalen Despotismus und einer unbilligen und schändlichen Ausbeutung unter der Form der Kirche und des Staates. Die historische Entwicklung des Menschen ist nach der materialistischen Schule ein fortschreitender Aufstieg; nach dem idealistischen System kann sie nur ein beständiger Fall sein.

Bei jeder menschlichen Frage, die man in Betracht zieht, findet man stets denselben wesentlichen Gegensatz zwischen den beiden Schulen. So geht, wie ich schon bemerkte, der Materialismus von der Animalität aus, um die Menschheit zu konstituieren; der Idealismus geht von der Gottheit aus, um die Sklaverei zu errichten und die Massen zu aussichtsloser Animalität zu verurteilen. Der Materialismus leugnet den freien Willen und führt zur Einführung der Freiheit; der Idealismus proklamiert den freien Willen im Namen der Menschenwürde und gründet die Autorität auf den Ruinen aller Freiheit. Der Materialismus weist das Autoritätsprinzip zurück, weil er es mit gutem Grund als Korollar der Animalität betrachtet und weil nach ihm der Triumph der Humanität, in seinen Augen Hauptziel und -bedeutung der Geschichte, nur durch die Freiheit verwirklicht werden kann. Mit einem Wort, bei jeder Frage wird man die Idealisten stets bei flagrantem praktischen Materialismus treffen, während man die Materialisten die weitesten idealen Aspirationen und Gedanken verfolgen und verwirklichen sieht.

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Die Geschichte, sagte ich, kann im System der Idealisten nur ein beständiger Fall sein. Sie beginnen mit einem schrecklichen Fall, von dem sie sich nie wieder erholen: mit dem göttlichen salto mortale aus den erhabenen Regionen der reinen, absoluten Idee zur Materie: nicht zu der stets tätigen und bewegten Materie voll Eigenschaften und Kräften, Leben und Intelligenz, wie sie uns in der wirklichen Welt erscheint, sondern zur abstrakten, verarmten Materie, die ins absolute Elend gebracht ist durch die regelrechte Plünderung dieser Preußen des Gedankens, der Theologen und Metaphysiker, die ihr alles raubten, um es ihrem Kaiser, ihrem Gott zu geben; zu dieser, die, aller Eigenschaften, aller eigenen Tätigkeit und Bewegung beraubt, nur mehr, im Gegensatz zur Gottesidee, absolute Dummheit, Undurchdringlichkeit, Untätigkeit und Unbeweglichkeit vorstellt.

Der Fall ist so schrecklich, daß die Gottheit, die göttliche Person oder Idee, sich breitschlägt, ihr Eigenbewußtsein verliert und sich nie wieder findet. Und in dieser verzweifelten Lage ist sie noch gezwungen, Wunder zu üben! Denn sobald die Materie untätig ist, ist jede Bewegung, selbst die materiellste, ein Wunder und kann nur die Wirkung einer göttlichen Intervention, von Gottes Einwirkung auf die Materie, sein. Und so bleibt denn diese arme Gottheit, durch ihren Fall degradiert und fast vernichtet, einige hundert Jahrtausende in diesem Ohnmachtszustand, dann erwacht sie langsam, sucht stets vergeblich eine vage Erinnerung von sich selbst zu gewinnen, und jede Bewegung, die sie im Hinblick auf dies Ziel in der Materie macht, wird eine neue Schöpfung, eine neue Bildung, ein neues Wunder. Auf diese Weise durchschreitet sie alle Grade der Materialität und Bestialität; zuerst ein Gas, ein einfacher und zusammengesetzter chemischer Körper, ein Mineral, verbreitet sie sich dann auf der Erde als pflanzlicher und tierischer Organismus und konzentriert sich dann im Menschen. Hier scheint sie bestimmt sich wiederzufinden, denn sie zündet in jedem menschlichen Wesen einen Engelsfunken an, ein Teilchen ihres eigenen göttlichen Wesens, die unsterbliche Seele.

Wie konnte sie eine absolut immaterielle Sache in etwas absolut Materiellem unterbringen? Wie kann der Körper den reinen Geist enthalten, einschließen, begrenzen, binden? Dies ist wieder eine jener Fragen, die allein der Glaube, diese leidenschaftliche und stupide Behauptung des Absurden, lösen kann. Es ist das größte aller Wunder. Hier haben wir nur die Wirkungen und praktischen Folgen dieses Wunders zu konstatieren.

Nach Hunderten von Jahrtausenden vergeblicher Bemühungen, zu sich zu kommen, findet die verlorene, in der von ihr belebten und in Bewegung gesetzten Materie verbreitete Gottheit einen Stützpunkt, eine Art Heim zu ihrer eigenen Sammlung. Dies ist der Mensch, dies ist seine unsterbliche Seele, die eigentümlicherweise in einen sterblichen Körper gesperrt ist. Aber jeder Mensch, für sich genommen, ist viel zu beschränkt, zu klein, um die göttliche Unendlichkeit zu umschließen; er kann nur einen sehr kleinen Teil derselben enthalten, der, unsterblich wie das Ganze, aber unendlich viel kleiner als das Ganze ist. Daraus ergibt sich, daß das göttliche Wesen, das absolut immaterielle Wesen, der Geist, teilbar ist wie die Materie. Dies ist ein weiteres Mysterium, dessen Lösung dem Glauben überlassen werden muß.

Wenn sich Gott ganz in jedem Menschen unterbringen könnte, dann wäre jeder Mensch Gott. Wir hätten eine ungeheure Anzahl von Göttern, von denen jeder von allen andern beschränkt und doch unendlich wäre, ein Widerspruch, der die gegenseitige Vernichtung der Menschen bedeuten würde und die Unmöglichkeit, daß mehr als ein Mensch existiere. Was die Teile betrifft, ist dies eine andere Sache: nichts ist tatsächlich der Vernunft entsprechender, als daß ein Teil von einem andern Teil begrenzt und kleiner als das Ganze sei. Nur zeigt sich hier ein anderer Widerspruch. Begrenzt zu sein, größer oder kleiner, sind Attribute der Materie, nicht des Geistes; des Geistes hier im Sinn der Materialisten, da der Geist für die Materialisten nur das Funktionieren des ganz materiellen Organismus des Menschen ist; in diesem Fall hängt Größe oder Kleinheit des Geistes ganz von der mehr oder weniger großen materiellen Vollendung des menschlichen Organismus ab. Aber diese Eigenschaften der Begrenzung und relativen Größe können dem Geist, wie ihn die Idealisten verstehen, nicht angehören, dem absolut immateriellen, außerhalb jeder Materie existierenden Geist. Da kann es nichts Größeres und Kleineres, keine Grenze zwischen den Geistern geben, denn es gibt nur einen Geist: Gott. Nimmt man noch dazu, daß die unendlich kleinen und beschränkten Teilchen, die die menschlichen Seelen bilden, gleichzeitig unsterblich sind, so erreicht man den Gipfel der Widersprüche. Aber das ist eine Frage des Glaubens; gehen wir weiter.

So ist also die Gottheit zerrissen und in unendlich kleinen Teilen in einer ungeheuren Anzahl von Wesen jedes Geschlechts, jedes Alters, aller Rassen und Farben untergebracht. Dies ist eine für sie außerordentlich unbequeme und unglückliche Situation; denn die göttlichen Teilchen kennen sich zu Beginn ihrer menschlichen Existenz so wenig untereinander, daß sie beginnen, sich untereinander aufzufressen. Jedoch bewahren die göttlichen Teilchen, die Menschenseelen, in diesem Zustand ganz und gar tierischer Barbarei und Brutalität eine gewisse vage Erinnerung ihrer ursprünglichen Göttlichkeit: sie werden unaufhaltsam nach ihrem Ganzen zu angezogen; sie suchen sich und suchen das Ganze. Die Gottheit selbst, in der materiellen Welt verbreitet und verloren, sucht sich in den Menschen, und sie ist derart durch diese Menge menschlicher Gefängnisse, in denen sie zerstreut ist, zerstört, daß sie bei diesem Suchen von sich selbst einen Haufen Dummheiten macht.

Mit dem Fetischismus beginnend, sucht sie sich selbst und betet sich an bald in einem Stein, bald in einem Stück Holz oder einem Stück Tuch. Wahrscheinlich sogar hätte sie sich nie aus dem Tuchfetzen erhoben, wenn die andere Gottheit, die nicht in die Materie fiel und im Zustand reinen Geistes in den erhabenen Höhen des absoluten Ideals oder in den himmlischen Regionen blieb, nicht mit ihr Mitleid gehabt hätte.

Hier liegt ein neues Mysterium, das der in zwei Hälften gespaltenen Gottheit, welche Hälften aber jede ein Ganzes und jede unendlich sind und von denen die eine – Gott der Vater – sich in den reinen, immateriellen Regionen erhält, während die andere – Gott der Sohn – sich in die Materie fallen ließ. Wir werden gleich sehen, wie zwischen diesen beiden voneinander getrennten Gottheiten beständige Beziehungen von oben nach unten und von unten nach oben entstehen, und diese Beziehungen als ein einziger ewiger und konstanter Akt gedacht, bilden den heiligen Geist. Dies ist, in seinem wahren theologischen und metaphysischen Sinn, das große, das schreckliche Mysterium der christlichen Dreieinigkeit.

Aber verlassen wir so schnell als möglich diese Höhen und sehen wir, was auf der Erde vorgeht.

Gott der Vater sah von der Höhe seines ewigen Glanzes, daß der arme Sohn Gottes, von seinem Fall flachgequetscht und verstört, sich derart in die Materie tauchte und in ihr verlor, daß er, selbst nachdem er den menschlichen Zustand erreicht, sich nicht wiederfand, und er entschloß sich endlich, ihm zu helfen. Aus der ungeheuren Zahl gleichzeitig unsterblicher, göttlicher und unendlich kleiner Teilchen, in die Gott der Sohn sich zerstreute, so daß er sich in ihnen nicht mehr zurechtfand, wählte Gott der Vater die ihm am meisten gefallenden aus und machte daraus seine Inspirierten, seine Propheten, seine »tugendhaften Genies«, die großen Wohltäter und Gesetzgeber der Menschheit: Zoroaster, Buddha, Moses, Konfuzius, Lykurg, Solon, Sokrates, den göttlichen Plato und vor allem Jesus Christus, die vollständige Verwirklichung des endlich in eine einzige menschliche Person gesammelten und konzentrierten Gottessohnes; alle Apostel, St. Peter, St. Paul und vor allem St. Johannes; Konstantin den Großen, Mohammed, dann Karl den Großen, Gregor VII., Dante, nach einigen auch Luther, Voltaire und Rousseau, Robespierre und Danton und viele andere große und heilige historische Persönlichkeiten, deren Namen ich nicht alle anführen kann, aber unter denen ich als Russe den heiligen Nikolaus nicht zu vergessen bitte.

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So sind wir bei dem Erscheinen Gottes auf der Erde angelangt. Aber sobald Gott erscheint, wird der Mensch zu nichts. Man wird einwenden, daß er durchaus nicht zu nichts wird, da er selbst ein Teil Gottes ist. Pardon! Ich gebe zu, daß ein Teilchen, ein Teil eines bestimmten, beschränkten Ganzen, wie klein es auch sei, eine Quantität, eine positive Größe sei. Aber ein Teilchen, ein Teil des unendlich Großen ist, mit demselben verglichen, notwendigerweise unendlich klein. Das Produkt von Milliarden von Milliarden, mit Milliarden von Milliarden multipliziert, wird dem unendlich Großen gegenüber unendlich klein sein, und das unendlich Kleine ist gleich null. Gott ist alles, also sind der Mensch und die ganze wirkliche Welt, das Universum, mit ihm nichts. Hiervon gibt es keinen Ausweg.

Gott erscheint, der Mensch wird zu nichts, und je größer die Gottheit wird, desto elender wird die Menschheit. Das ist die Geschichte aller Religionen, die Wirkung aller Inspirationen und göttlichen Gesetzgebungen. In der Geschichte ist der Name Gottes die schreckliche historische Keule, mit der alle göttlich inspirierten Männer, die großen »tugendhaften Genies«, die Freiheit, Würde, Vernunft und das Wohl der Menschen niederschlagen.

Zuerst sahen wir den Fall Gottes. Jetzt sehen wir einen Fall, der uns mehr interessiert, den des Menschen, durch das einfache Erscheinen oder die Manifestation Gottes auf der Erde.

In welch tiefem Irrtum befinden sich unsere lieben und illustren Idealisten! Wenn sie zu uns von Gott sprechen, glauben sie uns zu erheben, zu befreien, zu veredeln, und wollen dies, und statt dessen würdigen sie uns herab und erdrücken uns. Sie bilden sich ein, mit dem Namen Gottes unter den Menschen Brüderlichkeit einführen zu können, und schaffen im Gegenteil Stolz und Verachtung; sie säen Zwietracht, Haß und Krieg und errichten Knechtschaft. Denn mit Gott kommen notwendigerweise die verschiedenen Grade göttlicher Inspiration; die Menschheit zerfällt in sehr Inspirierte, in minder Inspirierte und in gar nicht Inspirierte. Zwar sind alle gleich nichtig vor Gott, aber untereinander verglichen sind die einen größer als die andern, nicht nur in Wirklichkeit, was nichts bedeuten würde, da eine tatsächliche Ungleichheit von selbst in der Menge verloren geht, wenn sie nichts, keine Fiktion oder legale Institution findet, an die sie sich anklammern kann; nein, die einen sind größer als die andern durch das göttliche Recht der Inspiration, wodurch sofort eine fixe, konstante, erstarrende Ungleichheit entsteht. Die mehr Inspirierten müssen von den weniger Inspirierten gehört und ihnen muß gehorcht werden, ebenso den weniger Inspirierten von den gar nicht Inspirierten. So ist das Prinzip der Autorität fest aufgestellt und mit ihm die beiden grundlegenden Institutionen der Knechtschaft: die Kirche und der Staat.

Von allen Despotismen ist der der Doktrinäre oder religiösen Inspirierten der ärgste. Sie sind so eifersüchtig auf den Ruhm ihres Gottes und den Triumph ihrer Idee, daß ihnen kein Herz bleibt für die Freiheit, die Würde, nicht einmal für die Leiden der lebenden, wirklichen Menschen. Der göttliche Eifer, die ausschließliche Sorge um die Idee trocknen in den zartesten Seelen, den mitfühlendsten Herzen die Quellen der Menschenliebe aus. Sie sehen alles, was ist, was geschieht in der Welt, vom Standpunkt der Ewigkeit oder der abstrakten Idee an; sie behandeln vergängliche Dinge mit Verachtung; aber das ganze Leben wirklicher Menschen, von Menschen von Fleisch und Blut, besteht nur aus vergänglichen Dingen; sie selbst sind vorübergehende Wesen, die nach ihrem Vergehen von andern, ebenso vergänglichen ersetzt werden, die aber nie selbst wiederkommen. Von Permanentem oder relativ Ewigem gibt es bei den Menschen die Tatsache der Menschheit selbst, die in beständiger Entwicklung, immer reicher, von einer Generation zur andern übergeht. Ich sage relativ ewig, weil nach Zerstörung unseres Planeten – und diese Zerstörung muß früher oder später eintreten, da alles, das einen Anfang hat, notwendigerweise ein Ende haben muß –, weil nach Zersetzung unseres Planeten also, der ohne Zweifel irgend einer neuen Bildung im Weltsystem, das allein wirklich ewig ist, als Element dienen wird, niemand weiß, was aus unserer ganzen menschlichen Entwicklung wird. Da aber der Zeitpunkt dieser Auflösung unendlich weit von uns entfernt ist, können wir die Menschheit, im Vergleich mit dem so kurzen menschlichen Leben, ganz gut als ewig betrachten. Aber diese Tatsache der fortschreitenden Menschheit selbst ist nur wirklich und lebendig durch ihre Erscheinung und Verwirklichung zu bestimmter Zeit, an bestimmten Orten, in wirklich lebenden Menschen und nicht in ihrer allgemeinen Idee.

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Die allgemeine Idee ist immer eine Abstraktion und schon dadurch in gewissem Grade eine Negierung des wirklichen Lebens. Ich stellte im Appendix als Eigenschaft des menschlichen Gedankens und folglich auch der Wissenschaft fest, daß sie von den wirklichen Tatsachen nur ihren allgemeinen Sinn, ihre allgemeinen Beziehungen, ihre allgemeinen Gesetze erfassen und benennen können, mit einem Wort das in ihren beständigen Verwandlungen Permanente, wie ihre materielle, individuelle Seite, die sozusagen von Wirklichkeit und Leben vibriert, aber gerade dadurch flüchtig und unfaßbar ist. Die Wissenschaft versteht den Gedanken der Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst, den Gedanken des Lebens, nicht das Leben. Hier liegt ihre Grenze, die einzige für sie wirklich unüberschreitbare Grenze, die eben in der Natur des menschlichen Gedankens selbst, des einzigen Organs der Wissenschaft, begründet ist.

Auf diese natürliche Beschaffenheit gründen sich die unbestreitbaren Rechte und die große Mission der Wissenschaft, aber auch ihre tiefe Ohnmacht und selbst ihre schädliche Wirkung, sobald sie durch ihre offiziellen, patentierten Vertreter sich das Recht anmaßt, das Leben zu regieren. Die Mission der Wissenschaft ist folgende: Durch Konstatierung der allgemeinen Beziehungen der vorübergehenden und wirklichen Dinge, durch Erkennen der der Entwicklung der Erscheinungen der physischen und sozialen Welt inhärierenden allgemeinen Gesetze stellt sie sozusagen unveränderliche Markzeichen des Vormarsches der Menschheit auf, indem sie den Menschen die allgemeinen Bedingungen zeigt, deren strikte Beobachtung notwendig und deren Unkenntnis oder Vergessen verhängnisvoll sind. Mit einem Wort, die Wissenschaft ist der Kompaß des Lebens, aber sie ist nicht das Leben. Sie ist unabänderlich, unpersönlich, allgemein, abstrakt, gefühllos, wie die Gesetze, deren ideale, gedachte oder mentale, das heißt zerebrale Wiedergabe sie ist – zerebral, um uns zu erinnern, daß die Wissenschaft selbst nur ein materielles Produkt eines materiellen Organs des materiellen Organismus des Menschen, des Gehirns, ist. Das Leben ist ganz flüchtig und vorübergehend, aber auch ganz vibrierend von Wirklichkeit und Individualität, Gefühl, Leiden, Freuden, Aspirationen, Bedürfnissen und Leidenschaften. Das Leben allein schafft spontan die Dinge und alle wirklichen Wesen. Die Wissenschaft schafft nichts, sie konstatiert und erkennt nur die Schöpfungen des Lebens. Und jedesmal, wenn die Männer der Wissenschaft, ihre abstrakte Welt verlassend, sich in die lebende Schöpfung in der wirklichen Welt hineinmischen, ist alles, was sie vorschlagen oder schaffen, arm, lächerlich, abstrakt, ohne Blut und Leben, totgeboren, dem von Wagner, dem pedantischen Schüler des unsterblichen Doktor Faust geschaffenen Homunkulus gleich. Daraus ergibt sich, daß die einzige Mission der Wissenschaft ist, das Leben zu erleuchten, nicht, es zu leiten.

Eine Regierung der Wissenschaft und der Männer der Wissenschaft, selbst wenn sie sich Positivisten, Schüler Auguste Comtes, nennen oder selbst Schüler der doktrinären Schule des deutschen Kommunismus, kann nur ohnmächtig, lächerlich, unmenschlich, grausam, unterdrückend, ausbeutend, übeltuend sein. Man kann von den Männern der Wissenschaft als solchen sagen, was ich von den Theologen und Metaphysikern sagte: sie haben weder Gefühl noch Herz für individuelle, lebende Wesen. Man kann ihnen nicht einmal einen Vorwurf daraus machen, denn es ist die natürliche Folge ihres Berufs. Als Männer der Wissenschaft haben sie nur mit Allgemeinheiten zu tun und interessieren sich nur für solche, nur für die Gesetze … Hier fehlen drei Seiten des Manuskripts; Näheres siehe Oeuvres III, S. 90, Anm. 1 (von J. Guillaume). (Der Übers.), [weil?] sie nicht ausschließlich Männer der Wissenschaft, sondern auch mehr oder weniger Männer des Lebens sind Es ist von Vivisektion die Rede, und der Beginn dieses Satzes sagte vielleicht: wenn die Gelehrten die Vivisektion nicht an Menschen ebenso praktizieren wie an Tieren, ist die Ursache die, daß sie etc. Elisée Reclus ergänzte diese Lücke in selbständiger Weise, siehe Dieu et l'Etat , 1882, S. 62, Zeile 24 bis S. 63, Zeile 12. (Der Übers.).

Jedoch darf man sich nicht zu sehr darauf verlassen, und wenn es beinahe sicher ist, daß kein Gelehrter heute wagen wird, einen Menschen wie ein Kaninchen zu behandeln, muß man doch stets fürchten, daß die Gelehrten als Körperschaft lebende Menschen wissenschaftlichen Experimenten unterwerfen, die gewiß weniger grausam, aber nicht weniger schädlich für die Opfer sein würden. Wenn die Gelehrten an den Körpern einzelner Menschen nicht experimentieren können, werden sie verlangen, am sozialen Körper Experimente zu machen, und das ist etwas, das man absolut verhindern muß.

In ihrer gegenwärtigen Organisation, als Monopolisten der Wissenschaft, die als solche außerhalb des sozialen Lebens bleiben, bilden die Gelehrten eine separate Kaste, die viele Analogien mit der Priesterkaste hat. Die wissenschaftliche Abstraktion ist ihr Gott, die lebenden und realen Individuen sind die Opfer und sie sind die geweihten und patentierten Opferpriester.

Die Wissenschaft kann die Sphäre der Abstraktionen nicht verlassen. In dieser Beziehung steht sie unendlich tief unter der Kunst, die zwar auch nur mit allgemeinen Typen und Situationen zu tun hat, dieselben aber durch einen ihr eigenen Kunstgriff in Formen zu inkarnieren weiß, die zwar nicht im Sinn des wirklichen Lebens lebendig sind, aber trotzdem in unserer Einbildung das Gefühl oder die Erinnerung dieses Lebens hervorrufen; die Kunst individualisiert gewissermaßen die von ihr erfaßten Typen und Situationen und erinnert uns durch diese Individualitäten ohne Fleisch und Knochen, die deshalb permanent und unsterblich sind, deren Schaffung in ihrer Macht liegt, an die lebenden, realen Individualitäten, die vor unsern Augen erscheinen und vergehen. Die Kunst ist also in gewissem Grade die Rückkehr von der Abstraktion zum Leben. Die Wissenschaft ist dagegen die beständige Opferung des flüchtigen, vorübergehenden, aber wirklichen Lebens auf dem Altar der ewigen Abstraktionen.

Die Wissenschaft kann ebensowenig die Individualität eines Menschen, wie die eines Kaninchens erfassen. Das heißt, sie steht beiden gleich indifferent gegenüber. Nicht daß ihr das Prinzip der Individualität unbekannt wäre. Sie erfaßt es vollständig als Prinzip, aber nicht als Tatsache. Sie weiß sehr gut, daß alle Tierarten, die Spezies Mensch einbegriffen, nur wirklich existieren als unbestimmte Zahl von Individuen, die geboren werden und sterben und neuen, ebenso vorübergehenden Individuen Platz machen. Sie weiß, daß mit dem Aufsteigen der Tierarten zu höheren Arten das Prinzip der Individualität mehr hervortritt und die Individuen vollständiger und freier werden. Sie weiß endlich, daß der Mensch, das letzte und vollendetste Tier auf der Erde, die vollständigste und beachtenswerteste Individualität zeigt wegen seiner Fähigkeit, das allgemeine Gesetz zu erfassen, zu konkretieren und es gewissermaßen in sich selbst, in seiner sozialen und privaten Existenz, zu personifizieren. Wenn sie nicht durch theologischen oder metaphysischen, politischen und juridischen Doktrinarismus oder durch eng wissenschaftlichen Hochmut verdorben und nicht für die spontanen Instinkte und Aspirationen des Lebens taub ist, weiß sie, und das ist ihr letztes Wort, daß die Achtung des Menschen das oberste Gesetz der Menschheit ist, und daß das große, das wahre, das einzig legitime Ziel der Geschichte die Humanisierung und Emanzipation, das heißt die wirkliche Freiheit, das wirkliche Wohl, das Glück jedes in der Gesellschaft lebenden Individuums ist. Denn schließlich, wenn man nicht in die freiheittötende Fiktion, daß der Staat das Gemeinwohl vertrete, verfallen will, eine Fiktion, die stets auf die systematische Opferung der Volksmassen gegründet ist, muß man anerkennen, daß kollektive Freiheit und kollektives Wohlbefinden nur existieren, wenn sie die Summe der Freiheit und des Wohlbefindens der Individuen darstellen.

Die Wissenschaft weiß das alles, aber sie geht nicht weiter und kann nicht weiter gehen. Da die Abstraktion ihre wahre Natur bildet, kann sie wohl das Prinzip der realen und lebenden Individualität erfassen, aber sie kann nichts mit den realen und lebenden Individuen zu tun haben. Sie beschäftigt sich mit den Individuen im allgemeinen, aber nicht mit Peter und mit Jakob, nicht mit diesem oder jenem Individuum, die für sie nicht existieren, nicht existieren können. Ihre Individuen sind, nochmals bemerkt, nur Abstraktionen.

Nicht diese abstrakten Individualitäten aber, sondern die wirklichen, lebendigen, vorübergehenden Individuen machen die Geschichte. Abstraktionen haben keine Füße, sie gehen nur, wenn sie von wirklichen Menschen getragen werden. Für diese wirklichen Wesen, die nicht nur in der Idee, sondern in Wirklichkeit aus Fleisch und Blut bestehen, hat die Wissenschaft kein Herz. Sie betrachtet sie höchstens als Material zu intellektueller und sozialer Entwicklung. Was liegt ihr an den besonderen Verhältnissen und dem zufälligen Schicksal von Peter und Jakob? Sie würde sich lächerlich machen, abdanken und sich selbst aufheben, wollte sie sich damit anders befassen, als wie mit einem Beispiel zur Stütze ihrer ewigen Theorien. Und es wäre lächerlich, ihr deshalb böse zu sein; denn dies ist nicht ihre Mission. Sie kann das Konkrete nicht erfassen, sie kann sich nur in Abstraktionen bewegen. Ihre Mission ist die Beschäftigung mit der Lage und den allgemeinen Existenz- und Entwicklungsbedingungen der Menschheit im allgemeinen oder einer bestimmten Rasse, eines Volks, einer Klasse oder Kategorie von Individuen, mit den allgemeinen Ursachen ihrer Prosperität oder ihres Verfalls und den allgemeinen Mitteln, auf jede Weise den Fortschritt zu fördern. Wenn sie nur diese Aufgabe in weitem, rationellem Sinn erfüllt, hat sie ihre ganze Pflicht getan, und es wäre wahrhaft lächerlich und ungerecht, mehr von ihr zu verlangen.

Aber es wäre ebenso lächerlich und unheilvoll, ihr eine Mission anzuvertrauen, die sie unfähig ist, durchzuführen. Da ihre eigene Natur sie zwingt, die Existenz und das Schicksal von Peter und Jakob zu ignorieren, muß man nie erlauben, daß sie selbst oder jemand in ihrem Namen Peter und Jakob regiert. Denn sie wäre wohl imstande, sie beinahe so zu behandeln, wie sie die Kaninchen behandelt. Oder vielmehr, sie würde fortfahren, sie zu ignorieren, ihre patentierten Vertreter aber, durchaus nicht abstrakte, sondern sehr lebendige Männer mit sehr realen Interessen, würden dem verderblichen Einfluß nachgehen, den jedes Privileg auf die Menschen unvermeidlich ausübt, und würden die Menschen im Namen der Wissenschaft schinden, wie sie bis jetzt die Priester, die Politiker aller Farben und die Advokaten im Namen Gottes, des Staates und des juridischen Rechts geschunden haben.

Was ich predige ist also, bis zu einem gewissen Grade, die Empörung des Lebens gegen die Wissenschaft oder vielmehr gegen die Herrschaft der Wissenschaft, nicht um die Wissenschaft zu zerstören – dies wäre ein Verbrechen an der Menschheit –, sondern um sie an ihren Platz zu verweisen, den sie nie wieder verlassen sollte. Bis jetzt war die ganze Geschichte der Menschheit nur das beständige und blutige Opfer von Millionen armer menschlicher Wesen für irgend eine unerbittliche Abstraktion: Götter, Vaterland, Staatsmacht, nationale Ehre, historische Rechte, juridische Rechte, politische Freiheit, öffentliches Wohl. Solcher Art war bis jetzt die natürliche, spontane, unvermeidliche Bewegung der menschlichen Gesellschaften. Wir können nichts daran ändern; wir müssen es, was die Vergangenheit betrifft, akzeptieren, wie wir alles natürliche Unheil akzeptieren. Man muß glauben, daß dies der einzig mögliche Weg zur Erziehung des Menschengeschlechts war. Denn man darf sich nicht täuschen: selbst wenn man den macchiavellistischen Künsten der herrschenden Klassen den größten Anteil zuschreibt, müssen wir anerkennen, daß keine Minoritäten mächtig genug gewesen wären, all diese schrecklichen Opfer den Massen aufzulegen, wenn es nicht in diesen Massen selbst eine spontane, schwindelartige Bewegung gegeben hätte, die sie dazu trieb, sich immer von neuem einer dieser verzehrenden Abstraktionen zu opfern, die, wie die Vampire der Geschichte, sich immer von menschlichem Blut nährten.

Daß die Theologen, Politiker und Juristen dies sehr schön finden, begreift sich. Als Priester dieser Abstraktionen leben sie nur von dieser beständigen Opferung der Volksmassen. Ebensowenig darf erstaunen, daß auch die Metaphysik ihre Zustimmung dazu gibt. Ihre einzige Mission ist ja, das Unbillige und Absurde zu legitimieren und so viel als möglich als vernünftig erscheinen zu lassen. Daß aber die positive Wissenschaft selbst bis jetzt die gleiche Tendenz zeigte, müssen wir konstatieren und beklagen. Sie konnte es nur aus zwei Ursachen tun: einmal, weil sie, außerhalb des Volkslebens bestehend, von einer privilegierten Körperschaft vertreten wird, und dann, weil sie sich selbst bis jetzt als absolutes und letztes Ziel aller menschlichen Entwicklung aufgestellt hat, während sie auf Grund bedachter Kritik, die sie anzuwenden fähig ist und die sie sich in letzter Instanz gegen sich selbst anzuwenden gezwungen sehen wird, hätte verstehen müssen, daß sie nur ein notwendiges Mittel zur Verwirklichung eines viel höheren Zweckes ist: das der kompletten Humanisierung der wirklichen Lage aller wirklichen Individuen, die auf der Erde geboren werden, leben und sterben.

Der ungeheure Vorzug der positiven Wissenschaft über die Theologie, Metaphysik, Politik und das juridische Recht besteht darin, daß sie statt der von diesen Doktrinen verkündeten lügenhaften und unheilvollen Abstraktionen wahre Abstraktionen ausstellt, welche die allgemeine Natur oder die Logik der Tatsachen selbst, ihre allgemeinen Beziehungen und die allgemeinen Gesetze ihrer Entwicklung ausdrücken. Dies trennt sie tief von allen vorhergehenden Doktrinen und wird ihr immer eine große Stellung in der menschlichen Gesellschaft sichern. Sie wird gewissermaßen deren kollektives Bewußtsein bilden. Durch eine Seite aber schließt sie sich all diesen Doktrinen vollständig an: dadurch, daß sie als Gegenstand nur Abstraktionen hat und haben kann und durch ihr Wesen selbst gezwungen ist, die wirklichen Individuen zu ignorieren, außerhalb welcher selbst die richtigsten Abstraktionen keine reale Existenz haben. Um diesen wesentlichen Fehler zu beheben, müßte sich das praktische Vorgehen der vorgenannten Doktrinen und das der positiven Wissenschaft in folgendem unterscheiden. Erstere benutzten die Unwissenheit der Massen, um sie mit Wollust ihren Abstraktionen zu opfern, die übrigens für ihre körperlichen Vertreter stets sehr lukrativ sind. Letztere muß in Erkenntnis ihrer absoluten Unfähigkeit, die wirklichen Individuen zu erfassen und sich für ihr Schicksal zu interessieren, definitiv und absolut auf die Regierung der Gesellschaft verzichten; denn wenn sie sich um dieselbe kümmern sollte, könnte sie nichts anderes tun, als stets die lebenden Menschen, die die Welt kennt, ihren Abstraktionen zu opfern, die den einzigen sie legitim beschäftigenden Gegenstand bilden.

Die wahre Geschichtswissenschaft zum Beispiel existiert noch nicht, und man beginnt kaum heutzutage sich von den unendlich komplizierten Bedingungen derselben eine Vorstellung zu machen. Aber nehmen wir an, diese Wissenschaft bestehe: was wird sie uns geben können? Sie wird das treue, wohldurchdachte Bild der natürlichen Entwicklung der allgemeinen, materiellen und ideellen, ökonomischen, politischen und sozialen, religiösen, philosophischen, ästhetischen und wissenschaftlichen Verhältnisse der Gesellschaften geben, welche eine Geschichte gehabt haben. Aber dies allgemeine Bild der menschlichen Zivilisation, wie detailliert es auch sein mag, wird stets nur allgemeine und folglich abstrakte Würdigungen enthalten können in dem Sinn, daß die Milliarden menschlicher Individuen, welche das lebende und leidende Material dieser Geschichte bildeten, die zugleich triumphierend und trostlos ist – triumphierend mit Hinsicht auf ihre allgemeinen Resultate, trostlos mit Hinsicht auf die ungeheure, »unter ihrem Wagen erdrückte« Hekatombe menschlicher Opfer –, daß diese Milliarden obskurer Individuen, ohne welche aber keines dieser großen abstrakten Resultate der Geschichte erreicht worden wäre und die, wohlbemerkt, nie den Vorteil von einem dieser Resultate hatten, – daß diese Individuen also nicht einmal den geringsten Platz in der Geschichte finden würden. Sie lebten und wurden für das Wohl der abstrakten Humanität geopfert, vernichtet.

Sollen wir daraus der Geschichtswissenschaft einen Vorwurf machen? Dies wäre lächerlich und ungerecht. Individuen sind unfaßbar für den Gedanken, die Reflexion, selbst für das menschliche Wort, das nur Abstraktionen auszudrücken fähig ist, unfaßbar in der Gegenwart wie in der Vergangenheit. Auch die Sozialwissenschaft selbst, die Wissenschaft der Zukunft, wird also notgedrungen fortfahren, sie zu ignorieren. Wir haben nur das Recht, von ihr zu verlangen, daß sie uns mit fester und treuer Hand die allgemeinen Ursachen der individuellen Leiden anzeigt, und unter diesen Ursachen wird sie gewiß nicht vergessen die leider nur zu häufige Opferung und Unterordnung von lebenden Individuen zugunsten abstrakter Allgemeinheiten, und sie möge uns gleichzeitig die allgemeinen Bedingungen der wirklichen Emanzipation der lebenden Individuen in der Gesellschaft zeigen. Dies ist ihre Mission, dies sind auch ihre Grenzen, außerhalb welcher die Aktion der Sozialwissenschaft nur ohnmächtig und verhängnisvoll sein könnte. Denn jenseits dieser Grenzen beginnen die doktrinären und Regierungsprätentionen ihrer patentierten Vertreter, ihrer Priester. Und es ist an der Zeit, mit allen Päpsten und Priestern ein Ende zu machen: wir wollen keine mehr, selbst wenn sie sich sozialistische Demokraten nennen würden.

Noch einmal bemerkt, die einzige Mission der Wissenschaft ist, den Weg zu beleuchten. Aber nur das von allen Regierungs- und doktrinären Fesseln befreite, der Fülle seiner spontanen Aktion wiedergegebene Leben kann schaffen.

Wie ist dieser Widerspruch zu lösen?

Die Wissenschaft ist einerseits zur rationellen Organisation der Gesellschaft unentbehrlich, andererseits darf sie, da sie unfähig ist, sich für das Wirkliche und Lebendige zu interessieren, sich nicht um die wirkliche oder praktische Organisation der Gesellschaft kümmern.

Dieser Widerspruch kann nur auf eine Art gelöst werden: Durch die Auflösung der Wissenschaft als außerhalb des sozialen Lebens Aller existierendes Wesen, das als solches von einem Korps patentierter Gelehrter vertreten wird, und durch ihre Verbreitung in den Volksmassen. Die Wissenschaft, die berufen ist, hinfort das kollektive Bewußtsein der Gesellschaft zu vertreten, muß wirklich das Eigentum aller werden. Ohne ihren universellen Charakter zu verlieren, den sie nie aufgeben kann, ohne aufzuhören, Wissenschaft zu sein, und fortfahrend sich mit den allgemeinen Verhältnissen und Beziehungen der Individuen und Dinge zu beschäftigen, wird sie faktisch mit dem unmittelbaren und wirklichen Leben aller Individuen verschmelzen. Diese Bewegung wird derjenigen analog sein, welche die Protestanten zu Anfang der religiösen Reformation sagen ließ, daß man jetzt keine Priester mehr braucht, da jeder Mensch jetzt sein eigener Priester wird, da jeder Mensch, dank allein der unsichtbaren Intervention unseres Herrn Jesu Christi, jetzt seinen Herrgott in sich hat. Aber hier handelt es sich nicht um den Herrn Jesus Christus, noch um den Herrgott, noch um politische Freiheit, juridisches Recht, alles theologisch oder metaphysisch geoffenbarte und gleich unverdauliche Dinge, wie wir wissen. Die Welt der wissenschaftlichen Abstraktionen ist nicht geoffenbart, sie inhäriert der wirklichen Welt und ist deren Ausdruck und allgemeine oder abstrakte Vertretung. Solange diese ideale Welt eine getrennte Region bildet, die speziell von der Körperschaft der Gelehrten vertreten wird, droht sie der wirklichen Welt gegenüber den Platz Gottes einzunehmen und ihren patentierten Vertretern das Priesteramt zu reservieren. Deshalb ist es notwendig, durch allgemeinen, für alle und alle Geschlechter gleichen Unterricht die separate soziale Organisation der Wissenschaft aufzulösen, damit die Massen aufhören, von den privilegierten Hirten geführte und geschorene Herden zu sein, und von jetzt ab ihr Schicksal in ihre eigene Hand nehmen Die Wissenschaft, die das Erbteil aller wird, wird sich gewissermaßen dem unmittelbaren und wirklichen Leben jedes einzelnen vermählen. Sie wird an Nützlichkeit und Grazie gewinnen, was sie an Stolz, Ehrgeiz und doktrinärem Pedantismus verlieren wird. Dies wird gewiß nicht verhindern, daß Männer von Genie, die besser als die Mehrzahl ihrer Zeitgenossen für wissenschaftliche Spekulationen organisiert sind, sich ausschließlicher als andere der Pflege der Wissenschaften hingeben und der Menschheit große Dienste leisten, ohne anderen sozialen Einfluß anzustreben, als den natürlichen Einfluß, den eine superiore Intelligenz immer auf ihr Milieu ausübt, und ohne eine andere Belohnung zu suchen, als den hohen Genuß, den jede Elitenatur in der Befriedigung einer edlen Leidenschaft findet..

Dürfen aber die Massen, bis sie diesen Bildungsgrad erreicht haben, von den Männern der Wissenschaft geleitet werden? Gott bewahre! Es wäre besser für sie, sich ohne Wissenschaft zu behelfen, als sich von den Gelehrten regieren zu lassen. Die erste Folge einer Gelehrtenregierung wäre, daß die Wissenschaft dem Volke unzugänglich würde, und eine solche Regierung würde notwendigerweise eine aristokratische sein, weil die Wissenschaft, wie sie gegenwärtig eingerichtet ist, eine aristokratische Institution ist. Aristokratie der Intelligenz – in praktischer Beziehung die unbarmherzigste, in sozialer Hinsicht die arroganteste und herausforderndste – dies wäre die im Namen der Wissenschaft errichtete Macht. Dieses Regime wäre imstande, Leben und Bewegung der Gesellschaft zu lähmen. Die Gelehrten, immer anspruchsvoll und süffisant, immer ohnmächtig, würden sich um alles kümmern wollen, und alle Quellen des Lebens würden unter ihrem abstrakten und gelehrten Hauch austrocknen.

Noch einmal bemerkt, das Leben, nicht die Wissenschaft, schafft das Leben; nur die spontane Aktion des Volkes selbst kann die Volksfreiheit schaffen. Es wäre gewiß ein großes Glück, wenn die Wissenschaft schon heute den spontanen Zug des Volks seiner Emanzipation entgegen erleuchten könnte. Aber gar kein Licht ist noch besser als ein falsches Licht, das spärlich von außen leuchtet zu dem augenscheinlichen Zweck, das Volk irrezuführen. Übrigens wird das Licht dem Volk nicht ganz fehlen. Ein Volk machte nicht vergeblich eine lange historische Laufbahn durch und zahlte für seine Irrtümer mit Jahrhunderten schrecklicher Leiden. Die praktische Zusammenfassung dieser schmerzlichen Erfahrungen bildet eine Art traditioneller Wissenschaft, die in gewisser Hinsicht so viel wert ist als die theoretische Wissenschaft. Ein Teil endlich der studierenden Jugend, diejenigen Bourgeoisstudenten, die hinreichend Haß gegen die Lüge, die Heuchelei, die Nichtswürdigkeit und Feigheit der Bourgeoisie empfinden, um in sich den Mut zu finden, ihr den Rücken zu drehen, und hinreichende Leidenschaft, um ohne Vorbehalt die gerechte und menschliche Sache des Proletariats zu umfassen, diese werden, wie ich schon sagte, die brüderlichen Unterweiser des Volks sein; wenn sie ihm die noch fehlenden Kenntnisse bringen, werden sie die Regierung der Gelehrten ganz unnötig machen.

Wenn das Volk sich vor der Regierung der Gelehrten hüten muß, muß es um so mehr vor der der inspirierten Idealisten auf seiner Hut sein. Je aufrichtiger diese Gläubigen und Dichter des Himmels sind, desto gefährlicher werden sie. Die wissenschaftliche Abstraktion, sagte ich, ist eine rationelle, in ihrem Wesen wahre Abstraktion, die dem Leben notwendig ist, dessen theoretische Vertretung, dessen Bewußtsein sie ist. Sie kann und muß vom Leben absorbiert und verdaut werden. Die idealistische Abstraktion, Gott, ist ein ätzendes Gift, welches das Leben zerstört und zersetzt, fälscht und tötet. Der Hochmut der Idealisten, der kein persönlicher, sondern ein göttlicher ist, ist unbesiegbar und unversöhnlich. Er kann und muß sterben, wird aber nie weichen und noch mit dem letzten Atemzug versuchen, die Welt unter dem Absatz seines Gottes zu knechten, geradeso wie die preußischen Leutnants, diese praktischen Idealisten Deutschlands, sie unter dem gespornten Stiefel ihres Königs zertreten zu sehen wünschen. Der Glaube ist derselbe – seine Gegenstände sind nicht einmal sehr verschieden – und der Glaube bringt dasselbe Resultat, Knechtschaft.

Dies ist gleichzeitig der Triumph des krassesten und brutalsten Materialismus: für Deutschland bedarf dies keines Beweises, denn man müßte wirklich blind sein, um es im gegenwärtigen Augenblick nicht zu sehen. Aber ich halte es auch für nötig, dies in bezug auf den göttlichen Idealismus zu beweisen.

*

Der Mensch ist, wie die ganze übrige Welt, ein vollständig materielles Wesen. Der Geist, die Fähigkeit zu denken, die verschiedenen äußeren und inneren Eindrücke zu empfangen und zurückzuwerfen, sich der vergangenen zu erinnern und sie durch die Einbildung wieder hervorzubringen, sie zu vergleichen und zu unterscheiden, gemeinsame Eigenschaften zu abstrahieren, und so allgemeine oder abstrakte Begriffe zu schaffen, schließlich Ideen zu bilden durch verschiedene Gruppierung und Kombinierung der Begriffe, – die Intelligenz mit einem Wort, der einzige Schöpfer all unserer idealen Welt, gehört dem tierischen Körper an und speziell der ganz materiellen Organisation des Gehirns.

Wir wissen dies ganz bestimmt durch die allgemeine Erfahrung, die durch nichts je widerlegt und die jeder Mensch in jedem Moment seines Lebens verifizieren kann. In allen Tieren, die niedrigsten Arten nicht ausgenommen, finden wir einen gewissen Grad von Intelligenz, und wir sehen, daß in der Reihe der Spezies die tierische Intelligenz sich um so mehr entwickelt, je mehr sich der Organismus einer Art dem des Menschen nähert, daß sie aber im Menschen allein zu jener Macht der Abstraktion gelangt, welche eigentlich den Gedanken ausmacht.

Die allgemeine Erfahrung Man muß die allgemeine Erfahrung, auf die sich die ganze Wissenschaft gründet, wohl unterscheiden von dem allgemeinen Glauben, auf den die Idealisten ihren Glauben stützen wollen; erstere ist die wirkliche Konstatierung realer Tatsachen, letztere nur eine Vermutung von Tatsachen, die niemand gesehen hat und die folglich mit der Erfahrung aller in Widerspruch stehen., welche in Summe der einzige Ursprung, die Quelle all unserer Kenntnisse ist, zeigt uns also erstens, daß jede Intelligenz immer irgendeinem tierischen Körper anhaftet, zweitens, daß die Intensität, die Kraft dieser animalischen Funktion, von der relativen Vollendung des tierischen Organismus abhängt. Dieses zweite Resultat der allgemeinen Erfahrung ist nicht nur auf die verschiedenen Tierarten anwendbar; wir konstatieren das gleiche bei den Menschen, deren intellektuelle und moralische Kraft nur zu deutlich von der größeren oder kleineren Vollendung ihres Organismus als Rasse, als Nation, als Klasse und als Individuum abhängt, so daß es nicht nötig ist, diesen Punkt besonders hervorzuheben Die Idealisten, alle, die an die Immaterialität und Unsterblichkeit der menschlichen Seele glauben, müssen in sehr großer Verlegenheit sein gegenüber den Unterschieden zwischen den Intelligenzen der Rassen, Völker und Individuen. Wenn sie nicht annehmen wollen, daß die göttlichen Teilchen ungleichmäßig verteilt sind, wie wollen sie diese Verschiedenheit erklären? Es gibt leider eine viel zu große Zahl ganz dummer Menschen, die bis zum Idiotentum dumm sind. Haben diese etwa ein gleichzeitig göttliches und dummes Teilchen bei der Verteilung erhalten? Um aus dieser Verlegenheit zu gelangen, müssen die Idealisten annehmen, daß alle menschlichen Seelen gleich sind, daß aber die Gefängnisse, in denen sie eingesperrt sind – die menschlichen Körper –, ungleich sind, teils mehr, teils weniger geeignet, der reinen Intellektualität der Seele als Organ zu dienen. Eine Seele hätte z. B. sehr feine Organe zur Verfügung, eine andere sehr grobe. Aber das sind Unterscheidungen, die der Idealismus zu machen nicht berechtigt ist, deren er sich nicht bedienen darf, ohne selbst der Inkonsequenz und dem gröbsten Materialismus zu verfallen. Denn vor der absoluten Immaterialität der Seele verschwinden alle körperlichen Unterschiede, da alles Körperliche, Materielle indifferent, gleich und absolut grob erscheinen muß. Der die Seele vom Körper, die absolute Immaterialität von der absoluten Materialität trennende Abgrund ist unendlich; folglich müssen alle übrigens unerklärlichen und logisch unmöglichen Unterschiede, die jenseits des Abgrunds, in der Materie, existieren mögen, für die Seele als nicht existierend betrachtet werden und können und dürfen auf sie keinen Einfluß ausüben. Mit einem Wort, das absolut Immaterielle kann nicht von dem absolut Materiellen enthalten, umschlossen und noch weniger in irgendeinem Grade ausgedrückt werden. Von allen von der Unwissenheit und primitiven Dummheit der Menschen erzeugten groben und materialistischen Einbildungen – materialistisch in dem Sinn, den die Idealisten diesem Wort geben, das heißt brutal – ist die Einbildung einer in einen materiellen Körper gesperrten, nicht materiellen Seele gewiß die gröbste und krasseste, und nichts zeigt besser die Allmacht alter Vorurteile selbst über die besten Geister, als die wirklich beklagenswerte Tatsache, daß Männer von hoher Intelligenz noch heute davon reden können..

Andererseits ist es sicher, daß kein Mensch den reinen, von jeder materiellen Form losgelösten, getrennt von einem tierischen Körper existierenden Geist je sah oder sehen konnte. Wenn ihn aber niemand je sah, wie konnten die Menschen zu dem Glauben an seine Existenz gelangen? Denn dieser Glaube steht notorisch fest, und er ist, wenn auch nicht universell, wie die Idealisten behaupten, doch wenigstens sehr allgemein und als solcher ganz unserer respektvollen Beachtung wert; denn ein allgemeiner Glaube, wie dumm er auch sein mag, übt immer einen allzu mächtigen Einfluß auf die Geschicke der Menschheit aus, als daß es erlaubt wäre, ihn zu ignorieren oder von ihm abzusehen.

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Die Tatsache dieses Glaubens erklärt sich übrigens auf natürliche und rationelle Weise. Das Beispiel von Kindern und Jünglingen, selbst von vielen längst Erwachsenen, zeigt uns, daß der Mensch seine geistigen Fähigkeiten schon lange gebrauchen kann, bevor er sich darüber Rechenschaft ablegt, wie er sie ausübt, bevor er zum klaren und genauen Bewußtsein dieser Ausübung kommt. In dieser Zeit, in welcher der Geist seiner selbst unbewußt funktioniert, in der die Intelligenz naiv oder gläubig tätig ist, schafft der von der äußeren Welt bedrückte Mensch, von dem innern Stachel, dem Leben und den vielartigen Bedürfnissen des Lebens getrieben, eine Menge Einbildungen, Begriffe und Ideen, die notwendigerweise zuerst sehr unvollkommen sind und der Realität der Dinge und Tatsachen, die sie sich auszudrücken bemühen, sehr wenig entsprechen. Und da er sich seiner eigenen Intelligenztätigkeit nicht bewußt ist, da er noch nicht weiß, daß er selbst diese Einbildungen, Begriffe und Ideen produziert und zu produzieren fortfährt, da er selbst ihren ganz subjektiven, das heißt menschlichen Ursprung nicht kennt, betrachtet er sie natürlich mit Notwendigkeit als objektive Wesen, als wirkliche Wesen, die von ihm selbst ganz unabhängig durch sich selbst und in sich selbst existieren.

Auf diese Weise schufen die primitiven Völker, die langsam ihre tierische Unschuld verließen, ihre Götter. Nachdem sie sie geschaffen, fiel ihnen nicht ein, daß sie selbst ihre einzigen Schöpfer waren, und sie beteten sie an, betrachteten sie als wirkliche, über sie selbst unendlich überlegene Wesen, legten ihnen die Allmacht bei und erklärten sich als ihre Kreaturen, ihre Sklaven. Mit der Weiterentwicklung der menschlichen Ideen idealisierten sich auch die Götter, die, wie ich bemerkte, stets nur der phantastische, ideale, poetische Widerschein oder das verkehrte Bild dieser Ideen waren. Aus groben Fetischen wurden sie allmählich zu reinen Geistern, die außerhalb der sichtbaren Welt existieren, und zum Schluß, als Folge einer langen historischen Entwicklung, verschmolzen sie in ein einziges göttliches Wesen, den reinen, ewigen, absoluten Geist, den Schöpfer und Herrn der Welten.

In jeder richtigen oder falschen, wirklichen oder imaginären Entwicklung kostet immer der erste Schritt das meiste, ist die erste Handlung die schwierigste. Nach deren Überwindung folgt das übrige in natürlicher Weise als notwendige Folge. Das Schwierige in der historischen Entwicklung dieses schrecklichen religiösen Wahnsinns, der uns noch immer besessen hält und erdrückt, war also die Ausstellung einer göttlichen Welt als solcher, außerhalb der wirklichen Welt. Dieser erste Akt der Verrücktheit, so natürlich er vom physiologischen Gesichtspunkt und so notwendig er demzufolge in der Geschichte der Menschheit sein mag, vollzog sich nicht aus einen Schlag. Es brauchte, ich weiß nicht Wie viel, Jahrhunderte, um diesen Glauben zu entwickeln und in die geistigen Gewohnheiten der Menschen eindringen zu lassen. Nachdem er sich aber einmal festgesetzt, wurde er allmächtig, wie dies notwendigerweise jede Verrücktheit wird, die sich des menschlichen Gehirns bemächtigt. Man nehme einen Narren; welches immer der spezielle Gegenstand seiner Narrheit sein mag, man wird finden, daß die dunkle und fixe Idee, die von ihm Besitz ergriffen, ihm die natürlichste Sache von der Welt scheint, während dagegen die dieser Idee widersprechenden natürlichen und wirklichen Tatsachen ihm lächerlicher und odioser Wahnsinn zu sein scheinen. Nun, die Religion ist ein kollektiver Wahnsinn, der um so mächtiger ist, weil es ein traditioneller Wahnsinn ist, dessen Ursprung sich in das entfernteste Altertum verliert. Als kollektiver Wahnsinn drang sie in alle öffentlichen und privaten Einzelheiten der sozialen Existenz eines Volkes ein, inkarnierte sich in der Gesellschaft, wurde sozusagen deren Seele und kollektiver Gedanke. Jeder Mensch ist von seiner Geburt an damit umwickelt, saugt sie mit der Muttermilch ein, absorbiert sie mit allem, was er hört und sieht. Er wurde damit so sehr genährt, vergiftet, in seinem ganzen Wesen durchdrungen, daß er später, wie mächtig auch sein natürlicher Verstand sein mag, unerhörte Anstrengungen machen muß, sich von ihr zu befreien, und dies gelingt ihm nie vollständig. Unsere modernen Idealisten sind ein Beweis hierfür; ein weiterer Beweis sind unsere doktrinären Materialisten, die deutschen Kommunisten: sie konnten sich der Religion des Staates nicht entledigen.

Sobald einmal die übernatürliche, die göttliche Welt sich in der traditionellen Einbildung der Völker festgesetzt hatte, ging die Entwicklung der verschiedenen religiösen Systeme ihren natürlichen und logischen Lauf, immer übrigens der gleichzeitigen tatsächlichen Entwicklung der ökonomischen und politischen Beziehungen entsprechend, deren treue Wiedergabe und göttliche Weihe in der Welt der religiösen Phantasie sie stets war. So entwickelte sich der kollektive historische Wahnsinn, den man Religion nennt, vom Fetischismus, durch alle Grade des Polytheismus, bis zum christlichen Monotheismus.

Der zweite Schritt in der Entwicklung des religiösen Glaubens, der schwerste gewiß nach der Errichtung einer getrennten göttlichen Welt, war gerade dieser Übergang vom Polytheismus zum Monotheismus, vom religiösen Materialismus der Heiden zum spiritualistischen Glauben der Christen. Die heidnischen Götter, dies war ihr wesentlicher Charakterzug, waren vor allem ausschließlich nationale Götter. Da sie ferner zahlreich waren, bewahrten sie notwendigerweise mehr oder weniger einen materiellen Charakter, oder vielmehr, weil sie materiell waren, waren sie so zahlreich, da Verschiedenheit eine der Haupteigenschaften der realen Welt ist. Die heidnischen Götter waren noch nicht im eigentlichen Sinn die Negierung der wirklichen Dinge, sie waren nur ihre phantastische Übertreibung.

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Wir sahen, wie viel dieser Übergang [zum Monotheismus] dem jüdischen Volke kostete, dessen ganze Geschichte er sozusagen bildete Dieser Abschnitt, S. 79-83 von Dieu et l'Etat (1882), ist einem dem Manuskript beiliegenden Bruchstück eines andern Manuskripts entnommen und wurde deshalb von J. Guillaume, Oeuvres, t. III, S. 111 (Anm. 1) eliminiert. Da diese Seiten aber sachlich sich gut in den Text einfügen und durch alle andern Ausgaben von Dieu et l'Etat weite Verbreitung gefunden haben, füge ich sie hier ein in mit dem Manuskript verglichenem Text. (Der Übers.). Vergeblich predigten Moses und die Propheten den einzigen Gott, das Volk fiel immer in seine ursprüngliche Idolatrie zurück, in den alten, viel natürlicheren und bequemeren Glauben an viele materiellere, menschlichere, faßbarere Götter. Jehova selbst, ihr einziger Gott, der Gott von Moses und den Propheten, war noch ein äußerst nationaler Gott, der sich zur Belohnung und Bestrafung seiner Gläubigen, seines auserwählten Volks, materieller Argumente bediente, die oft dumm und immer grob und roh waren. Der Glaube an ihn scheint nicht einmal die Negierung der Existenz der ursprünglichen Götter bedeutet zu haben. Der jüdische Gott leugnete nicht die Existenz dieser Rivalen; er wollte nur nicht, daß sein Volk sie neben ihm anbete, weil er vor allem ein sehr eifersüchtiger Gott war. Sein erstes Gebot war: »Ich bin der Herr, dein Gott, und du sollst keine andern Götter haben neben mir.«

Jehova war also nur ein erster, sehr materieller und grober Entwurf der obersten Gottheit des modernen Idealismus. Dazu war er nur ein nationaler Gott, wie der russische Gott, den die deutschen Generale, Untertanen des Zaren und Patrioten des Kaiserreichs aller Reußen verehrten, wie der deutsche Gott, den die Pietisten und deutschen Generale, Untertanen Wilhelms I. in Berlin, ohne Zweifel bald proklamieren werden. Das höchste Wesen kann kein nationaler Gott sein, es muß ein Gott der gesamten Menschheit sein. Es kann auch kein materielles Wesen sein; es muß die Negierung aller Materie – reiner Geist sein. Zwei Dinge waren also notwendig zur Verwirklichung des Kults des höchsten Wesens: 1. eine gewisse Realisierung der Menschheit durch Negierung der Nationalitäten und nationalen Kulte: 2. eine schon vorgeschrittene Entwicklung der metaphysischen Ideen Zur Spiritualisierung des groben Jehova der Juden.

Die erste Bedingung wurde von den Römern erfüllt, obgleich gewiß in sehr negativer Weise, durch die Eroberung der meisten den Alten bekannten Länder und die Zerstörung ihrer nationalen Institutionen. Die Götter aller eroberten Nationen, im Pantheon gesammelt, hoben einander gegenseitig auf. Dies war der erste, sehr grobe und ganz negative Entwurf der Menschheit.

Die zweite Bedingung, die Spiritualisierung Jehovas, wurde von den Griechen lange vor der Eroberung ihres Landes durch die Römer verwirklicht. Sie waren die Schöpfer der Metaphysik. In der Wiege seiner Geschichte hatte Griechenland schon vom Orient her eine göttliche Welt gefunden, die sich in dem traditionellen Glauben seiner Völker definitiv festgesetzt hatte; diese Welt hatte ihm der Orient hinterlassen und übergeben. In seiner instinktiven Periode, vor seiner Politischen Geschichte, hatte es diese göttliche Welt durch seine Dichter entwickelt und wunderbar humanisiert, und beim wirklichen Beginn seiner Geschichte hatte es schon eine fertige Religion, die sympathischeste und edelste aller vorhandenen Religionen, soweit wenigstens eine Religion – das ist eine Lüge – edel und sympathisch sein kann. Seine großen Denker – und keine Nation hatte größere, als Griechenland – fanden die göttliche Welt feststehend, nicht nur außerhalb von sich im Volk, sondern auch in sich selbst als Gewohnheit von Gefühl und Gedanken, und sie nahmen sie natürlich zum Ausgangspunkt. Es war schon viel von ihnen, daß sie keine Theologie betrieben, das heißt, daß sie nicht ihre Zeit damit verloren, die erwachende Vernunft mit den Absurditäten dieses oder jenes Gottes in Einklang zu bringen, wie dies die Scholastiker des Mittelalters taten. Sie ließen die Götter außerhalb ihrer Spekulationen und hielten sich direkt an die göttliche Idee, die eine unsichtbare, allmächtige, ewige und absolute spiritualistische, aber unpersönliche Einheit war. Was den Spiritualismus betrifft, waren also die griechischen Metaphysiker viel mehr als die Juden die Schöpfer des christlichen Gottes. Die Juden fügten nur die brutale Persönlichkeit ihres Jehova hinzu.

Daß ein erhabenes Genie, wie der göttliche Plato, von der Wirklichkeit der Gottesidee absolut überzeugt sein konnte, beweist, wie die Tradition des Religionswahnsinns selbst für die größten Geister ansteckend und allmächtig ist. Übrigens dürfen wir uns nicht wundern, da selbst in unseren Tagen das größte philosophische Genie seit Aristoteles und Plato, Hegel – trotz Kants, wenn auch unvollständiger und zu metaphysischer Kritik, welche die Objektivität oder Wirklichkeit der Gottesideen zerstörte –, diese Gottesideen wieder auf ihren übersinnlichen oder himmlischen Thron zu setzen versuchte. Freilich ging Hegel bei seinem Restaurierungswerk so unhöflich vor, daß er den Herrgott definitiv tötete. Er nahm diesen Ideen ihren göttlichen Charakter, indem er jedem, der ihn lesen will, zeigte, daß sie nie etwas anderes als eine Schöpfung des Menschengeistes waren, der die Geschichte auf der Suche nach sich selbst durchläuft. Um allen religiösen Verrücktheiten und der göttlichen Luftspiegelung ein Ende zu machen, fehlte ihm nur, daß er das große Wort ausgesprochen hätte, das nach ihm, beinahe gleichzeitig, zwei große Geister, ohne je voneinander gehört zu haben, aussprachen – Ludwig Feuerbach, der Schüler und Zerstörer Hegels in Deutschland, und Auguste Comte, der Gründer der positiven Philosophie in Frankreich. Dieses Wort lautet:

»Die Metaphysik reduziert sich auf die Psychologie.« Alle metaphysischen Systeme waren nie etwas anderes, als menschliche Psychologie, die sich in der Geschichte entwickelt.

Heute ist es uns nicht mehr schwer, zu verstehen, wie die Gottesideen entstanden, wie sie der Reihe nach von der Abstraktionskraft des Menschen geschaffen wurden. (S. den Appendix.) Aber in Platos Zeit war solche Kenntnis unmöglich. Der kollektive Geist und folglich auch der individuelle Geist selbst des größten Genies waren nicht reif dazu. Kaum hatte dieser Geist mit Sokrates gesagt: Lerne dich selbst kennen. Diese Selbstkenntnis existierte nur im Zustand der Intuition: sie war tatsächlich null. Es war also unmöglich, daß dem Menschengeist einfiel, daß er selbst der einzige Schöpfer der göttlichen Welt sei. Er fand die göttliche Welt vor sich, fand sie als Geschichte, als Gefühl, als Denkgewohnheit und machte sie notwendigerweise zum Gegenstand seiner höchsten Spekulationen. So entstand die Metaphysik und so werden die Gottesideen, die Grundlagen des Spiritualismus, entwickelt und vervollkommnet.

Es ist wahr, daß nach Plato die Entwicklung des Geistes sich gewissermaßen in der umgekehrten Richtung bewegte. Aristoteles, der wahre Vater der Wissenschaft und der Positiven Philosophie, leugnete die göttliche Welt nicht, aber beschäftigte sich so wenig als möglich damit. Er untersuchte zuerst, Analytiker und Experimentator, der er war, die Logik, die Gesetze des menschlichen Denkend und gleichzeitig die physische Welt, nicht in ihrer idealen, illusorischen Essenz, sondern in ihrer wirklichen Erscheinung. Nach ihm gründeten die Griechen von Alexandria die erste Schule der positiven Wissenschaften. Sie waren Atheisten. Aber ihr Atheismus blieb ohne Einfluß auf ihre Zeitgenossen. Die Wissenschaft trachtete mehr und mehr danach, sich vom Leben zu isolieren. Nach Plato wurden die Gottesideen von der Metaphysik selbst verworfen; dies taten die Epikuräer und die Skeptiker, zwei Sekten, die viel zur Depravierung der menschlichen Aristokratie beitrugen, aber ohne Wirkung auf die Massen blieben.

Eine andere, unendlich einflußreichere Schule entstand in Alexandrien. Dies war die Schule der Neuplatoniker. Diese, die in einer unreinen Mischung die monströsen Einbildungen des Orients und die Ideen Platos zusammenmengten, waren die wahren Vorbereiter und später die Ausarbeiter der christlichen Dogmen.

Der persönliche und grobe Egoismus Jehovas, die nicht weniger brutale und grobe Herrschaft der Römer und die ideale metaphysische Spekulation der Griechen, durch Kontakt mit dem Orient materialisiert, dies waren also die drei historischen Elemente, welche die spiritualistische Religion der Christen konstituierten.

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Um auf den Ruinen so zahlreicher Altäre den Altar eines einzigen und obersten Gottes, Herrn der Welt, zu errichten, mußte also zuerst die autonome Existenz der verschiedenen Nationen der heidnischen oder antiken Welt zerstört werden. Dies taten die Römer auf sehr brutale Weise und schufen durch Eroberung des größten Teils der den Alten bekannten Welt gewissermaßen den ersten, gewiß noch ganz negativen und groben Entwurf der Menschheit.

Ein Gott, der sich so über alle materiellen und sozialen nationalen Unterschiede aller Länder erhob, der in gewissem Sinn deren direkte Negation war, mußte ein immaterielles und abstraktes Wesen sein. Aber der so schwierige Glaube an die Existenz eines solchen Wesens konnte nicht aus einen Schlag entstehen. Er wurde, wie ich im Appendix zeigte, von der griechischen Metaphysik lange vorbereitet und entwickelt, welche zuerst philosophisch den Begriff der Gottesidee ausstellte, einen ewig schaffenden und stets von der sichtbaren Welt reproduzierten Typus. Aber die von der griechischen Philosophie konzipierte und geschaffene Gottheit war eine unpersönliche Gottheit, da keine konsequente und ernste Metaphysik sich zur Idee eines persönlichen Gottes erheben oder vielmehr erniedrigen kann. Man mußte also einen Gott finden, der gleichzeitig einzig und sehr persönlich war. Er fand sich in der sehr brutalen, sehr egoistischen, sehr grausamen Person Jehovas, des nationalen Gottes der Juden. Aber die Juden waren, trotz dem exklusiven nationalen Geist, der ihnen noch heute eigen ist, lange vor Christi Geburt das internationalste Volk der Erde geworden. Teils als Gefangene weggeschleppt, viel mehr noch durch ihre Handelsleidenschaft getrieben, einen der Hauptzüge ihres Nationalcharakters, waren sie über alle Länder verbreitet und trugen überall den Kult ihres Jehovas hin, dem sie um so treuer wurden, je mehr er sie verließ.

In Alexandrien machte dieser schreckliche Gott der Juden die persönliche Bekanntschaft der metaphysischen Gottheit Platos, die der Kontakt mit dem Orient schon sehr verdorben hatte und die später noch mehr durch den Kontakt mit Jehova verdorben wurde. Trotz seines nationalen, eifersüchtigen und wilden Exklusivismus konnte er der Grazie dieser idealen und unpersönlichen Gottheit der Griechen nicht lange widerstehen. Er vermählte sich mit ihr und aus dieser Ehe wurde der geistige – aber nicht geistreiche – Gott der Christen geboren. Es ist bekannt, daß die alexandrinischen Neuplatoniker die Hauptschöpfer der christlichen Theologie waren.

Aber die Theologie bildet noch nicht die Religion, wie historische Elemente noch nicht genügen, die Geschichte zu schaffen. Ich nenne historische Elemente die allgemeinen Anlagen und Verhältnisse irgendeiner wirklichen Entwicklung, im vorliegenden Fall zum Beispiel die römische Eroberung und das Zusammentreffen des Gottes der Juden mit der idealen Gottheit der Griechen. Zur Befruchtung dieser historischen Elemente, zur Hervorbringung einer Reihe neuer historischer Wandlungen aus ihnen ist eine lebende, spontane Tatsache nötig, ohne welche sie noch jahrhundertelang nichts produzierende Elemente hätten bleiben können. Diese Tatsache fehlte dem Christentum nicht: sie war die Propaganda, das Martyrium und der Tod von Jesus Christus.

Wir wissen beinahe nichts von dieser großen und heiligen Persönlichkeit: alles, was die Evangelien von ihr berichten, ist so widerspruchsvoll und so fabelhaft, daß wir kaum einige wirkliche, lebendige Züge daraus entnehmen können. Gewiß ist, daß er der Prediger der armen Leute war, Freund und Tröster der Elenden, der Unwissenden, der Sklaven und der Frauen, und daß er von letzteren sehr geliebt wurde. Er versprach allen Unterdrückten, allen hienieden Leidenden – und ihre Zahl ist ungeheuer groß – das ewige Leben. Er wurde, wie sich von selbst versteht, von den Vertretern der offiziellen Moral und der öffentlichen Ordnung seiner Zeit gehängt. Seine Schüler und deren Schüler konnten sich, dank der römischen Eroberung, welche die nationalen Grenzen zerstört hatte, verbreiten und trugen tatsächlich die Propaganda des Evangeliums in alle den Alten bekannten Länder, Überall wurden sie von den Sklaven und den Frauen mit offenen Armen empfangen, den beiden am meisten unterdrückten, am meisten leidenden und natürlich auch unwissendsten Klassen der antiken Welt. Die wenigen Proselyten, die sie in der privilegierten und gebildeten Welt machten, verdankten sie auch nur, zum größten Teil, dem Einfluß der Frauen. Ihre weiteste Propaganda fand fast ausschließlich im Volk statt, das durch die Sklaverei ebenso unglücklich wie verdummt war. Dies war das erste Erwachen, die erste prinzipielle Revolte des Proletariats.

Die große Ehre des Christentums, sein unbestreitbares Verdienst und das ganze Geheimnis seines unerhörten und übrigens ganz berechtigten Triumphs war, daß es sich an dieses ungeheure leidende Publikum wendete, denn die antike Welt, die eine enge und grausame intellektuelle und politische Aristokratie bildete, auch die letzten Attribute und einfachsten Rechte der Menschheit verweigerte. Sonst hätte es sich nie verbreiten können. Die von den Aposteln Christi gelehrte Doktrin, so trostreich sie den Unglücklichen erscheinen mochte, war zu empörend, zu absurd vom Gesichtspunkt der menschlichen Vernunft aus, als daß aufgeklärte Männer sie hätten akzeptieren können. Wie triumphierend spricht nicht auch der heilige Paulus, der Apostel, von dem Skandal des Glaubens und dem Triumph dieser göttlichen Narrheit, welche die Mächtigen und Weisen der Zeit zurückwiesen, welche aber um so leidenschaftlicher von den Einfachen, den Unwissenden und den Armen im Geiste akzeptiert wurde!

Es muß wirklich sehr tiefe Unzufriedenheit mit dem Leben, sehr großer Durst des Herzens und beinahe vollständige Geistesarmut vorhanden sein, um die christliche Absurdität zu akzeptieren, die kühnste und monströseste aller religiösen Absurditäten.

Sie war nicht nur die Negierung aller politischen, sozialen und religiösen Einrichtungen des Altertums, sondern der absolute Umsturz des gesunden Menschenverstandes, aller menschlichen Vernunft. Das wirklich existierende Wesen, die reale Welt wurden von jetzt ab als das Nichts betrachtet; das Produkt der menschlichen Abstraktionsfähigkeit, die letzte und höchste Abstraktion, in welcher diese Fähigkeit nach Überschreitung aller existierenden Dinge, der allgemeinsten Bestimmungen des lebenden Wesens, wie der Ideen von Zeit und Raum sogar, nach denen nichts zu überschreiten übrigbleibt, in der Betrachtung ihrer Leere und absoluten Unbeweglichkeit ruht (s. den Appendix), – diese Abstraktion also, dieses caput mortuum , jeden Inhalts leer, das wahre Nichts, Gott, wird zum einzigen wirklichen, ewigen, allmächtigen Wesen proklamiert. Das wirkliche All wird als Null erklärt und das absolute Null als All. Der Schatten wird Körper und der Körper verschwindet wie ein Schatten Ich weiß ganz gut, daß man in den orientalischen theologischen und metaphysischen Systemen und besonders in denen Indiens, den Buddhismus einbegriffen, schon das Prinzip der Vernichtung der wirklichen Welt zum Nutzen des Ideals oder der absoluten Abstraktion findet. Aber es trägt hier noch nicht den Charakter freiwilliger und absichtlicher Negierung, der dem Christentum eigen ist, weil zur Zeit der Entstehung jener Systeme, die eigentlich menschliche Welt, die Welt des menschlichen Geistes und Willens, menschlicher Wissenschaft und Freiheit, sich noch nicht so entwickelt hatten, wie dies später in der griechisch-römischen Zivilisation zum Ausdruck gelangte..

Das war eine unerhörte Kühnheit und Absurdität, der wahre Skandal des Glaubens, der Triumph der gläubigen Dummheit über den Geist, für die Massen, und für einige wenige die triumphierende Ironie eines ermüdeten, korrumpierten, enttäuschten Geistes, den das ehrliche und ernste Suchen der Wahrheit anekelte, das Bedürfnis, sich zu betäuben und zu verdummen, wie es sich oft bei blasierten Geistern findet: credo quia absurdum . »Ich glaube nicht nur an das Absurde; ich glaube daran gerade und hauptsächlich, weil es das Absurde ist.« So glauben viele distinguierte und aufgeklärte Geister in unseren Tagen an den tierischen Magnetismus, den Spiritismus, das Tischrücken, – aber warum so weit gehen? – sie glauben noch an das Christentum, den Idealismus, an Gott.

Der Glaube des antiken Proletariats, wie der der modernen Massen nach ihm, war stärker, weniger haut goût und einfacher. Die christliche Propaganda hatte sich an sein Herz gewendet, nicht an seinen Geist, an seine ewigen Aspirationen, seine Bedürfnisse, seine Leiden, seine Sklaverei, nicht an seine noch schlummernde Vernunft, für welche die logischen Widersprüche, die augenscheinliche Absurdität folglich nicht existieren konnten. Die einzige Frage, welche das antike Proletariat interessierte, war, wann die Stunde der versprochenen Befreiung schlagen, wann das Reich Gottes kommen würde. Um die theologischen Dogmen kümmerte es sich nicht, weil es nichts davon verstand. Das zum Christentum bekehrte Proletariat bildete dessen aufsteigende materielle Macht, nicht seinen theoretischen Gedanken.

Die christlichen Dogmen wurden bekanntlich in einer Serie literarischer theologischer Arbeiten und auf den Konzilien hauptsächlich von den bekehrten Neuplatonikern des Orients ausgearbeitet. Der griechische Geist war so tief gesunken, daß wir schon im vierten christlichen Jahrhundert, der Zeit des ersten Konzils, die Idee eines persönlichen Gottes, des reinen, ewigen, absoluten Geistes, Schöpfers und obersten Herrn der Welt, der außerhalb der Welt existiert, von allen Kirchenvätern einstimmig akzeptiert finden, und als logische Konsequenz dieser absoluten Absurdität den jetzt natürlichen und notwendigen Glauben an die Immaterialität und Unsterblichkeit der menschlichen Seele, die in einem sterblichen, aber nur zum Teil sterblichen Körper wohnt und eingesperrt ist; – nur zum Teil sterblich, weil ein Teil dieses Körpers, obgleich körperlich, unsterblich wie die Seele ist und wie die Seele wieder aufstehen wird. So schwer wurde es selbst Kirchenvätern, sich den reinen Geist außerhalb jeder Körperform vorzustellen!

Im allgemeinen liegt es in der Art aller theologischen und auch metaphysischen Gedankengänge, zu versuchen, eine Absurdität durch eine andere zu erklären.

Es war ein großes Glück für das Christentum, die Welt der Sklaven gefunden zu haben. Ein anderes Glück begegnete ihm: die Invasion der Barbaren. Die Barbaren waren brave Leute, voll natürlicher Kraft, und vor allem belebt und getrieben von großem Lebensbedürfnis und großer Lebensfähigkeit; erprobte Räuber, fähig, alles zu verwüsten und zu verschlingen, wie ihre Nachfolger, die heutigen Deutschen; viel weniger systematisch und pedantisch in ihrem Räubertum als letztere, weniger moralisch, weniger gelehrt, aber dagegen viel unabhängiger und stolzer, fähig zur Wissenschaft und nicht unfähig zur Freiheit, wie die Bourgeois des modernen Deutschland. Aber mit all diesen großen Eigenschaften waren sie nichts als Barbaren, das heißt ebenso gleichgültig allen Fragen der Theologie und Metaphysik gegenüber, wie die antiken Sklaven, von denen viele übrigens ihrer Rasse angehörten. Sobald also einmal ihr praktischer Widerwille gebrochen war, war es nicht schwer, sie theoretisch zum Christentum zu bekehren.

Durch zehn Jahrhunderte konnte das mit der Allmacht der Kirche und des Staates bewaffnete Christentum ohne Konkurrenz von irgendwelcher Seite den Geist Europas deprimieren, bastardieren und fälschen. Es hatte keine Konkurrenten, weil es außerhalb der Kirche keine Denker, nicht einmal Gebildete gab. Es dachte, sprach, schrieb und lehrte allein. Ketzereien, die in seinem Schoß entstanden, griffen stets nur die theologischen oder praktischen Entwicklungen des Grunddogmas an, nicht dieses Dogma selbst. Der Glaube an Gott, den reinen Geist und Erschaffer der Welt, und der Glaube an die Immaterialität der Seele blieben intakt. Dieser Doppelglaube wurde die ideale Basis der ganzen westlichen und östlichen Zivilisation Europas und drang in alle Institutionen ein, inkarnierte sich in allen Einzelheiten des öffentlichen und privaten Lebens aller Klassen und der Massen.

Kann man sich hiernach Wundern, daß dieser Glaube sich bis zum heutigen Tag erhalten hat und fortfährt, seinen verhängnisvollen Einfluß selbst auf Elitegeister, wie Mazzini, Quinet, Michelet und so viele andere auszuüben? Wir sahen, daß ihm der erste Kampf geliefert wurde von der Renaissance des freien Geistes im 15. Jahrhundert, der Renaissance, welche Heroen und Märtyrer hervorbrachte wie Vanini, wie Giordano Bruno und Galilei; obgleich bald erstickt von dem Lärm, Tumult und den Leidenschaften der religiösen Reformation setzte sie geräuschlos ihre unsichtbare Arbeit fort und hinterließ den edelsten Geistern jeder Generation das Werk der menschlichen Befreiung durch die Zerstörung des Absurden, bis sie endlich in der zweiten Hälfte des l8. Jahrhunderts wieder im vollen Tageslicht erschien und kühn die Fahne des Atheismus und Materialismus erhob.

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Man hätte damals glauben können, daß der menschliche Geist sich ein für allemal von allem göttlichen Druck befreien würde. Dies war ein Irrtum. Die Gotteslüge, mit der sich die Menschheit – um nur von der christlichen Welt zu sprechen – 18 Jahrhunderte genährt hatte, sollte sich noch einmal mächtiger als die menschliche Wahrheit zeigen. Da sie sich nicht mehr der Schwarzen bedienen konnte, der geweihten Raben der Kirche, der katholischen oder protestantischen Priester, die jeden Kredit verloren hatten, so bediente sie sich der Laienpriester, der Lügner und Sophisten im kurzen Rock und die Hauptrolle fiel zwei verhängnisvollen Männern unter ihnen zu: dem falschesten Geist und dem doktrinär despotischesten Willen des vergangenen Jahrhunderts: J. J. Rousseau und Robespierre.

Der erstere ist der wahre Typus der Lüge und argwöhnischen Kleinlichkeit, der Exaltation mit der eigenen Person als einzigem Gegenstand, des kalten Enthusiasmus und sentimentaler sowie unbarmherziger Heuchelei, der notwendigen Lüge des modernen Idealismus. Man kann ihn als den wahren Schöpfer der modernen Reaktion betrachten. Während er dem Anschein nach der demokratischeste Schriftsteller des 18. Jahrhunderts ist, brütet in ihm der erbarmungslose Despotismus des Staatsmanns. Er war der Prophet des doktrinären Staats, dessen Hohepriester Robespierre, sein würdiger und treuer Schüler, zu werden versuchte. Rousseau hörte Voltaire sagen, daß Gott, wenn es ihn nicht gäbe, erfunden werden müsse, und erfand das höchste Wesen, den abstrakten und sterilen Gott der Deisten. Und im Namen des höchsten Wesens und der von ihm anbefohlenen heuchlerischen Tugend guillotinierte Robespierre zuerst die Hebertisten, dann den Genius der Revolution selbst, Danton, in dessen Person er die Republik ermordete und so den von da ab notwendigen Triumph der Diktatur Bonaparte I. vorbereitete. Nach diesem großen Sieg suchte und fand die idealistische Reaktion weniger fanatische, weniger schreckliche Diener, wenn man sie an dem bedeutend geringeren Maß der Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts mißt. In Frankreich waren dies Chateaubriand, Lamartine und – soll ich es sagen? Warum nicht? Man muß die ganze Wahrheit sagen – Viktor Hugo selbst, der Demokrat, der Republikaner, der quasi-Sozialist von heute, und nach ihnen die ganze melancholische und sentimentale Kohorte magerer und blasser Geister, die unter der Führung jener Meister die Schule des modernen Romantismus bildeten. In Deutschland waren es die Schlegel, die Tieck, die Novalis, die Werner, und waren es Schelling und so viele andere, deren Namen nicht einmal genannt zu werden verdienen.

Die von dieser Schule geschaffene Literatur war das wahre Reich der Geister und Gespenster. Sie vertrug das Tageslicht nicht und konnte nur im Halbdunkel leben. Ebensowenig vertrug sie den brutalen Kontakt der Massen: es war die Literatur der zarten, delikaten, distinguierten Seelen, die dem Himmel, ihrer Heimat, zustrebten und wie gegen ihren Willen auf der Erde lebten. Sie verachtete und verabscheute die Politik, die Tagesfragen; wenn sie aber zufällig von ihnen sprach, zeigte sie sich offen reaktionär, und nahm die Partei der Kirche gegen die Unverschämtheit der Freidenker, die Partei der Könige gegen die Völker und die Partei aller Aristokratien gegen das elende Straßengesindel. Übrigens herrschte in dieser Schule beinahe vollständige Gleichgültigkeit gegen politische Fragen vor. In den Wolken, in denen sie lebte, konnte man nur zwei wirkliche Punkte unterscheiden: die rapide Entwicklung des Bourgeoismaterialismus und die zügellose Entfesselung persönlicher Eitelkeit.

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Um diese Literatur zu verstehen, muß man ihre Entstehungsursache in der Umwandlung suchen, die sich in der Bourgeoisklasse seit der Revolution von 1793 vollzog.

Von der Renaissance und der Reformation bis zu dieser Revolution war die Bourgeoisie, wenn nicht in Deutschland, doch wenigstens in Italien, Frankreich, der Schweiz, England und Holland der Held und Vertreter des revolutionären Genies der Geschichte. Aus ihr gingen der größte Teil der Freidenker des 16. Jahrhunderts, die großen religiösen Reformatoren der beiden folgenden Jahrhunderte und die Apostel der menschlichen Emanzipation, diesmal die Deutschlands einbegriffen, des vorigen Jahrhunderts hervor. Sie allein, natürlich auf die Sympathien und den mächtigen Arm des Volkes, das an sie glaubte, gestützt, machte die Revolution von 1789 und 1793. Sie proklamierte den Fall des Königtums und der Kirche, die Verbrüderung der Völker, die Menschen- und Bürgerrechte. Dies sind ihre Ruhmestitel; sie sind unsterblich.

Seit jener Zeit spaltete sie sich. Eine beträchtliche Partei reichgewordener Käufer von Nationalgütern, die sich diesmal nicht auf das städtische Proletariat, sondern auf die Majorität der gleichfalls Grundbesitzer gewordenen Bauern Frankreichs stützte, strebte den Frieden an, die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung, die Gründung einer regelmäßigen und mächtigen Regierung. Sie akklamierte also voll Glück die Diktatur des ersten Bonaparte und sah, obgleich stets voltairianisch, dessen Konkordat mit dem Papst und die Wiederherstellung der offiziellen Kirche in Frankreich nicht mit bösem Auge an: »die Religion ist dem Volk so notwendig!« – dies bedeutet, daß dieser Teil der Bourgeoisie, selbst gesättigt, von jetzt ab zu verstehen begann, daß es im Interesse der Erhaltung seiner Lage und seiner neu erworbenen Güter dringend notwendig sei, den ungesättigten Hunger des Volks durch Versprechungen himmlischen Mannas zu täuschen. Damals begann Chateaubriand zu predigen Ich halte es für nützlich, an eine übrigens wohlbekannte und durchaus authentische Anekdote zu erinnern, die ein sehr wertvolles Licht auf den persönlichen Charakter dieses Wiederaufwärmers der katholischen Glaubenslehre und die religiöse Aufrichtigkeit jener Zeit wirft. Chateaubriand brachte seinem Verleger ein gegen den Glauben gerichtetes Werk. Der Buchhändler bemerkte, der Atheismus sei nicht mehr Mode, das lesende Publikum wolle nichts mehr davon wissen und verlange im Gegenteil religiöse Werke. Chateaubriand entfernte sich, brachte ihm aber einige Monate später sein Genie des Christentums..

Napoleon fiel. Die Restauration führte mit der legitimen Monarchie die Macht der Kirche und die Aristokratie nach Frankreich zurück, welche wenn nicht ihre ganze, so doch einen beträchtlichen Teil ihrer früheren Macht wiederergriffen. Diese Reaktion warf die Bourgeoisie in die Revolution zurück und mit dem revolutionären Geist erwachte auch ihr Freigeist wieder. Sie legte Chateaubriand beiseite und begann wieder Voltaire zu lesen. Sie ging nicht bis Diderot: ihre geschwächten Nerven vertrugen nicht mehr eine so starke Kost. Voltaire, der gleichzeitig Freigeist und Deist war, paßte ihr dagegen sehr. Béranger und Paul-Louis Courier drückten ganz und gar diese neue Tendenz aus. Der »Gott der braven Leute« und das Ideal des Bürgerkönigs, der zugleich liberal und demokratisch ist, sich vom majestätischen und jetzt unoffensiven Hintergrund der gigantischen Siege des Kaiserreichs abhebend, – dies war in jener Zeit die tägliche geistige Nahrung der französischen Bourgeoisie.

Lamartine, von dem eitel lächerlichen Neid angestachelt, sich zur poetischen Höhe des großen englischen Dichters Byron zu erheben, hatte seine kalt delirierenden Hymnen zu Ehren des Gottes der Adeligen und der legitimen Monarchie begonnen. Aber seine Gesänge hallten nur in den aristokratischen Salons wieder. Die Bourgeoisie hörte sie nicht. Béranger war ihr Dichter und Paul-Louis Courier ihr politischer Schriftsteller.

Die Julirevolution hatte die Veredlung ihres Geschmacks zur Folge. Man weiß, daß jeder Bourgeois in Frankreich den unverwüstlichen Typus des bourgeois gentilhomme in sich trägt, der stets hervortritt, sobald er ein bißchen Reichtum und Macht erwirbt. 1830 hatte die reiche Bourgeoisie definitiv den alten Adel im Besitz der Macht ersetzt. Sie strebte natürlich die Gründung einer neuen Aristokratie an: einer Aristokratie des Kapitals vor allem, gewiß, aber auch einer Aristokratie der Intelligenz, des guten Benehmens und der feinen Gefühle. Die Bourgeoisie begann sich religiös zu fühlen.

Dies war nicht eine einfache Nachäffung der aristokratischen Sitten von ihrer Seite, sondern auch eine notwendige Folge ihrer Lage. Das Proletariat hatte ihr einen letzten Dienst erwiesen, indem es ihr half, den Adel nochmals zu stürzen. Jetzt brauchte die Bourgeoisie diese Hilfe nicht mehr, denn sie fühlte, daß sie im Schatten des Julithrons fest saß, und die von jetzt ab unnütze Allianz mit dem Volk begann ihr unbequem zu werden. Das Volk mußte auf seinen Platz verwiesen werden, was natürlich nicht möglich war, ohne große Indignation in den Massen zu provozieren. Es wurde notwendig, dieselben zurückzuhalten. Aber in wessen Namen? Etwa im Namen des ohne Umschweife zugegebenen Bourgeoisinteresses? Dies wäre zu zynisch gewesen. Je ungerechter, unmenschlicher ein Interesse ist, desto mehr bedarf es einer Weihe, und wo eine solche hernehmen, wenn man sie nicht in der Religion findet, dieser guten Beschützerin aller Satten und der so nützlichen Trösterin aller Hungrigen? Und mehr als je fühlte die triumphierende Bourgeoisie, daß die Religion dem Volke absolut notwendig sei.

Nachdem sie all ihre unvergänglichen Ruhmestitel in religiöser, philosophischer und politischer Opposition, im Protest und in der Revolution gewonnen hatte, war die Bourgeoisie endlich die herrschende Klasse geworden und hierdurch von selbst Verteidigerin und Erhalterin des Staats, der seinerseits die regelrechte Einsetzung der ausschließlichen Macht dieser Klasse ist. Der Staat ist die Gewalt und hat vor allem das Recht der Gewalt für sich, die triumphierende Beweisführung mit dem Zündnadelgewehr und dem Chassepot. Aber der Mensch ist so sonderbar beschaffen, daß ihm diese Art der Beweisführung, so beredt sie scheint, auf die Dauer nicht genügt. Um ihm Respekt einzuflößen ist irgendeine moralische Sanktion absolut notwendig. Diese Sanktion muß ferner so augenscheinlich und einfach sein, daß sie die Massen überzeugen kann, die, von der Gewalt des Staates niedergerungen, hierauf zur moralischen Anerkennung seines Rechts gebracht werden müssen.

Es gibt nur zwei Mittel, die Massen von der Güte irgendeiner sozialen Institution zu überzeugen. Das erste, das einzige wirkliche, aber auch das schwerste, weil es die Abschaffung des Staates mit sich bringt – das heißt die Abschaffung der politisch organisierten Ausbeutung der Mehrheit durch irgendeine Minderheit –, dieses Mittel wäre die direkte und vollständige Befriedigung aller Bedürfnisse, aller menschlichen Aspirationen der Massen; dies käme der vollständigen Liquidation der politischen und ökonomischen Existenz der Bourgeoisklasse gleich und, wie ich soeben sagte, der Abschaffung des Staates. Dieses Mittel wäre zweifellos heilbringend für die Massen, aber verhängnisvoll für die Bourgeoisinteressen. Es kommt also nicht in Betracht.

Sprechen wir von dem andern Mittel, das nur dem Volk verhängnisvoll, dagegen für das Wohl der Bourgeoisprivilegien wertvoll ist. Dieses andere Mittel kann nur die Religion sein. Es ist diese ewige Luftspiegelung, welche die Massen auf die Suche nach den göttlichen Schätzen hinreißt, während, viel bescheidener, die herrschende Klasse sich damit begnügt, die elenden Güter der Erde und das menschliche Hab und Gut des Volkes, seine politische und soziale Freiheit einbegriffen, unter ihre eigene Mitglieder zu verteilen, auf sehr ungleiche Art übrigens und so, daß der, der mehr besitzt, immer noch mehr erhält.

Es gibt keinen Staat, es kann keinen ohne Religion geben. Man nehme die freiesten Staaten der Erde, die Vereinigten Staaten von Nordamerika oder den Schweizer Bund, und sehe, welch wichtige Rolle die göttliche Vorsehung, diese oberste Sanktion aller Staaten, in allen offiziellen Reden spielt.

Jedesmal aber, wenn ein Staatschef von Gott spricht, sei es Wilhelm I., der knutogermanische Kaiser, oder Grant, der Präsident der großen Republik, kann man sicher sein, daß er sich vorbereitet, seine Volksherde von neuem zu scheren.

Die französische Bourgeoisie, liberal, voltairianisch und von ihrem Temperament zu einem eigentümlich engen und brutalen Positivismus, um nicht zu sagen Materialismus getrieben, mußte sich also, nachdem sie durch ihren Triumph von 1830 die Staatsklasse geworden, notwendigerweise eine offizielle Religion geben. Die Sache war nicht leicht. Sie konnte sich nicht unvermittelt unter das Joch des römischen Katholizismus begeben. Zwischen ihr und der Kirche von Rom lag ein Abgrund von Blut und Haß, und wie praktisch und klug man auch geworden sein mag, unterdrückt man nie in sich eine historisch gewordene Leidenschaft. Der französische Bourgeois hätte sich übrigens mit Lächerlichkeit bedeckt, wenn er zur Kirche zurückgekehrt wäre, um an den frommen Zeremonien des Gotteskults teilzunehmen, der Hauptbedingung einer verdienstlichen und aufrichtigen Bekehrung. Mehrere versuchten es wohl, aber ihr Heroismus hatte nur unfruchtbaren Skandal zum Resultat. Die Rückkehr zum Katholizismus war endlich unmöglich wegen dem unlösbaren Widerspruch zwischen der unveränderlichen Politik Roms und der Entwicklung der ökonomischen und politischen Interessen der Mittelklasse.

In dieser Hinsicht ist der Protestantismus viel bequemer. Er ist die Bourgeoisreligion par excellence. Er gibt den Bourgeois gerade so viel Freiheit, wie sie brauchen, und fand das Mittel, die himmlischen Aspirationen mit dem Respekt, den die irdischen Interessen verlangen, zu versöhnen. Daher sehen wir auch, daß gerade in den protestantischen Ländern Handel und Industrie sich entwickelten. Aber es war der französischen Bourgeoisie nicht möglich, protestantisch zu werden. Um von einer Religion zur andern überzugehen – außer wenn es aus reiner Berechnung geschieht, wie bisweilen bei den Juden in Rußland und Polen, die sich drei- oder viermal taufen lassen, um jedesmal eine neue Remuneration zu erhalten –, um die Religion zu wechseln ist ein Körnchen religiösen Glaubens notwendig. In dem ausschließlich positiven Herzen des französischen Bourgeois ist nun aber auch für dieses Körnchen kein Platz. Für ihn gibt es nur die tiefste Gleichgültigkeit gegen alle Fragen, die seinen Geldbeutel betreffenden in erster Linie, dann die seine soziale Eitelkeit betreffenden ausgenommen. Er steht dem Protestantismus gleich indifferent gegenüber wie dem Katholizismus. Andrerseits hätte die französische Bourgeoisie nicht zum Protestantismus übergehen können, ohne mit der katholischen Routine der Mehrheit des französischen Volks in Widerspruch zu geraten, was für eine Klasse, die Frankreich regieren wollte, eine große Unvorsichtigkeit gewesen wäre.

Ein Mittel blieb wohl übrig: zur Humanitären und revolutionären Religion des 18. Jahrhunderts zurückzukehren. Aber diese Religion führt zu weit. Die Bourgeoisie war also gezwungen, zur Sanktionierung des neuen Staates, des von ihr gegründeten Bourgeoisstaates, eine neue Religion zu gründen, die ohne zu sehr Lächerlichkeit und Skandal zu erregen, von der ganzen Bourgeoisklasse laut bekannt werden konnte.

So entstand der Deismus der doktrinären Schule.

Andere Erzählten viel besser, als ich es tun könnte, die Geschichte der Entstehung und Entwicklung dieser Schule, die entscheidenden und, ich kann wohl sagen, verhängnisvollen Einfluß auf die politische, intellektuelle und moralische Erziehung der Bourgeoisjugend Frankreichs hatte. Sie datiert seit Benjamin Constant und Madame de Staël, aber ihr wahrer Gründer war Royer Collard; ihre Apostel waren die Herren Guizot, Cousin, Villemain und viele andere; ihr laut bekanntes Ziel ist: die Versöhnung der Revolution mit der Reaktion oder, um die Sprache der Schule zu sprechen, des Freiheitsprinzips mit dem Autoritätsprinzip, natürlich zum Vorteil des letzteren.

Diese Versöhnung bedeutete in der Politik die Eskamotierung der Volksfreiheit zum Nutzen der Bourgeoisherrschaft, vertreten durch den monarchischen und konstitutionellen Staat; in der Philosophie, die bewußte Unterwerfung der freien Vernunft unter die ewigen Prinzipien des Glaubens. Wir haben uns hier nur mit letzterem Gegenstand zu beschäftigen.

Es ist bekannt, daß diese Philosophie hauptsächlich von Herrn Cousin, dem Vater des französischen Eklektizismus ausgearbeitet wurde. Ein oberflächlicher und pedantischer Sprecher, frei von jeder originellen Auffassung, jedem eigenen Gedanken, aber sehr beschlagen in Gemeinplätzen, die er mit Unrecht mit gesundem Menschenverstand verwechselt, bereitete dieser illustre Philosoph auf gelehrte Weise für den Gebrauch der studierenden Jugend Frankreichs ein metaphysisches Gericht in seinem Genre vor, dessen in allen der Universität unterworfenen Schulen des Staats obligatorischer Genuß mehrere Generationen hintereinander zu einer Gehirnindigestion verurteilte Hier endet der 1882 veröffentlichte Text von Dieu et l'Etat . (D. Übers.). Man stelle sich einen philosophischen Salat vor, der aus den entgegengesetztesten Systemen besteht, einer Mischung von Kirchenvätern, Scholastikern, Descartes und Pascal, Kant und schottischen Psychologen, all dies auf den göttlichen und eingeborenen Ideen Platos aufgebaut und bedeckt mit einer Lage Hegelscher Immanenz, das ganze natürlich von ebenso geringschätzender wie kompletter Unkenntnis der Naturwissenschaft begleitet und beweisend, wie »zweimal zwei ist fünf«: 1. die Existenz eines persönlichen Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und ihre spontane Bestimmung, den freien Willen … Es folgt nun in dreizehn immer längeren Paragraphen ein unendlich ausführliches Resümee der eklektischen Philosophie mit nur wenigen kritischen Bemerkungen (Oeuvres III, 132-177), das unvollendet abbricht, da Bakunin eine Anmerkung zu den letzten Worten des Textes begann, die großen Umfang annahm (gedruckt in Oeuvres I, 264-326). Text und Note brechen unvermittelt ab, was in Bakunins persönlichen Verhältnisse jener Tage (April 1871) seine Erklärung findet. Vgl. die Vorrede. (Der Übers.).

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