Berthold Auerbach
Auf der Höhe. Erster Band
Berthold Auerbach

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Achtes Kapitel.

Mit einer Empfindung, als käme sie aus einer andern Welt, aus einem Leben, das weit, weit entfernt liegt, kehrte Irma ins Schloß zurück. Der Leibarzt war ein Forscher und ein Kundiger im Menschenherzen.

Der Besuch Irmas in seinem Hause hatte in einem Betracht die streng folgerichtige Wirkung, die er sich vorgedacht, aber es mischte sich noch etwas andres, oder verband sich vielmehr mit Vorhandenem, was er nicht bemessen konnte. Nur der Tropfen, der aus den Wolken fällt, ist ohne fremde Beimischung, und nur der reine Gedanke läßt sich in seiner Folgerung streng bestimmen. Das Wasser in den Brunnen auf der Erde und das lebendige Menschenherz – es sind unsichtbare Mischungen in ihnen, und es läßt sich nicht ermessen, wie eine neue Zuthat auf die gelösten unsichtbaren Atome wirkt.

In Irmas Seele war eine tiefe Erregung. Ihre übermächtige Kraft hatte eine Uebung, eine That gesucht, um sich daran auszuleben. Die Freundschaft des Königs, und daß sie seinem hohen Naturell etwas bieten könnte, was ihm sonst mangelte, die gute Kameradschaft, war ihr wie ein Glück erschienen. Nun hatte die alltägliche Höflichkeit mit dem Blumenstrauß, so klein sie war, sie geweckt und beleidigt. »Er ist nicht dein Ideal,« sagte sich Irma und sie war tief einsam in sich, wie sie es gewesen, seit sie denken konnte.

Sie war einsam gewesen im Kloster, aber dort hatte sie ihre Freundin gefunden, die, wenn auch weniger gab, doch alles treu von ihr nahm. Sie war einsam am Hofe, trotz ihrer übermütigen Laune; sie mußte immer etwas treiben, etwas versuchen, musizieren, singen, malen, modellieren; nur diese tote Einsamkeit nicht. Ein tiefes Heimweh war in ihrer Seele.

Sind nicht alle Menschen heimatlos auf der Welt? fragte sie sich. Während sie so umhersuchte, ward sie vom Leibarzt in sein Haus eingeführt.

Wie schön, wie lückenlos ist da alles. Da ist eine Heimat, da ist eine Mutter, die sagt, wie sie junges, heißes Leben versteht; diese Töchter können nie so leiden wie sie. Der Blick der Mutter streifte auch sie und sagte: ich werde dich verstehen, dir alles Weh lindern, das du mir klagst; aber Irma konnte nicht klagen, sie konnte nicht rufen: Hilf mir! Und nun gar da nicht, wo sie nicht auch leisten soll, wo man nicht auch ihrer bedarf. Sie kann und will sich selbst und nur allein helfen.

Frau Gunther hat das Tiefste in ihr angerufen: das Andenken an eine Mutter, die ihr fehlt. Aber Irma glitt mit leisem Worte darüber hinweg, und der Schmerz gärte um so stärker in ihr.

Jetzt weinte sie; sie wußte es nicht, bis eine Thräne auf ihren Busen fiel.

Es ist so viel Friede, so viel schön erfüllte Abgeschlossenheit in der Welt, die sich selbst genug ist, und in Arbeit und Bildung keiner Gunst von außen bedarf. Wie glücklich ein Mädchen solch einer Familie, bis es wieder selbst Haupt einer Familie wird ...

Irma fühlte sich gedemütigt, ihr ganzer Uebermut war verflogen. Sie war noch dort im Garten, wo sich die Menschen leicht und frei bewegen, die Männer von der Berufsarbeit, die Mädchen aus häuslichem Wirken kommend, und gemeinsam sich vergnügend.

»Eines bleibt mir, und eines ist das Höchste,« rief Irma, plötzlich sich erhebend, »die Einsamkeit ist mein. Einsam und stark und ich selbst in mir.«

Das Kammermädchen trat ein und meldete einen Lakaien der Königin.

»Die Königin befiehlt mich jetzt? Sogleich?« fragte Irma noch einmal, nachdem sie die Botschaft gehört.

»Ja, gnädige Gräfin.«

»Gut, ich komme.«

»Walpurga hatte doch recht,« sagte sie dann vor sich hin, »ich diene doch.«

Sie stand verdrossen vor dem Spiegel und ließ ihren Anzug ordnen. Sie lächelte und erzwang eine heitere unbefangene Miene, und diese Miene wollte sie vor der Königin haben. Sie mußte.

Hastigen Schrittes ging sie zur Königin. Vor der Thüre richtete sie sich nochmals auf und prägte ihrem Gesichte die heiter lächelnde Miene ein. Sie trat in das immer nur mit Dämmerlicht erfüllte Zimmer.

Die Königin saß schneeweiß gekleidet, ein kleines weißes Spitzentuch leicht um die blonden Haare geschlungen, in einem großen Lehnsessel.

»Kommen Sie zu mir, liebe Gräfin,« sagte die Königin, »ich freue mich herzlich, Sie wiederzusehen. Ich sehe alle meine Lieben jetzt neu wieder, als ob ich diese Wochen in einer andern Welt gewesen wäre. Ich bin leider aufs neue etwas angegriffen. Ich muß Ihnen noch besonders danken. Ich höre, daß Sie sich der Amme liebreich annehmen, ihr Gemüt erheitern, und dadurch auch dem Prinzen wohlthun; der König stimmt auch ganz mit mir überein, daß Sie uns ein wahres Glück sind. Ich werde Ihrem Herrn Vater schreiben und ihm sagen, wie glücklich es uns macht, daß Sie bei uns sind. Er wird Ihnen dann nicht mehr gram sein.«

Irma war froh, daß die Königin so lange sprach. Sie gewann dadurch immer mehr Fassung.

»Bitte, geben Sie mir den Brief, der dort auf dem Tische liegt,« sagte die Königin jetzt.

Irma brachte ihn und die Königin fuhr fort:

»Hier lesen Sie diese Zeilen, die der König schreibt.« Irma las:

»Bitte, laß mir auch durch Gräfin Irma regelmäßigen Bericht erstatten über das Befinden unsers Sohnes. Grüße mir das liebe vierte Blatt an unserm Kleeblatt.«

Irma reichte dankend den Brief wieder hin. Es kränkte sie tief, daß der König sie nun doch zwingen wollte, an ihn zu schreiben, und auf welchem Wege! Walpurga hat recht, von der Wiege des Kindes sollen Liebesblicke ausgehen.

Irma wäre gerne vor Wehe auf den Boden gesunken, so schwer lastete es auf ihr.

»Nicht wahr, liebe Gräfin,« sagte die Königin wieder, »Sie thun uns den Gefallen und schreiben?«

Irma verneigte sich, und die Königin fuhr fort:

»Freilich, Sie werden nicht viel zu schreiben haben. Ein menschliches Wesen, weil es das höchste in der Schöpfung, entwickelt sich langsamer als die andern.«

»Da müßte sich ein Prinz noch viel langsamer entwickeln,« wollte Irma einwerfen, aber sie nickte nur still lächelnd.

Sie war gar nicht gestimmt, auf die Denkweise der Königin einzugehen. Sie sah darin nur Kinderstubengedanken, für die sie jetzt keinen Sinn hatte. Und wäre es auch mehr und wäre es das Höchste, was soll es mir? dachte sie. Hier, wie im Hause Gunthers ist in sich abgeschlossenes, in sich befriedigtes Leben. Da ist die Mutter und ihr Kind – was soll ich hier? Plaudern, teilnehmen, immer nur teilnehmen, und jedes ist ein Ganzes für sich und hat eine Welt für sich, und ich soll immer nur teilnehmen? Almosen genießen? Dort von der Freundschaft, hier von der Gnade? Ich bin ein Ganzes in mir, oder bin nicht.

Und während es in Irma so sprach, fuhr die Königin in ihrer bewegten, immer aus der Tiefe kommenden Weise fort: »Ich stehe vor dem Lebenswunder noch immer mit Staunen und Andacht. Sie haben gewiß auch schon darüber gedacht, welch ein Unendliches darin liegt, wenn ein Kind zum erstenmal atmet und die Augen aufschlägt; Luft und Licht sind die ersten und letzten Boten der Welt. Der erste Atem und der letzte Atem, der erste Blick und der letzte Blick! Wie wunderbar!«

Irma fühlte, was Dienst heißt. Wäre sie frei, der Sprechenden gleich, sie würde sagen: Liebe Freundin, ich bin jetzt nicht gestimmt, nicht empfänglich für das, was du sagst; bei dir in deiner Seele ist stiller, früher Morgen. Aber in mir ist heißer, brennender Mittag. Ich bitte, laß mich jetzt in mir allein....

Eine tiefe Sehnsucht nach schrankenloser Einsamkeit war in Irma; aber sie durfte sie nicht hegen, nicht einmal kundgeben; sie hätte gern die Augen geschlossen, und mußte sich doch zu aufmerksamem Blicke zwingen. Sie hörte, sie antwortete, und ihre Seele war weit weg. Zum erstenmal empörte sich's in ihr, daß sie einem Wesen gleicher Art gegenüber nicht ihr volles Recht habe. Sie zürnte der Königin. – Sie war mehrmals daran, von ihrem Besuche im Hause des Geheimrats zu erzählen, aber das, was dort lebt, paßt nicht in diese unabänderliche Dämmerung, und es war ihr, als dürfe sie die edle Bürgersfrau, deren Fuß noch nie das Schloß betreten, auch nicht in Gedanken hierher bringen, und sie dachte an ihren Vater und seinen starken Unabhängigkeitssinn.

Alles das dachte sie und sprach doch von dem Prinzen und seinem Gedeihen und den erheiternden Eigentümlichkeiten der Walpurga.

Die Königin bemerkte eine Verdüsterung im Wesen Irmas; sie wollte sie erheitern und sagte:

»Ach liebe Gräfin, ich lechze wahrhaft nach Musik. Unser Freund Gunther erlaubt mir nicht Musik zu hören, ich soll meine Nerven noch schonen; aber ein kleines Lied dürfen Sie mir wohl singen. Ich höre, daß Sie von der Amme ein schönes neues Lied gelernt – wollten Sie mir das nicht singen? Darf ich Ihre Zither holen lassen?«

Irma hätte gern aufgeschrieen, aber sie verbeugte sich wieder bejahend und befahl dem Lakaien, aus ihrem Zimmer die Zither zu holen. Er brachte sie und Irma sang jetzt der Königin das Lied:

»Wir beide sein verbunden
Und fest geknüpfet ein,
Glückselig sein die Stunden,
Wann wir beisammen sein.

Mein Herz trägt eine Ketten,
Die du mir angelegt,
Und ich wollt' das Leben wetten,
Daß keiner schwerer trägt.«

In der Seele Irmas war eine schrille isolierte Begleitung zu diesem Liede, jedes Wort hatte eine Doppelbedeutung.

»Das muß ich der Königin singen,« sprach es in ihr, während sie sang. »Ja, ihr beide seid verbunden! Die Glücklichen alle sind verbunden, der Unglückliche allein ist einsam.« ...

Sie sang mit düsterer Verzweiflung, mit Zorn in der Seele.

»Sie singen das Lied mit tiefer Bewegung,« sagte die Königin. »Also das hört jetzt mein Sohn? Man kann nicht sagen hört, denn jetzt hört und sieht er noch nichts Bestimmtes. Bitte, singen Sie das Lied noch einmal, damit ich es für mich nachsingen kann.«

Irma sang noch einmal und jetzt freier. Die Königin dankte herzlich.

»Ich darf jetzt leider die Menschen, die ich lieb habe, nur kurze Zeit sprechen, liebe Gräfin. Ich freue mich sehr darauf, daß wir wieder auf das Sommerschloß ziehen; dann wollen wir viel zusammen und mit dem Kinde sein. Adieu, liebe Gräfin, schreiben Sie bald und singen Sie dem Kinde Ihre schöne Seele ins Herz.«

Irma ging. Auf den langen Korridoren stand sie mehrmals still, sie mußte sich besinnen, wo sie war; endlich fand sie ihr Zimmer. Sie befahl, daß sofort ihr Pferd gesattelt werde und ein Reitknecht sich bereit halte.

Als Irma sich eben umgekleidet hatte, brachte ein Diener einen Brief. Sie erbrach ihn mit zitternder Hand und las:

»Mein Kind!

Du bist nun achtzehn Monate am Hofe. Ich habe Dich frei gewähren lassen. Ich möchte Dir viel sagen, aber ich kann nicht schreiben. Das Schreiben macht fremd. Deine Zimmer sind im alten Zustande bereit; auch Blumen warten Deiner. Es ist jetzt schöne Sommerszeit. Die Aepfel an Deinem Baum bekommen bereits rote Wangen. Ich möchte auch die Deinigen wiedersehen. Komm zu

Deinem Vater.«

Irma streckte die Hände empor. »Das ist Erlösung! Ja, ich habe noch eine Heimat, noch ein Herz, an das ich mein Haupt legen kann. Ich komme, ich komme, Vater.«

Es schwamm ihr vor den Augen, sie klingelte und befahl, daß der Reitknecht wieder absattle, sie reite nicht aus. Dann befahl sie der Kammerfrau, schnell Kleider auf einige Wochen einzupacken; sie ließ sich nochmals bei der Königin melden und bat um Urlaub.

»Es thut mir leid, daß auch Sie mich verlassen,« sagte die Königin, »aber ich will Sie gern entbehren, wenn Sie nur glücklich sind, und ich hoffe, Sie werden es nun immer und ganz. Thun Sie alles, um volle Harmonie mit Ihrem Vater zu gewinnen. Glauben Sie mir, Irma: in allen Verhältnissen der Welt, als Gattin zum Gatten, als Mutter zum Kind fühlt man sich immer werdend, strebend, es soll immer wachsen und noch höher werden mit der Zeit, als Kind allein ist man ganz befriedigt und vollkommen, da ist man etwas Gewordenes, Naturbefriedigtes.«

Die Königin und Irma fanden heute keinen rechten Accord; Irma war in unruhiger Hast, sie wollte fort; was sie nur eine Sekunde aufhielt, war ihr als Hindernis zuwider.

Was die Königin sagte, mochte anmutend sein, aber nur für den Ruhigen, nicht für den, der einen Fuß auf dem Wagentritt hat.

Dennoch war der Abschied herzlich, die Königin küßte Irma.

Es mußte noch die formelle Einwilligung der Oberhofmeisterin eingeholt werden; auch diese ward gegeben.

Irma hatte auch noch Abschied beim Geheimrat und dessen Familie zu nehmen. Sie wollte ihm lebewohl sagen lassen durch den Oberst Bronnen oder durch Baron Schöning, der kommt ja, wie er sagt, auch oft ins Haus des Geheimrats; sie hat auch diesen Männern lebewohl zu sagen und auch den Genossinnen. Jetzt, da sie fort wollte, sah sie, wie viel Menschen sie doch hat. Aber wo sind sie, wenn du sie nötig hast? Sie sind eben nur dazu da, daß du sie nicht nötig hast. Das ist die Welt. Doch halt! Einem Menschen mußt du noch lebewohl sagen, dem vor allen. Sie eilte zu Walpurga.

»Walpurga!« rief sie, »morgen früh, wenn du aufstehst, thu einen hellen Juchzer! Ich bin dann daheim auf unsern Bergen und will dir entgegenjuchzen, daß die ganze Welt hell auflachen soll. Ich geh' zu meinem Vater.«

»Das freut mich.«

»Und daß ich fortgehe, thut dir gar nicht weh?«

»Gewiß! Aber wenn man noch einen Vater auf der Welt hat, muß man's nicht versäumen, daß man in die Augen sieht, die nur einmal auf der Welt sind. Ich freue mich für den Vater, daß er so ein Kind sehen kann. O, wenn meine Burgei erst so groß wär'!«

»Walpurga, ich gehe auch zu deinem Mann, zu deinem Kind und deiner Mutter; ich setze mich an deinen Tisch, und grüße deine Kuh und deinen Hund. Ich geh zu ihnen, kannst dich drauf verlassen.«

»O Gott, was wird das für eine Freude sein! Wenn nur auch mein Hansei daheim ist und nicht im Wald.«

»Dann laß ich ihn holen. Jetzt leb wohl und vergiß mein nicht.«

»Da können Sie sich drauf verlassen,« schloß Walpurga, und Irma eilte davon.

Sie schrieb noch an ihre Freundin:

»Emmy!

Vor zwei Stunden erhielt ich einen Brief meines Vaters. Er ruft mich heim. Ich habe Urlaub auf vierzehn Tage. Emmy, ich habe Urlaub. Weißt Du, was das ist? Ich mußte versprechen, sicher wiederzukommen. Ich weiß nicht, ob ich das Versprechen halte. Der Boden zittert unter mir und mein Kopf schwindelt. Die Welt ist ein Chaos, aber es wird Licht. Jeder Mensch kann rufen, es werde Licht. Wenn wir nur immer könnten, was wir können. Aber jetzt kein geschriebenes Wort mehr, genug. Bald sehe ich Dich. Komm so bald als möglich nach Wildenort zu

Deiner Irma.

Nachschrift. Ich nehme keine Entschuldigung an, Du mußt kommen. Ich verspreche Dir dafür auch, bei Deiner Hochzeit zu sein. Grüße alles, was Dein ist, und über alles Deinen Albrecht.«

Als die Sonne sich bereits zum Untergange neigte, fuhr Irma mit ihrer Kammerfrau ab, nach dem Gute ihres Vaters.


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