Ludovico Ariosto
Rasender Roland, Band 4
Ludovico Ariosto

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Fünfundvierzigster Gesang.

Unbeständigkeit des Glücks (1–4). Gefangennahme Rogers (5–21). Bradamante's Rückkehr an den Hof (22–30). Ihre Worte an den fernen Geliebten (31–39). Rogers Befreiung durch Leo (40–51). Roger übernimmt es für Leo um Bradamante zu kämpfen (52–60). Er geht mit Leo nach Paris und kämpft mit Bradamante (61–84). Er flieht, um zu sterben, in die Einsamkeit (85 bis 94). Bradamante's Verzweiflung (95–102). Marfisa's Einspruch gegen Leo's Vermählung (103–114). Roger wird vermißt (115–117).

Dionys, der Tyrann von Syracus, mußte nach Corinth fliehen und lebte dort in solcher Dürftigkeit, daß er als Schulmeister seinen Unterhalt suchte. Polycrates und Crösus bedürfen wohl keiner Anmerkung.  Je höher du den armen Menschen steigen,
Auf flücht'gem Rad Fortuna's steigen siehst,
Je schneller siehst du ihn bergab sich neigen,
Daß er kopfüber in die Tiefe schießt,
Wie Crösus und Polycrates uns zeigen,
Wie man von Dionys und andren liest,
Die von den Höhn des Glücks, eh man es dachte,
Ein einz'ger Tag in tiefstes Elend brachte.
Servius Tullius, der sechste sagenhafte König Roms, war der Sohn einer Sklavin, Marius, der große Plebejer, der siebenmal Consul war, stammte von niederen Bauersleuten.  Dagegen, wer im Staube scheint zu liegen
Und an des Rades untern Rand gerät,
Der ist dem Punkt am nächsten aufzufliegen,
Wenn sich das Rad im Kreise weiter dreht.
Schon mancher hatte das Schafott bestiegen
Und thronte Tags darauf in Majestät,
Wie Servius und Marius bewiesen
Den alten Zeiten, König Ludwig diesen. 332
Ludwig XII von Frankreich wurde, ehe er den Thron bestieg, dem Untergange sehr nahe gebracht. In den Kämpfen um die Regentschaft geriet er in der unglücklichen Schlacht bei St. Aubin in die Gefangenschaft seiner erbittertsten Gegner. Matthias Corvinus war der Theilnahme an der Ermordung eines ungarischen Großen bezichtigt und in eine peinliche Untersuchung verwickelt, die ihm leicht den Kopf kosten konnte. Bald hernach wurde er König von Ungarn. Beide hier genannte Monarchen standen zu Ferrara in naher Beziehung. Hercules, der Sohn des Herzogs Alfons, hatte eine Tochter Ludwigs, Renée, zur Gemalin; König Matthias war mit Beatrice von Aragon vermählt, deren Schwester die Mutter des Herzogs Alfons und des Cardinals Hippolyt war. Hippolyt lebte außerdem als Knabe eine Zeitlang am ungarischen Hofe.  Der König Ludwig, der erlauchte Schwäher
Des Sohnes meines Herrn, – bei Sanct Albin
Ergriff der Feind ihn, daß dem Kopfe näher
Der Block des Henkers als die Krone schien.
Noch größere Gefahr, ein Schlag noch jäher
Traf den Mathias, zubenannt Corvin.
Dann sollten sie, die so daniederlagen,
Die Herscherkron' in ihrem Lande tragen.
Man sieht an den Exempeln aller Zeiten,
In unsren Tagen wie im Altertum,
Daß Freud' und Leid dicht bei einander schreiten
Und nah beisammen wohnen Schimpf und Ruhm.
Der Mensch soll nicht auf seine Herrlichkeiten
Vertraun, auf Gold und Macht und Heldentum,
Noch auch verzweifeln, wann das Glück ihm grollt;
Weil ja das Rad beständig rollt und rollt.
Seit Roger in dem wunderbaren Streit
Leo und Leo's Vater sah erliegen,
War sein Vertraun zu seiner Tapferkeit
Und seinem guten Glück so hoch gestiegen,
Daß er allein sich, ohne Heergeleit,
Getraute, hundert Heere zu besiegen
Und, wär auch ihrer Wächter Legion,
Den Vater zu erschlagen und den Sohn. 333
Sie aber, die nicht will, daß sich ein Mann
Auf sie verlasse, zeigt' in wenig Tagen,
Daß sie sich hold und grimm erweisen kann,
Erhöhen bald und bald zu Boden schlagen.
Sie stiftet' einen, der ihn kannte, an,
Daß er in Schimpf ihn stürz' und schlimme Plagen,
Den Ritter nämlich, der mit Mühe nur
Entronnen war von Belgrads blut'ger Flur.
Der sorgte schleunig, daß Ungard erfahre,
Wie jener Krieger, der des Kaisers Macht
Gebrochen und zerstört auf viele Jahre
Hier eingekehrt sei für die nächste Nacht,
Und daß er seinem Herrn das Glück beim Haare
Einfangen könn' und weitre Müh und Schlacht
Ihm sparen, wenn er den gefangen nähme,
Weil leicht man die Bulgaren dann bezähme.
Nun wußt' Ungard bereits durch flücht'ge Leute,
Die sich hierher gerettet in der Not,
(Denn Trupp auf Trupp kam eine Unzahl heute,
Weil nicht für alle Raum die Brücke bot,)
Er wußte, sag' ich, was die Schlacht bedeute,
Er wußte schon, der zweite Mann sei todt,
Und daß ein einz'ger Held, sich selbst genug,
Ein Heer errettet' und das andre schlug. 334
Und daß ihm dieser nun in seine Falle,
Ihm ohne Jagd ins Garn gelaufen war,
Verwundert ihn, und wie es ihm gefalle,
Das zeigt Geberd' und Mien' und Rede klar.
Er wartet, bis der Held in Schlummer falle,
Dann schickt er sachte sacht die Häscherschar;
Die schlägt den guten Ritter, der im Bette
Arglos und ruhig schlief, in Stang' und Kette.
10  Roger von seinem eignen Schild verraten,
Bleibt dort zu Novengrad und in der Macht
Ungards, dem keiner gleicht an blut'gen Thaten
Und der ob seines Fanges jauchzt und lacht.
Nackt wie er ist, wie soll sich Roger raten?
Er ist gebunden, eh er nur erwacht.
Ungard läßt flugs mit diesen Neuigkeiten
Zu Constantin den schnellsten Boten reiten.
11  Der Kaiser Constantin inzwischen hatte
Vom Savefluß sein Heer im Lauf der Nacht
Nach Beletich, wo seiner Schwester Gatte
Androphilus regierte, fortgebracht,
Der Vater dessen, dem die Panzerplatte,
Als wäre sie aus Bienenwachs gemacht,
Durchbrochen hatte jener tapfre Ritter,
Der beim Ungard im Thurm lag, hinterm Gitter. 335
12  Der Kaiser ließ gerad an allen Ecken
Die Festungswäll' aufhöhn und Schanzen baun;
Denn den Bulgaren unter jenes Recken
Anführung, glaubt' er, sei es zuzutraun,
Sie würden mehr thun als ihn bloß erschrecken
Und auch den Rest des Heers zusammenhaun.
Da kam der Bot', und die Bulgaren schienen
Nicht furchtbar mehr, wär' auch die Welt mit ihnen.
13  In einem Meer von Milch schwimmt Constantin;
So große Freude kann er kaum ertragen.
»Nun wird doch der Bulgar den kürzren ziehn,«
So hört man ihn mit stolzem Lächeln sagen.
Wenn je der Sieg dem Fechter sicher schien,
Der seinem Feind die Arm' entzweigeschlagen,
So scheint's dem Kaiser sicher, daß er siegt,
Nun jener fremde Held im Kerker liegt.
14  Und hat der Vater Grund Triumph zu singen,
So auch der Sohn: nicht nur hofft er fortan
Belgrad zu nehmen, wiedereinzubringen,
Was der Bulgar geraubt; er denkt daran,
Die Freundschaft jenes Helden zu erringen,
Durch Dienste, die er ihm erweisen kann.
Gern würd' er, wenn die Griechen den gewönnen,
Rinald und Roland Karl dem Großen gönnen. 336
15  Ganz andre Wünsch' erfüllten Theodoren,
Die Schwester Constantins, die ihren Sohn
Durch Rogers mächt'gen Lanzenstoß verloren,
Auf Belgrads Feldern, ich erzählt' es schon.
Kaum nämlich kam die Botschaft ihr zu Ohren,
So fiel sie nieder vor des Bruders Thron,
Gewann sein Herz und rührt' es zum Erbarmen
Mit lautem Jammer und erhobnen Armen.
16  »Von meinen Knie'n will ich mich nicht erheben,
(So sprach sie) mein Gebieter, wenn du nicht
Mir Rache gönnst für meines Kindes Leben,
Nun wir ihn haben, diesen Bösewicht.
Dein Neffe war's; bedenk', wie treuergeben
Er stets dir war; bedenk', wie er die Pflicht
Dir treu geübt hat, wie man's dir verdächte,
Wenn du mir weigertest, daß ich ihn rächte.
17  »Du siehst es ja, daß Gott in seiner Gnade,
Weil ihn der Anblick unsrer Trauer rührt,
Den Mörder einem Vogel gleich gerade
Vom Feld in unsre Netze hat geführt,
Damit mein Sohn am stygischen Gestade
Nicht lange weil', eh er die Rache spürt.
Gieb mir den Fremdling, Herr, und nicht verhindre,
Daß ich durch seine Foltern meine lindre.« 337
18  Sie klagt so gut und führt so gut Beschwerde
Und weiß so gut zu reden und zu flehn
Und will nicht wieder aufstehn von der Erde,
(Obwohl doch Constantin ihr aufzustehn
Viermal gebot mit Wort und mit Geberde,)
Daß er am Ende spricht: »Es mag geschehn.«
Und er befahl, daß man den Fremdling sende
Und überantwort' ihn in ihre Hände.
19  Und daß ich nicht zu lange dabei bleibe,
Der Ritter mit dem Einhorn ward gesandt
Und ausgeliefert dem ergrimmten Weibe,
Eh mehr als eines Tages Frist entschwand.
Mit Schimpf und Schand' ihn bei lebend'gem Leibe
Viertheilen, öffentlich, – die Strafe fand
Sie viel zu glimpflich, und sie sann und plante
Noch härtre, schauderhafte, niegeahnte.
20  Man schlug ihm Händ' und Füß' und Hals in Eisen,
Und tief in einem finstren Thurm befahl
Die grimme Frau Quartier ihm anzuweisen,
Wohin Apoll nie drang mit seinem Strahl.
Ein wenig schimmlig Brot, sonst keine Speisen,
Ließ sie ihm reichen, und nicht Brot einmal
An jedem Tag, und gab ihm einen Wärter,
Der noch grausamer war als sie und härter. 338
21  O hätte jenes tapfre schöne Paar,
Haimons beherzte Tochter und Marfise,
Von Roger Kunde, würden sie gewahr,
Wie er gepeinigt ward in dem Verliese,
Sie kämen ihm zu helfen mit Gefahr
Des eignen Lebens, jene käm' und diese,
Und Bradamante würd', um das zu wagen,
Nicht Haimon erst und nicht Beatrix fragen.
22  Karl mittlerweile, der ihr zugestand,
Daß, ehe sie die Hand dem Gatten reiche,
Er zeigen müss', ob er an starker Hand
Und kühnem Herzen Bradamanten gleiche,
Gab mit Trompeten den Beschluß bekannt
Zuerst am Hof und dann im ganzen Reiche,
Von wo die Fama bald in schnellem Flug
Die Nachricht weit in alle Lande trug.
23  Und also lautet' es in dem Bescheid:
Begehre jemand Haimons Kind zur Ehe,
So müss' er messen sich mit ihr im Streit
Vom Morgen bis die Sonne untergehe;
Und werd' er nicht besiegt in dieser Zeit
Und halte Stand, dann ohne weitres sehe
Das Fräulein als besiegt sich an und solle
Nicht sagen dürfen, daß sie ihn nicht wolle. 339
24  Auch lasse sie die Wahl der Waffen dem,
(Ohn' Ansehn der Person) der sie verlange.
Sie konnt' es ruhig thun, denn gleich bequem
War Schwertkampf ihr und Rennen mit der Stange.
Dem Vater war die Sache nicht genehm,
Doch fügt' er sich der Kron' und ihrem Zwange;
Nach vielem Reden mußt' er sich verstehn
Mit seiner Tochter an den Hof zu gehn.
25  Wenngleich die Mutter schalt und widerstritt,
Doch ließ sie für die Tochter, wie's sich schickte,
Gewänder nähen von verschiednem Schnitt,
Verschiedner Farbe, reiche, schöngestickte.
Als nun die Jungfrau mit dem Vater ritt
Und ihre Liebe nicht am Hof erblickte,
Da schien es ihr derselbe Hof nicht mehr,
Den sie so schön gefunden kurz vorher.
26  Wie jemand, der im Mai zum ersten Mal
Den Garten hat gesehn, von Blumen prangend,
Und dann ihn wieder sieht, den schrägen Strahl
Des kurzen Tages von der Sonn' empfangend,
Den Garten schaurig findet, öd' und kahl,
So fand das Mädchen jetzt, an Hof gelangend,
Daß ohne den geliebten Mann Paris
Nicht mehr die Stadt sei, die sie erst verließ. 340
27  Sie wagt es nicht zu fragen, wo er sei,
Um nicht Verdacht zu wecken durch ihr Fragen;
Doch horcht sie und versucht auch allerlei,
Ob nicht die Leut' es ungefragt ihr sagen.
Fort ist er, das ist klar, doch bleibt's dabei;
Man weiß nicht, welchen Weg er eingeschlagen;
Kein Mensch erfuhr von ihm ein Sterbenswort
Als nur sein Knapp', und der war mit ihm fort
28  O wie sie seufzt! wie wird ihr bang und wehe,
Da sie vernimmt, wie heimlich er verschwand!
Wie peinigt Furcht sie, daß er von ihr gehe,
Sie zu vergessen in entferntem Land,
Und daß er, weil er Haimons Feindschaft sehe
Und weil er nimmer hoff' auf ihre Hand,
Von ihr' sich trenn' und sich vielleicht getröste,
Daß Trennung manchen schon von Lieb' erlöste;
29  Und daß er jetzt vielleicht an fremdem Ort
Umschaue sich nach einem andren Weibe,
Damit sie ihn vergnüg' und so hinfort
Die alte Lieb' ihm aus dem Sinne bleibe,
Wie man den Nagel (nach dem alten Wort)
Durch einen andren aus dem Brette treibe.
Auf den Gedanken folgten andre, neue,
Und zeigten Roger ihr voll Lieb' und Treue 341
30  Und schalten ihren thörichten Verdacht,
Den sündhaft sie in ihrer Nähe leide.
Und dem Gedanken, der den Anwalt macht,
Folgt dann der Kläger, und sie hört auf beide,
Giebt bald auf diesen, bald auf jenen Acht
Und weiß nicht recht, wofür sie sich entscheide,
Neigt aber doch zu jener Meinung mehr,
Die tröstlich klingt, und haßt die andre sehr,
31  Und wenn sie alle Wort' und alle Gründe,
Die Roger ihr gesagt hat, neu erwägt,
Beweint sie und bereut wie große Sünde,
Daß sie den Argwohn wider ihn gehegt;
Worauf sie dann, als ob er vor ihr stünde,
Sich schuldig nennt und an die Brust sich schlägt
Und ruft: »Ich hab' gesündigt und ich seh' es,
Doch Ursach war die Ursach größren Wehes,
32  »Die Liebe! die in meine Brust wie Erz
Dein Bild so schön und reizend eingegraben,
Dazu den hohen Geist, das kühne Herz
Und deine Tugenden und edlen Gaben,
Daß unvermeidlich, dünkt mich, allerwärts
Mädchen und Fraun, die dich gesehen haben,
Entbrennen müssen, jede Künst' ersinnt,
Wie sie dich mir entreißt, dich selbst gewinnt. 342
33  »O daß dein Geist so deutlich vor mir stände,
Wie Amor deine Züg' ins Herz mir schreibt!
Ich weiß, daß ich ihn dann nicht anders fände,
Als ich ihn schätze, nun er dunkel bleibt,
Und daß die Eifersucht so ganz verschwände,
Die stündlich ihren Hohn jetzt mit mir treibt,
Daß, während jetzt ich kaum sie von mir wehre,
Sie dann besiegt und todt auf ewig wäre.
34  »Dem Geizhals gleich' ich, der den Schatz gewann
Und ihn vergrub und klagt, daß er ihm fehle,
Und fern von ihm nicht froh mehr leben kann
Und immer fürchtet, daß ihn jemand stehle.
Seitdem ich dich nicht sehe, theurer Mann,
Herscht mehr denn Hoffnung Furcht in meiner Seele,
Und ob ich schon sie falsch und nichtig weiß,
Doch geb' ich wehrlos ihr mich immer preis.
35  »Wann aber deiner Schönheit fröhlich Licht
Vor meinen Augen aufgeht, neuerstanden,
Das jetzt sich mir verbirgt – ich ahne nicht
Wo, mein Geliebter, wo in fernen Landen, –
Wie dann die falsche Furcht zusammenbricht
Und vor der wahren Hoffnung wird zu Schanden!
O komm zu mir, mein Roger, komm, erquicke
Die Hoffnung, daß die Furcht sie nicht ersticke! 343
36  »Wie nach dem Untergang der Sonne sich
Das Dunkel mehrt und Furcht regiert und Grauen,
Doch wann sie aufgeht stolz und königlich,
Die Schatten fliehn, der Feige faßt Vertrauen:
So, ohne Roger, fühle Furcht auch ich,
So flieht die Furcht, wann ihn die Augen schauen.
O Roger, komm zu mir, komm wieder, ehe
Die Hoffnung untersinkt in Furcht und Wehe!
37  »Wie Nachts im Dunkeln jedes Flämmchen lebt
Und ist bei Tagesanbruch schnell verglommen,
So meine Furcht, die gleich die Hörner hebt,
Sobald mir meine Sonne wird genommen.
Wann aber sie am Himmel wieder schwebt,
Dann weicht die Furcht, dann wird die Hoffnung kommen.
O komm zu mir, o komm, geliebtes Licht,
Vertreib die Furcht, eh sie das Herz mir bricht!
38  »Das schöne schwindet, was die Welt umschließt,
Wann sich die Sonne neigt in ihrem Kreise.
Dann singt kein Vogel, keine Blume sprießt,
Dann heult der Sturm, die Flut erstarrt zu Eise:
So, wann du mir dein holdes Licht entziehst,
O meine Sonne, bringen gleicher Weise
Zahllose Aengste, jedes Grundes bar,
Mir bittren Winter mehre Mal' im Jahr. 344
39  »O daß dem Jahr der liebe Lenz nicht fehle,
Komm, meine Sonne, komm mit sanfter Glut.
Zerschmelze Eis und Schnee, in meine Seele,
Die schwarz umwölkt ist, strahle Trost und Mut!«
Wie Progne wehklagt oder Philomele,
Wann sie mit Futter kömmt für ihre Brut
Und sieht ihr Nest leer, oder wie im Schatten
Die Turteltaube wehklagt um den Gatten,
40  So klagte Bradamant' in dieser Zeit,
Gebeugt von dem gefürchteten Verluste,
Mit Thränen oft benetzend Wang' und Kleid,
Obwohl sie ihren Gram verbergen mußte.
O wie viel größer, herber wär' ihr Leid,
Wenn sie es wüßte, was sie jetzt nicht wußte,
Daß bittren Tod erwartend ihr Gemal
Im Kerker lieg' in Pein und Folterqual.
41  Die Grausamkeit der unbarmherz'gen Alten,
In deren Macht das Leben Rogers stand
Und wie sie Tod in schrecklichsten Gestalten
Und unerhörter Pein für ihn erfand,
Dies wurde durch des Himmels gnädig Walten
Dem ritterlichen Kaiserssohn bekannt.
Gott gab ihm ein, wie er ihm Rettung bringe,
Eh solch ein Heldengeist zu Grunde ginge. 345
42  Obwohl der ritterliche Prinz nicht ahnte,
Daß jener Roger sei, doch liebt' er ihn,
Seit Roger durch die Schlacht den Weg sich bahnte
Mit Heldenmut, der übermenschlich schien.
Er überlegte lange, sann und plante,
Bis ein Entschluß zur Reise war gediehn,
Ihn so zu retten, daß die böse Alte
Nicht ihn für ihren Widersacher halte.
43  Er zog den Kerkermeister in die Ecke
Und sprach mit ihm und sagt' ihm im Vertraun,
Er wünsche sich, eh man den Spruch vollstrecke,
Den kriegsgefangnen Fremdling anzuschaun.
Drauf kamen er und ein getreuer Recke,
Der stark und tüchtig war dareinzuhaun,
Nachts in den Kerker, und der Schließer mußte
Ihm öffnen, so daß keiner darum wußte.
44  Der Schließer war allein, und heimlich sachte
Ließ er die beiden ins Gefängniß ein,
Zum Thurm sie führend, wo er den bewachte,
Der ausersehen war für schlimmste Pein.
Als nun der Schließer sich zu schaffen machte,
Den Schlüssel umzudrehn im Gitterlein,
Warfen sie eine Schling' ihm ums Genicke
Und fertigten ihn ab im Augenblicke. 346
45  Sie öffneten die Luk'; ein Seil befand
Sich in der Oeffnung, und in aller Schnelle
Glitt Leo, eine Fackel in der Hand,
Hinab zu Roger in die finstre Zelle.
Da fand er ihn auf einen Rost gespannt,
Vom Wasser nur noch eine halbe Elle.
In einem Monat oder eher noch
Hätt' ihn getödtet dies graunhafte Loch.
46  Der Prinz umarmt' ihn sanft und brüderlich
Und sagte: »Ritter, deine Tugend brachte
Freiwill'ge ew'ge Knechtschaft über mich
Und heischt, daß ich nach deinem Glücke trachte
Mehr als nach meinem Glück, und wo es dich
Zu retten gilt, des eignen Heils nicht achte,
Und daß ich deine Freundschaft, edler Held,
Mehr schätz' als alle Sippschaft in der Welt.
47  »Vernimm, daß ich Prinz Leo bin; vernimm,
Daß ich gekommen bin dir beizustehen,
Obwohl ich weiß, es ginge mir wohl schlimm,
Wenn Constantin erführe, was geschehen.
Vertrieben würd' ich oder doch mit Grimm
Und finstrer Stirn beständig angesehen.
Denn um des Volkes willen, welches wir
Vor Belgrad fallen sahen, grollt er dir.« 347
48  So sprach er, und er sprach noch mancherlei,
Um aus des Todes Bann ihn zu erheben,
Und macht' ihn unterdeß von Ketten frei.
Und Roger sprach. »Ich dank' euch, Herr, mein Leben,
Und dies Geschenk, das ihr mir machtet, sei
Ein Darlehn, und ich will's euch wiedergeben,
Sobald ihr's haben wollt, zu jeder Zeit,
Wann ihr's zu eurem Dienst benötigt seid.«
49  Man zog den Jüngling aus dem finstren Ort
Und ließ den todten Wächter in der Klause,
Und unerkannt kam Leo mit ihm fort.
Der Prinz nahm Roger mit nach seinem Hause
Und wußt' ihn zu bereden, daß er dort
Verborgen sechs bis sieben Tage hause,
Bis man im Stande sei, ihm Pferd und Waffen,
Die ihm Ungard geraubt, zurückzuschaffen.
50  Roger entflohn, geöffnet das Verlies,
Der Wächter todt, – so fand sich's, als es tagte.
Die einen dachten das, die andren dies,
Doch keiner riet es, was auch jeder sagte,
Da eher alles sonst sich denken ließ,
Als daß es Leo sei, der solches wagte,
Leo, der Ursach hatte, ihn zu hassen
Und ihn zu martern, nicht ihn freizulassen. 348
51  Ob dieses Edelmuts, der ihn befreite,
War Roger so erstaunt und schämte sich,
Daß das Gefühl, mit dem er her zum Streite
Gekommen war, jetzt einem andren wich,
Und wenn er beid' ansah, das erst' und zweite,
Dies jenem nicht noch jenes diesem glich:
Das erste war ganz Feindschaft, Gift und Groll,
Das zweite zärtlich ganz und liebevoll.
52  Er denkt an nichts mehr, will nach nichts mehr fragen,
Wünscht sich kein andres Glück, kein andres Gut
Als diese Schuld, die ries'ge, abzutragen
Durch gleichen oder größren Edelmut.
Er meint, wenn er in allen seinen Tagen,
So alt er wird, dem Prinzen Dienste thut,
Sich tausend sichren Toden wirft entgegen,
Doch kann er nie die ganze Schuld erlegen.
53  Nun traf in dieser Stadt die Nachricht ein,
Wie das Proclam des Kaisers Karl verlange,
Daß, wer um Haimons Tochter wolle frein,
Mit ihr sich messen soll' im Waffengange.
Darob schien Leo wenig froh zu sein,
Denn farblos ward auf einmal seine Wange.
Er kannte wohl die eigne Kraft und wußte,
Daß im Gefecht er ihr erliegen mußte. 349
54  Doch überlegt' er sich, daß der Verstand
Ersetzen könne, was die Kraft versage,
Wenn jener Held, der ihm noch unbekannt
Von Namen war, für ihn sein Wappen trage.
Der, dacht' er, halte jedem Franken Stand
An Stärk' und Mut, und das schien außer Frage,
Würd' ihm das Unternehmen anvertraut,
So werde sie besiegt und Leo's Braut.
55  Nur zweierlei ist nötig zum Gelingen:
Zuerst, daß Roger sich dazu versteht,
Und zweitens muß man so ins Feld ihn bringen
An Leo's Statt, daß kein Verdacht entsteht.
Er ruft ihn her, spricht ihm von diesen Dingen
Und bittet dann inständig ihn und fleht,
Für ihn zu fechten und sich zu verkappen
Mit fremdem Namen und erlognem Wappen.
56  Leo's Beredtsamkeit in allen Ehren,
Doch stärker als Beredtsamkeit erwies
Sich jene große Schuld des Dankes, deren
Verpflichtung niemals sich abschütteln ließ.
Hart freilich schien dem Ritter das Begehren
Und fast unmöglich, aber er verhieß
Unfrohen Herzens, doch mit heitren Mienen,
In allen Stücken treulich ihm zu dienen. 350
57  Obschon, indem er diese Worte sagte,
Ein grimmer Schmerz ihm durch die Seele fuhr,
Der nun ihn Tag und Nacht beständig plagte
Mit stetem Weh und ewiger Tortur,
Und er den Tod vor Augen sah, so klagte
Er nimmer, noch gereut' ihn dieser Schwur.
Eh er vergäße, was er jenem schuldet
Hätt' er den Tod und tausend Tod' erduldet.
58  Der Tod ist ihm gewiß: auf sie verzichten
Würd' ein Verzicht zugleich aufs Leben sein.
Entweder wird ihn Pein und Gram vernichten
Oder, vernichtet ihn nicht Gram und Pein,
So soll die eigne Hand das Werk verrichten
Und seine Seel' aus ihrer Haft befrein.
Denn alles dünkt ihm leichter als dies eine,
Als sehen müssen, sie sei nicht die seine.
59  Den Tod zu leiden ist er zwar bereit,
Doch weiß er nicht, wie er's zu Ende bringe.
Er könnte schwach sich stellen und im Streit
Die nackte Brust darbieten ihrer Klinge;
Denn solcher Tod wär' hohe Seligkeit,
Wenn so durch ihre Hand er unterginge.
Dann sieht er ein, wenn er für Leo nicht
Die Braut gewinnt, versäumt er seine Pflicht. 351
60  Er hat gelobt den Zweikampf zu bestehn
Mit Bradanmanten in dem Kampfgehege
Und nicht in Gaukelspiel sich zu ergehn,
Woran fürwahr dem Prinzen wenig läge.
Und also, was gesagt ist, soll geschehn.
Wohl wird noch der Gedank' und jener rege,
Doch jagt er alle fort und folgt allein
Dem einen, der ihn mahnt getreu zu sein.
61  Schon hatte Leo, Waffen, Pferd' und Reiter
Mit Urlaub seines Vaters Constantin
Gerüstet, und er zögerte nicht weiter
Und machte Anstalt gen Paris zu ziehn.
Und Roger nahm er mit und gab dem Streiter
Die schönen Waffen wieder, auch Frontin.
Ein Tag verging, ein andrer und noch viele,
Bis sie in Frankreich waren und am Ziele.
62  Nicht wollte Leo einziehn in Paris
Und blieb im Freien unter seinen Zelten,
Worauf er sich dem Kaiser melden ließ
Durch Boten, die, was er befahl, bestellten.
Der Kaiser, der gar freundlich sich erwies,
Beschenkt' ihn und besucht' ihn auch nicht selten.
Der Grieche legt' ihm seine Absicht dar
Und bat ihn das zu thun, was nötig war, 352
63  Und sie zu stellen, die nur den Gemal
Annehme, der an Kraft sie überrage;
Deswegen sei er hier, aus freier Wahl,
Daß sie ihn ehlich' oder ihn erschlage.
Dies sagte Karl ihm zu und er befahl,
Daß sie sich stellen soll' am nächsten Tage
In dem Gehege, das er vor Paris
In aller Eile Nachts herrichten ließ.
64  Der gute Roger hatte diese Nacht,
Eh sich die Waffenprobe sollt' entscheiden,
Ähnlich wie der Verdammte hingebracht,
Der sichren Tod am Morgen wird erleiden.
Er hatt' erwählt, in voller Waffentracht
Zu fechten, um Erkennung zu vermeiden,
Und keine Lanze wollt' er, auch kein Pferd,
Und nahm als Angriffswaffe nur das Schwert.
65  Die Lanze ließ er weg, nicht weil ihm bangte
Vor jener goldnen aus dem Land Katai,
Die durch Astolf in ihre Hand gelangte
Und jeden niederwarf, wer es auch sei;
Denn daß die Lanze solche Kraft erlangte
Und angefertigt war durch Zauberei,
Das wußte niemand außer Galafron,
Der sie verfert'gen ließ für seinen Sohn. 353
66  Astolf und Bradamante hatten nie
Darum gewußt; sie glaubten stets, es wäre
Die eigne Kraft und keineswegs Magie,
Was ihnen im Turnier den Sieg gewähre,
Und meinten, ganz dasselbe würden sie
Auch leisten mit beliebig andrem Speere.
Der Grund, daß Roger keine Lanze wollte,
War nur, daß sich Frontin nicht zeigen sollte.
67  Denn Bradamante hätte den Frontin
Erkannt, wenn sie ihn säh' in dem Gehege,
Sie hatt' ihn selbst geritten, selber ihn
In Montalban gepflegt mit treuer Pflege.
Da Rogern es vor allem nötig schien,
Daß sie ihn nicht erkenn' und Argwohn hege,
So wollt' er weder Roß noch andre Sache
Die im geringsten nur ihn kenntlich mache.
68  Auch einen andren Degen nahm er mit.
Er wußte, daß durch Panzerstahl und Schilde
Die Balisarde wie durch Semmel glitt;
Kein Eisen schützte wider diese wilde.
Und auch dem andren Schwert nahm er den Schnitt
Mit einem Hammer und verlieh ihm Milde.
Also gewaffnet trat beim ersten Schein
Des Morgens Roger in die Schranken ein. 354
69  Er trug, um ganz dem Kaisersohn zu gleichen,
Auf seinem Harnisch Leo's Oberkleid;
Den goldnen Doppelaar, das Kaiserzeichen,
Führt' er auf rotem Schild abconterfeit.
Und diese Täuschung ließ sich leicht erreichen,
Denn gleich an Wuchs und in den Schultern breit
War einer wie der andre, und es stellte
Nur einer sich; der andre blieb im Zelte.
70  Das Fräulein hatte während dieser Dinge
Ganz andre Wünsch' und hegte andren Mut.
Wenn Roger mit dem Hammer seine Klinge
Stumpf macht, damit sie keinen Schaden thut,
Wetzt sie den Degen scharf und wünscht, er dringe
Ins Eisen ein und treffe Fleisch und Blut,
So wohlgezielt bei jedem Stoß und Streiche,
Daß er geradeswegs das Herz erreiche.
71  Wie vor dem Bahnseil eins der Berberpferde
Feurig auf das Signal zum Rennen harrt
Und nie die Füße still hält an der Erde
Und seine Ohren spitzt und schnaubt und scharrt,
So harrt die Jungfrau, trotziger Geberde,
Nicht ahnend, Roger sei ihr Widerpart
Auf die Trompet' und zügelt sich mit Mühe;
Es scheint, daß Feuer in den Adern glühe. 355
72  Wie nach dem Donner oft ein jäher Wind
Herabfährt und das Meer mit grimmen Schlägen
Von unterst kehrt zu oberst und beginnt
Hoch ins Gewölk den dunklen Staub zu fegen, –
Das Wild entflieht, es fliehen Hirt und Rind,
Die ganze Luft wird Hagelsturm und Regen, –
So, beim Trompetenschalle, stürmt und fährt
Das Mädchen auf den Freund mit nacktem Schwert.
73  Doch eher wird die Königin der Eichen,
Eh wird der feste Thurm vor Windes Macht,
Eh harter Fels dem zorn'gen Meere weichen,
Das ihn bestürmt und peitscht bei Tag und Nacht,
Eh Roger in dem Harnisch ohne gleichen,
Den einst Vulcan für Hector hat gemacht,
Vor jenem Zorne weicht, der jetzt hernieder
Aufs Haupt ihm wettert und auf Brust und Glieder.
74  Bald hauend, bald vorstoßend mit der Klinge
Ficht Bradamant' und nimmt ihn scharf auf's Korn,
Daß zwischen Stahl und Stahl die Spitze dringe,
Um Linderung zu schaffen ihrem Zorn.
Bald prüft sie hier, bald dort, ob es gelinge,
Bald von der Seite kömmt sie, bald von vorn,
Und grämt sich und ergrimmt, daß nichts ihr glücke
Von allem, was sie plant, in keinem Stücke. 356
75  Wie der Belagrer vor dem festen Ort,
Den starke Mauern und Bastei'n umgeben,
Die Thor' und Thürme hier berennt und dort
Und auszufüllen sucht die starken Gräben
Und nichts erreicht als seiner Leute Mord;
Denn nirgend will ein Zugang sich ergeben:
So müht sich Bradamante, stürmt und ficht,
Doch Ring' und Panzer öffnen kann sie nicht.
76  Bald aus dem Helm, bald aus dem blanken Schild,
Bald aus dem Panzer schlägt sie Funkenfeuer.
Auf Kopf und Brust und Arme führt sie wild
Zahllose Streich', und jedem folgt ein neuer,
Dichter als Hagel, wann er aufs Gefild
Und prasselnd niederfällt auf Haus und Scheuer.
Roger ist auf der Hut und deckt und wehrt
Vor Schaden sich und läßt sie unversehrt.
77  Bald steht er fest, bald weicht er oder springt;
Bald muß die Hand sich mit dem Fuß bewegen;
Jetzt hebt er seinen Schild, jetzt wieder schwingt
Er ihrem Schwert das eigne Schwert entgegen.
Er schlägt sie nicht, und wenn er schlägt, so bringt
Er Hiebe an, die nicht zu schaden pflegen.
Das Fräulein, ehe noch anbricht die Nacht,
Sehnt sich nach der Beendigung der Schlacht. 357
78  Was für Gefahr ihr droht, wenn unentschieden
Der Zweikampf bleibe, fällt ihr plötzlich ein:
Wenn dieser Freier heute nicht um Frieden
Sie bittet oder fällt, so ist sie sein.
Schon naht Apoll den Säulen des Alciden,
Bald taucht sein Haupt in Meereswellen ein,
Als sie an ihren Kräften zu verzagen
Anfängt und aller Hoffnung zu entsagen.
79  Es wuchs der Zorn, je mehr die Hoffnung schwand,
Und sie verdoppelt ihres Schwertes Streiche,
Ob nicht der Harnisch, dessen Widerstand
Den ganzen Tag getrotzt hat, endlich weiche;
Wie einer, der sein Werk mit läss'ger Hand
Versäumt hat und gewahrt, der Tag verstreiche,
Umsonst sich sputet, sich erschöpft und quält,
Bis ihm die Kraft und auch der Tag ihm fehlt.
80  Ach armes Mädchen, hättest du die Kunde,
Daß er, den du zu tödten Müh dir giebst,
Dein Roger ist, dem du mit Herz und Munde,
Dem du mit Leib' und Seele dich verschriebst,
Du schlügest eher dir die Todeswunde
Als ihm, den mehr du als dich selber liebst,
Und einst, wann du erfährst, nach welchem Herzen
Du heut gezielt, wird jeder Streich dich schmerzen. 358
81  Karl und noch viele mit ihm, in dem Wahn,
Daß Leo selbst, nicht Roger, mit ihr streite, –
Als sie so wacker und behend ihn sahn
Und wie er tapfer um die tapfre freite
Und klug sich deckt', ohn' ihr ein Leid gethan
Zu haben, – neigten sich auf seine Seite
Und sprachen: »Wohl zusammen passen die;
Denn er ist ihrer wert und seiner sie.«
82  Als Phöbus endlich nun im Meer verschwand,
Gab Karl Befehl, daß man die Kämpfer scheide,
Und sagte, daß er Bradamante's Hand
Dem Griechen geb' und keinen Einspruch leide.
Der gute Roger, wie er ging und stand,
Ohn' auszuruhn, im Helm und Eisenkleide,
Ritt fort auf einem Zelter übers Feld,
Wo Leo ihn erwartet' im Gezelt.
83  Und Leo schloß ans Herz ihn brüderlich
Zweimal und mehr und hielt ihn fest umfangen.
Den Helm ihm abzuziehn beeilt' er sich
Und küßte Roger auf die beiden Wangen.
»Verfüge jetzt (so sprach er) über mich,
Wie dir beliebt: für dich und dein Verlangen
Mit Gut und Blut zu Diensten dir zu stehn,
Sollst du mich niemals müd' und lässig sehn. 359
84  »Ich wüßte nicht, wie ich dir lohnen sollte,
Um von der Schuld des Danks mich zu befrein,
Nicht, wenn ich mir die Krone nehmen wollte
Von meinem Haupt und spräche, sie ist dein.«
Der gute Roger, der dem Leben grollte,
Dem fast das Herz zersprang vor großer Pein,
Antwortete nicht viel; er legte nieder
Das fremde Wappen, nahm sein Einhorn wieder,
85  Und sich ermüdet stellend, eilt' er fort,
Sobald er konnt', um in sein Zelt zu gehen,
Und dann, um Mitternacht, legt' er sich dort
Die Rüstung an vom Kopf bis zu den Zehen
Und sattelte sein Roß, und ohn' ein Wort
Des Abschieds, ungehört und ungesehen
Stieg er zu Pferd und ließ sein Roß Frontin
Des Weges gehn, der ihm der beste schien.
86  Und über Thal und Höhe sanft und sacht,
Vorbei an Feldern und an dunklen Hainen
Trägt nun Frontin den Herrn die ganze Nacht,
Und nimmer hört der Jüngling auf zu weinen.
Er ruft den Tod, der soll mit seiner Macht
Die Schmerzen brechen, die unheilbar scheinen.
Er sieht kein Mittel als den Tod allein,
Zu enden die unleidlich schwere Pein. 360
87  »Weh mir! (so sprach er) wen soll ich verklagen,
Daß all mein Glück auf einmal mich verließ?
Und will ich den Verlust nicht still ertragen,
Nicht ohne Rach', an wem denn räch' ich dies?
Denn außer mir kann ich von keinem sagen,
Daß er mich kränkte, mich ins Elend stieß.
So muß ich denn mich an mir selber rächen;
Denn alles, was geschah, ist mein Verbrechen.
88  »Ja, wär' der Schade keinem sonst geschehen
Als mir, so könnt' ich mir vielleicht verzeihn,
Obwohl nur schwer; denn wie die Dinge stehen,
Sag' ich vielmehr, Vergebung darf nicht sein.
Jetzt aber, wo auch sie durch mein Vergehen
Mitleidet, sag' ich um so eher nein.
Vergäb' ich auch mir selbst in eigner Sache,
In ihrer kann ich's nicht; die fordert Rache.
89  »Ich muß und will, damit ihr Recht geschehe,
Sterben durchaus, und wenig liegt daran.
Ich weiß nichts andres, was vor meinem Wehe
(Als nur der Tod allein) mich schützen kann.
Mich schmerzt vielmehr, daß ich nicht starb, noch ehe
Ich so an ihr zu sündigen begann.
Wär' ich gestorben doch, als Theodore
Mich festhielt hinter jenem Eisenthore! 361
90  »Die hätte mir mit Zangen und mit Feuer
Foltern bereitet und hernach den Tod,
Doch der Geliebten blieb' ich ewig theuer,
Und sie beweinte heut des Freundes Not.
Jetzt, wenn sie hört, daß ich den Leo treuer
Geliebt als sie und daß ich mich erbot
Ihr zu entsagen und sie ihm zu lassen,
Wird sie mit Recht im Tode noch mich hassen.«
91  So redend und mit Seufzern und mit herben
Und heißen Thränen kam er um die Zeit,
Als Morgenlicht anfing den Ost zu färben,
In dunklen Wald und tiefe Einsamkeit.
Weil er verzweifelt war, gewillt zu sterben
Und sterben möcht' in der Verborgenheit,
So schien er an den rechten Ort gekommen,
Um das zu thun, was er sich vorgenommen.
92  Frontin wird mit berühmten Pferden der griechischen Sage verglichen, mit Pegasus, welcher unter die Sterne versetzt wurde, mit Cillarus, dem Pferde Castors, und mit Arion, dem Renner des argivischen Königs Adrast, der zu den »Sieben gegen Theben« gehörte und der Schnelligkeit seines Pferdes sein Leben verdankte.  Bevor er eintrat in das Waldgehege,
Wo es am dunkelsten und tiefsten schien,
Schickt' er Frontin den Rappen seiner Wege,
Gab ihm die Freiheit und entbürdet' ihn.
»Ach (sprach er) wenn in meiner Macht es läge,
Dir nach Verdienst zu lohnen, mein Frontin,
Du solltest kaum das Roß beneiden droben,
Das weiland zu den Sternen ward erhoben. 362
93  »Cillarus war und auch Arion nicht
Vortrefflicher als du, von Fehlern reiner,
Auch von den Rossen keins, davon Bericht
Die Griechen geben oder die Lateiner;
Und wenn ihr euch in allen Stücken glicht,
In einem Stück sind all' die andren kleiner,
Weil ihrer keines sich berühmen kann
So hoher Ehr' als mein Frontin gewann.
94  »Denn eine Jungfrau hold und kühn und fein,
Wie man auf Erden keine zweite fände,
Hat dich, Frontin, geliebt; sie pflegte dein,
Dich sattelten und zäumten ihre Hände.
Mein Kleinod liebte dich – was sag' ich mein?
Mein ist es ja nicht mehr; das nahm ein Ende.
Ich hab' es weggeschenkt! ich hab's verloren!
Was zaudr' ich noch das Schwert ins Herz zu bohren?«
95  Wenn Roger so verging in Qual und Gram,
Daß selbst das Waldgethier mitleidig lauschte,
(Denn sonst war keiner, der sein Weh vernahm,
Der zusah, wie der Strom der Thränen rauschte,)
Denkt nicht, daß Bradamant' es leichter nahm,
Daß sie zufrieden mit den Freiern tauschte,
Als jeder Vorwand ihr genommen schien,
Sich Leo's Werbung ferner zu entziehn. 363
96  Sie will nur Roger, keinen andren freien
Und eher alles thun, soviel sie kann,
Ihr Wort verleugnen, sich mit Karl entzweien,
Mit Eltern, Freunden und mit jedermann.
Wenn das nicht hilft, mag sie der Tod befreien;
Gift oder Eisen löst aus jedem Bann.
Denn besser dünkt es ihr nicht mehr zu leben
Als lebend ihren Roger preiszugeben.
97  »Mein Roger, (ruft sie) ach, wo magst du weilen?
Ist's möglich, bist du gar so fern von mir,
Daß jener Aufruf, der zu allen Theilen
Der Erde drang, verborgen blieb vor dir?
Wär' er zu dir gelangt, dann ohne Weilen
Wärst du hieher geeilt, der erste hier.
Was soll ich andres denken, ew'ge Mächte,
Als nur das schlimmste, was man je erdächte?
98  »Wie ist es möglich, Roger, daß nur du,
Von allen du, die Kunde nicht empfangen?
Empfingst du sie und warst nicht hier im Nu,
So mußt du todt sein oder bist gefangen.
O diesem Griechen trau' ich alles zu:
Gewiß, du bist ihm in das Garn gegangen.
Der falsche sperrte dir den Weg hieher,
Damit du hier nicht eher seist als er. 364
99  »Von Karl hatt' ich erbeten, daß mich keiner
Heimführe, der im Kampf geringer wär';
Ich dacht', es sei auf dieser Welt nur einer,
Dem ich nicht widerstünd' in voller Wehr.
Dich hielt ich größer, alle andren kleiner.
Gott aber straft mich für die Keckheit schwer,
Da jener, der im Leben nichts begonnen,
Was Ehre bringen kann, mich hat gewonnen,
100  »Wenn ich gewonnen bin, weil ich ihn nicht
Entwaffnen konnte noch ihn niederstechen;
Was ungerecht mir scheint, und dem Gericht,
Das Karl gehalten, werd' ich nie entsprechen.
Wohl weiß ich, daß die Welt mich schuldig spricht,
Wenn sie bereit mich sieht, mein Wort zu brechen;
Doch bin ich nicht die erste noch die letzte,
Die man für wankelmütig schätzt und schätzte.
101  »Genüg' es, fester als ein Fels zu stehen
Zu meiner Lieb' und meinem ersten Eid
Und darin allen weit voranzugehen,
Den Frauen alter oder neuer Zeit.
Schilt man mich falsch in andrem, mag's geschehen;
Mich grämt's nicht, wenn mich Falschheit nur befreit!
Wenn ich von Leo nur erlöst mich finde,
Nennt gern mich flatterhaft wie Laub im Winde.« 365
102  Nocturnus ist eine (wie es scheint literarisch entstandene) Nachtgottheit der Römer, die cimmerischen Grotten verlegt die griechische Phantasie in ein finsteres Nebelland am See Mäotis, dem heutigen Asowschen Meer.  So hatte sie die ganze lange Nacht
Nach jenem Unheilstag mit sich gesprochen
Und alle Stunden klagend hingebracht,
Von Seufzern oft und Thränen unterbrochen.
Doch als Nocturnus vor der Sonne Macht
Sich in cimmerisches Geklüft verkrochen,
Sandt' ihr der Himmel, der von Ewigkeit
Sie Rogern zugedachte, Trost im Leid.
103  Er gab Marfisen ein, an Hof zu gehn,
Des Morgens früh, zum Kaiser und zu sagen,
Was ihrem Bruder Roger hier geschehn,
Sei Unrecht, und sie werd' es nicht ertragen
Ihn seines Weibes so beraubt zu sehn,
Wie man's versuch', ohn' ihn vorher zu fragen;
Beweisen wolle sie trotz jedermann,
Daß Roger Bradamante's Hand gewann.
104  Und namentlich sei sie dazu bereit,
Wenn jene sich's zu leugnen unterstehe,
Daß sie in ihrer Gegenwart den Eid
Ihm schwor, der Mann und Weib vereint zur Ehe,
Und daß die Sach' in aller Förmlichkeit
Geordnet sei und klar zu Recht bestehe;
Daher denn eine Trennung dieser zwei
Und eine neue Wahl unmöglich sei. 366
105  Ob sie die Wahrheit oder falsches sagte,
Genug, sie sagt' es, und ich glaube gern,
Daß sie so sehr nicht nach der Wahrheit fragte
Als nach Verdrängung jenes fremden Herrn,
Und daß sich Bradamante nicht beklagte.
Denn Roger zu gewinnen, Leo fern
Von sich zu halten, schien ihr augenblicklich
Kein andrer Weg so sicher und so schicklich.
106  Kaum hörte Karl die misliche Geschichte,
So rief er Bradamante gleich herbei
Und sagt' ihr, was Marfisa sich verpflichte
Ihr zu beweisen. Haimon war dabei.
Die Jungfrau, mit bestürztem Angesichte,
Leugnete nicht, noch stimmte sie dem bei,
So daß man leicht einsah und völlig glaubte,
Daß wahr sei, was Marfisa jetzt behaupte.
107  Froh war Rinald und froh der von Anglant,
Zu hören, daß es doch mit dieser Ehe,
Die Leo schon so gut wie sicher fand,
Vielleicht am Ende nicht recht weiter gehe
Und Rogern seiner Bradamante Hand
Trotz Haimons Eigensinn in Aussicht stehe,
Und daß es möglich sei sie ihm zu retten,
Ohne daß sie Gewalt zu brauchen hätten. 367
108  Wenn zwischen ihnen dies Verlöbniß ist,
So steht die Sache fest und kann nicht wanken,
Und was Rinald versprach, wird ohne Zwist
Erfüllt und ohne ärgerliches Zanken.
»Dies ist,« sprach Haimon, »dies ist eine List,
Die ihr ersannt. Doch irrt ihr im Gedanken.
Denn wenn auch Wahrheit wäre dies Gedicht,
Das ihr gedichtet, mich besiegt es nicht.
109  »Gesetzt – obwohl ich es nicht zugestehe
Noch glaube – daß sie thöricht jenem Mann
Versprochen hätte, was ihr sagt, die Ehe,
Und Roger wieder ihr, – ich nehm' es an:
So frag' ich doch, damit ich klarer sehe,
Wo ging die Sache vor sich? wo und wann?
Wenn es geschah, geschah es im Verlaufe
Der Zeit, das ist gewiß, vor Rogers Taufe.
110  »Und war er noch nicht Christ, als sich die beiden
Verlobten, frag' ich nichts nach diesem Paar.
Denn gab die Christin ihre Hand dem Heiden,
So glaub' ich, daß die Ehe nichtig war,
Und Leo darf niemals darunter leiden,
Der um sie focht auf eigene Gefahr.
Auch unser Kaiser, glaub' ich, widerspräche,
Wenn sie ihr Wort deshalb dem Griechen bräche. 368
111  »Was ihr mir sagt, das hättet ihr alsbald
Mir sagen sollen, eh die Boten gingen
Auf ihren Wunsch, und eh die Ladung galt,
Die Leo hergeführt, um sie zu ringen.«
So sagte wider Roland und Rinald
Der Herzog, um zu Fall den Bund zu bringen
Der Liebenden. Karl hörte die Partein
Und nicht für den noch jenen sprach er ein.
112  Wie man ein Rauschen hört im tiefen Wald,
Wann Boreas durch Laub und Äste gleitet,
Wie am Gestade Brandung widerhallt,
Wann Aeolus mit den Tritonen streitet,
So fliegt und wirbelt ein Gerücht, das bald
Über das ganze Frankreich sich verbreitet,
Und giebt so viel zu hören und zu sagen,
Daß alles andre schweigt in diesen Tagen.
113  Hier tritt man Rogern, dort dem Griechen bei,
Doch sind die Freunde Rogers überlegen;
Für ihn sind zwanzig, eh für Haimon zwei.
Der Kaiser spricht nicht für und spricht nicht gegen.
Er sagt, daß diese Sach' ein Rechtsfall sei
Und seinem Parlamente vorzulegen.
Jetzt schlägt, weil man die Trauung hat vertagt,
Marfisa etwas neues vor und sagt: 369
114  »Eh Roger stirbt, das ist unzweifelhaft,
Wirbt jeder andre Mann um sie vergebens.
Wenn Leo sie begehrt, nehm' er die Kraft
Zusammen und beraub' ihn seines Lebens.
Wer den Rivalen in die Grube schafft,
Gelange glücklich an das Ziel des Strebens.«
Karl, wie er Leo alles wissen ließ,
Berichtet' unverzüglich ihm auch dies.
115  Leo, der an des Einhornritters Seite
Sich ruhig fühlt und hofft, daß dieser bald
Auch über Roger ihm den Sieg erstreite,
Und dem kein Unternehmen schwierig galt,
Nicht wissend, daß der Schmerz ihn in die Weite
Entführt hat, in den finstren, öden Wald,
Im Wahne, Roger sei nur ausgeritten,
Läßt sich zum bösen Spiel nicht lange bitten.
116  Es reut ihn bald; denn jener sein Begleiter
Von dem er mehr als billig sich verspricht,
Kam nicht zurück. Der Tag verging, ein zweiter,
Ein dritter: Roger kam nicht zu Gesicht.
Und selbst zu fechten wider einen Streiter,
Wie Roger war, getraut sich Leo nicht.
Er ließ, um Schimpf und Schaden abzuwenden,
Kundschafter nach dem Einhornritter senden. 370
117  In Städt' und Dörfer sandt' er hin und her,
Um auszuspähn, wohin sein Freund verschwunden,
Und damit nicht zufrieden, war auch er
Zu Pferd gestiegen, um ihn auszukunden.
Indessen Leo hätt' ihn nimmermehr,
Noch hätten ihn die Leute Karls gefunden,
Wenn nicht Melissa wär'. Durch sie gelang,
Was ihr erfahrt im folgenden Gesang. 371

 


 


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