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Als Walpurga am Morgen im Schlosse erwachte, glaubte sie, daheim zu sein, und betrachtete die fremde Umgebung wie einen Traum, der nicht weichen will. Erst allmählich besann sie sich, was vorgegangen war. Sie drückte nochmals die Augen zu und sprach ihr Morgengebet, dann blickte sie frei auf: da scheint ja dieselbe Sonne, die daheim in die Gstadelhütte am See leuchtet.
Mit frischem, selbsterwecktem Mute stand sie auf.
Lange lag sie am Fenster und starrte hinein in das fremde Leben.
Sie sah nichts vom Stadtgetriebe. Der Schloßplatz, von einer großen Reihe buschiger Orangenbäume bekränzt, war weit abgeschieden vom Geräusch der Straße; nur die beiden Soldaten am Schloßthore sah man Gewehr im Arm auf und ab gehen.
Die Gedanken Walpurgas aber wanderten heimwärts. Sie sah leibhaftig, wie es jetzt daheim ist in der Gstadelhütte am See. Sie hört das Holz knacken, mit dem die Mutter Feuer anmacht, sie kennt das Lämpchen, das sie vom Küchenbrett nimmt. Milch haben wir im Haus, wir haben ja eine Kuh. Die Mutter wird sich freuen, daß sie wieder melken kann; und wo man jetzt daheim ein Feuer anzündet, denkt man an mich: und die Stare auf dem Kirschbaum schwatzen: Unsre Hausfrau ist fort, aber eine Kuh ist da!
Walpurga lächelte vor sich hin, und weiter gingen ihre Gedanken: Mein Hansei verschläft den Morgen, er muß immer geweckt werden, sonst schlief' er, bis es Mittag läutet; er wacht nie von selber auf. »Die Sonne brennt ein Loch in dein Bett! Hansei, steh auf!« ruft die Mutter, er macht sich heraus und wäscht sich am Brunnen, und jetzt essen sie die Suppe miteinander, und das Kind hat seine gute Milch. Wenn ich mir nur die Kuh auch noch recht angesehen hätte! Jetzt holt Hansei Futter beim Gemswirt. Wenn er sich nur von dem nicht betrügen läßt, das ist ein gar arger Schelm. Und der Hansei wird sich so viel verlassen vorkommen, verlassener wie mein Kind. Aber gottlob! er hat ja zu thun. Es ist gute Zeit zum Fischen, er geht nicht in den Wald. Jetzt springt er in den Nachen, daß es poltert; die Ruder klatschen im See und er fährt hinaus und fischt ...
Weiter will Walpurga denken, wie's am Mittag sein wird und dann am Abend; plötzlich spürt sie's im Kopf, wie wenn ihr der Verstand stille stehe – fort sein und tot sein, ist fast eins; du kannst dir nicht denken, wie es sein wird, eine Stunde nach deinem Tod, du kannst dich nicht hinausdenken aus der Welt. Es wirbelt ihr, sie wendet sich rasch um und sagt wie in Gespensterfurcht zu Mamsell Kramer:
»Wir wollen was schwätzen.«
Das ließ sich Mamsell Kramer nicht zweimal sagen. Sie erzählte Walpurga, wie das ganze Schloß davon spreche, daß die Königin sie gestern abend geküßt habe, und daß es morgen in allen Zeitungen stehen werde.
»Geh!« erwiderte Walpurga, und Mamsell Kramer erklärte ihr, daß sie wohl gegen sie solch ein Wort sagen dürfe, aber gegen andre nicht; man müsse immer bescheiden erklären, was man meine, nicht bloß einen Ton hinwerfen, wie ein Vogel. Walpurga schaute auf und stand lauschend, als spräche Mamsell Kramer noch immer weiter und sie sagte endlich: »Fast gerad' so hat mir's mein Vater seliger auch einmal gesagt; ich hab's aber damals noch nicht verstanden. Jetzt – ich hab' nur sagen wollen: die Leute in der Stadt müssen viel Langweil haben, wenn sie aus so was ein Aufhebens machen.« In sich hinein schloß sie wieder: »Geh!«
Der kleine Prinz erwachte, Walpurga nahm ihn auf, und als er an ihrer Brust wieder einschlief, sang sie ihm mit heller Stimme:
»Wir beide sein verbunden
Und fest geknüpfet ein,
Glückselig sein die Stunden
Wann wir beisammen sein.«
Als sie geendet und das Kind wieder in die Wiege gelegt hatte, sah sie sich um; an der Thüre standen der König und der Leibarzt.
»Du kannst ja prächtig singen!« sagte der König.
»Geh,« erwiderte Walpurga, und: »So was man ins Haus braucht, aber besonders schön ist's nicht,« setzte sie auf Mamsell Krämer schauend hinzu. Sie dolmetschte jetzt sich selbst.
Der König und der Leibarzt freuten sich am Anblicke des Kindes.
»Der Tag ist doch ganz anders, wenn man zum erstenmal in das Auge seines Kindes sieht,« sagte der König und Walpurga bestätigte:
»Ja, da schaut einen die Welt ganz anders an; da hat der Herr König ein wahres Wort gesagt.« Es antwortete ihr niemand und der König lächelte. Er ging mit dem Leibarzt davon. Mamsell Krämer prägte Walpurga ebenso behutsam als eindringlich das erste Gebot ein:
»Du darfst zu Seiner Majestät dem Könige und zu Ihrer Majestät der Königin nicht sprechen, bis sie dich etwas fragen.«
»Das ist gescheit! Da hört man nichts Unebenes! O wie gescheit eingerichtet!« rief Walpurga zur Ueberraschung der Mamsell Kramer. »Das will ich mir merken!«
Beim Frühstück im Pavillon des Schlosses konnte man erfahren, daß Mamsell Kramer und vielleicht auch Walpurga die Wahrheit gesprochen. In den Gruppen, die sich auf der Veranda unter den Orangenbäumen sammelten, sprachen Vertraute miteinander, – nachdem sie sich gegenseitig die Zunge gehoben und überzeugt hatten, man dürfe der Medisance freien Spielraum lassen, – wie die Sentimentalität der Königin sich wieder in ihrem Verhalten gegen die Amme gezeigt habe: das süßliche Gethue sei leider ein Erbstück derer aus dem Hause ***. – Die Oberhofmeisterin, hieß es, sei wieder krank geworden von dem Aerger über das etikettewidrige Benehmen der Königin.
»Die Königin entwertet ihre Gunstbezeigungen,« sagte eine ältere Hofdame, die gut anderthalb Pfund falsches Haar auf dem Kopf hatte.
»Nichts ist langweiliger als permanente Zärtlichkeit,« bemerkte eine andre wohlbeleibte, streng kirchliche Palastdame; aber sofort die böse Nachrede mit dem Mantel der Liebe zudeckend, setzte sie hinzu: »Die Königin ist noch halb Kind und meint es im Grunde so gut.«
Die fromme Palastdame war hiermit nach beiden Seiten gedeckt, sie konnte mit den Medisierenden und mit den Liebreichen gehen.
»Sie haben wohl wenig geschlafen?« sagte eine ältere zu einer sehr jungen, blaß aussehenden Hofdame.
»Allerdings,« seufzte die Angeredete. »Ich habe noch den letzten Band von – sie nannte einen neuen französischen Roman, einen unzweideutigen – bei einem einzigen Lichte ausgelesen. Sehr interessant, werde Ihnen heute das Buch zurückgeben.«
»Dann bitte ich darum! – und ich! – und ich!« rief es von verschiedenen Seiten.
Die fromme Palastdame wollte von diesen Dingen nichts hören, obgleich sie den Roman heimlich auch schon gelesen. Sie lenkte das Gespräch wieder auf Walpurga, sie hatte die neueste Nachricht, daß die Amme sehr schön singen könne.
»Wer singt schön?« fragte Gräfin Irma hinzutretend.
»Das ist etwas für Sie, liebe Wildenort; von der Walpurga können Sie viele neue Lieder lernen und zur Zither singen.«
»Ich warte, bis wir wieder im Freien sind. Solch eine Bäuerin in Schloßgemächern ist ein Widerspruch. Wann zieht denn der Hof wieder nach der Sommerburg?«
»Erst in sechs Wochen!«
Es gab noch viel Gerede über Walpurga, und eine Dame behauptete, es sei eine Intrigue des Leibarztes, daß man eine Amme aus dem Gebirge holen mußte, von wo der Leibarzt auch stammte; er schaffe sich immer Alliierte, denn diese Person werde großen Einfluß auf die Königin haben. Man sprach von dem intriganten Wesen des Leibarztes, der sich den Anschein gebe, als ob er mit den Ueberschwenglichkeiten der Königin ernstlich sympathisiere; denn das war allen gewiß: wer sich so lang und beständig in der Gunst des Hofes erhält, bringt das nicht mit ehrlichen Mitteln zuwege.
»Der Leibarzt ist noch gar nicht so alt,« sagte eine sehr hagere Hofdame, »er ist erst im Anfange der Fünfzig. Ich glaube, er hat sich die Haare weiß gefärbt, um vor der Zeit recht ehrwürdig auszusehen.«
Man lachte viel über diesen Scherz.
Vor dem Frühstück gab es unabänderlich immer getrennte Männer- und Frauengruppen. In dem Kreis der Hofkavaliere war von Telegrammen die Rede, die nach allen Höfen ausgegangen, auf welche bereits vielfach Antworten eingetroffen waren und noch immer einliefen.
Erst nach dem Frühstück in einer Sitzung des Hausministeriums und Hofmarschallamtes sollte bestimmt werden, wer außer den Eltern der Königin zu Gevatter gebeten werden sollte. Es hieß sogar, daß der Papst einen besonderen Nuntius zur Taufe schicken werde, dem der Bischof assistiere.
Von so fern liegenden Höhen lenkte der Flügeladjutant des Königs, der Bruder der Gräfin Irma, die Unterhaltung wieder auf Walpurga; er rühmte ihre Schönheit und ihr drolliges Wesen, der Kuß der Königin wurde auch hier nachgeschmatzt; der Flügeladjutant hatte dazu ein Witzwort aufgebracht, über das alle hell auflachten.
Plötzlich hieß es: »Der König!«
Die Gruppen zerteilten sich und stellten sich grüßend in Reihen auf. Der König ging dankend durch die Reihen nach dem Dianensaal, wo man frühstückte. An der Decke war die Göttin Diana mit ihrem weiblichen Jagdgefolge, von einem Schüler Rubens' gemalt. Der Oberhofmarschall überreichte dem König ein Paket Telegramme. Der König erwiderte, er möge sie nur selbst öffnen und über diejenigen, die etwas mehr als Gratulationen enthielten, besondere Mitteilung machen.
Man setzte sich zum Frühstück.
Es war hier in der Stadt nicht so heiter und zwanglos wie draußen auf dem Sommerschlosse; auch lag allen noch die Unruhe der vergangenen Nacht im Gemüte. Es wurde nur leise gesprochen.
»Gräfin Irma!« sagte der König. »Ich empfehle Ihnen die Walpurga, sie ist eine Figur für Sie, und Sie können schöne Lieder von ihr lernen und sie neue lehren.«
»Danke, Majestät! Wollen Eure Majestät nur die Gnade haben, zu befehlen, daß mir die Frau Oberhofmeisterin gestatte, zu jeder Zeit in die Gemächer Seiner königlichen Hoheit des Kronprinzen zu gehen.«
»Wollen Sie das besorgen, lieber Rittersfeld!« erwiderte der König, zum Oberhofmarschall gewendet.
Man glückwünschte der Gräfin Irma, die am untern Ende des Tisches saß; das Gespräch heftete sich nun fast ausschließlich an Walpurga.
Dem König wurden die Morgenzeitungen gebracht. Er durchflog sie und rief unwillig:
»Diese schwatzhafte Presse! Da steht der Kuß der Königin auch schon in den Landesblättern.« Sein Antlitz verfinsterte sich; es war offenbar, daß ihm die Thatsache und noch mehr deren Bekanntwerden höchst peinlich war. Nach einer Weile sagte er:
»Meine Herren und Damen, ich bitte dafür zu sorgen, daß die Königin nichts davon erfährt.«
Er stand rasch auf und ging.
Die Frühstücksgesellschaft trennte sich nur langsam, und die fromme Palastdame konnte sich nun offen zur Medisance bekennen. Der Mantel der Liebe war nicht mehr nötig: der König war der sentimentalen Gemahlin bereits überdrüssig. –
Sollte die Gräfin Irma ...? Wer weiß, ob das nicht ein fein angelegter Plan ist, ihr offenen Zutritt zu den Gemächern des Kronprinzen zu verschaffen? Der König wird sie da treffen ... Wer weiß –?
Man war sehr erfinderisch in Kombinationen und Vermutungen, die man indes sehr behutsam und vorsichtig einander zuflüsterte. Walpurga und die Königin, ja sogar der Kronprinz waren eine Weile ganz vergessen.