Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Halbwelt um die Jahrhundertwende

Diese Welt ist ebenso unecht wie die große Welt des Fin de Siècle. Die Kurtisane großen Stils, die Kokotte, ist weder so jung wie die Grisette im Anfang des Jahrhunderts noch so extravagant wie die Demimondäne des Zweiten Kaiserreichs. Die wirkliche Hetäre von Rasse mit allen Prätentionen ihrer Stellung ist verschwunden. Sie hat sich verbürgerlicht. Zwar gibt es noch elegante Frauen, deren Namen in aller Munde sind, von deren Toiletten, Pferden und Wagen, Juwelen, Palästen man spricht, aber sie sind vereinzelt. Sie sind meist nicht mehr jung, dafür reich und posierend, gekünstelt und unecht, äußerst materiell. »Sie besitzen prächtige Toiletten und vornehme Wohnungen, aber nicht aus Schönheitssinn oder künstlerischem Geschmack, sondern weil das zu ihrem Beruf gehört. Diese Dinge sind nötig, ebenso wie ein Zahnarzt ein anständig eingerichtetes Wartezimmer haben muß. Schickt man der Demimondäne in einer Anwandlung von Ritterlichkeit Blumen, so wird sie sagen, man hätte ihr lieber das Geld dafür geben sollen.« Um in der Lebewelt etwas zu gelten, muß sie sich vor allem bemerkbar machen. Sie muß reich und elegant gekleidet sein, kostbaren Schmuck besitzen, muß im Winter nach Nizza reisen, an den Spieltischen in Monte Carlo hohe Summen riskieren. Sie gewinnt ja schließlich alles wieder durch einen freigebigen Gönner, den sie dort kennen lernt. Sie muß vor allem international sein, muß einige Sprachen, wenigstens in der Umgangssprache, sprechen, muß in allen modernen Sportarten bewandert sein oder zum mindesten dafür Verständnis zeigen. Sie muß mit den Namen des Hochadels, der Finanzwelt und den Namen der berühmtesten Männer vom Turf vertraut sein. Muß wenigstens einen Baron oder Grafen, wenn es kein Prinz sein kann, zu ihren Geliebten zählen können und muß sich irgendwie in der Öffentlichkeit, am liebsten als Chansonette oder Varietétänzerin auf der Bühne, und wenn auch nur für kurze Zeit, einen Namen machen, damit sie sagen kann, sie sei Künstlerin. Das alles erfordert Zeit, Geld und Training. Und ehe sie soweit kommt, ist sie nicht mehr jung.

Diese ausgehaltene, nicht mehr junge Kurtisane bietet ihrem Freund körperlich meist sehr wenig. Sie ist oft nur die Freundin, die Repräsentantin seiner Eleganz. Es gehört zum Ruf eines vornehmen Lebemannes, eine Frau auszuhalten, die bereits die Mätresse von mehreren reichen Männern gewesen ist und sie womöglich ruiniert hat. Ihre Beziehungen sind mehr offiziell als intim und beschränken sich manchmal nur auf das Zusammenleben. Hält diese Kurtisane auf ihre Stellung, weiß sie, was sie ihrem Gönner schuldig ist, verfehlt sie kein Rennen, fällt ihre Toilette stets auf, spricht man von ihr, so ist der Freund vollkommen zufrieden. Er ist stolz auf sie. »Zeigt sie außerdem bei seinen Empfängen etwas Geschmack, ist ihr Wesen hochmütig und vornehm, lenkt sie geschickt einen Dogcart, ist sie auf der Jagd forsch und bleibt sie in Dingen der Kunst und der Literatur wohlweislich dumm wie eine Gans, so ist sie für ihn die vollkommene, ideale Mätresse, die sein Geld und sein Ansehen wert ist.«

Aber diese Luxusweibchen haben Rivalinnen. Mit dem Aufkommen der nach amerikanischem Muster eingerichteten vornehmen Bars um 1900 wird ein neuer Typus Halbweltlerinnen geschaffen. Elegante gepflegte Frauen, die in großer Abendtoilette zur Unterhaltung der reichen männlichen Lebewelt allabendlich jene mit raffiniertem Luxus ausgestatteten Nachtlokale besuchen. Diese modernen Hetären besitzen den Ehrgeiz, wie Damen der Gesellschaft aufzutreten und als solche von den Männern behandelt zu werden. Sie geben sich den Anschein, aus guter Familie zu stammen, die geschiedene Frau eines Offiziers, eines Rechtsanwalts, Frau Dr. Soundso, Frau Oberleutnant Sowieso, Frau Baronin von X, Frau von Y zu sein. Auf jeden Fall aber geben sie weder ihren wahren Namen, noch ihr Gewerbe zu. Sie sind meist nicht ungebildet. Haben internationale Gewohnheiten, sprechen mehrere Sprachen, zum mindesten Englisch und Französisch, sie wissen oberflächlich in der Literatur und Kunst Bescheid, besonders aber in allen Fragen des Genußlebens. Beim Souper handhaben sie Messer und Gabel so tadellos, als hätten sie die beste Kinderstube gehabt. Nie sind sie verlegen, wie sie die oder jene ausländische Delikatesse essen müssen, nie begehen sie einen Fauxpas in dieser Beziehung. Sie sind ganz Dame. In ihrer Kleidung beweisen sie vollendeten Geschmack, um den die wirklichen Damen sie beneiden. Sie sind äußerst vornehm, nie kommt ein zweideutiges Wort von ihren Lippen. Von den in den Bars anwesenden Kavalieren, die zum Teil der besten Gesellschaft angehören, – meist sind es Träger hoher adliger Namen, Offiziere in Zivil, Großindustrielle, reiche Nichtstuer – werden diese Damen mit »Gnädigste« oder »gnädige Frau« angeredet, und nichts deutet in dem Benehmen der Herren darauf hin, daß sie Frauen vor sich haben, die von der Liebe leben. Und doch weiß es ein jeder, daß Frau Dr. Soundso eine entzückende Wohnung im besten Viertel der Stadt hat und dort ihre Barfreunde von gestern und heute ohne Zeremonie empfängt.

Diese Halbwelt ist gewissermaßen führend in Dingen der Eleganz, obwohl es die Dame der Gesellschaft nicht gern zugesteht. Und doch ist die Demimondäne meist die Bahnbrecherin einer neuen Mode. Sie wagt zuerst alle Extravaganzen, und die anderen folgen erst, wenn sie nicht mehr riskieren angestarrt zu werden oder herausfordernd zu wirken. Die großen blumen- oder federgeschmückten Hüte zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden zuerst und so exzentrisch wie möglich von den eleganten Halbweltlerinnen in den Bars getragen. Mit der Zeit werden diese Hüte zu Wagenrädern. Kostbare Straußfedern, »Pleureusen« genannt, graziöse Reiher, und die schreckliche Mode ausgestopfter Vögel schmücken diese Monstren von Hüten. Eine oder mehrere Hutnadeln halten sie auf der Frisur fest, damit sie nicht von einem Windstoß davongetragen werden. Aber diese großen Feder- und Blumenhüte sind kleidsam und gehören gewissermaßen zu dem Bilde einer eleganten Bar, eines vornehmen Nachtlokals, in dem die Lebewelt des Fin de Siècle und der ersten zehn Jahre des 20. Jahrhunderts soupiert, tanzt und sich amüsiert. Kleid und Hut triumphieren noch über den Körper; sie sind zu jener Zeit wichtiger als der Körper selbst. Das große Dekollete, das die Demimondäne der Bars oder die vornehme Weltdame oft zu diesen Federhüten trägt, spielt nicht, wie im 18. und 19. Jahrhundert, die erste, sondern die sekundäre Rolle. Durch die schlanke Pleureuse, die bis auf die entblößte, weißgepuderte Schulter hängt, wird die Aufmerksamkeit und das Interesse für das Dekollete verstärkt. Und die Halbweltlerin wußte diese Kontrastwirkung ganz besonders raffiniert zur Geltung zu bringen. Sie durfte mehr wagen als die Dame von Welt, die sich alles nur in dezenterem Ausmaße aneignen konnte. Das Dekolleté einer Dame mußte immer ein wenig höher hinaufgehen, die Pleureuse etwas kleiner, der Rand des Hutes etwas schmaler sein als bei der Demimondäne. Noch eine andere reizvollere Halbweltlerin des Fin de Siècle ist die junge Probierdame der eleganten Modesalons und großen Warenhäuser. Meist entstammen diese Mannequins ärmlichen Verhältnissen, sie sind zum Teil Kinder von Handwerkern und Arbeitern; das junge Mädchen oder die junge Frau der gebildeten Kreise, die heute in den vornehmen Salons den Beruf einer Probierdame ebenso ausüben kann wie andere Berufe der Frau, wäre zu Beginn des 20. Jahrhunderts unmöglich gewesen. Am Probierfräulein haftete noch der Ruf des Zweideutigen, oft zwar zu Unrecht, meist jedoch zu Recht. Aber auch diese jungen Mannequins sind in ihrem Auftreten ganz Dame. Allein ihre eleganten schlanken Erscheinungen prädestinieren sie dazu. Auch sie besuchen die vornehmen Bars, um sich einen reichen Freund oder wenigstens vorteilhafte Verbindungen zu suchen. Sie tragen meist sehr gutsitzende, seidengefütterte Schneiderkostüme. Jeder Schritt, den sie tun, ist rauschendes Knistern, die Musik der seidenen Dessous. Und damit das mysteriöse Rauschen der sich reibenden Seide des Jupons und des Kleides noch intensiver wirkt, fassen sie den langen, um die Hüften sich eng anschmiegenden Rock beim Aufheben noch enger. So schreiten sie vornehm und graziös, unsäglich hochmütig und unnahbar über die Straße. Den Typ dieser Mädchen hat Gustav Hochstetter in seinem »Roland von Berlin« köstlich und treffend gezeichnet. Er nennt sein Vorbild »Dorchen«. Und wenn dieses Dorchen auch nicht Probierfräulein ist, so gehört es doch derselben Kategorie und derselben Zeit an. Dorchen also ist »blond – garantiert echt. Jung – garantiert achtzehn. Schick – garantiert Gerson. Und furchtbar vornehm. In Haltung, Gang und Sprache. Nie ein zweideutiges Wort. Ganz Dame. Wo sie's her hat? Weiß der Kuckuck! Vor drei Jahren war sie noch Lehrmädel in einem kleinen Putzgeschäft in der Friedrichstraße. Heute weiß sie in Nizza und Monte, in Venedig und St. Moritz besser Bescheid als ein fünfundfünfzigjähriger Kommerzienrat aus der Tiergartenstraße.

59. Der Lippenstift.
Aquarell von Steffie Nathan. Berlin, 1928

Ihre Beziehungen reichen bis in unglaublich hohe Kreise. Wenn der Oberkellner sie ans Telephon ruft, fragt sie im Tone der größten Selbstverständlichkeit: »Wer ist denn da, Ober? Die Durchlaucht oder bloß der Graf?« Dorchen ist hübsch – darüber sind alle Fachleute einig. Aber ihr größter Reiz liegt in ihrem niedlichen Blondgesichtchen und nicht in ihrer üppig schlanken netten Figur. Ihr größter Reiz ist: – ihr liebes Plaudern. Von allem kann man mit ihr reden. Aber: – ein derbes Wort, und man hat bei Dorchen für immer verspielt. Aber »kommt ihr Dorchen zart entgegen«, dann ist mit ihr plaudern ein Genuß. Und es gibt geschmackvolle, gutsituierte Herren, die nach der Bar kommen, um ein Stündchen mit dem blonden Fräulein zu plaudern und dann heiteren Sinnes ganz solide wieder von ihr zu scheiden ... nicht ohne vorher diskret eine winzig zusammengefaltete Banknote in Dorchens wohlgepflegtes Händchen gedrückt zu haben...« Außer den Bars sind die großen Tanzlokale der Treffpunkt der eleganten Halbwelt. In Paris ist noch ein Rest von der frenetischen Wildheit des Cancans in solchen Tanzstätten zu finden. Es gibt von den Wirten engagierte Berufstänzerinnen, zum Teil sehr elegante Mädchen, die gegen ein festes Gehalt allabendlich eine Anzahl Tänze im Moulin Rouge, im Bullier, im Moulin de la Galette und anderen Ballokalen tanzen. Die Hauptattraktion ist das Beinewerfen, damit die spitzenbesetzte Unterkleidung zur Geltung kommt. Die berühmteste dieser Cancantänzerinnen war die »Goulu«. Ihre Frechheit und ihr Zynismus bei diesem Tanz überstieg alle Begriffe. Ihr »Grand écart« oder Spakat war berühmt. Auch in Berlin sind die eleganten Tanzlokale der Anziehungspunkt der Lebewelt, und es geht nicht minder wild und aufreizend zu. Hans Ostwald schreibt von den Tänzerinnen dieser Ballhäuser, »sie warfen die Beine so hoch, daß die Knie zu sehen waren ... Besonders eine mit blaßgebeiztem Haar, in dessen vollen hinteren Knoten eine große schwarze Schleife steckt, reißt beim Tanz die Röcke hoch, so daß die Spitzen der Unterbeinkleider grell hervorleuchten. Und das jedesmal, wenn das Mädchen an einem Tisch mit berlinerischen Elegants vorbeikommt.« Auf der Bühne ist es der Serpentintanz der Loie Fuller, der unter den raffinierten Beleuchtungseffekten neue Reize der Bewegung des Frauenkörpers auslöst. Er erobert sich so sehr die Welt, daß er überall, nicht nur in den Nachtlokalen der Großstädte aufgeführt und nachgeahmt wird, sondern auf der kleinsten Provinzbühne Anklang findet. Schleiertänze sind in ganz Europa beliebt. Die Heuchelei des Fin de Siecle und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gestattete die Nacktheit nur unter Schleiern und Trikots. Eine Tänzerin auf der Bühne durfte wohl nackt scheinen, es aber nicht sein. Nackttänzerinnen wie Olga Desmond, Anita Berber und andere gaben Sondervorstellungen, zu denen nur ein kleines Privatpublikum zugelassen wurde. Die Tänze der schönen Saharet und der »Five sisters Barrison« sind vor allem auf das Hervorheben der Dessous berechnet. Max Bauer, der die Barrisons noch erlebte, sagt, ihr Auftreten im Berliner Wintergarten habe eine wahre Revolution in Berlin verursacht, »eine Revolution, die sich von der Lebewelt bis zu den dunklen Hinterhäusern erstreckte«. Er erinnert sich lebhaft des ersten Auftretens der Barrisons. »Eine für Berlin außerordentliche Reklame hatte eingesetzt. Überall sah man Bilder der fünf kaum dem Backfischalter entwachsenen, in duftiges Weiß gekleideten Mädchen mit den typischen englischen Gesichtern, den schelmischen Augen, die so lustig-frech in die Welt blitzten. Hochspannung lag über dem gedrängt vollen Riesenhaus. Ein sexuelles Fluidum ging von der Bühne aus, schien hinter dem noch geschlossenen Vorhang hervorzudringen. Aufatmend sah man den Kapellmeister Wanda den Taktstock ergreifen, und schon halb gefangen lauschte alles den neuartigen Klängen des ›Linger, longer Lucy!‹ Da hob sich der Vorhang nur wenige Spannen hoch, und zehn schlanke, überschlanke Beinchen in weißen Halbstrümpfen und mit niedlichen Elfenfüßchen in schwarzen Lackschuhen schoben sich vor. Nach dem völligen Aufgehen der Gardine sah man diese lustigen Girls sich gesucht ungraziös erheben und zwischen den Spitzen der Frou-Frous eine Handbreit rosiges Jungmädchenfleisch hervorschimmern. Das war eine Sensation, und die Halle schien ob des donnernden Beifallsgetoses ins Wanken zu geraten. Monatelang sprach Berlin von den ›Five sisters‹, ihre Songs waren überall, vom Salon bis zur Kaschemme, zu hören.« Diese fünf hübschen Schwestern sind die eigentlichen Vorgängerinnen der später immer populärer werdenden, in Massen auftretenden Tanztruppen: der »Tillergirls«, der »Admiralgirls«, der »Ziegfeldgirls«, und wie diese Girls alle genannt werden, die unsere modernen Revuen mit ihren beinahe militärisch-exakten Bein- und Armbewegungen beleben. Die Barrisons waren auch die ersten, die es wagten, ohne Trikot ein Stück nackten Schenkels und Beines auf der Bühne vor einem großen Publikum sehen zu lassen und ihre Unterwäsche nicht nur in Form von den althergebrachten und typisch vorgeschriebenen Balletthöschen der Scheinwelt der Bühne zu zeigen, sondern soviel wie möglich der spitzenbesetzten Unterkleidung einer eleganten Frau der wirklichen Welt anzupassen und somit viel stärker auf die Sinne zu wirken, als die in Trikots und Gazeröckchen auftretenden Ballettänzerinnen der Oper. Im übrigen wachte eine strenge Zensur über das Kostüm der Damen vom Theater. Keine Schauspielerin durfte es wagen, allzu entblößt zu erscheinen. Die sehr hübsche Lotte Sarrow erregte als Monna Vanna die höchste Entrüstung, weil sie, wie es Maeterlinck vorschrieb, nackt unter ihrem Mantel auftrat und etwas zuviel von dieser Nacktheit hatte sehen lassen. Auf polizeiliche Verordnung hin mußte das Kostüm geändert werden und die Schauspielerin künftig einen Trikot darunter anziehen.

Schon wenige Jahre darauf wurde es anders. Die Bühne, besonders die Revuebühne strebte immer mehr danach, den nackten Körper der Frau zur Geltung zu bringen. Dieses Ziel versuchte man anfangs durch pikante Entkleidungsszenen zu erreichen, und die hauchdünnen, eleganten seidenen Dessous, die die Körperformen kaum bedeckten, dienten als Mittel zum Zweck. Schließlich waren ein kostbarer Busenhalter und ein glitzernder Lendengürtel die einzigen Kleidungsstücke mancher Revuestars, bis auch die letzte Verhüllung der Brüste fiel und nur noch der Lendenschutz bestehen blieb. Heute ist man bereits wieder auf dem Punkte angelangt, daß auf der Revuebühne allzuviel dargebotene Nacktheit reizlos wirkt, und der frühere Grundsatz »in Kleidern nackt erscheinen«, wird von den Revuetheatern von neuem befolgt.


 << zurück weiter >>