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Heimkehr

Aber, Papa, dann hast du ja Dollars?« rief der Bub, »Dollars!« Es war der erste Herzenslaut, den der Oberst nach seiner Heimkehr aus der russischen Gefangenschaft vernahm. Mit allem Anstand hatte sich das Rind umarmen lassen, artig, aufmerksam der Erzählung des Vaters zugehört, brav auf alle Fragen erwidert. Schlachten, Heerführer, Ereignisse waren dem kleinen Gentleman geläufig, und er hatte über alles sein abgewogenes Urteil bereit. Also dem Kinde hatte die treulose Mutter immerhin ihre Pflicht gehalten, an dem Kinde war nichts versäumt worden, es hatte die Scheidung sichtlich unversehrt überstanden! Seltsam: im Vater war der Bub diese ganzen Jahre hindurch nur als Erinnerung an etwas mit fleischigen Beinen Strampelndes, das dann auf einmal mit untergehenden Augen das Gesicht verzog und, die kleinen Fäuste ballend, zu schreien begann, lebendig geblieben, und er konnte sich jetzt noch kaum recht vorstellen, wie daraus auf einmal dieser kleine van Dyck-Prinz geworden sein sollte. Das Kind zeigte so viel Takt, so viel Haltung, daß der Oberst sich in acht nehmen mußte, nicht in Verlegenheit zu geraten, und eigentlich aufatmete, als es, auf die Nachricht, daß er über Amerika heimgekehrt, in jenen Trompetenstoß nach Dollars ausbrach: das erste Zeichen, doch auch noch gewisser jugendlicher Erregungen fähig zu sein. Und er staunte nur über die Sachkenntnis, mit der ihm der Knabe nun die Kurven der Valutenbewegung in den letzten Monaten zog. Und durch den Eindruck, den das auf den Vater sichtlich machte, nun erst zutraulich geworden, begann das Kind, vielleicht in einer leisen Anwandlung von Mitleid, das Gespräch sachte von allgemeinen Belehrungen weg doch mehr ins Persönliche zu steuern, und sprach schließlich unbefangen auch über die Scheidung der Eltern. Seine Schulkollegen hätten auch fast alle schon den zweiten Papa: das Leben ist schneller geworden, die Frauen warten jetzt nicht mehr, bis der erste stirbt, jede neue Zeit hat eben ihr eigenes Tempo. Der Oberst bewunderte die Klarheit des Buben. Er dachte: wenn ich meinen Sohn zum Vater gehabt hätte, wäre mir manches erspart geblieben, aber diese leichtlebigen Wiener vom alten Schlag waren halt alle so sentimental!

In der Familie, der der Oberst Dangl entstammte, war es hergebracht, daß der Alteste das altberühmte Hutgeschäft in Mariahilf übernahm, die jüngeren Söhne Offiziere oder Beamte wurden, jedem der Kinder aber ein Anteil am Gewinn der Firma gesichert war. Dem Obersten gab dies, mit der Pension zusammen, die Möglichkeit, sorgenfrei fortan ganz seiner Verzweiflung zu leben. Er wollte versuchen, ob sich an ein so furchtbares Schicksal wie das seine noch irgend etwas anstückeln ließ, voll Zuversicht war er ausgezogen, er hatte sich doch immer auf einen Krieg gefreut, er hatte sich einen Krieg gewünscht, und weder das andere Gesicht, das der Krieg in der Nähe zeigte, noch die Schrecken der Gefangenschaft und die Gefahren seiner abenteuerlichen Flucht nach China störten seine guten Nerven, bis sein Vaterland verschwand. Er hatte bei der Nachricht, Österreich sei weg, zunächst auflachen müssen über diesen dummen Spaß, den man sich mit ihm machen wollte. Kann der Abendstern abgeschafft werden? Sein Vaterland war auf einmal eines Tages nicht mehr vorhanden! Wenn es türkisch geworden wäre oder eine englische Kolonie, ja wessen Willen immer untertan, aber doch noch da, nicht einfach aus der Welt gelöscht, das alte Reich, an Siegen und an Ehren reich! Er hatte wochenlang geweint. »Es gibt nur a Kaiserstadt, es gibt nur a Wien!« Und jetzt gab es keine Kaiserstadt mehr. Gab es denn noch ein Wien? Als er dann erfuhr, daß seine Frau jetzt einen anderen Mann hatte, kam ihm das ganz natürlich vor: es gab kein Österreich mehr, da war denn natürlich auch alles andere weg, Ehe, Liebe, Treue, denn wie konnte das bestehen, wenn das Vaterland, an dem doch alles hing, nicht mehr bestand? Da war doch natürlich überall nichts mehr übrig als das Loch, in das das Vaterland versunken war! Und nun kam er heim, und da war wirklich nichts mehr übrig, aber es schien, die Leute bemerkten das noch gar nicht, die Leute lebten vergnügt in der Luft weiter, ganz so, wie sie früher auf Erden gelebt hatten, und sein Bub wuchs auf, aber wo denn, woran denn, wohin denn?

*

Seinen Schwager, den Hofrat, fand er unverändert. Er war der richtige österreichische Hofrat geblieben und nur dazu noch Abonnent der Arbeiterzeitung geworden; er nannte das: sich neu orientieren. »Liberal hat aufgehört, Klerikal geht doch nicht, also was willst denn?« sagte er. »Es war immer der Stolz unserer Verwaltung, nicht hinter dem Geist der Zeit zurückzubleiben, hätten wir den Franz Joseph nicht zu früh verloren, der wäre noch rechtzeitig Abonnent der Arbeiterzeitung geworden, und die ganze G'schicht hätt' sich g'hoben! Du wirst schon mit der Zeit auch noch umlernen und den Sozialdemokraten gerechter werden. Denn ich kann dir nur sagen: wenn wir die Sozialdemokraten nicht gehabt hätten, hätten wir am End' eine wirkliche Revolution gehabt!«

Die beiden Schwäger hatten es schwer, sich zu verständigen. Der Hofrat fragte immer wieder: »Was hast denn? Was willst denn? Was ist dir denn eigentlich geschehen?« Der Oberst begriff nicht, wie man da denn überhaupt noch fragen konnte: das alte Vaterland war weg! »Laß dir doch nichts einreden,« erwiderte der Hofrat. »Jede Zeit hat ihre Launen. Das Vergnügen der unseren sind Namensänderungen. Gassen werden umgetauft, also warum nicht Staaten auch? Es bleiben doch dieselben Gassen! Keiner heißt mehr Graf, aber deswegen bleibt er doch ein Graf! Revolution ist, wenn geköpft wird. Denn, nicht wahr? wenn du keinen Kopf mehr hast, das ist ein Argument! Aber wenn man dir bloß sagt, daß dein Kopf nichts mehr zu bedeuten hat, das braucht dich doch nicht zu genieren! Das Gute bei uns war immer, daß man von Zeit zu Zeit, um die Leut' zu beschäftigen, auf dem Papier ein neues Gesetz gemacht hat; das kann auch nie schaden! No und das tun wir halt jetzt noch etwas lebhafter, darum wird auch das Papier so teuer. Gewisse Konzessionen muß man schon einmal dem Zeitgeist machen. Aber schau dich nur erst ein bißl um, und du wirst sehen, daß unter den neuen Namen noch alles beim alten ist. Natürlich sind einige reich geworden, die früher arm waren und auch umgekehrt; aber das soll doch immer schon zuweilen vorgekommen sein, wenn es auch in stillen Zeiten freilich etwas langsamer geschieht.« Aufmerksam hörte der Oberst zu, doch ohne sich entscheiden zu können: er wußte nicht, ob das eigentlich Verrat oder höchste Treue war. Ihm wurde dabei ganz bang: er war in einer solchen Verzweiflung heimgekehrt, und die zerging ihm jetzt zwischen den Fingern; er kam sich um seinen schönen Schmerz betrogen vor. Das Hutgeschäft ging glänzend, seine Pension stieg jedes Vierteljahr, die Wienerstadt trug ihr holdestes Lächeln. Doch er war auf einen Trauermarsch gefaßt gewesen und konnte sich in den Walzerschritt nicht gleich finden. Er war sehr enttäuscht und schimpfte Wien undankbar, weil es den Abschied von Österreich so leicht nahm. Aber wie man den Reiz einer Geliebten nie stärker empfindet, als wenn man den Beweis ihrer Untreue hat, verliebte sich auch sein Zorn nur mit jedem Tage noch heißer in die verwirrende Schönheit dieser jedem Schicksal immer billig hingegebenen Stadt. Eben in dieser lächelnden Hingebung lag ihre Kraft versteckt, die Kraft, alles aufzusaugen und sich neues Blut daraus zu bereiten. Sie war viel stärker als ihre Menschen. Leid und Lust ihrer Menschen gab nur den Dünger ihrer ewig neuen Schönheit, wenn damals, bei der Belagerung, nicht im letzten Moment noch der Sobieski zurechtgekommen und Wien also türkisch geworden wäre, die Türken wären von ihm gerade so verdaut worden wie Spanier, Italiener, Slawen und Deutsche zu Wienern verdaut worden sind: seinem guten Magen kann nichts widerstehen! Der Oberst spürte das ja jetzt an sich selbst: er wollte durchaus von seiner Verzweiflung nicht lassen, er hatte ja nichts mehr, auf der ganzen Welt nichts mehr als diese Verzweiflung, er lebte doch nur noch von ihr, aber er konnte sich nicht verhehlen, daß sie von Tag zu Tag immer mehr einen Wiener Glanz bekam; bis in seinen tiefsten Schmerz um das verlorene Vaterland stahl sich das Lächeln Wiens hinein!

*

Wien ging noch immer von der Sirkecke zur Gartenbaugesellschaft auf und ab spazieren. Der Oberst spazierte jetzt wieder mit. Das war ihm schon ein großer Trost, daß es dies noch gab. Aber freilich: es klang jetzt anders; fremde Sprachen klangen drein. Er erinnerte sich dunkel, derlei schon einmal gehört zu haben. Wo denn nur? In der österreichischen Geschichte muß es schon einmal ähnlich zugegangen sein wie jetzt hier auf der Ringstraße. Wann denn nur? Ja richtig! Nun fiel es ihm ein: Wallensteins Lager mag genau dasselbe Sprachdurcheinander gewesen sein! Und ganz ebenso Radetzkys Armee doch auch noch! Vielleicht ist Österreich in seinen besten Zeiten immer ein solches Durcheinander gewesen, Sprachdurcheinander, Blutsdurcheinander, Völkerdurcheinander, das vergnügt spazieren geht! Vielleicht ist Österreich dazu da, Europas Ringstraße zu sein. Und ob diese Ringstraße nun ein bissel länger oder kürzer ist, darauf kommt's doch nicht an, wenn wir nur wieder der Korso Europas sind! Der Oberst war seelenvergnügt, er konnte jetzt erst wieder guten Gewissens auf und ab spazieren, hier, von der Sirkecke zur Gartenbaugesellschaft, war noch immer Österreich! Und es fiel ihm ein, wie der Erzherzog Franz es sich jetzt immer höflichst verbat, Hoheit genannt zu werden: »Ich bin's natürlich, ich bin als Hoheit auf die Welt kommen, ich kann nichts dafür, es hat mich niemand gefragt, ich hätt' mir was anderes ausgesucht, es ist ein Geburtsfehler, aber jetzt habend ein schonendes Gesetz g'macht, daß man keinem seinen Geburtsfehler nachtragen soll, und so darf ich mir ausbitten, daß mich niemand mehr daran erinnert!« War's nicht mit Wien ebenso? Es konnte den Geburtsfehler, daß in ihm Österreich lag, mit dem besten Willen nicht verleugnen.

Eines Tages war der Oberst eben wieder im schönsten Schlendern, als ein Auto, das ihn, aus einer Nebengasse schießend, fast überfahren hätte, mit einem Ruck vor ihm stehen blieb: er trat zurück, etwas flog auf ihn zu, und er hielt, bevor er noch recht zur Besinnung kam, in den Armen eine Frau, seine Frau, seine geschiedene Frau, die, selig vor Freude des Wiedersehens, nicht nachgab, bis er einstieg und mit ihr nach der Hauptallee fuhr. Sie war so froh, sie hatte ihm doch immer schon schreiben und alles erzählen und, wie das alles eigentlich gekommen war, erklären wollen, aber sie hatte so wenig Zeit, und Briefschreiben war doch nie ihre Passion gewesen, und geschrieben sieht auch alles so dumm aus, ganz verdreht! Es war ihm auch, wie sie's jetzt erzählte, nicht gleich ganz klar, aber so viel begriff er langsam doch, daß es eigentlich nur ihre große Sehnsucht, ihre verzehrende Sehnsucht nach ihm gewesen war, die ihr Mann, der jetzige, niederträchtig mißbraucht und auf sich abgelenkt hatte. Gott, es war eine so verwirrte Zeit und alles um sie so dunkel und sie selber so ratlos, hilflos, trostlos gewesen, das hatte der infame Verführer benutzt, sie war doch damals eigentlich noch ein halbes Kind, und von ihm kam ja fast ein Jahr lang überhaupt keine Nachricht mehr, und dann doch auch die Sorge um das Kind, und so war sie zuletzt der List dieses »Elenden« erlegen, aber gedacht hatte sie dabei doch eigentlich, das konnte sie beschwören, eigentlich nur an ihn, den Obersten; ja, nur er, der Oberst, sei's, der ihr in den Armen seines Nachfolgers vorschwebe. Das ließ ihn nicht ohne Eindruck, wenn er gleich, als Kenner der Frauen, wußte, daß sie zuweilen eine Neigung haben, sich selbst zu belügen. Über er mußte sich eingestehen, daß es ihm, wie nun immer die Sache sich verhielt, wohl tat, so wohl, wie schon seit langem nichts mehr. Besonders das mit dem Vorschweben tat ihm wohl. Es wirkte auch aufklärend. Man lernt eben die Psyche der Frauen nie ganz aus.

Sie gab ihm beim Abschied einen Kuß und ein Rendezvous. Ein Rendezvous mit der eigenen Frau hat noch einen besonderen Reiz. Sie gab ihm auch zu verstehen, sie hätte zuweilen Stunden, wo sie zu allem fähig wäre, sogar ihn zum zweitenmal zu heiraten. Ein besseres Zeugnis kann doch wirklich einem Mann nicht ausgestellt werden. Und wer weiß? Es wäre vielleicht gar nicht so dumm. Und jedenfalls die Zeit, bis es dann so weit sein würde, die Zeit des Ehebruchs mit seiner Frau, gewann, je mehr er darüber nachsann, an Zauber. Diese Stadt, dachte der Oberst, indem er heimging, ist schon sehr merkwürdig: hier stellt sich alles immer wieder von selber her, aber auf unerwartete Weise. Sie wirkt immer überraschend, weil sie, was auch in ihr und mit ihr geschehen mag, immer dieselbe bleibt, immer das unsterbliche Wien! Man mag mit ihr noch so viel Experimente machen, es kommt dabei nix heraus, das heißt, es kommt immer wieder dasselbe heraus: das lächelnde, weltüberwindende Wien!


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