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Verehrte Gräfin! Warum soll ich es länger in meiner gepreßten Brust zurückhalten: Sie sind's, Sie sind's, die ich seit Jahren in aller Welt vergebens suchte! Der veränderte Name, er kann Sie nicht verändern, und die Jahre haben keine Gewalt über Sie. – Warum beginne ich meine Geschichte, die Sie verlangen, mit dem Ausrufe, der sie beschließen sollte? – Ich kann nicht anders, ich bedarf dieser Sicherung, um die schmerzlichen Zufälligkeiten meines Lebens, das leere Spiel meiner sehnenden Bemühung ruhig zu übersehen und Ihnen, meine Wohltäterin, alle Ereignisse als ein gehorsamer Sklave Ihrer Befehle vorlegen zu können.
Denke ich der abwechselnden Witterung, in der kein Tag dem andern gleich ist; denke ich der Bälle, die ich als Kind in entfernte Höhen zu schleudern mich geübt hatte, wie sie aus dem höchsten Glanze immer schneller zur Erde sanken; denke ich, wie ich in späteren Jahren zwischen Türmen mein Seil spannte und so hoch und frei über der Welt stand, wo kein anderer zu stehen wagte, und wie ich jetzt, seit dem Unfall, der mich neulich fast herabgestürzt, an dem Gedanken dieser Höhe schwindle: da lerne ich wieder den Zweifel kennen, der Ruhe gibt aller ungestümen Freude, die mich bei dem Aufrufe: Sie sind's! übernommen hatte.
Wo ich geboren und wer mich geboren, hat mir noch niemand verkündet. Es war früh meine Trauer, kein Vaterland und keine Mutter zu kennen, die mich noch jetzt bei dem Liede befällt, das ich als Knabe erfand, als ich noch unter Deutschen wohnte, und nachher nie aus dem Gedächtnis verloren habe. Mein Taufname, womit ich genannt wurde, ist Cosmus; Spoleto habe ich mich später im Unglücke genannt. Meine erste Jugend ist mir vergangen und vergessen, wie der heutige Morgentraum; ein Augenblick Gottes ist unser Jugendleben, und indem wir uns in der Welt danach umsehen wollen, werden unsere Augen schwach. Wo ich mich zuerst des grünen Walds, des singenden Kuckucks erinnere, den mein Vater anrief, da meinte ich schon unendlich lange gelebt zu haben; jetzt weiß ich aber nichts mehr von allem, was früher mit mir geschehen. Mein Vater wurde Herr Friedrich von den Leuten genannt, ich mußte ihn Herr Vater nennen; ich erinnere mich seiner als eines schönen, großen Mannes, der sich in schwarzem Sammetrocke am Feiertage, an Werktagen in einem roten Tuchrocke kleidete und alle Tage gleiche schwarzseidene Unterkleider trug. Sein Gesicht muß Ähnlichkeit mit mir gehabt haben, warum soll ich mir verhehlen, was mir oft gesagt worden, daß ich eher schön als häßlich zu nennen; mir hat dieses Lob noch nie genutzt. Wir wohnten in einem einsamen Forsthause in Bayern, an der Tiroler Grenze. Der Förster hieß Rost, mir bedeutender, gleichsam der Rost vom unschuldigen Blute an einem Mordstahl, der durch keine Bemühung versteckt werden kann. Er hat seine Frau späterhin umgebracht und ist in alle Welt entflohen, sonst hätte ich wohl etwas Näheres über meinen Vater erfahren, als ich zu reiferen Jahren gekommen war und nachforschte. Nur das eine weiß ich, daß mein Vater sehr viele Bilder besaß, aber keine selbst malte, sondern nur das Verdorbene daran mit großer Sorgfalt besserte; auch hatte er mancherlei geschnittene Steine, Abgüsse, mit denen er mir kein Spiel gestattete, sondern sie nur in großer Entfernung anzusehen erlaubte, was mir wenig Vergnügen machte. Irre ich nicht, wenn ich aus dem steten Wechsel dieser Kunstsachen, die er erhielt und fortsendete, auf einen Kunsthandel schließe? Auch war mein Vater oft abwesend, wahrscheinlich zu diesem Betrieb, und hatte viele große Bücher mit Bildern, die ich dann, durch Begünstigung der Förstersfrau, durchblätterte und auch wohl zuweilen zu meinen Spielen ausplünderte. Dieser Frau, die ich Mutter nannte, ungeachtet ich wußte, daß es meine Mutter nicht sei, danke ich die erste Übung meiner Stimme; sie hatte viel in der Kirche bei den Nonnen gesungen, und so wußte sie manches lateinische Lied auswendig, das ich zu ihrer Zufriedenheit sehr rein nachsang. Doch beschäftigte mich dies und das Lesen weniger, als das üben körperlicher Geschicklichkeit, worin ich des Försters Knaben übertraf; die glatteste Stange kletterte ich hinan, ritt auf dem Dache, schleuderte mit Sicherheit, schoß mit der Armbrust zu aller Verwunderung. In dieser Zeit sprach ich nur deutsch, denn mein Vater sprach immer deutsch mit mir und italienisch mit sich; ich zweifle aber aus seinem Wesen, daß er ein Italiener gewesen sei. Als ich sieben Jahre ungefähr, alt war, mein Geburtstag wurde den sechzehnten Julius gefeiert, da brachte Rost eines Abends die Nachricht, mein Vater sei in Italien umgebracht und seines ganzen Eigentums beraubt worden. Ich war untröstlich, ungeachtet ich nicht einsah, welchen nahen Einfluß dieses Unglück auf meine Lebensweise haben würde; doch merkte ich bald mitten in meinem Schmerze, daß ich von dem Manne und auch in seiner Gegenwart von der Frau, die er oft hart schlug, strenger behandelt wurde, auch weinte die Frau mehrmals, wenn sie mit mir allein war. Das achtete ich wenig, sobald ich nach Kinderart den Schmerz in meinen Spielereien wieder vergessen hatte; der Vater war so lange Zeit entfernt gewesen, daß sein ewiges Außenbleiben mich eigentlich nicht verwundern konnte.
Es kam einen Monat später der Bruder des Försters, der in Venedig einen kleinen Handel trieb, zum Besuche, machte sich mit mir lustig, und ich nahm seinen Vorschlag, den auch Rost billigte, recht gern an, mich nach Venedig mitzunehmen. Die heimlichen Warnungen der Försterin, ja nicht mit dem Bruder fortzureisen, hielt ich für leere Ängstlichkeit, die sie mir oft bei meinen Sprüngen und Kunststücken gezeigt hatte. Bald wanderte ich mit dem Kaufmanne, an einem Sonntage, fröhlich und leichtfüßig aus. Die Försterin begegnete uns im Walde, weinte, drückte mich an ihr Herz und schenkte mir einen Henkeltaler, den ich noch jetzt, durch so viele Zufälligkeiten des Lebens, bewahrt habe. Mein Taufname Cosmus, wie ich von dem Vater genannt wurde, und der sechzehnte Julius waren darauf eingegraben; es mochte also wohl ein Andenken von meiner unbekannten Mutter sein. Der Kaufmann riß uns mit Spaßen auseinander; er wußte mir so viel Angenehmes von der Welt zu erzählen, daß mir die Zeit dauerte, die ich in der Einsamkeit verspielt hatte. Alle Kleinigkeiten der Städte, die Märkte voll Menschen, setzten mich in das höchste Erstaunen. Die Bewegung machte mir große Eßlust; der Kaufmann gab mir, was ich essen wollte, und so kann ich es ohne Vergiftung erklären, daß ich in Passau im Wirtshause erkrankte. Das war ein böses Hagelwetter in meiner Lusternte. Der Kaufmann sagte mir, er müsse notwendig rasch Weiterreisen, aber er komme bald wieder; auch wolle er mir Geld, wovon ich bis dahin zehren könnte, zurücklassen. Ich war alles zufrieden und konnte mir gar nicht einbilden, daß ich in einer Welt, wo so viele leben, Mangel an Unterhalt leiden könnte.
Der Kaufmann reiste ab; ich hatte kein Arges, war bald wieder hergestellt, und da ich besondere Freude an der Kirchenmusik hatte, die Hauptkirche war in unserer Nähe, so fand ich mich alle Morgen da ein und wußte mir auch abends in den Vorzimmern des Fürstbischofs einen Zutritt zu verschaffen, wenn Musik aufgeführt wurde. Dazwischen sprach ich mit den Musikern, die zum Mittagstisch ins Wirtshaus kamen; sie würfelten mit mir um Rosinen, und so war eine Woche vergangen und das wenige Geld, was mir der Kaufmann zurückgelassen, verzehrt, ehe ich daran gedacht hatte, was nun aus mir werden sollte. Der Wirt, als ich ihm seine Rechnung eines Tages nicht bezahlen konnte, fragte mich über meine frühere Geschichte aus, und was ich hier suche. Ich weiß nicht, wie es mir in den Sinn kam, wahrscheinlich aber, wie Kinder gern dasselbe werden wollen, was ihre liebsten Bekannten sind, so sagte ich ihm ganz keck, ich wolle in die fürstbischöfliche Kapelle eintreten und möchte gern bei dem Kapellmeister Sestini in die Lehre gehen. Der Gastwirt war gutmütig, mein Wunsch schien ihm vernünftig, weil ich oft zum Vergnügen aller, was ich an Liedern im Volksdialekte wußte, mit recht heller Stimme gesungen hatte, er empfahl mich deswegen beim Mittagessen dem Kapellmeister, sprach mit ihm, und ich wurde sogleich angenommen. Nun lernte ich mit großem Eifer das Singen; mein Wunsch, die Geige zu lernen, wurde mir ebenfalls gewährt; doch fand ich bald, daß die Begierde zu lernen in der Jugend dem Widerwillen dagegen auf wunderliche Art Platz macht. Dennoch fügte sich meine Hilflosigkeit der anstrengenden Bemühung und den harten Züchtigungen, so daß ich innerhalb sechzehn Wochen mit zwei anderen Knaben richtig nach Noten sang und auch auf der Geige einige Geschicklichkeit gewann. Was mir diese Anstrengung versüßte, war der Wetteifer und der wunderliche, unerschöpfliche Spaß zwischen uns Schülern. Ein unbegreifliches Nichts, ein kleines Necken, Anführen konnte uns stundenlang ergötzen; ein lustiger Name, den wir einander gegeben, schwebte uns Monate im Gedächtnis, und abends in den Feierstunden fand sich mein Stolz besonders geschmeichelt, wenn ich Sprünge und andre Künste ihnen vormachen konnte, die keiner erreichte. Meine Fortschritte und mein gutes Aussehen machten mich bei dem Kapellmeister beliebt und empfahlen mich selbst dem Fürstbischof und einigen Domherren, die mich oft zu ihren Trinkgelagen nötigten, daß ich sie mit meinem Gesänge ermunterte. Das alles machte mich so hoffärtig, insbesondere als ich in der Komödie gebraucht wurde, daß ich einen Kapelljungen für den ersten Schritt zu den höchsten Würden der Welt und die ganze Welt mit uns allein beschäftigt glaubte.
So erreichte ich mein fünfzehntes Jahr, ohne Sorge, in steter Lustigkeit, als ich eines Abends, es war im Oktober, zum Fürstbischof gerufen wurde, um einer eben aus Italien angekommenen Gräfin Filomena, die selbst eine sehr geschickte Sängerin, meine geübtesten Arien vorzusingen. Ich warf mich leichtsinnig in mein Tressenkleid, schnallte den Degen um und zog mir erst den Haarbeutel zurecht, als ich schon ins Zimmer getreten. Aber wie überraschte mich der Anblick dieser Gräfin, wie soll ich sie Ihnen beschreiben? Ich möchte Sie in diesem Augenblick ins Auge fassen, würde mir das die Wiederkehr jenes Bildes erleichtern? Ich bin ein Tor, aber ich muß es gestehen, unzähligemal glaube ich Ähnlichkeit mit jener Gräfin zu entdecken, die ich dort an der Seite des Fürstbischofs erblickte. Aber leider, wie so oft, täuschte ich mich, diese Verehrte zu entdecken, sicher täusche ich mich wieder, nun ich mich Ihnen in Gedanken tausendmal zu Füßen werfe; aber ich gestatte mir einen Augenblick diesen täuschenden Genuß und fördre dann ruhiger meine Erzählung.
Die Gräfin trug ein schwarzsammetnes Kleid und weiße Handschuhe, ihre goldgestickten Schuhe waren mit Zobel eingefaßt, um ihren Hals hingen drei Schnüre großer Perlen, ihren Kopf schmückte ein Diadem, ihr großes Auge sah mitten im Gespräche den Grafen scheu an, der undurchdringlich finster und dabei stets lächelnd in ewiger Verstellung, in stetem Zwange wie ein Marterpfahl mit bleichem Angesichte in einem goldgestickten, grauseidnen Kleide aufgerichtet stand, als sollte sie ihr Leben an ihm verquälen. Hinter dem Stuhle der Gräfin stand ein lächerlicher Zwerg, der allerlei Affengesichter schnitt, jeden Wink verstand, Noten und Lichter herbeitrug, den Arbeitsbeutel in Empfang nahm und der einzige zu sein schien, welchen der Graf nicht belauschte. Die Gräfin, auf die ich unverwandt seit meinem Eintritte und während der Chöre die Augen richtete, schien mich auch zu bemerken, vielleicht auch mochte sie die Aufmerksamkeit mit einem gewissen Danke zu erkennen, welche ich ihr bei ihrem schönen Gesänge widmete. Das Blut stieg mir davon in Wange und Augen, mein Mund lechzte, und ich fühlte etwas in der Kunst, was ich nie darin geahndet, womit ich die Domherren ausgelacht hatte. Der Graf blieb nicht zum Abendessen; doch gab er dem Fürstbischof nach, die Gräfin zurückzulassen. Wir gingen zum Abendessen an unsern gewöhnlichen Tisch und wurden nach Tische wieder gerufen. Ich mußte eine italienische Arie singen, die sehr schön war, wovon ich aber kein Wort verstand, denn ich hatte sie mit falscher Aussprache auswendig gelernt. Die Gräfin rief mich, redete mich Signor an, aber vom übrigen verstand ich kein Wort und geriet in Verlegenheit, was meine Wangen in Scham tauchte. Sie merkte, daß ich kein Italienisch verstand, und sagte: »Schön Knab', wie heiß Sie?« – In der Verlegenheit verstand ich dies Deutsch ebensowenig, es fiel mir erst nachher ein, was sie eigentlich gefragt hatte. Ich gab ihr durch das Schütteln meines Kopfes zu verstehen, daß ich sie nicht recht vernommen, deswegen trat der Zwerg hinter dem Stuhle hervor und sagte: »Meine Gräfin fragt den Herrn, wie er heiße?« Hierauf antwortete ich ihm in meiner Verlegenheit ganz kurz: »Cosmus!« – Sie schien sich über den Namen zu verwundern, fragte nach meinem Alter und nach meinem Vater,– es war, als wenn sie immer verlegner wurde. Ich schrieb es der fremden Sprache zu, denn sie sagte mir plötzlich mehr Schönes über meinen Gesang, als ich selbst zu verdienen meinte, schenkte mir ein Büchlein italienischer Lieder, in rotem Sammet eingebunden, die ich lernen sollte, und drückte mir einen Dukaten in die Hand, wobei sie zitterte. Ich dankte ihr demütig und hätte gewünscht, den ganzen Abend noch einmal von vorn durchspielen zu können, aber leider machte die Nacht den allgemeinen ernsten Schluß, und ich ging, mit dem Bilde von ihr und mit der guten Meinung von mir beschäftigt, in unser Zimmer, wo meine Kameraden aus Mißgunst gegen den Gesang der Gräfin sprachen, was ich durchaus nicht dulden wollte. Die Schlägerei, welche daraus entstand, störte die Freude dieses Abends.
Ich dachte gar nicht, daß diese Freuden bald enden könnten, und war.daher sehr schmerzlich verwundert, als mir der Zwerg am ändern Tage drei italienische Lieder brachte mit einem Gruße der Gräfin, ich möchte sie lernen; sie würde, mich in einiger Zeit nach Regensburg abrufen. Ich wollte ihr gleich meine Aufwartung machen. Der Zwerg lachte über meine Eile, denn sie sei schon abgereist.
Nach vierzehn Tagen wurde ich tief in der Nacht zum Kapellmeister gerufen, der mich fragte, ob ich wohl zu einer kleinen Reise Lust hätte? Als ich ihm dies mit einem freudigen Ja beantwortete, weil ich wohl etwas merkte, da bedeutete er mir, wie ihm von der Gräfin Filomena ein Brief gekommen, in welchem ich auf einen Tag nach Regensburg gefordert würde; ich sollte mich deswegen gleich am Morgen auf die ordentliche Post setzen, mich dort sittsam aufführen und seinem Unterrichte Ehre machen.
Also entließ er mich. Ich schlief kaum vor Ungeduld, ich war mit meinem Pakete wohl zwei Stunden zu früh in der Post. Der Postwagen ging mir langsam wie von Schnecken gezogen; fast hätte ich verzweifeln mögen, als unsre Reise durch den Umsturz des Wagens um ein paar Stunden verzögert wurde.
Ich stieg zu Regensburg im Posthause ab, als es schon spät abends war, hatte nicht den Mut, mich bei fremden Leuten nach der Gräfin zu erkundigen, sondern folgte den andern Passagieren in ein nahegelegenes Gasthaus. Dieses Gasthaus war von vielen Fremden besucht; niemand gab auf mich acht, und die ich befragte, wußten mir keinen Rat zu geben, auf welchem Wege ich der Gräfin meine Ankunft melden könnte. Die Wärme des Speisezimmers gefiel mir übrigens recht wohl; der Hunger meldete sich, und mein kindischer Geist vergaß die Gräfin. Ich setzte mich zu Tisch und wurde nach der Mahlzeit mit einem alten, dürren Sekretär, der auf seinen jungen Fürsten wartete, in ein Schlafzimmer geführt, wo die Müdigkeit mir bald jeden Gedanken an die Gräfin entwand. Kaum hatten wir uns zur Ruhe gelegt, als vor unserm Hause ein Wagen mit einer Fackel stille hielt. »Junger Herr«, rief der Sekretär, »sein Sie so gut und sehen, was für Fremde noch da ankommen, es könnte leicht mein junger Fürst sein.« Ich sprang aus dem Bette, denn er imponierte mir, öffnete das Fenster und erkannte gar bald an der Stimme des Zwerges, daß es die Kutsche meiner Gräfin sei. Der Zwerg, der die Fackel trug, klopfte stark an die Tür und fragte, ob nicht hier ein junger Sänger angekommen sei? Als ihm der Wirt, eben als ich mich aus dem Fenster melden wollte, nach einigem Nachdenken meine Ankunft angezeigt hatte, hieß er ihm aufmachen; ich aber erzählte alles dem Sekretär, der mir mit wichtiger Miene befahl, mich sogleich anzuziehen, weil ich wahrscheinlich noch diesen Abend zur Gräfin geholt würde. Während des Ankleidens trat der Zwerg mit der Fackel in unser Zimmer: »Was macht er für Possen?« redete er mich sehr verdrießlich an, »daß er sich so lange in der Stadt suchen läßt?« – Ich scheute in der kleinen Mißgeburt die herrliche Gräfin und sagte ihm: »Herr, verzeihen Sie, ich wußte nicht, wo ich absteigen sollte, die ganze Stadt ist mir unbekannt und hat so viele krumme und enge Straßen, daß ich nimmermehr allein durchfinden könnte.« – »Nun wohlan«, antwortete er, »mach er sich jetzt schnell fertig, hat er auch die Arien bei sich? Eine ganze Tafel Kavaliere haben ihn schon lange erwartet, als wäre recht was Besondres an ihm.«
Ich setzte mich in die Kutsche, und der Zwerg nannte mich gleich Sie und war sehr artig. Er sagte unterwegs, ich sollte vor den Leuten sagen, daß ich Befehl hätte, gleich den ändern Morgen nach Passau zurückzureisen, aber in der Stadt bleiben und mich den andern Tag auf meinem Zimmer halten, am nächsten Abende wollte er mich zu einer Überraschung abholen. Ich war sehr verwundert über diese Heimlichkeit, ergab mich aber darein und vergaß es bald, als ich, ausgestiegen, durch ein großes Haus in einen glänzend erleuchteten Saal geführt worden war, wo mich der verhaßte italienische Graf der Gesellschaft als einen ausgezeichneten jungen Sänger in gebrochenem Deutsch vorstellte. Jedermann sagte mir etwas Artiges, alle Sterne der Herren waren nach mir gewendet und alle Augen der Frauen, auch die Gräfin sah mich gnädig an, doch mit einer Art Vornehmigkeit, die mich zurückschreckte. Ich mußte einen leeren Platz neben einem Mönche am Tische einnehmen, mit dessen weißem Barte das rote, angetrunkene Gesicht recht wunderlich wie ein Uniformkragen abstach. Nachdem er mir ein Glas Wein zugetrunken, holte er seine Laute unter dem Tische hervor, ich mußte meine Noten aus der Tasche ziehen und die beiden Arien der Gräfin absingen; er begleitete mich auf der Laute recht zierlich, Man lobte mich am Schlusse allgemein, nur der Graf nahm es sich heraus, mir ein paar Gänge besser vorsingen zu wollen; aber seine krähende Stimme brachte manchen zum Lachen, der dabei ernsthaft zu bleiben wünschte. Nun sollte ich gleich ein Dutzend große Arien absingen; ich entschuldigte mich aber, daß ich von der Reise ermüdet sei. Die Gräfin nahm mich dabei in Schutz, gegen die Gewohnheit der meisten Frauen, die sich's für einen Schimpf anrechnen, wenn Sänger ihnen ein Lied abschlagen, ohne zu bedenken, wie schwer manches hervorzubringen, was so leicht klingt; vielleicht weil sie als Sängerin die Schwierigkeit kennengelernt hatte. Am Schluß der Tafel sang ich noch ein paar Arien unsers Kapellmeisters, der mich darum gebeten hatte; wobei aber der alte Mönch falsch begleitete, so daß ich ihm die Hand auf die Laute legte und allein schloß. Meine Gegenwart des Geistes hatte den Mönch ebensosehr verdrossen, der meinem Kapellmeister etwas anhängen wollte, als sie die Gesellschaft erfreute. Ich empfahl mich nach diesem Hauptstreich; der Graf drückte mir zwei Dukaten in die Hand, und die Gräfin nickte mir freundlich zu. Der Zwerg setzte sich wieder mit mir in den Wagen und sagte, ich solle im Wirtshause am andern Tage sagen, daß ich eine Base gefunden, bei der ich den nächsten Abend ins Haus ziehen wollte; darum sollte ich mein Bündelchen schnüren, daß ich fertig wäre, wenn er mich abholte.
Ich war so müde, daß ich nicht dazu kam, ihn um die Ursache dieses Geheimnisses zu fragen; auch vergaß ich die Stunde, daß ich am andern Tage unter vielen Besorgnissen ein paar Stunden verlauerte, bis endlich eine ältere Frau mit verbundenem Munde, als habe sie Zahnweh, in der Hand eine Laterne, in mein Zimmer trat und mir sagte, daß sie mich abzuholen gekommen sei. – Ich sah ihr an, daß sie im gestrigen Geheimnis sei, und folgte ihr. – Als wir auf der Straße waren, löschte sie die Laterne aus; ich fragte sie: »Liebe Frau, man hat sie ja im Gasthofe gesehen, warum will sie sich hier verbergen?« – »Lieber Cosmus«, antwortete mir jetzt die bekannte Zwergstimme, »ich bin keine Frau, sondern der Zwerg, der Euch gestern abgeholt hat; ich mußte mich verkleiden, um nicht im Wirtshause bemerkt zu werden; ich mußte unsre Laterne auslöschen, daß unser Weg durch nichts sichtbar gemacht werde.« Ich erschrak immer mehr über diese Heimlichkeit und wagte immer weniger dagegen zu sagen. Ich hatte von unsern Kapellisten so wunderliches Zeug aus Italien gehört, von Verstümmelungen der Kinder, von Aqua tofana, von Hexereien durch Kinder, von Dolchstichen, daß mir mein Herz heftig klopfte, als wir aus dem tiefen Kote der Gasse durch ein Hinterpförtchen in ein großes Haus eintraten, das der Zwerg sachte hinter mir verschloß.
Mit Bangigkeit durchschritt ich die kalte Zugluft der Gänge und kletterte mehrere Wendeltreppen hinan. Endlich traten wir in ein erleuchtetes Bodenzimmer, wo der Zwerg zuerst seine weiblichen Kleider abwarf und mir darauf in geschäftiger Eile Strümpfe und Schuhe und Rock und Weste und Hemde auszog und mich mit einem feinen Spitzenhemde, einem blauseidenen Rocke und Weste und neuen weißseidenen Strümpfen und reinen Schuhen bekleidete. Kaum war das beendigt, so führte er mich leise ein paar Treppen hinunter in ein Zimmer, wo die Gräfin, einen Wachsstock in der Hand, zum zweiten Zimmer hinausschaute, mich freundlich anlachte und mich fragte: »Warum bleib Sie so lang?« – ich antwortete, daß ich nicht früher abgeholt sei. Sie drohte dem Zwerg und sagte ihm auf Italienisch etwas, das ich nicht verstand. ich wurde von dem Zwerge in ein höheres Zimmer geführt, das zwar eng, aber sehr schön geschmückt war. Das Feuer flammte im kleinen eisernen Ofen. Ein großes, rotes, dammastnes Bette mit einem Baldachin stand in einer Ecke, am Fenster ein Schreibeschrank, in dessen Nähe ein Tisch, der mit einer Serviette sauber gedeckt war. Die Bilder schienen mir, nach meiner damaligen Gesinnung, etwas zu nackt; ich verstand nicht, was sie vorstellen sollten, denn in Passau hatte ich nur heilige Bilder gesehen. ich setzte mich auf einen der rotsammetnen Stühle vor dem Bette und bewunderte die glänzenden Blumen des Damasts und die goldenen Bettfüße. »Oh, dieses ist gar nichts«, sagte der Zwerg, »unsre Gräfin hat ein Bette, das gleich einem Schiffe bei der kleinsten Bewegung hin und her schwankt, und da lag einmal ein kleiner Bube drein, der jetzt schon groß geworden.« Ich verstand nicht, was er sagen wollte. Ich fragte ihn, ob das eine Wiege gewesen? Während der Zwerg dies wiederholte, war die Gräfin, einen Hund auf dem Arme, lächelnd ins Zimmer getreten. Sie redete mit dem Zwerge viel Italienisch, und das schien mir verdächtig. Der Kleine brachte Wein und Gebacknes auf zierlichen Tellern und setzte es auf den Tisch; dann wünschte er der Gräfin eine gute Nacht und lachte mich an. Nachdem der grinsende Affe uns verlassen, verschloß die schöne Gräfin leise das Gemach, befahl mir meinen Degen abzulegen, den ich ans Bettgestelle aufhing, schenkte mein Glas voll und sagte mir, daß ich dies Glas zu Ehren meines Vaters trinken sollte. Ich fand das wunderbar, eine Gesundheit der Toten zu trinken; ich lachte, weil mir schauderte. Sie fragte um die Ursach, und ich schämte mich. »Gnädiges Fräulein«, sagte ich, »der Hund wäre fast von dem Tische heruntergefallen, deswegen mußte ich lachen.« Sie nahm darauf den Hund, steckte ihn in das Bette, setzte sich darauf und sagte mir, ich sollte mich zu ihr setzen. Ich wollte dies erstlich nicht tun, aber sie zog mich nieder, worauf ich den Becher Wein ergriff und aus Verlegenheit ihre Gesundheit trank. Darauf sah sie mich zärtlich an und fragte mich, ob ich eine Geliebte hätte? – »Was«, sagte ich, »eine Geliebte? Ein Knabe wie ich muß wohl eine Geliebte haben!« – Sie sah mich kopfschüttelnd an: »Wer ist dein Liebst?« – Ich antwortete: »Die Jungfer Geige, die hab ich den ganzen Tag im Arme.« – »Wo wohnt dies Jungfer?« – »Sie ist von Holz und Darmsaiten, singt aber gut, wenn ich sie kneife und streiche, auf Italienisch heißt sie Violino primo.« – Auf dieses Wort fiel sie mir um den Hals, küßte mich und sprach: »Bub, du haben Verstand. Liebst du mich auch wie dein Jungfer Geig? Ich auch singe kann!« – ich antwortete, was über die Liebe des Nächsten im Katechismus steht; sie klopfte mir die Backen und sagte: »Du bist ein höfliker Gnabe!« und trank mir mehrere Becher Wein zu. Nun fragte sie wieder nach meinem Vater. Ich war von dem Weine ergriffen, der Jammer, von meiner Mutter nichts zu wissen und meinen Vater verloren zu haben, griff mir mit scharfen Krallen in die Seele. Ich erzählte ihr mit großer Heftigkeit, weinte, und sie weinte mit und küßte mich zärtlich. Ich sollte immer mehr erzählen, und sie schenkte immer wieder ein, sobald ich bei der Hitze des Zimmers schnell hinuntergetrunken hatte. So kam es, daß ich nach zwei Stunden, wo ich aufstehen und mich empfehlen wollte, gegen die Tür schwankte und die Klinke nicht finden konnte. Sie bot mir ein Nachtlager an. Ich aber, dem allerlei Besorgnisse in den erhitzten Kopf kamen, sagte ihr, daß ich nicht bleiben dürfe. Sie fragte besorgt: »Hab ick Sie was zu leid getan?« Ich antwortete, der Kapellmeister hätte mir eingeschärft, ich sollte mich recht ordentlich aufführen. – »Is Sie denn ungern bei mir?« – Ich weiß nicht, was ich antwortete, der Rausch nahm zu, und die Gräfin sprach in einiger Ängstlichkeit bald Deutsch, bald Italienisch. Endlich schloß sie die Türe auf, rief den Zwerg, schien verlegen; ich war schon an der Treppe, als mir einfiel, daß ich den Degen an dem Bette vergessen. Ich holte ihn, und die Gräfin küßte mich; sie sprach wieder Italienisch zum Zwerg und verschloß ihre Tür. Der Zwerg führte mich bis an die Hintertüre, da versuchte er den Schlüssel, aber er paßte nicht. Er fluchte und sagte, daß die Magd ihn von seinem Zimmer geholt; ich müßte jetzt ein Nachtlager im Schlosse annehmen. Mir war so wüst im Kopfe, ich war so müde, der ungewohnte Wein hatte mich so übernommen, daß ich nicht weiß, wie ich in ein Bette gekommen. Nur ein paarmal wachte ich darin auf, da blendete mich ein Licht im Zimmer, ich glaubte die Gräfin auf meinem Bette sitzen zu sehen; sie küßte mich, und ihre Tränen liefen mir kühlend über die Wangen.
Es mochte etwa acht Uhr morgens sein, da weckte mich der Zwerg sehr heftig aus dem Schlafe. Ich sprang auf, er zog mir mein neues Kleid an, sagte mir, ich sei verloren, wenn ich den Mut nicht hätte, meinen Degen zu gebrauchen, der Graf stehe mit gezogenem Degen im Korridor, um mich zu erstechen. Ich müßte mich jetzt neben ihm vorbeiziehen, die Wendeltreppen hinunter, nach der Hintertüre, die er heimlich geöffnet habe. Die Gräfin könne mir nicht helfen, sie sei vom Grafen im Schlafzimmer eingesperrt. Die Scham, dem winzigen Zwerge meine Furcht zu sagen, verschluckte sie; ich tat, wie er wollte, und sprang, wild umblickend, die Treppe hinunter. Auf einem Korridor hörte ich den Grafen toben, ich empfahl mich allen Heiligen, trat leise auf, aber er schien, entweder vom Himmel geblendet oder blind in Wut, mich nicht im Heruntergehen zu bemerken, sondern vertiefte sich gerade unter grimmigen Fluchen in den Gang, indem er mit seinem Degen gegen die Türen stach. Leicht wie ein Vogel war ich, als ich vor der Türe stand, mein Degen verbarg sich in der Scheide; ich lief eilig, soweit ich konnte.
Es fror mich bald in dem seidenen Röckchen, ich steckte die Hände in die Tasche, mich zu wärmen, und fühlte einen Beutel mit Gelde darin, von dem ich gewiß wußte, daß ich ihn nicht gestohlen. Das Geld gab mir Mut, ich kaufte mir bei einem Trödler, der seinen Laden eben öffnete, einen alten Tuchmantel, ließ mich von ihm zur Post führen und war sehr heiter, als ich eine Stunde nachher schon auf dem Postwagen saß und den Weg nach Passau herunterrollte, wo ich am ändern Tage gar sehr zerrissen von Zweifeln und Wünschen ankam. Ich habe mir vorgenommen, nichts in mir vor Ihnen zu verschönern, ich sage Ihnen so leicht die Wünsche meiner Kindheit und meine Irrungen, wie ich Ihnen ausführlich meine liebsten Lebensaugenblicke beschrieben habe. Als ich von dem Bette der Gräfin aufstand, war es wirklich in der festen Überzeugung, sie wolle mich verführen, jetzt muß ich darüber lachen. Was sollten diese ernsten Tränen in ihren Augen bei so bösem Zwecke, dies Erkunden nach meiner Geschichte; gewiß war es ein edles Wohlwollen, der Wunsch mich zu kennen, ehe sie sich entschlösse, für mich zu sorgen, woran die Eifersucht ihres Gemahls sie vielleicht – vielleicht auf immer – hinderte. Sie, die Reine, konnte nicht denken, daß jener Aufwallung einer erzognen Sittsamkeit eine innere Wut der wildesten Wünsche, sie zu besitzen, wenigstens sie zu sehen, ein ewiges Wiederholen dieser Stunden ihrer Nähe in meinen Gedanken folgen würde, ein wirres Planmachen, wie ich sie wieder erreichen könnte, und eine träge Lässigkeit in meiner Kunst, die mir statt des Lobes stete Strafen von meinen Lehrern verdiente, sowie meine üble Laune alle freudigen Scherze meiner Kameraden vernichtete. Ich konnte nicht mehr beichten, ich konnte nicht mehr beten, denn alles sündige Verlangen, was ich hätte ablegen sollen, war mein einziger Gedanke, in welchem ich eines Abends ohne Licht in meinem Zimmer saß, als der kleine Knabe des Kapellmeisters plötzlich hineintrat und mir ansagte, daß ich zum Vater kommen sollte. Das war mir um so befremdender, da ich einen großen Schmaus unsrer Kapellisten dort veranstaltet wußte.
Ich eilte mich inzwischen und trat in das laute Zimmer des Kapellmeisters. Erlauben Sie, daß ich hier zu meiner Entschuldigung, wo ich noch jetzt im geselligen Umgange fehle, mit einem Bilde dieses Abends die rohe Gesellschaft darstelle, in welcher ich meine Jugend verlebte. Heiliger Gott, wie sah es an dem Abende bei dem Kapellmeister aus! Man mußte auf seinen Weg wohl Achtung geben, um sich nicht in Glas zu schneiden, und ein Glas Wein, das Lavalet, ein Geiger, dem Kastraten Tromboni ins Gesicht goß, weil dieser ihm vorgeworfen, er hätte ihn mit seiner Geige überschrien, kam mir gerade ans rechte Ohr geflogen. Der Kastrat schimpfte, und jener forderte ihn auf Degen, worauf der Kapellmeister dazwischentrat und dem Lavalet sagte, er möchte statt des Degens den Geigenbogen ziehen. Das nahm der Geiger übel und sagte, er hätte sich den Geigenbogen an seinen schlechten Kompositionen mit ewigen sinnlosen Läufen zerspielt, und ihm bleibe nur der Degen. Tromboni beschwor alle Elemente um Rache, daß sich ein Mann an einem Kastraten vergriffen habe, den selbst Weiber schonten. Der Kapellmeister, ohne ein Wort zu sprechen, nahm den Lavalet beim Kragen, hielt ihn mit seiner Riesenstärke zum Fenster hinaus, das er mit ihm durchstoßen hatte, und fragte ihn, ob er Friede halten wollte. Lavalet hatte auf einmal seinen Rausch verloren und hätte sich anheischig gemacht, dem Kastraten die Füße zu küssen, um aus der ängstlichen Schwebe über dem Donaustrom, der mit Eis ging, zurückgeholt zu werden. Als der Kapellmeister die wilde Kadenz also mit einem lustigen Triller beendigt, nahm er mich bei der Weste, und ich meinte schon, daß an mir ein gleiches Exempel statuiert werden sollte; statt dessen sah er mich aber mit einem grimmigen Gesichte an, grunzte, nahm mich dann beim Kopf und küßte mich, rief, daß er mir die Ehre in Regensburg verdanke, an dem verfluchten Mönch, dem Gregorius, gerächt zu sein, dem ich so keck in die Laute gegriffen, als er seine Arien verderben wollte. Darauf gab er mir ein Schreiben der Gräfin, worin sie mir in gebrochenem Deutsch schrieb, ich sollte den nächsten Posttag wieder nach Regensburg kommen. Ich hätte den Brief zerküssen mögen, und da ich den Kapellmeister so gut für mich gestimmt sah, griff ich auch zu einem Glase und trank ihm die Gesundheit der Gräfin so oft zu, bis ich nach Hause gebracht werden mußte. – Durch diesen zweiten Rausch kam ich erst zur Überzeugung, daß ich den Wein meiden müsse, weil ich ihn nicht vertragen könne.
Mit welchen Erwartungen saß ich am ändern Tage auf dem Postwagen; meine Eitelkeit und meine Zuversicht übertraf alles. Ich wollte mich verführen lassen, das war mein Plan. Als wir aber nicht weit mehr von Straubing entfernt waren, hielt uns eine Postchaise an. Wir hielten. Ich hörte die Stimme des Zwergs, der nach mir fragte; ich gab mich zu erkennen und wurde von ihm in die Postchaise gerufen, die ich getrost bestieg, weil ich auf diese Art noch rascher meinem Glück entgegenzueilen hoffte. Der Wagen fuhr aber bald auf Befehl des Zwerges einen Seitenweg. Ich fragte ihn um Auskunft, er aber bat mich, ihn nicht mit Fragen zu stören, weil mancherlei Besorgnisse ihn beschäftigten; wenn wir in Sicherheit wären, wolle er mir erzählen, was ihm zu sprechen erlaubt sei. »Aber welche Unsicherheit droht uns?« – Er schwieg, und ich kam innerlich auf den Argwohn, er sei gegen mich verschworen. Ich suchte diese Vermutung zu bekämpfen, aber der Nachrausch vom vorigen Tage verwirrte meine Seele. Plötzlich, fest überzeugt, der Zwerg wolle mich von meinem Glücke entführen, packte ich ihn an der Brust, drückte ihn in die Wagenecke und fragte ihn, wer ihn gedungen, mich zu verraten. Er schrie und konnte kein Wort vorbringen; ich hätte ihn vielleicht erstickt, wenn nicht die mächtigen Fäuste des Postknechts über mich gekommen wären und mich zur Geduld ermahnt hätten. Der arme Kleine konnte lange nicht wieder zu seiner Behaglichkeit kommen. Er hatte mich für wahnwitzig gehalten, und als er nun merkte, daß alles Verdacht und Bosheit von mir gewesen wäre, faßte er einen eignen Zorn gegen mich, spottete meiner und schien mir aus Tücke nun alles verbergen zu wollen, was auf mein Geschick Einfluß haben sollte. Nur das eine konnte ich herausbringen, der Graf verfolge mich aus Eifersucht, und ich fühlte, er habe recht; ich gestand mir sogar, daß ich die Gräfin liebte. Schon bei der nächsten Station nahm der Kleine Abschied von mir, indem er mir zuschwor: ich dürfe mich jetzt weder in Regensburg noch in Passau zeigen, der Graf suche mich zu ermorden. Ich war noch immer ungläubig. Um allen Zweifel zu überwinden, reichte er mir ein paar Zeilen der Gräfin, die sie mit Bleistift auf ein weißes ausgerissenes Blatt (wahrscheinlich aus einem Buche) geschrieben hatte. Sie sind das letzte, was ich von ihrer Hand besitze, von meinen Tränen fast erlöscht, aber bis zum letzten Hauche stehen sie in meinem Gedächtnisse:
»Lieber Gnabe! Ick send di mein klein Mann, Du sein in groß Gefahr, nit kom na Ratisbon, nit bleib in Passau, heimelick, heimelick pausir in Landshut, liebe Son.«
Nun war ich überzeugt. Ich bat ihm demütig meinen Verdacht und meine Wildheit ab, und nun ließ er sich erst in Schimpfreden gegen mich aus. Ich erduldete alles, denn von ihm hatte ich künftig alles Glück zu erwarten; auch fühlte ich mein schweres Unrecht, indem ich seinen geschwollenen Hals ansah. Er mußte fort, sobald eine andere Chaise angespannt war; mir gab er Geld, daß ich nach Landshut kommen konnte: so schieden wir. Ich reiste mit der ordentlichen Post, sah bald den hohen, spitzen Turm von Landshut und nahm meine Wohnung bei einem Brauer. Oh, welche Zeit der Erwartung, Ungeduld, Sehnsucht und Verzweiflung! Vier Wochen hatte ich gewartet; taglang stand ich vor dem Posthause, aber niemand kam, mich zu erlösen, kein Brief von der Gräfin. Nach Passau durfte ich mich nicht wagen, ich würde als ein liederlicher Ausreißer bestraft und verstoßen worden sein. Nach Regensburg schrieb ich an den Sekretär, mit dem ich in einem Zimmer geschlafen, ob die Gräfin noch dort sei. Er aber antwortete mir, daß sie vor vier Wochen, man wisse nicht wohin, mit ihrem Gemahl abgereist sei, doch glaube man nach Italien. Mein Geld war bis zum letzten Kreuzer ausgegeben, nur den Henkeltaler bewahrte ich noch, und so arm ich war, steuerte doch mein Sinn jetzt unaufhaltsam nach Italien. Die Bekanntschaft mit einem italienischen kleinen Krämer hatte mich bei meinem Eifer, mich bald meiner Gräfin verständlich zu machen, sehr rasch in die Sprache Italiens eingeführt. Für sein Bemühen versprach ich ihm Unterricht auf der Geige zu geben, sobald ich mir eine Geige verschaffen könnte. Der gute Knabe Giotto hatte gleiche Leidenschaft mit mir zu allerlei Kunstspringerei; ich war aber geschickter als er, wogegen er allerlei italienische Possen wußte, die bei solchen Stücken die Anstrengung durch Scherzreden unterbrechen und noch wunderbarer erscheinen lassen. So kam's, als mein Unterricht auf der Geige, da es mir an einer fehlte, ebensowenig wie seine Krämerei verlangt wurde, daß wir unser Heil an einem Tage, wo die Kornschranne alle Bauern der Gegend versammelt hatte, in Kunststücken der Art versuchten, wie ich sie, nur weiter ausgebildet, auch dieser Stadt gezeigt habe. Unsre Einrichtung war ärmlich, aber doch wurde uns Beifall von allen Seiten ausgedrückt; unsre Einnahme schien uns ansehnlich, und die Eitelkeit spornte uns so gewaltsam, daß wir Dinge ausführten, die wir miteinander nie unternommen hatten. Nach diesem Erfolge waren wir seelenglücklich; wir bezahlten unsre kleinen Schulden, ich kaufte mir eine Geige, sang, was ich wußte, und wechselte in diesen Künsten, um mich zu ernähren. Wir zogen aus einer Stadt in die andere; ich immer vergebens bemüht, Nachrichten über meine unvergeßliche Gräfin einzuziehen; er immer mit Erfolg für unser gutes Fortkommen sorgend. So kamen wir nach Italien; aber hier, wo ich meine Gräfin in jeder verschleierten Gestalt ahndete und Tage verlief, bald Liebe, bald Eifersucht erweckte, ohne etwas davon bei ändern zu empfinden, es sei denn, daß ich sie in einer Frau zu sehen glaubte, hier fiel ich meinem Begleiter mehr zur Last, als ich ihm beistehen konnte; auch waren unsre Künste dort häufiger gesehen und schlechter bezahlt. Ich bat ihn, nur bis Genua auszuharren, dort fände ich eine Gräfin, die mich in Schutz genommen und nach der ich allerorten fragte. Er glaubte mir und wollte bis dort für mich sorgen durch die Einnahmen von seiner kleinen Kramerei. Als wir aber nach einem Vierteljahre dort anlangten, welche betäubende Nachricht! Es war einer der Marmorpaläste der Strada nova, wo wir vom Türsteher des Grafen Filomena hören mußten, er sei nach seiner Rückkehr zu Schiffe gegangen, von einem Algierer Seeräuber angefallen und die Frau, die geliebte Gräfin, geraubt worden; der Graf sei in Rom angekommen und sei krank; insgeheim werde gesagt, die Gräfin habe sich freiwillig entführen lassen, weil sie dem Grafen durch Zwang vermählt worden. Dieser Schluß stürzte allen meinen Mut, der sich schon in Seeschlachten sie zu befreien dachte, und dieser Schluß wurde von mehreren bestätigt, die sich bei meinem verzweifelnden Gesichte um uns versammelten. Es hieß sogar, der Räuber sei ein Genueser von Geburt, der aus Gram sich verbannt habe, als sie dem Grafen vermählt worden, und aus Ingrimm Räuberei getrieben habe. Giotto ließ meinem Gram einige Tage Rast; endlich, da er mich durch keine Vorstellung zu einer erwerbenden Lebensweise bringen konnte, teilte er seine Barschaft zwischen uns, überließ mir das Seil, auf welchem wir unsre Kunststücke gemacht, küßte mich und schied stillschweigend von mir.
Lange war ich entschlossen, mit diesem Stricke meinem Leben ein Ende zu machen, ich ging in einen Garten, aber es war zu dick, und die Äste des Feigenbaums, an dem ich es versuchen wollte, brachen dreimal von meiner Schwere. Dies nahm ich für ein Zeichen, daß ich leben sollte; eine nie gefühlte Heftigkeit bewegte mein Blut, ich fand keine Ruhe als in Kühnheit und glaubte alles um nichts wagen zu können. Nun stehen zu Genua die Paläste der Strada nova so hoch und nahe einander gegenüber, daß ich mit Bewilligung des Türstehers meiner Gräfin, der mich liebgewonnen hatte und mir auch den Verwalter des andern leeren Palastes geneigt machte, mein Strick von einer Dachkammer des einen zur Dachkammer des andern ziehen konnte. Ich wollte alle Künste, die ich sonst in geringer Entfernung von der Erde leidlich fehlerfrei gemacht, jetzt in dieser Höhe ausführen. Mißlang es, so starb ich vor dem Hause meiner verlorenen Gräfin; gelang es, so war ich meines Fortkommens sicher, denn die Menschenmenge strömte gleich herbei, meine Kühnheit zu sehen. Furchtlos bestieg ich das Seil; ich sah im Schwünge des Seils über das Dach nach dem Meere, das meine Gräfin geraubt hatte, und mancherlei Hoffnung füllte meine Seele. Alles gelang, und ich hatte am Abend das stolze Gefühl, mein Leben mir gewonnen zu haben, einen Erwerbszweig zu wissen, der mich hinlänglich ernährte, um nicht als Bettler vor meiner Geliebten aufzutreten, wenn das Glück sie mir wieder zeigte, und eine Kunst, die alle meine Tätigkeit in Bewegung setzte und mich über die meisten erhob, mir selbst erfunden zu haben.
Von hier an, verehrte Gräfin, ist mir das Gedächtnis in einem Haufen wunderlicher Abenteuer, die doch zu nichts führten, weil ich die einzige Richtung meines Lebens nicht erreichte, untergegangen; wenig stellt sich mehr von selbst der Einbildungskraft dar. Ich mußte immer an Regensburg denken, an Deutschland, und wollte mich doch gewaltsam in einen Italiener umschaffen, um ihr näher zu treten, die mein Leben erweckt hatte. Die Sehnsucht nach meiner unbekannten Mutter vermischte sich mit dieser Leidenschaft, und der Ehrgeiz trieb mich mitten in meiner körperlichen Anstrengung auch zu geistigen Beschäftigungen. Einmal schiffte ich mit Franzosen nach Algier, um Nachrichten von meiner Gräfin zu haben; aber fast wäre ich im drückendsten Elend ohne Erfolg verschmachtet. Nachher suchte ich meines Vaters Spur in Deutschland, aber auch vergebens, auf; endlich machte ich sogar einen Teil meiner Begebenheiten, zwar verändert, doch meiner Geliebten leicht kenntlich, unter dem Namen Jean Rebhu, durch den Druck bekannt. So sind sechs Jahre vergangen seit jener Zeit in Regensburg; ich habe mein einundzwanzigstes vollendet. Ich will schließen und erschrecke über die Menge Kleinigkeiten, die ich in der Lust der Erinnerung hingeschrieben habe. Was sollen Sie damit? Meine Hand zittert – wird mein Gedanke, wenn er irrt, Sie nicht beleidigen? – Darf ich einem wunderbaren Gefühle trauen, das Ihre Nähe mir gibt, ungeachtet die Ähnlichkeit Ihres Angesichts durch die Zeit, durch eine dunklere Farbe und durch einen tiefen Ernst mir selbst zweifelhaft wird? – Erinnern Sie sich nicht mehr des armen Cosmus, so irrt unter mancherlei Namen, doch mit demselben Herzen, weiter und weiter, bis er sein Grab findet, der ärmste
Spoleto.
Angelika hatte die letzten Zeilen bei der höchsten Anstrengung kaum lesen können, so häufig liefen die Tränen aus ihren Augen: »Er ist's, er ist's, o du heilige Mutter Gottes! Was ich je von dir erfleht, alles ist mir gewährt! – Und nur um mich zu strafen, denn eine neue, schmerzlichere Verwirrung, ein schreckliches Geheimnis drängt das Bekenntnis meines Glücks auf meiner Zunge zurück! Welche grausame Verblendung hat die Mutter ihm als Geliebte vorgestellt! Wie kann sich der reinste menschliche Typ so verirren!« In diesen Betrachtungen stand sie auf, immer zweifelhafter, ob sie sich erklären sollte. Nicht ohne Schrecken gedachte sie der bekannten Ninon, wie ihr Sohn unwissend in sie verliebt, als er das Geheimnis seiner Abstammung von ihr erfuhr, sich aus Verzweiflung in seinen Degen stürzte. Sie war endlich entschlossen und gefaßt, ihren Sohn Cosmus, denn das war Spoleto, langsam zu prüfen, wie er diese Verwandlung aller Verhältnisse ertragen könnte, als er selbst, den die Ungeduld überall herumgetrieben, den Weg zur Quelle hinunterschritt, ohne ein Wort zu sprechen, ihr zu Füßen sank.
»Teurer Neffe!« rief sie, »geliebter Sohn meiner liebsten Schwester! Oh, daß ich dich wiederfinde, das löst ein unvergeßliches Gelübde, das ich in die Hände meiner Schwester schwur.« – »Sie meine Tante und nicht meine Gräfin«, seufzte Cosmus, »ach, wieviel näher glaubte ich Sie mir! Aber warum sollte meine Tante mir Liebe versagen?« –
»Lieber Neffe«, sagte Angelika, »auch die geliebte Gräfin fehlt dir nicht. Jene Gräfin Filomena, deren Liebe zu dir sich nicht zu erklären wagte, weil deine Geburt ein Geheimnis umhüllt, deren mütterliche Liebe du falsch gedeutet hast, war deine Mutter.« – »Gott verzeihe es ihr«, sagte Cosmus, und rieb sich die Stirne; »war ich wahnsinnig, oder bin ich es jetzt geworden? Gräfin, ich kann mich nicht freuen, da ich so viel gewinne und alles verliere; aber mein Leben sei meiner Mutter geweiht, das schwöre ich.« – Die Gräfin sagte ihm von der Sehnsucht seiner Mutter. Er weinte gerührt, sprang auf, sagte, daß er seinen unruhigen Gedanken Luft machen müsse, er müsse mit sich selbst erst zufrieden sein, ehe er vor seiner Tante wieder erscheinen könnte.
Er sprang fort, und die Gräfin blieb in der größten Unruhe stehen. Sie ging ihm nach. Die Sonne durchleuchtete die Gebirge jenseits des Rheins und schimmerte durch die öden Fenster. Ihr Sohn war entschwunden und längst außer dem Garten. Sie ging in Betäubung nach Hause, öffnete ihre Schreibetasche und überlief einen Aufsatz in welchem sie ihre Geschichte kurz erzählt hatte. Er war bestimmt, nach ihrem Tode öffentlich zu erscheinen, wenn ihre Nachforschung nach dem geliebten Sohne vergebens wäre, also auch der Wunsch, ihm ihr Vermögen selbst zu übergeben, unerfüllt bliebe. Sie wollte ihn jetzt brauchen, ihrem Sohn eine Obersicht ihres Geschicks zu geben, wozu sie ohne diese Beihilfe keine Ruhe in sich fühlte. Sie mochte wohl eine Stunde bei dem Aufsatze unruhig gesessen haben, als Cosmus zwar ernst, aber doch mit ruhiger Fassung in das Zimmer trat, ihr die Gleichgültigkeit abbat, die er gezeigt, als er eine so liebe Verwandte kennengelernt; er flehe sie jetzt an, ihm die frühere Geschichte seiner Mutter mitzuteilen, da er schon zu viel wisse, als daß ein Verschweigen ihm heilsam sein könnte. Sie bat ihn, indem sie ihn umarmte, sich ruhig ihr gegenüberzusetzen, sie habe die Schicksale ihrer armen Schwester einst aufgeschrieben und wolle sie ihm, um nicht durch Rührung überrascht zu werden, daraus teils vorlesen, teils erläutern.