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In Schnee und Eis

Endlich sind wir an unserem vorläufigen Bestimmungsort angelangt, einem Kreisstädtchen im Gouvernement Wjatka. Morgens um vier sollten wir ankommen. Infolge der Schneeverwehungen ist es aber zehn Uhr geworden.

Wieder einmal heraus mit Sack und Pack aus dem Waggon. Diesmal hoffentlich endgültig. Schauderhafte Kälte, und der Wind pfeift vom Ural her, daß es durch Mark und Bein geht. 20 Grad Reaumur.

Die Kreisstadt ist noch fast eine halbe Stunde vom Bahnhof entfernt. Es dauert eine Ewigkeit, bis drei Wägelchen zur Stelle sind, um unser Gepäck aufzunehmen.

Endlich ist es so weit. Die Wägelchen voran, wir durch knietiefen Schnee hinterdrein. Wir sehen aus wie die Vagabunden. Zehn Tage und Nächte lang in denselben Kleidern. Zehn Tage lang keine Gelegenheit, sich zu waschen.

Das Kreisstädtchen mit rund 4000 Einwohnern liegt wie erfroren da. Kaum ein Mensch auf den Straßen, die wie überall in Rußland ungewöhnlich breit sind. Die paar Menschen, die man sieht, sehen unförmlich aus wie wandelnde Säcke, so haben sie sich gegen die Kälte verschanzt.

Wir halten beim Polizeigebäude. Unser Polizeioffizier verschwindet mit den beiden Soldaten im Innern. Wir können draußen warten und weiter frieren.

Dann werden wir hereingerufen. Der Isprawnik, der Kreisgewaltige, ist selbstverständlich noch nicht auf dem Bureau. Zwei Gendarmen führen uns zu zwei und vier hinein.

Hinter einem Pult sitzt einer, der gar nicht wie ein Russe aussieht und auch nicht wie ein Polizist. Es ist ein deutscher Zivilkriegsgefangener, dem die Polizei die Arbeit über die Kriegsgefangenen übertragen hat, weil sie selbst sich so viel Arbeit nicht gewachsen fühlt oder zu faul dazu ist.

Wieder einmal ein gründliches Protokoll über jeden von uns. Aber ein Deutscher nimmt es auf, und das macht die Sache erträglicher.

Dann heißt es, morgen sind die Gefangenenpässe abzuholen, für heute sollen wir in gemeinsamem Quartier untergebracht werden, um dann nach Erhalt der Gefangenenpässe weiter verschickt zu werden auf die Dörfer. Auf die Dörfer?

Wir murren und protestieren, aber unser Kamerad am Polizeipult gibt uns einen Wink, daß wir uns vorläufig fügen sollen.

Als wir auf die Straße treten, warten dort schon einige Deutsche auf uns, die schon vor uns verschickt wurden, sich hier also auskennen und sich unserer annehmen.

Mir schüttelt der bayrische Ingenieur die Hand, mit dem ich bei Kriegsbeginn im Hotel London in Tiflis zusammen war. Wer hätte gedacht, daß wir uns so wiedersähen!

Da kommt auch schon seine Frau, die junge Wienerin, und widmet sich meiner Frau. Wir sollen mit ihnen gehen.

Aber wir dürfen doch nicht. Es ist uns ein gemeinsames Quartier angewiesen.

»Ach was,« sagt der Bayer, »kommen Sie vorläufig nur mit. Um die Polizei kümmern wir uns nicht weiter. Wenn sie was will, wird sie sich schon melden.«

Wir gehen also mit, denn wir frieren erbärmlich. Nur einmal wieder warm werden.

Zähneklappernd waten wir durch den hohen Schnee. Er ist hart gefroren, und man hat den Eindruck: der ist hier zu Hause und wird so bald nicht wieder verschwinden.

Drollige Häuser. Fast alles einstöckige Holzhäuschen, in halber Höhe mit kleinen Fenstern wie gespickt, Fenster an Fenster.

Das Häuschen, in dem der Ingenieur mit seiner Frau lebt, liegt fast außerhalb der Kleinstadt am Ende der Hauptstraße, einen Berg hinauf.

Endlich sind wir angelangt. Endlich einmal wieder in einem Zimmer, nicht in einem Kupee. Endlich einmal nicht mit zwanzig Menschen zusammen, sondern nur mit zweien. Und hier gibt es sogar einen gedeckten Tisch mit Tellern, Messern, Gabeln, Tassen. Solch ein Luxus!

Wir machen es uns bequem und lassen uns langsam auftauen, während die Wienerin den Samowar in Gang bringt.

Wir essen und dann will ich für mich ein Zimmer suchen. Wir wollen unseren Freunden nicht länger zur Last sein.

Aber der Ingenieur wehrt ab. Es sind so viele Deutsche hier, daß man von heute auf morgen kein Zimmer findet. Es wird einige Tage dauern. Bis dahin müssen wir bei ihnen bleiben.

»Das ist doch überhaupt Unsinn, wir werden ja weiter verschickt auf die Dörfer,« werfe ich ein.

»Dummes Zeug,« sagt der Bayer. »Sie sind 45 Jahre und haben das Recht, hier zu bleiben. Der Gouverneur hat das so bestimmt, und wir telegraphieren ihm, denn der Isprawnik ist ein Hund und würde Sie schon deshalb auf ein Dorf schicken, um Sie dann zu erpressen, damit Sie wieder hierher zurückkommen können. Wie er es mit mir und andern gemacht hat.«

Meine Frau hustet fürchterlich und ist halbtot. Sie legt sich zunächst einmal nieder.

Gegen drei begebe ich mich mit dem Bayern in das einzige Gasthaus, um dort andere Deutsche zu treffen. Die Kost ist teuer und miserabel, aber eine ganze Anzahl von Deutschen ißt hier. Andere kochen sich zu Hause selbst. Namentlich wenn die Frauen ihnen nachgereist sind.

Dann telegraphieren wir an den Gouverneur. Auf dem Wege zur Post begegnen wir dem Isprawnik, der »Bulldogge«, wie ihn die Deutschen seines Äußeren wegen nennen. Er grüßt ganz höflich. Ich bin erstaunt, aber mein Freund klärt mich auf. Der Isprawnik wird ein wohlhabender Mann durch die Deutschen. Warum soll er da nicht höflich sein? Da sind reiche Deutsche aus Lodz und Umgegend, die haben ihm ein Datschendorf in der Nähe abgemietet. Dafür, daß sie dort unter sich und ungestört bleiben können, zahlen sie an den Isprawnik monatlich pro Mann 100 Rubel. Auch ist der Isprawnik Besitzer eines größeren Hauses, an das er die wohlhabenderen Deutschen verweist. Dort können sie ungestört wohnen, solange sie gut bezahlen. Nur die Deutschen über 45 Jahre haßt er, weil er sie nicht erpressen kann, denn der Gouverneur erlaubt ihnen sowieso, hier zu bleiben. Und die Deutschen, die gar nichts haben, haßt er ebenfalls und verjagt sie erbarmungslos in die Dörfer, wo sie verhungern können. Aber auch die Deutschen, die hier Arbeit finden, läßt er gewähren, denn die Hälfte von ihrem Verdienst müssen sie bei ihm abliefern. Angeblich zugunsten des russischen Roten Kreuzes. In Wahrheit bleibt es aber natürlich in seiner Tasche hängen. O, wenn der Krieg lange genug dauert, wird der Isprawnik noch ein schwer reicher Mann ... Von der Post aus gehen wir ein wenig spazieren und dann zur »Generalstabssitzung«.

Gegen Abend versammelt sich nämlich jeden Tag eine Anzahl Deutscher bei einem Kameraden, der zwei Zimmer zur Verfügung hat und eine große Karte. Hier werden die neuesten russischen Zeitungen verlesen und die neuesten Telegramme. Mit Hilfe der Karte wird dann die augenblickliche Kriegslage erörtert und der weitere Feldzugsplan festgelegt. Hindenburg ist nichts dagegen.

Es geht ungeheuer gereizt und laut zu. Niemand nimmt ein Blatt vor den Mund. Man merkt, wie überreizt die Leute sind, und wie sie sich nur durch möglichste Grobheit und möglichst viel Lärm und Krakeel die innere Verzweiflung vom Leibe halten können. Ist es denn nicht auch zum Verzweifeln? Von der ganzen großen Bewegung, die Deutschland durchbraust und eint (das wissen wir alle ganz genau), sind wir abgesperrt. Nichts von alledem, was jetzt in Deutschland gewaltig alle Seelen durchglüht, erleben wir hier. Verlassen, für nichts, hocken wir in Schnee und Eis. Fern von allen großen Erlebnissen, fern dieser gewaltigen Zeit, von der hier nichts, aber auch gar nichts zu spüren ist. Das ist schon, um den Verstand zu verlieren ...

Die ersten drei Tage vergehen in einem ständigen geheimen Kampf zwischen der Ortspolizei und uns, dem Kampf um die Erlaubnis, hierbleiben zu dürfen und nicht noch weiter fort zu Müssen in die Dörfer, wo es noch elender, noch schmutziger, noch armseliger ist.

Ich erhalte schon nach zwei Tagen die telegraphische Erlaubnis des Gouverneurs, hierbleiben zu dürfen mit meiner Frau. Andere haben gleichzeitig mit mir telegraphiert, aber können keine Erlaubnis erhalten. Warum, weiß ich nicht.

Wer Geld hat, versucht es nun mit Bestechung. Es gibt verschiedene, von unseren Kameraden längst erprobte Methoden. Die einfachste ist, man sucht die »Bulldogge« allein zu sprechen und trifft gegen bar ein Abkommen mit ihr. Aber es ist auch die kostspieligste Methode, die sich unter unserem Trupp niemand leisten kann. Die zweite Methode besteht darin, daß man sich irgendwo als Arbeiter verdingt. Natürlich nur zum Schein, denn eine wirkliche Arbeitsmöglichkeit gibt es jetzt im dicken Winter nicht mehr. Man sucht also einen Arbeitgeber, der dem Arbeitsuchenden gegen eine monatliche Abgabe an ihn bescheinigt, daß der Deutsche Soundso bei ihm in Arbeit steht. Die Hälfte des auch nur zum Schein ausbedungenen Lohnes muß der Deutsche dann wöchentlich an die Polizei abliefern für das russische Rote Kreuz. Am gründlichsten schröpfen die echt russischen Arbeitgeber. Am gnädigsten sind die sozialdemokratischen Arbeitgeber, denn sie haben eine stille Sympathie für die Deutschen, die an diesem Kriege schuld sind. Ohne diesen Krieg gäbe es ja keine Revolution.

Allgemeine Suche nach einer Wohnung für mich und meine Frau. Aber entweder sind die Preise gar zu unverschämt oder das Zimmer ist gar zu elend und verwanzt.

Zehn Tage muß uns das bayrische Ehepaar nächtigen, bevor wir etwas finden. Weit draußen vor dem Städtchen steht ein Bauernhaus, dessen Besitzer umziehen will. Die Wohnung können wir haben. Es sind drei Zimmerchen, oder besser gesagt: Löcher. Die Zimmerchen sind so niedrig, daß ich mich auf den Boden setzen muß, um aus den Fenstern sehen zu können, die sich wie überall in halber Höhe der Wände befinden. Wenn ich aufrecht stehe, stoße ich an die Decke. Aber es gibt nichts Besseres, also greifen wir zu.

Als der Bauer ausgezogen ist, sehen wir uns die Wohnung wieder einmal an. Nein, es ist unmöglich, hier zu leben. So etwas von Ungeziefer, Wanzen, Läusen und Flöhen. Uns wird einfach übel. Nein, das können wir nicht. Also treten wir vom Vertrag zurück, müssen für »Vertragsbruch« an den Bauer zwanzig Rubel zahlen, und die Wohnungssuche beginnt von neuem.

Eine Popenwitwe meldet sich. Es hat der alten Frau einen langen Kampf zwischen Frömmigkeit und Habsucht gekostet, bis sie sich entschließt, einen Deutschen aufzunehmen, einen dieser ungläubigen Hunde, welche die orthodoxe Kirche ausrotten wollen. Aber schließlich hat die Habsucht doch über die Frömmigkeit gesiegt. Freilich verlangt die Popenwitwe für ein Zimmer und ein Kabinett 30 Rubel monatlich, im voraus zahlbar. Ein Russe würde vielleicht 5 Rubel dafür zahlen. Der Preis ist also unerhört. Aber wir können den Freunden unmöglich noch länger zur Last liegen, wir greifen zu.

Unser Wohnzimmer ist für dortige Verhältnisse ungewöhnlich groß, besitzt einen riesigen Tisch und sogar zwei Polsterstühle. Das Zimmer wird den Deutschen zur Sehenswürdigkeit, nach der sie förmlich wallfahrten.

Das Schlafzimmer ist dafür ein um so engeres, dumpferes Loch.

Das Häuschen liegt etwas abseits von der Stadt, hart an der vereisten Wjatka, und ist von allen Seiten allen Winden preisgegeben. Aber man ist doch wenigstens wieder einmal allein. Man kann wenigstens so tun, als habe man wieder eine eigene Wohnung, als lebe man wieder für sich ... Eine unendliche Wohltat ... Wir sind sehr froh, trotzdem wir diese Wohltat mit ständigen schweren Kopfschmerzen und ständigem Kampf gegen Wanzen bezahlen müssen.

All diese Häuschen, die einander gleichen wie ein Ei dem andern, bestehen nämlich aus vier kleinen Zimmern, die um den riesigen russischen Kachelofen herum liegen, dem wichtigsten Mittelpunkt des Hauses. Die unzähligen Fensterchen, mit denen auch unsere Wohnung gespickt ist, werden mit Winters Anfang, also im September, zugegipst und bleiben hermetisch verschlossen bis zum Winterende, also bis Mai. Weit über ein halbes Jahr lang kann also keine frische Luft in so ein Häuschen hinein. Die Wände der Zimmer gehen nicht bis an die Decke, sondern lassen einen Zwischenraum, damit sich die Wärme gleichmäßig über alle Zimmer von dem gewaltigen Ofen her ausbreitet. Die Folge davon ist aber, daß man auch an allen Gerüchen des Hauses teilnehmen muß und ihnen nirgends entgehen kann. Kocht unsere Popin Krautsuppe, was einen scheußlichen Gestank mit sich bringt, müssen wir die Suppe wenigstens durch die Nase mitgenießen. Zündet sie ihren Samowar an, wozu sie die Holzkohle aus dem Ofen nimmt, so verbreiten sich die Kohlengase durch alle Räume und betäuben uns mit der Zeit. Wir leiden ständig an den quälendsten Kopfschmerzen, vor denen man sich nur ins Freie, also in 20-30 Grad Kälte retten kann. Nur Russen und Wanzen können es auf die Dauer in solchen Häusern aushalten.

So sitzen wir in Eis und Schnee und warten. Warten auf das Ende des Krieges, auf das Ende unserer Barmittel und auf eine Möglichkeit, doch wieder von hier fortzukommen nach Deutschland.

Wir sind fast die einzigen, die diese Hoffnung noch nicht völlig aufgegeben haben. Es gibt einen Erlaß des russischen Ministers des Innern, wonach die Gouverneure das Recht haben sollen, Reichsdeutschen über 45 Jahre, wenn sie unverdächtig sind, einen Auslandspaß auszustellen. Kein Gouverneur tut das natürlich so ohne weiteres. Er weiß ganz genau, dieser Erlaß soll das Ministerium nur Deutschland gegenüber als human und anständig hinstellen. Wehe ihm, wenn er den Erlaß anders auffaßte. Für ihn gilt nur der Passus: »wenn sie unverdächtig sind«. Wer aber ist in Rußland »unverdächtig«? Das gibt es einfach nicht.

Wohl aber bietet dieser Erlaß dem Gouverneur einen Vorwand, falls er andere, für ihn triftigere Gründe haben sollte, einem Deutschen behilflich zu sein, sich für einen Augenblick dumm zu stellen und einen Auslandspaß zu geben. Ich kannte den Erlaß schon in Tiflis und baute seitdem darauf meinen Plan. Tifliser armenische Freunde von Einfluß unterstützten mich in meinem Plan und versprachen, ihn energisch und nach Kräften zu fördern. Die Hauptsache war nur, daß ich in das »richtige« Gouvernement zu dem »richtigen« Gouverneur kam, dem, den wir beeinflussen konnten. Nun war ich aber in ein »falsches« Gouvernement geraten und hatte zu dem Gouverneur von Wjatka gar keine Beziehungen. Auch gilt er als einer der ganz wenigen, denen nicht beizukommen ist. Ich mußte also alles in Bewegung setzen, um aus diesem Gouvernement wieder fortzukommen in das andere, das »richtige« Gouvernement. Wie sollte ich das aber anfangen? Das ging nicht von heute auf morgen, dazu mußte man warten, Geduld haben und eine günstige Gelegenheit erspähen, falls sie sich wirklich bot.

Also hieß es auch für uns zunächst: sitzen in Eis und Schnee und warten ... Die Tage und Nächte sind wie aus Blei. Sie lasten und wollen nicht weitergehen. Wie schnell kann sonst die Zeit vergehen? Hier rückt sie nicht von der Stelle, und Tage lasten wie Wochen ...

Spaziergang bei 25 Grad Kälte, weil man es im Zimmer vor Kopfschmerzen einfach nicht länger aushalten kann. Es liegt doch wahrhaftig Schnee genug, aber die Bauern kommen immer noch nicht mit Schlitten in die Kreisstadt, sondern mit kleinen vierräderigen Wagen. Man erklärt mir das. Die paar Wege von den Dörfern zur Kreisstadt sind so voller Löcher, so tiefer Löcher, daß der bisher gefallene Schnee noch nicht ausreicht. Benutzten die Bauern jetzt schon den Schlitten, ginge das Ding beim ersten großen Loch in tausend Fetzen. Die Wägelchen mit den vier kleinen Rädern sind elastischer und halten die Strapazen besser aus ... Das kann gut werden. Ich bin neugierig, wieviel Schnee wohl noch fallen muß, bis man Schlitten fährt ...

Meine Frau wird auf die Polizei zitiert und erhält nun ebenfalls einen Gefangenenpaß. Die anderen Frauen hat man bisher damit verschont. Freilich kamen sie hier nicht zugleich mit ihren Angehörigen an, sondern erst später; sie kamen ihnen nachgereist. Meine Frau aber reiste mit uns Gefangenen und so erhält sie nun auch das blaue Büchlein, wonach es jedem Russen verboten ist, ohne Erlaubnis der Polizei ihr Wohnung, Nahrung oder Arbeit zu geben, wonach es ihr verboten ist bei Androhung, erschossen zu werden, sich der Brücke über die Wjatka zu nähern oder sie gar zu betreten, wonach es ihr verboten ist, den jetzigen Aufenthaltsort ohne besondere Polizeierlaubnis zu verlassen. All unsere Einwendungen nützen nichts. Sie muß das Büchlein in Empfang nehmen, eine Quittung darüber ausstellen und zwei Kopeken für das Büchlein bezahlen. Das ist gewiß nicht viel, aber es liest sich zusammen. Der Isprawnik bekommt diese Büchlein zwar vom Staat gestellt, aber er läßt sich dennoch besonders dafür bezahlen. Für jedes Büchlein zwei Kopeken. Ich habe in unserem Kreis die Gefangenennummer 1985. Der Isprawnik hat also dadurch bis jetzt 1985 mal 2 Kopeken verdient.

Unangenehm ist nur, daß meine Frau nun nicht nach Wjatka zum Gouverneur fahren kann, wie sie vorhatte. Der Gouverneur gilt als humaner Mann, der den Deutschen nicht übel will. Nun ist es nichts mehr mit der Reise, denn als Gefangene darf sie das Nest nicht mehr verlassen ...

Sonnabend. Markt bei der Kirche und in der Nähe des Bahnhofs. Mit Hilfe einiger Deutscher, die die russische Sprache beherrschen, machen wir unsere Einkäufe bei den Bauern, die zu diesem Zwecke jeden Sonnabend in die Kreisstadt kommen. Es hat seine Schwierigkeiten, weil es unaufhaltsam schneit, und man gar nicht erkennen kann, was eigentlich feilgehalten wird. Alles ist unter tiefem Schnee vergraben. Eier, Hühner, Kälber, und was es sonst noch alles geben mag. Man deutet auf einen Gegenstand, der sich nur höchst unklar von der Schneemasse darüber abhebt, und der Bauer oder seine Frau suchen ihn vom Schnee ein wenig zu säubern. Es ist ein Huhn oder ein Stück von einem Kalb oder dergleichen. Großes Handeln und Feilschen, ohne das es nie abgeht. So geht es von Stand zu Stand, bis man den Vorrat an Eiern, Fleisch und Geflügel für die Woche beisammen hat.

Es geht auf Mitternacht; die Kameraden, die uns Skat beigebracht haben, denn was soll man sonst anfangen, sind nach Hause gegangen, und wir gehen zu Bett, nachdem wir sorgfältig alle Wände, die Kissen und Tücher nach Wanzen abgesucht haben.

Da fahren wir auf, denn es klopft draußen. Es klopft an das Tor. Also muß ein Russe Einlaß begehren. Die Deutschen klopfen an die Fenster, was ein Russe nie tun würde, außer bei Feuersgefahr. Es klopft immer wieder, aber wir kümmern uns nicht darum. Es muß ein Russe sein. Mag sich die Popin darum kümmern.

Endlich schlurft die alte Magd Agrafiena von ihrem Nachtlager auf dem Ofen herunter und schlurft zur Tür, die sie aber nicht öffnet. Ein langes Gerede hin und her, das immer lauter wird, denn Agrafiena ist sehr schwerhörig.

Nun horche ich, denn mir kommt es so vor, als ob jemand deutsch fluche. Ich schlüpfe in den übel duftenden Hammelpelz, den ich mir für dreißig Rubel erstanden habe, denn im Flur ist es bitter kalt.

Als die alte Magd mich erkennt, bekommt sie Mut und öffnet die Tür. Davor steht ein völlig verschneiter Russe und hinter ihm ein völlig verschneiter anderer Mann, der meinen Namen nennt, und zwar deutsch.

Ich rufe meiner Frau, und wir ziehen den Landsmann, den wir von Tiflis her kennen, ins Zimmer. Aber er will nicht ins Zimmer. Er ist zu verlaust. Es ist unmöglich, daß er uns so ins Zimmer kommt. Er tut das unter keinen Umständen. Wenn ich ein paar alte Sachen habe, soll ich sie ihm zuwerfen, ihm aber ja nicht zu nahe kommen. Er wird sich damit in das Klosett zurückziehen, seiner Kleider sich entledigen, sie durch das Tor auf die Straße werfen, sich dann in der Küche bei Agrafiena ein wenig waschen und sich erst dann präsentieren.

»Aber Mensch, auf dem Klosett müssen Sie ja erfrieren!«

Er lacht grimmig. Er sei an Schlimmeres gewöhnt. Das mache ihm nichts.

Gott sei Dank, daß wir den Spirituskocher haben. Meine Frau brät Koteletts und ich mache den Samowar fertig. Halt, ich habe ja noch einen Rest Kognak, ein kostbares Heiligtum, das nur in Anspruch genommen werden soll, wenn eins krank wird. Ich werde ihn dem Gast opfern. Es ist einer von denen, die wie gemeine Verbrecher durch Tiflis, aneinandergefesselt, geschleppt wurden.

Meine Frau kocht, ich trage Teller und Messer auf. Mein Gott, was wird der arme Mensch durchgemacht haben? Und wie mag er sich bis zu uns hierher durchgefunden haben?

Es vergeht eine halbe Stunde. Endlich tappt er in die Küche zu Agrafiena. Er spricht Russisch und kann sich ihr verständlich machen.

Meine Frau kocht und ich geh' hinaus zu ihm. Es ist noch warmes Wasser da, mit dem er sich lange und nachdrücklich behandelt. Dann schlüpft er wieder in meinen Nachtanzug, denn etwas anderes konnte ich ihm nicht bieten.

»Was wird Ihre Frau sagen? Darf ich wirklich in diesem Aufzug zu Ihnen hinein?«

Ich nehme ihn unter den Arm. Er geniert sich gräßlich. Es ist ein gebildeter Mensch, Anfang der Dreißig, der in Gotha sein Einjähriges gemacht hat. Es ist ihm schauderhaft peinlich.

Ich beruhige ihn. Wir freuen uns doch nur, ihn wiederzusehen.

Er tritt ins Zimmer und seine Nüstern weiten sich. Gebratenes Fleisch, gibt es das noch auf der Welt? In Butter gebraten, das riecht er sofort.

Wir setzen ihn in einen unserer Prunksessel, den wir an den Tisch gezogen haben. Er will erzählen, alles erklären, aber erst soll er essen, zum Erzählen ist noch lange Zeit.

Und er ißt. Ein Kotelett, das zweite, das dritte, und eine Menge Brot, und trinkt Tee dazu, viel Tee mit viel Zucker. Er kann gar nicht genug bekommen. Muß er ausgehungert sein!

»Ich glaube, ich darf nicht mehr?« wendet er sich an meine Frau, von der er weiß, daß sie Medizin studiert hat.

Ich schenke ihm Kognak ein.

Er strahlt und schluckt drei Glas. »Nun werde ich das Essen bei mir behalten können,« meint er befriedigt. »Ich hatte schon Angst ...« Er lächelt verlegen, er weiß gar nicht mehr recht, wie er sich benehmen soll.

Wir zünden uns Zigaretten an.

»Wissen Sie noch, damals in Tiflis?«

Wir nicken.

»Die Hunde haben uns gefesselt zur Bahn getrieben. Alle Bekannten waren auf der Straße, sich das Schauspiel anzusehen. Was sollte ich tun? Sie anflennen? Ich habe gelacht und ihnen lustig zugenickt, nicht wahr? ... Aber wissen Sie, die letzte Nacht in Tiflis, das war fürchterlich. Wir wurden in ein anderes Zuchthaus gebracht in einen Raum mit allen Verbrechern, die mit uns verschickt wurden. Nebeneinander, aneinandergepreßt wie die Heringe, mußten wir auf dem feuchten Steinboden liegen. Keiner konnte sich umdrehen, so eng war es. Wir mußten alle mit aufgestütztem Arm auf der Kette liegen. Mehr Platz gab es für den einzelnen nicht ... Und diese Verbrecher! Wie sie stanken und sich aufführten! Und dann auf dem Weg zur Bahn schritten sie vor uns her, achtzig Kerle, schwer in Ketten, die schleiften. Wie das duftete, und der Staub, den sie vor uns aufwirbelten ... Meine Frau hat es Ihnen ja wohl erzählt ... Sie war auf der Bahn. Ihre Frau ja auch. O, ich erinnere mich sehr gut. Die Frauen wollten mir noch Geld geben und warme Sachen, aber es war nicht erlaubt ... In Baku kamen wir dann wieder ins Gefängnis. Es war noch schmutziger und feuchter als das in Tiflis. Da blieben wir drei Tage, bis die noch zu erwartenden Verbrecher aus dem ganzen Gouvernement zusammen waren. Dann ging es wieder gefesselt durch die Stadt nach dem Bahnhof. Wir fuhren nach Rostow. Wieder ins Zuchthaus. Es regnete gewaltig. Im Hof des Zuchthauses mußten wir uns ausziehen. Bis auf die Haut. Unsere Sachen wurden genau durchsucht. Einige hatten sich einige Rubel eingenäht. Wenn man sie fand, steckte sie der Beamte einfach in die Tasche. Und fand einer kein Geld, dann schimpfte er uns aus. Wissen Sie, mit echt russischen Flüchen. Das kann sich kein Mensch vorstellen ... Dann ging es nach Moskau. Es war bitterkalt, und wir froren wie die Schneider. Wir hatten ja nur Sommersachen. Da kamen wir ins Zentralgefängnis. Es war voll mit Deutschen. Einmal erhielt ich Besuch durch einen Freund, der mir heimlich Geld zusteckte. Hier blieben wir zehn Tage ...« Er springt auf und verschwindet, um mit einem alten, schmutzigen Zettel zurückzukehren, den er mir reicht. »Sehen Sie, für das Nachtquartier im Zuchthaus haben wir noch zahlen müssen. Zehn Kopeken pro Nacht und pro Mann.«

»Aber wie kann man denn Geld erheben, wenn Sie keines haben?«

»Die Regierung hat doch vor unserem Abtransport bei unseren Familien 30 Rubel pro Kopf erhoben. Für die Kosten unseres Transports. Wissen Sie das nicht?«

Nein, das wußte ich in der Tat nicht. Aber echt russisch war es schon.

Er beginnt wieder: »Und das Essen, wissen Sie! Was haben wir zusammengehungert. Unterwegs bekamen wir fast nie etwas. In den Zuchthäusern gab es auch für uns die gewöhnliche Verbrecherkost. Ich bin doch ein halber Russe, aber selbst mein Magen verträgt das nicht. Ich habe um die sogenannte Adelskost gebeten, die pro Portion 25 Kopeken kostet ...«

Er sieht mein erstauntes Gesicht und erklärt: »Die Bezeichnung stammt noch aus den Zeiten, da die meisten politischen Verbrecher sich aus Adelskreisen rekrutierten. Sie durften sich in den Etappengefängnissen für ihr Geld selbst beköstigen, das heißt, die Zuchthauskantine lieferte ihnen ein etwas anderes Essen als das gewöhnliche. Das ist eben die Adelskost. Aber in Moskau war sie um nichts besser als die gewöhnliche Kost ... Endlich geht es weiter über Wologda und Wjatka. Wohin, weiß ich nicht. In Wjatka werden wir ausgeladen und müssen zu Fuß im Schnee über Land. Endlich kommen wir des Abends spät in Orlow an. Wieder in das Gefängnis. Drei Tage hatten wir so gut wie nichts gegessen. Zwei von uns waren unterwegs zusammengebrochen und gestorben ...«

»Wer war denn das?«

Er weiß es nicht.

»Die Gendarmen waren wütend. Nun waren auf einmal zwei Nummern weniger, als in ihren Papieren stand. Das ging doch nicht. Es gab einen großen Aufenthalt, bis die Polizeibehörde endlich unseren Gendarmen den Abgang zweier Nummern bescheinigte. Sonst hätten wir wieder Aufenthalt in einem Zuchthaus nehmen müssen.«

»Waren die zwei Nummern Deutsche?«

»Aber natürlich.« Und er fährt fort: »In Orlow, im Zuchthaus, legen wir uns mit knurrendem Magen auf den Boden. Der Hunger quält. Unser Nachtquartier haben wir gratis, das Gefängnis. Aber sonst kümmert man sich nicht um uns. Es ist zwar verboten, zu betteln, aber was soll man machen, wenn man Hunger hat und nicht einmal ein Messer oder einen Strick, um sich umzubringen? Man bettelt eben doch, und ab und zu bekommt man auch einmal ein Stück Brot und ein Ei. Das teilen wir dann miteinander ...«

Er schweigt eine Weile.

»Aber eine große Freude haben wir doch gehabt. Denken Sie nur, eines Morgens wachen wir im Zuchthaus auf durch Gesang. Was hören wir? Die Wacht am Rhein! Wer singt sie? Ostpreußen, die eben hier abgeliefert wurden. Da haben wir mitgesungen. Aber feste, sag' ich Ihnen ... Und an den Hunger hat keiner gedacht ...«

Er schweigt wieder eine Weile.

»Eines Morgens werde ich herausgerufen. Im Hof steht ein Gendarm zu Pferd und heißt mich mitkommen. Er trabt mir voraus, ich trabe hinter ihm drein zur Polizei. Dort wird mir eröffnet, der Gouverneur habe befohlen, daß ich auf Wunsch meiner Mutter nach K. dürfe im Gouvernement Wjatka ... Das war ja nun sehr schön, aber wie soll ich dahin kommen, denn Geld habe ich nicht? Die Polizei sagt, das gehe sie nichts an, das sei meine Sache. Das ist leicht gesagt. Laufe zu Fuß! brüllt der Isprawnik. Er hat gut brüllen. Von Orlow nach K. sind 8o Werst. Winter ist auch, 25 Grad Kälte. Wie soll ich das überstehen? Da bleibe ich vorläufig immer noch lieber hier. Aber der Isprawnik sagt, ich darf nicht mehr hier bleiben, da der Gouverneur mir einen anderen Aufenthaltsort angewiesen hat. Ich muß noch heute Orlow verlassen. Sonst werde ich weiter verschickt. Was tun? Meinen goldenen Ehering hat man mir noch nicht abgenommen. Ein Gendarm liebäugelt schon lange mit dem schweren Ring. Vielleicht kann ich den Ring bei ihm versetzen und bekomme einige Rubel, um wenigstens einen Schlitten nehmen zu können. Der Gendarm geht darauf ein, und so fahre ich denn hierher. Aber als wir hier ankommen, ist kein Haus mehr auf, nirgends mehr Licht. Endlich sehen wir Licht in diesem Haus, und so bin ich hierher gekommen.«

Er sieht auf die Uhr und meint voller Unruhe: »Meinen Sie, daß es nicht besser wäre, ich melde mich jetzt gleich auf der Polizei? Man hat mir in Orlow befohlen, das sofort zu tun.«

Es ist zwei Uhr in der Nacht. Wir beruhigen ihn. Das hat morgen noch Zeit.

»Meinen Sie wirklich?«

Endlich gibt er nach und gähnt, ohne es verbergen zu können. Wir wollen ihm unser Bett abtreten, aber das läßt er nicht zu, lieber geht er gleich wieder auf die Straße. Nein, unter keinen Umständen nimmt er das Bett. Aber, wenn wir gestatten, legt er sich hier auf den Boden.

Schon um fünf Uhr ist er wieder auf den Beinen. Das ist er seit Wochen nicht anders gewöhnt. Auch läßt es ihm keine Ruhe länger, er muß jetzt unbedingt zur Polizei. Sonst bestraft man ihn, sonst steckt man ihn wieder ins Zuchthaus oder verschickt ihn, wer weiß wohin.

Es ist ihm nicht auszureden. Ich muß mit ihm zur Polizei.

Ich finde ihn sehr verändert, nun er den ersten Drang zur Mitteilung befriedigt hat. Er ist stumm und blickt immer scheu um sich. In Tiflis war er der vergnügteste Mensch, den man sich denken kann, und immer voll dummer Streiche. Ich kenne ihn ja schon lange, schon von früheren Besuchen in Tiflis her.

Plötzlich faßt er mich am Arm und flüstert mir ins Ohr: »Sie müssen alle verhungern in Orlow, alle.«

Ihm laufen die Tränen über die Backen. Mir auch.


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