Hermann Bahr
Leander
Hermann Bahr

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Die treue Adele

Ja, gleich um die Ecke! Rechts, wenn man hinuntergeht, neben dem Gewürzkrämer, gerade dem Fenster gegenüber, wo die vier nassen Zwilchhosen hängen. In diesem schmalen, finsteren, aschgrauen, verwitterten und verwaschenen Langhause mit den zwei unheimlichen, grinsenden, dottergelben Flecken über dem Tor, unter dem grasgrünen Schild der alten Kuhlemann. Dort, wo die Laterne mit der zerbrochenen Scheibe ist. Es wird immerfort Drehorgel gespielt in dem feuchten, engen, winkeligen Hof mit den vielen Karren und der langen, von dampfender Wäsche belasteten Leine, den ganzen Tag. Ja, da wohnt sie. Wer ihr einmal nachgestiegen ist, weiß es. Das ganze Quartier weiß es.

Übrigens: das ist nicht so einfach, ihr nachzusteigen. Jeder Platz ist besetzt in dem Kondukt, von ständigen Abonnenten. Immer: den ganzen langen Weg bis zu dem großen Galanteriegeschäft in der breiten Straße, in dem sie die weichen, mattgelben, schwedischen Handschuhe verkauft und die braunen, fleckigen Rohre mit den dicken, goldenen Kugeln am Ende. Früh und spät: morgens, wenn sie mit hastig zusammengerafften Kleidern, die Hutnadel verbogen, den Cul lose und schief, an dem zierlichen Stiefelchen den dritten Knopf ins fünfte Loch verirrt, daß sich das Leder ächzend sträubt, das spitze, in einen Widerhaken ausgebogene Näschen, auf dessen hellflaumige Wurzel die blonden Flocken der widerspenstigen Stirnlocke niederbaumeln, fröstelnd in die kitzelnde Schmeichelei der grünlich-weißen Boa vergraben, allen Grüßen blind und jeden Augenblick in einen ahnungslosen Wanderer verrannt, atemlos und immer verspätet, wie ein kleiner Schraubendampfer dahinkeucht; abends, wenn sie mit zierlich glatter Taille, den Ärmel mit weiser Sorgfalt ein wenig zurückgeschlagen, daß sich das Armband zeigt, die runden Wangen leicht mit Puder eingestäubt, den rosigen Schleier kokett auf die kirschige Oberlippe gezogen, mit schweifendem Blicke, vor jedem Schaufenster ihre Neugierde anhaltend, jeder vorwitzigen Bewunderung mit einem glücklichen Lächeln dankbar, lässig und gemächlich, wie ein selbstgefälliges Segelschiff im sommerlichen Winde, nach Hause trottet.

Eine kuriose Menagerie, diese Abonnenten der Begleitung, die die kleine Tierbändigerin alle Tage hinter sich herschleppt! Da ist der klapperbeinige Leutnant, von den blauen Dragonern mit dem fuchsroten Schnurrbart und den ziegelroten Wangen und der veilchenroten Nase, ein brennender Dornbusch auf Stelzen! der immer sagt: »Man muß die Blümchen, die der liebe Gott gepflanzt hat, begießen, sonst verkümmern sie.« Dann der dicke Assessor mit dem glänzenden Gesicht, der eigentlich »prinzipiell die Witwen vorzieht«, aber doch nicht bloß Prinzipienreiter ist. Der junge Mann der alten Kuhlemann, der Hebamme, mit dem fetten, faltigen, schwarzen Kandidatenrock, ein dürrer, finsterer, behender Schatten, mit zwei unheimlichen, gierig lodernden Feuerballen in dem verkohlten und ausgesogenen Gesicht, der aus England her die heiligen Traktätlein und nach England hin die unheiligen Mägdlein besorgt, ein ergiebiger Tauschhandel. Dann der eilige Rechtsanwalt, der immer alle Hände voll zu tun hat, mit fuchtelnden Armen und zappelnden Beinen, und im Schnee noch schwitzt, aber doch, sooft er die Kleine sieht, »Donnerwetter« sagt und seinen überstürzten Galopp einen Augenblick anhält, den Überschuß seiner bewegten Seele in ein großes, feuerrotes Tuch ausschnaubend, auf welchem die ganze Schlacht bei Wörth gemalt ist mit dem Kronprinzen zu Pferd, den Degen blank und hochgeschwungen. Dann der blonde August, der Agent, mit dem strohgelben, stacheligen Schnurrbart, die Liebe aller Kellnerinnen, weil er die besten Plätze in den Kneipen zu vergeben hat, und er weiß auch so schön zu tun und erzählt immer die schnurrigsten Geschichten, der sie nicht anschauen kann, ohne einen schmerzlichen Seufzer: »schade, jammerschade!«, und es immer wieder aufs neue versucht; denn er treibt sein Geschäft nicht bloß um Gewinn, sondern aus Neigung, mit Leidenschaft, wie ein Blumenzüchter. Und wenn es regnet, da ist dann noch überdies der ehrwürdige, alte Maler, der die wunderschönen, bleichen Madonnen malt, mit dem wehmütigen Lächeln und der frommen Himmelssehnsucht im schmachtenden Auge, aber nur wenn es regnet, daß man nur auf den Zehenspitzen über die Straße trippelt, mit angewandter Vorsicht – denn er will etwas sehen, etwas Gediegenes und etwas Reelles.

Am besten hatte es entschieden der dicke Doktor. Doktor, aus Höflichkeit der Leute nämlich, nicht eigentlich vor den Behörden, die immer gleich was Schriftliches verlangen. Und er zog auch schon lange genug auf den Hochschulen umher, daß er es wohl verdiente, und überall, in ganz Deutschland, jedes Halbjahr woanders, Nord und Süd.

Die Mediziner sind überhaupt glücklich daran mit den Frauen. Sie sind so verwendbar. Sie wissen allerhand Rat und wie man das vermeidet und wie man sich da heraushilft; wenn man es auch gerade nicht braucht, so weiß man doch nie, was einem nicht noch irgend einmal passiert. Und dann, es ist mit ihnen wie mit dem Pfarrer: da braucht man sich nicht zu genieren. Und natürlich, sie sich auch nicht. »In unserem Berufe!« sagen sie mit Würde und machen das ernsteste Gesicht zu den lustigsten Sachen.

Und dann kann man lange nach einem suchen, mit dem man sich so prächtig amüsiert! Er schnarrte von Schnurren, wie eine Rakete, der Doktor. Er wußte immer das Neueste, und es war immer zum Totlachen. Er hatte auch immer Zeit, wenn man wollte. Und immer fiel ihm wieder was ein. Und Geschichten hatte er erlebt, nein, Geschichten! Wenn einer so in der Welt herumkommt, der erfährt es erst, was mit ihnen los ist, mit diesen vornehmen Damen. Jawohl! Und das will noch hochmütig sein, am Ende. Und dann war er so aufmerksam, wirklich nett. Gleich als er eingezogen war, das erste Mal, da sie sich auf der Treppe begegneten, hatte er ihr schon den Puls gefühlt, ob sie nicht krank sei. Ohne daß es was gekostet hätte. Und dann meinte er, sie hätte vielleicht einen kleinen Herzfehler. Und zum Kaffee hatte er immer vorzüglichen Kuchen mit Schlagsahne.

Dahingegen der lange Friedrich! Er war zur nämlichen Zeit eingezogen wie der Doktor: auch ganz oben, im vierten Stocke, unter dem Dache, die Stube nebenan. Sie sah ihn kaum mehr an. Es war nichts los mit dem; und überdies trug er die Haare auf der Seite gescheitelt, und nicht einmal durchgezogen. Solche Leute läßt man einfach links liegen, sagte sie mit der zuversichtlichen Entschlossenheit desjenigen, der genau weiß, was er zu tun und zu lassen hat.

Er hatte ein besonderes Pech mit ihr, der lange Friedrich mit den roten Händen und den kurzen Hosen, abgestoßen und ausgefranst am Ende, mit wegstehenden Fäden. Er liebte sie.

Er liebte sie, wie man mit siebzehn Jahren liebt, wenn man in einer kleinen Stadt unter großen Büchern aufgewachsen ist, in Träumen, und alte Philologie studiert. Er hatte lange das Bedürfnis nach Liebe: ein Bedürfnis nicht nur des erwachenden Herzens, ein Bedürfnis des reifenden Geistes, um seine Bildung zu ergänzen und seinen Klassikern gerecht zu werden. Nun hatte er die Liebe. Seit dem ersten Tage, da er sie das erste Mal gesehen, wußte er's.

Was nun? Zunächst machte er Gedichte. Einen Monat lang, anderthalb. Dann wurde er verwegen. Seine Begierde warf die Zügel ab. Er dachte sogar daran, sie einmal anzureden.

An diesem Tage, nachdem er lange mit sich gekämpft, wagte er es. Als er ihr begegnete, unten auf dem Treppenabsatz, zögerte er einen Augenblick, sah sich nochmals nach allen Seiten um, ob sie auch wirklich allein wären, von keinem Verräter belauscht, und indem er sich rasch einige Beispiele heroischen Mutes aus der Geschichte zu Hilfe rief, wagte er es: mit einer linkischen Gebärde zog er den Hut, sagte stammelnd: »Guten Tag, Fräulein«, und bis in die Schläfe hinein errötend, indem er mit einem stolpernden Satze gleich vier Stufen auf einmal nahm, war er atemlos um das Tor verschwunden.

Was tun? Was tun? Schreiben? Sagen würde er es ihr doch nie können.

Also schreiben! Er schrieb. Wieder einen Monat lang, anderthalb. Auf wunderschönem, schneeweißem Papier, Vergißmeinnicht oben in der Ecke; mit einer ganz spitzen Feder, feingestochene Buchstaben. Aber zuerst fand er keinen Anfang und dann fand er kein Ende und niemals hätte er den Mut gefunden, es ihr wirklich zu senden. Schreiben, das war leicht gesagt. Aber was schreiben? Daß er sie liebte, ja – und? Es war doch ein braves Mädchen, und er war doch kein Lump. Konnte er sie denn heiraten, jetzt, wo er noch drei Jahre bis zur Prüfung hatte? Wovon denn, womit denn? Und wollte er sie denn betrügen, ins Unglück bringen, zur Schande? Konnte er denn mit Redlichkeit vor sie hintreten, klipp und klar: ich will dich zur Frau, in vierzehn Tagen soll Hochzeit sein – wie's einem ehrlichen Burschen gebührt? So gingen seine Gedanken im Kreise herum, ohne Ausweg.

Die nächste Zeit verbrachte er hauptsächlich auf der Treppe, der Himmelsleiter, darauf sein Engel auf und nieder stieg, wenn irgend eine Hoffnung war, sie zu treffen. Seine Einbildung, mit Wunsch gedüngt, war fruchtbar an solcher Hoffnung: sie konnte ja ihr Taschentuch vergessen oder Nasenbluten bekommen haben, und es war ja auch möglich, daß das Geschäft einmal niederbrannte, plötzlich. Bloß um sie zu sehen, recht oft zu sehen, wann es nur möglich, ohne andere Gedanken. Immer treppauf, treppab, mit fliegendem Atem und brennender Stirn, den langen Hals lauschend vorgebeugt wie ein englischer Renner, den Blick scheu vor den Nachbarn gesenkt, nach der Mauer gedreht; denn er zweifelte nicht, daß sie sein verwerfliches Treiben längst durchschaut haben müßten, und wer im Hause lachte, lachte über ihn offenbar. Und nun erst, wenn sie nun wirklich kam, gar vor ihr selber, völlig kopfverloren, in unbändiger Flucht wie vor einem Gespenst, in dieser heillosen Angst, sich zu verraten und daß sie, beleidigt in ihrem Stolze und an ihrer Ehre verwundet, wenn sie einmal das finstere Verbrechen von seiner Wange gelesen, ihm ihr ganzes Leben nicht wieder verzeihen könnte. So jagte ihn den ganzen Tag, wie wilder Fieberdurst, diese einzige Sehnsucht nach ihrer Begegnung; und wenn sich die stürmende Begierde endlich erfüllte, in der Befriedigung gerade, litt er die schlimmste Höllenpein, einen blutigen Rutenlauf des Gewissens, und wie aus Todesgefahr atmete er auf, wenn das Entsetzliche endlich vorüber. Dann ging die Geschichte wieder von vorne los, ein erfreulicher Lebenswandel, manchem Jüngling vertraut.

Sie hatte das bald heraus, daß da irgend etwas nicht in Ordnung war mit dem schlanken Jungen. Er mißfiel ihr nicht. Sie ließ es sich merken. Das Lächeln, das seinem hastigen Gruße dankte, aus ihrem purpurnen Munde entflatternd wie ein Schmetterling aus dem Kelche der Pfingstrose, verweilte in den von milchigem Flaum erhellten Grübchen. Sie blieb stehen. Sie redete ihn an. Sie richtete ihr Strumpfband. Sie bat ihn um kleine Gefälligkeiten. Einmal, da in dem Romane des Abendblattes, gerade wie die anderen Hindernisse von dem siegreichen Helden endlich glücklich bezwungen waren, was Französisches vorkam, das sie nicht verstand, stieg sie sogar in seine Kammer hinauf, sich Rat zu holen, abends.

Nun war es ganz aus. Welches teuflische Ungeheuer hätte er nicht sein müssen, so viel Arglosigkeit und Vertrauen zu mißbrauchen! Offenbar: die Taube ahnte den Falken gar nicht, den gierigen Stoßfalken in seiner Seele! Er erschauderte vor sich selbst. Welch ein Abgrund!

Ja, in vier Jahren, wenn er ein kleines Lehramt hoffen durfte! Aber zum Welken sollte diese Lilie nicht gebrochen werden, niemals! Er ward noch linkischer und selbst sein Blick verstummte.

Sie ärgerte sich. So etwas war ihr noch nicht vorgekommen. Was hatte er denn eigentlich? Warum denn nicht? Übrigens – sein Schade! nur sein eigener Schade! Sie hatte es nicht nötig – Gott sei Dank! Und sie zuckte die runden Schultern und warf die krause Oberlippe auf. Von der Sorte – mehr als ein Dutzend, Gott sei Dank!

Offenbar: nun hatte sie es endlich doch gemerkt. Oh, wie er mit sich haderte, sich mit stacheliger Reue geißelte! Sie achtete jetzt kaum mehr auf seinen Gruß, und ihr Blick flog über ihn weg. Wie sie, in ihrer Reinheit und Herzenseinfalt, wie sie ihn hassen mußte, verachten, verabscheuen! Abbitten, auf den Knien abbitten – aber er würde es nie wagen, und würde sie ihn denn hören? Nein, das war alles dahin, unwiederbringlich dahin. Es gab keine Gemeinschaft mehr zwischen ihnen, wie es keine Gemeinschaft gibt zwischen der Tugend und dem Laster, zwischen der Sonne und der Nacht.

Zu jener Zeit fing die kleine Adele an, wahrzunehmen, daß der lange Friedrich den Scheitel auf der Seite trug und nicht einmal durchgezogen; und seit jener Zeit pflegte die kleine Adele zu sagen, mit dieser zielbewußten Entschlossenheit: »Solche Leute läßt man einfach links liegen.«

Da, in der größten Not, packte ihn das Glück am Schopfe und zog ihn heraus. Es war aber nicht das gewöhnliche Glück, die schlanke Tänzerin auf der rollenden Kugel mit dem zierlichen Knöchel. Es war ein besonderes und hatte die Gestalt eines wohlgenährten Burschen von neun Jahren, just an der Schwelle der Flegelei, mit ölig glänzenden Wangen, pfiffigen Schlitzaugen und großen, weit abstehenden, durchscheinenden Ohren, die er bewegen konnte, auf und ab, und wenn er die Stirne recht runzelte, selbst nach der Seite, wie ein Pferd. Das war aber auch das einzige, was er konnte, und darum braucht' er einen Hofmeister, für die anderen Lebenskünste, was einen Haufen Geld kostete und alle Augenblicke eine neue Annonce in der Zeitung: denn keiner hielt lange aus, und so kam die Reihe zuletzt an den Friedrich.

Er mußte weg aus der kleinen Kammer neben dem dicken Doktor, der übrigens zur nämlichen Zeit die Stadt verließ, um wieder eine andere Hochschule zu beglücken, ein rastloser Wanderbursche der Wissenschaft. Es war nämlich die Bedingung gestellt, daß er gleich in der Nähe seines Schülers wohnen müßte, nur wenige Häuser davon. Sonst endete es immer mit Unzukömmlichkeiten: eine ganze halbe Stunde hatte sich der vorige Hauslehrer einmal verspätet.

Er hatte ein gutes Leben da. Der Junge war ein Lausbub. Aber die Herrschaft war gütig und ließ dem Gesinde nichts abgehen: zwei Sonntage im Monat hatte die Köchin Ausgang, er einen.

An einem solchen Sonntage, nach dem Essen – ein Jahr mochte vergangen sein – wanderte er einmal nach der Heide hinaus, zur Belustigung. Der Frühling schwamm in der Luft. Es tanzte ihm das Herz im Leibe und die Taler in der Tasche.

Seine Genußsucht schweifte aus. Er betrachtete die Riesendame, mit anhaltender Bewunderung, für drei Groschen; er zeigte seine Schießkunst; und von dem Mädchen mit den weißen Haaren und den roten Augen konnte er sich gar nicht trennen. Immer aber, wenn er aus der Bude heraustrat, hielt er ein wenig an, und, den Kopf leicht zurückgebeugt, mit hochgestreckten Armen sog er langsam den balsamischen Duft ein, den in sanften Wellen ein lauer Wind von dem nahen Walde herüberspülte, einträumend und buhlerisch.

Er verweilte vor der Rutschbahn. Sehr vergnüglich, wie der Karren vorübersauste, wie aus einer Kanone geschossen. Die Weiber kreischend durcheinandergerüttelt, eine über der anderen, mit fliegenden Röcken, die Hände krampfhaft an den Hüten, die sich gegen den Strom des Windes aufstellten, kerzengerade emporgesträubt. Und vorüber wie der Blitz, nurmehr ein dumpfes Grollen, in der Ferne verhallend. Als ob Kegel geschoben würde mit Menschenleibern.

Drollig. Er mußte das auch versuchen. Aber da, gerade wie er die Treppe hinaufwollte, stand sie auf einmal vor ihm, wie aus der Erde heraus. Es fuhr ihm ein Stoß ins Herz. Er taumelte.

»Schau!« sagte sie, »Du bist's. Sieht man dich auch wieder einmal? Ich glaubte dich gar nicht mehr hier!«

Er kniff sich in die Lenden, zweimal, um den Traum davonzujagen, die Augen auseinandergerissen, die Brauen aufgerollt wie die Stachel eines Igels. Sie lachte. Sie schritt die drei Stufen herunter, geradewegs auf ihn zu, und indem sie die Arme langausgestreckt auf seine Schultern legte und mit zärtlichen Fingern ihn leise an beiden Ohrläppchen zupfte, versetzte sie ihm, nachdem sie ihre Wangen eine Weile sanft an seiner Brust gerieben, langsam ihre Lippen auf die seinen schiebend, einen vollen, saftigen Kuß. Er empfing ihn wie ein heiliges Wunder, wortlos, zitternd. Er erwartete jetzt nur noch, daß sie ihn in die Arme nehmen und mit ihm fortfliegen würde, von der Erde weg, in die Ewigkeit.

Und sie lachte noch immer. »Ja freilich! Hast geglaubt, daß ich dich nicht mehr kenne, weil es schon ein Jahr her ist! Aber ich bin nicht von denen, die so leicht vergessen. Oh! Ich bin treu!« Und sie wurde ganz rot vor Stolz, aufgebläht vor Befriedigung wie eine Taube, die gurgelnd die Federn sträubt. »Ich bin treu. Was ich einmal liebe, das vergesse ich nicht wieder.«

Ihm dampfte der Kopf. Er tappte mit den Händen vor sich hin wie ein Geblendeter. Es brodelten ihm die Sinne. Über ihm jagten sich die kleinen runden Wolken, in silberweißen Wolljäckchen mit ausgezupften Ärmeln, flohen und gesellten sich. In ihm wirbelten verwegen Hoffnungen, überschlugen und purzelbäumten sich, stellten sich auf die Nase und trillerten mit den Zehen. Es war ein einziger reißender Strudel, in dem alles verschwand, oben und unten, innen und außen, ein heißer, fieberisch gaukelnder Tanz, in dessen stäubendem Gischt Himmel und Erde versanken.

»Wenn's dir recht ist, bleiben wir zusammen, heute. Ich habe ohnedies keinen.« Sie nahm seinen Arm. Er wankte dahin wie ein Trunkener. Er wußte nichts, verstand gar nichts. Ihm war, als würde er auf schwellenden Rosenkissen, von Jasmin gefächelt, in den Äther emporgetragen, höher und höher, wohin keine Kunde der Erde mehr dringt, von verzückten Engelschören umringt mit süßen, jauchzenden Schalmeien aus großen, goldenen, gewundenen Hörnern, und ihm schwände die Besinnung.

»Wo wohnst du jetzt eigentlich?« fragte sie, als sie nach der Stadt heimkehrten, abends, Arm in Arm, während er Visionen stammelte. Er nannte die Straße. »Donnerwetter! Da habe ich einen schönen Weg nach Hause. Aber nicht wahr, du zahlst mir eine Droschke, gelt? . . . Und weißt du, auf was ich mich am meisten freue? Was glaubst du, rate einmal!« Er erriet es aber nicht, gar nichts.

»Herrgott! Bist du ungeschickt«, sagte sie ärgerlich, als ihm das dritte Zündhölzchen versagte. »Und ich bin schon so neugierig darauf!«

»Aber wo ist es denn nur?« Und sie schnupperte mit dem Blick in allen Winkeln herum, wie ein Hund, der einen Brocken fallen gehört hat, aber nicht sieht. »Wo hast du es denn nur?«

Er begriff kein Wort. Er bat sie, es ihm zu erklären. »Ah, Schlingel!« kreischte sie. »Du hast es versetzt! Wahrscheinlich! . . . Oh, oh! Und ich hatte mich so gefreut darauf!«

Er wiederholte die Bitte, dringlicher. »Ah, tu doch nicht so!« sagte sie unmutig und gab ihm einen Klaps. »Du weißt schon – wir haben uns immer so amüsiert damit. Es war auch zu drollig . . . das Skelett!«

Nun gab es ihm einen Ruck, und plötzlich stand er wieder auf der Erde, mit beiden Füßen. Es war aus mit der Himmelfahrt. Er erinnerte sich. Der dicke Doktor, in der Ecke der Kammer, hatte ein männliches Skelett, einen gelben Fez auf dem Totenschädel, eine lange Pfeife mit blauen Quasten zwischen den zahnlosen Kiefern, ein lächerlicher und schauriger Anblick. Er hatte es oft gesehen, mit Ekel und Furcht. Er erbleichte.

»Das war der Doktor! Ich bin Friedrich, der Philologe!« Mehr brachte er nicht heraus.

Sie rieb sich das Näschen an der Fensterscheibe, ein wenig verlegen. Dann, indem sie flink auf den Absätzen herumwippte, lachte sie desto ausgelassener. »Nein, nein! . . . Richtig, ja! Das war der Doktor! Nein, wie ich euch verwechseln konnte – er war doch dick, mit einem großmächtigen Bauch, oh, ich erinnere mich jetzt ganz genau . . . Übrigens, da ich doch einmal da bin . . .«

Sie sperrte die Augen weit auf, durch Verwunderung vergrößert. Er hatte sich über den Tisch geworfen, das Gesicht in den Händen vergraben, und weinte und weinte, bitterlich.

»Richtig, richtig!« murmelte sie. »Der lange Friedrich! Ich erinnere mich jetzt . . . Er kam mir immer nicht recht richtig vor . . . Und jetzt sieht man es ja!«

Und leise, auf den Zehenspitzen, schlich sie hinaus, ohne ein Wort, wie eine Katze, und war froh, wie sie draußen war.

Am anderen Morgen geschah es, daß sich auch der neue Hauslehrer um eine ganze halbe Stunde verspätete. Er war sehr bleich und hatte dicke, schwarze Ringe um die Augen. »Die Leute haben kein Pflichtgefühl mehr«, sagte der Vater traurig zu der Mutter, »sondern Räusche.« Und sie zogen es ihm am Gehalt ab.

»Das darfst du nun nicht so tragisch nehmen, mein Lieber«, sagt' sein Freund Konrad, als er es ihm erzählte. Er war um drei Jahre älter, schon ganze zwanzig; da hat man keine Illusion mehr. »Was willst du? Die Weiber!« Er machte eine verächtliche Gebärde. »Sie sind einmal so, ein vergeßliches Geschlecht, eine wie die andere. Das macht – sie haben um so viel weniger Gehirn, weißt du?«

»Aber ich habe sie so geliebt!« schluchzte der lange Friedrich.

»Ja, das darf man halt nicht! Das darf man halt nicht!«

 


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