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Die Kriegserklärung

Als am Montag früh, den 3. August, meine Pässe noch nicht im Hotel waren und die Polizei auf telephonischen Anruf erklärte, es werde damit wohl noch bis morgen dauern, ging ich mit dem jüngeren Sohn unserer Hotelbesitzerin ein wenig spazieren, mir wieder einmal die schöne Stadt Tiflis anzusehen. Wir schlenderten durch den schattigen Alexandergarten, denn es war sehr heiß, und gelangten zum Golowinskij-Prospekt, der breiten Hauptstraße, an der die massige Garnisonskirche, der Statthalterpalast, die Kommandantur, die öffentliche Bibliothek und das Kaukasische Museum liegen.

Hier begegneten wir gegen halb zwölf Uhr einem uns bekannten russischen Stabsoffizier. Wir grüßten. Er eilte hastig an uns vorüber, stutzte, kam auf uns zu, gab uns die Hand und sagte mit einem etwas hämischen Lächeln: »Haben Sie schon gehört? Deutschland hat uns den Krieg erklärt!«

Einen Augenblick standen wir wie vom Schlag getroffen. Dann aber lachte mein Begleiter dem Offizier ins Gesicht. So ein Unsinn!

Der Offizier eilte weiter.

Wir gingen stumm nebeneinander her, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt ... Unsinn! Warum sollte gerade Deutschland Rußland den Krieg erklären?

Wir gelangten zum Eriwan-Platz, auf dem immer mehr Menschen zusammenkamen. Erregt, neugierig. Irgend etwas war im Gange.

Wir sahen, wie aus dem Rathaus ein Tisch auf den Platz getragen wurde. Ein weißes Tuch wurde darüber gedeckt und darauf ein großes goldenes Kreuz gestellt. Über dem Tisch wurde ein prunkvoller Baldachin errichtet. Einige Popen erschienen in goldüberladenen Gewändern.

»Irgendeine Seelenmesse wird gelesen, das kommt hier öfter vor,« sagte mein Begleiter, und wir gingen eilig weiter. Rein mechanisch wählten wir den Weg zur Ssergijewska, in der das österreichische Konsulat liegt.

Kaum waren wir in die Straße eingebogen, raste uns ein Zeitungsjunge mit einem Stoß Extrablätter entgegen. Wir entrissen ihm ein Blatt, auf dem nichts weiter stand als das lakonische Telegramm der Petersburger Telegraphenagentur, daß Deutschland Rußland den Krieg erklärt habe. Trotzdem kam uns das allen beiden noch so unglaubhaft und ungeheuerlich vor, daß wir das Telegramm immer noch nicht ernst nahmen.

Der österreichische Konsul wußte nicht mehr als wir. Wir brachten ihm sogar durch unser Extrablatt die erste Kriegsnachricht ins Haus. Er schien geradeso wenig daran zu glauben wie wir. Er schien auch wirklich nichts Genaueres zu wissen, denn er erklärte, er erhalte von seiner Regierung seit Tagen keine Nachricht mehr. Trotz dringender Telegramme, die er aufgegeben habe.

»Aber in dem Petersburger Telegramm steht doch nur etwas von einem Krieg zwischen Deutschland und Rußland. Kein Wort über einen Krieg zwischen Österreich und Rußland. Warum sollte man Ihnen dann keine Telegramme aushändigen?«

Dr. Corossacz zuckte vielsagend die Achseln.

Der Sekretär des deutschen Konsulats telephonierte. Wir gingen mit dem österreichischen Konsul zum deutschen Konsulat.

Der Sekretär war höchst aufgeregt. Er glaubte sofort an den Krieg. Er bereitete alles vor, um das Konsulat zu schließen.

Wir beeilten uns, nach Hause zu kommen. Auf dem Eriwan-Platz wurde die erste Kriegsmesse unter freiem Himmel gelesen. Zum erstenmal erflehten hier russische Popen den Sieg für die russischen Waffen und Untergang und Verderben für Deutschland. Zum erstenmal scholl vom Eriwan-Platz hinter uns drein die russische Nationalhymne mit ihrer inbrünstigen, choralartigen Weise.

An den Ladentüren der deutschen Geschäfte auf dem Golowinskij-Prospekt standen die Inhaber und Angestellten mit bleichen Gesichtern. Aber keiner von allen glaubte an den Ernst der Lage. Sie alle waren unserer Ansicht: Stimmungsmache gegen die Deutschen.

Es war Mittag und der Golowinskij-Prospekt wimmelte von Menschen. Sie hielten das Telegramm in Händen oder warfen es schon, spöttisch lächelnd, von sich. Ernst wurde hier die Sache auch nicht genommen.

Dieselbe Stimmung herrschte im Hotel. Tragisch nahm man das Telegramm auch hier nicht. Weder die russischen Offiziere noch die ausländischen Zivilisten.

Die Offiziere unterhielten sich mit uns, wir mit den beiden Engländern. In dem ersten Hotel von Tiflis trieb an diesem Tag die erste Nachricht von dem nahenden Unheil die Gäste der verschiedenen Nationalitäten nicht voneinander fort, sondern zueinander.

Die beiden Engländer sahen zuweilen mit gespanntem Ernst in die Ferne wie auf ein ungeheuerliches Geschäft, das ihnen erst in flüchtigen Umrissen vor den Augen stand, und erwogen als kaltblütige Kaufleute die Chancen dieses Geschäftes.

Wir Deutschen aber hatten rote Köpfe und dachten nur an eins: Wie komme ich raus nach Deutschland?

Ehe wir uns dessen versahen, saßen wir Deutschen alle zusammen an einem Tisch: Frau Richter mit ihren Söhnen, der bayrische Ingenieur mit seiner Frau, ich und meine Frau. Dazu kamen bald noch Deutsche aus der Stadt. Was tun? Nur einer von uns war noch militärpflichtig. Aber wir alle wollten nach Deutschland und uns zur Verfügung stellen. Zu irgend etwas würde doch jeder von uns in dem bevorstehenden Riesenkampf gut sein. Also galt es packen und für die Pässe sorgen. Und als es so weit war, atmeten wir alle erleichtert auf, die Muskeln strafften sich, die Augen blitzten. O, jetzt ging es nach Hause nach Deutschland.

Und wieder saßen wir alle zusammen auf der Veranda des Hotels. Dunkel war es. Nur die Sterne leuchteten über der leise rauschenden Kura.

An einem Nachbartisch saßen die beiden Engländer. Nicht weit davon der amerikanische Missionar mit seiner Tochter, den die ganze Sache nichts anzugehen schien. Noch weiter fort russische Offiziere mit Lärmen und Lachen.

Zum erstenmal empfanden wir: Wir sind von Feinden umgeben und müssen vorsichtig sein. Wir unterhielten uns nur leise miteinander. Wir zeigten äußerlich möglichst unbewegte Mienen. Aber in uns kochte es und war wilder Tatendrang.

Da, alles verstummt und lauscht in die Nacht. Was ist das? Wie ferner Gesang klingt es in das Rauschen der Kura. Es kommt näher und näher. Die russische Nationalhymne, feierlich, inbrünstig. Manifestanten singen sie und durchziehen die Stadt. Ich schleiche mich zum Hoteleingang, wo die Manifestanten vorbeikommen. Fünfzig halbwüchsige Burschen, denen ein Polizist das Zarenbild voranträgt.

Ich eile zur Veranda zurück. Der Gesang kommt jetzt von der Kurabrücke her. Wie auf Verabredung heben wir die Gläser mit Rheinwein und leeren das Glas. Sagen, was wir denken, dürfen wir nicht. Aber wir denken: Deutschland, Deutschland über alles!

Am andern Morgen schon in der Frühe zum österreichischen Konsul. Ich habe meinen Paß immer noch nicht. Er soll mir raten und helfen.

In der Amtsstube sitzt eine strahlende deutsche Mutter mit ihren zwei Söhnen. Der ältere, etwa neunzehnjährig, strahlt auch über das ganze Gesicht. Der jüngere, etwa sechzehnjährig, heult jämmerlich. Die Mutter meldet ihren Ältesten zum Militärdienst nach Deutschland. Deshalb strahlen die beiden so. Dem Jüngsten hat der Konsul eben gesagt, es könne gar keine Rede davon sein, daß er eingestellt würde. Deshalb heult er so jämmerlich. Mich durchzuckt es, und auch der Konsul ist sichtlich bewegt, trotzdem er sein glattrasiertes Gesicht gut in der Gewalt hat.

Es erscheinen andere Deutsche. Sie melden sich ebenfalls. Sie wollen alle dasselbe: einen Paß nach Deutschland.

Der arme Konsul, er befindet sich in einer schwierigen Lage. Er weiß ja offiziell durchaus nichts davon, daß Krieg ist. Er kann auch nichts Bestimmtes darüber erfahren. Er kann gar nichts anderes tun, als die Leute auf später vertrösten und sie bitten, nächstens wieder zu kommen, nachdem er sie an das deutsche Konsulat verwiesen.

Mir verspricht er natürlich auch, das seine zu tun, damit ich meine Pässe zurückerhalte. Aber er ahnte wohl damals schon, daß es damit nichts werden würde.

Vom Konsulat begebe ich mich zur Bank. Da man auf so einer Reise nicht mehr bares Geld mitnimmt, als unbedingt nötig ist, so hatte ich mein Hauptgeld nach Wan überweisen lassen. Da ich aber jetzt nicht mehr nach Wan wollte, sondern nach Deutschland, mußte ich versuchen, ob ich nicht durch die Tifliser Bank mein Geld aus Wan erhalten könne. Auf der Bank riet man mir, sofort nach Wan um Überweisung des Geldes nach Tiflis zu telegraphieren. Man wollte das sogar selbst für mich besorgen und bat zu dem Zweck um meinen Depotschein. Ich zeigte ihn zwar, gab ihn aber nicht aus den Händen. Die Leute waren selbst für russische Verhältnisse etwas gar zu liebenswürdig. Ich wurde mißtrauisch und wollte mich erst noch anderswo erkundigen.

Mein Mißtrauen war berechtigt. Hätte ich dem Rat der Bank gefolgt, wäre ich das Geld losgeworden, denn sie zahlte schon wenige Tage nach der Kriegserklärung an Reichsdeutsche nichts mehr aus. Nicht einmal der österreichische Konsul konnte in den Besitz ihm überwiesener Gelder gelangen.

Die Ereignisse der allernächsten Zeit überstürzten sich dermaßen, daß ich ihrer chronologischen Reihenfolge nicht mehr sicher bin. Ich machte mir zwar sofort Aufzeichnungen, auf Grund deren ich alles der Reihenfolge nach erzählen könnte, aber diese Aufzeichnungen mußte ich später vernichten. Ich vermag jetzt also nur noch die Haupteindrücke wiederzugeben.

Gegen Mittag komme ich in das Restaurant unseres Hotels und bleibe unwillkürlich an der Türe stehen. Mitten im Restaurant steht ein Herr entblößten Hauptes. Um ihn her russische Offiziere mit ernsten Gesichtern. Der Herr liest das soeben eingelaufene Manifest des Zaren vor, wonach Deutschland das unschuldige Lämmlein Rußland hinterrücks mit Krieg überfallen hat. Nach der Verlesung erst tiefes Schweigen, dann die Nationalhymne ...

Höchste Zeit für uns alle, nach Hause, nach Deutschland zu kommen. Alle Deutschen im Kaukasus fühlen das und strömen in Tiflis zusammen. Hier befindet sich ja das einzige deutsche Berufskonsulat im Kaukasus. Es ist doch dazu da, den Deutschen zu helfen ...

Ein junger, intelligenter deutscher Vorarbeiter erscheint im Hotel als Abgesandter von einem Dutzend, die in der Nähe von Batum in Arbeit sind. Er soll vom Konsulat Auslandspässe für sie alle besorgen. Er lacht über das ganze junge Gesicht vor Freude, daß es endlich losgeht. Alle zwölf Kameraden sind reisefertig wie er. Nur fort. Er eilt zum Konsul, kommt bald wieder und ist verzweifelt, weil der Konsul nicht helfen kann. Er eilt zur Bahn, um wieder nach Batum zu fahren und mit den zwölfen auszurücken. Kaum ist er aus dem Hotel, stürzt Polizei in das Restaurant, die den jungen Deutschen sucht. Wir wissen natürlich nichts. Eine Stunde später ist der junge Mann wieder da, diesmal in Begleitung eines russischen Offiziers. Man hat ihn an der Bahn festgehalten. Man läßt überhaupt keinen Deutschen mehr aus Tiflis fort.

Immer wieder tauchen Deutsche in dem Hotel auf. Es ist ja ein deutsches Haus. Hier verkehren auch die Konsuln. Wo soll man sich Rat holen, wenn nicht hier? Bald darauf erscheint Polizei und führt die Deutschen fort. Wohin, wissen wir nicht ... Abend. Der österreichische Konsul kommt zu uns ins Hotel. Sein italienischer Kollege hat ihn endlich offiziell von dem Krieg zwischen Rußland und Deutschland verständigt. Darauf ging er zum deutschen Konsulat. Noch einmal wurde die schwarz-weiß-rote Flagge hochgezogen. Dabei nur zwei Deutsche auf der Straße, Hut in der Hand. Die Flagge wurde eingeholt, der Mast zerbrochen, das Konsularschild entfernt. Ein deutsches Konsulat in Tiflis gibt es nicht mehr ...

Ich: »Wie kommen wir jetzt aber nach Deutschland?«

Der Konsul: »Amerika hat den Schutz der Deutschen in Rußland übernommen.«

Ich: »Der nächste amerikanische Konsul ist in Batum?«

Der Konsul nickt. Er setzt ein Telegramm an diesen Mr. Shmid auf, ungefähr des Inhalts, er möge so bald wie irgend möglich nach Tiflis herüberkommen, um den Schutz der hiesigen Deutschen zu übernehmen.

Andere Deutsche kommen hinzu. Der Konsul sucht uns zu beruhigen, indem er auseinandersetzt, der amerikanische Konsul werde uns unter amerikanischem Schutz auf ein neutrales Schiff nach Batum bringen und von dort über Konstantinopel nach Hause reisen lassen.

Uns Deutschen wird etwas leichter ums Herz. Deutschland hat uns nicht vergessen, es hat uns die Amerikaner zum Schutz bestellt.

Ich zum österreichischen Konsul: »Sagen Sie, ist dieser Mr. Shmid Berufskonsul?«

»Er ist Kaufmann. Wahlkonsul.«

Mir wird wieder schwer ums Herz, ich lasse es mir aber vor den anderen nicht merken, die so voll Hoffnungen sind. Der Mr. Shmid ist also Kaufmann, Geschäftsmann oder dergleichen. Er verdient also doch wohl durch Geschäfte mit Russen? Woher soll er dann die Energie nehmen, auch einmal, wenn es sein muß, energisch gegen die Russen aufzutreten? Ich spreche mit meiner Frau, die geborene Amerikanerin ist. Sie denkt darüber noch viel skeptischer als ich ...

An dem Tage, da der österreichische Konsul die österreichische Kriegserklärung an Rußland offiziell erfährt, kommt er sichtlich erleichtert wieder zu uns ins Hotel. Binnen 24 Stunden muß er nach diplomatischem Brauch seinen Posten verlassen. Er kann nur froh darüber sein. Noch dazu hält er in Händen das Antworttelegramm von Mr. Shmid aus Batum, das reichlich lange gebraucht hat, und in dem geschrieben steht, daß Mr. Shmid unmöglich von Batum nach Tiflis kommen, daß er überhaupt nichts für die Deutschen tun kann.

Wir machen lange Gesichter. Mit dem amerikanischen Schutz ist es also auch nichts. Nun heißt es: hilf dir selbst ... Wenn es dafür nur nicht zu spät ist ... Hätten wir schon am Tage der Kriegserklärung gewußt, wie die Dinge liegen, hätte wohl doch noch mancher entwischen können bei der allgemeinen Unordnung. Aber wir Deutschen sind ja gewöhnt, auf den Rat unserer Behörden zu hören, in diesem Falle die Konsulate. Sie rieten uns, nichts zu unternehmen, sondern zunächst einmal zu warten ... Also warteten wir ... Bis der Krieg uns dann von dem Glauben an die Konsulate kurierte ...

Der österreichische Konsul rüstet sich zur Abreise über Petersburg-Finnland. Ich setze Himmel und Hölle in Bewegung, um mit ihm reisen zu können. Man verspricht mir die Pässe bis zum Abend. Wir packen wieder einmal um, denn für die weite Reise über Finnland nimmt man nur das Allernotwendigste mit ... Der Abend kommt. Die Pässe nicht. Wir essen mit dem Konsul zu Abend. Gegen neun Uhr wird er von einem Offizier zur Fahrt nach der Bahn abgeholt ... Gegen halb elf erscheint er wieder im Hotel. Auf ein so baldiges Wiedersehen hatten wir nicht gerechnet. Er saß schon im Zug, und der Zug sollte abgehen, da wurde ihm bedeutet, der Weg über Finnland sei gesperrt. Er könne nur noch über Wladiwostok–Peking–San Franzisko–Neuyork reisen. Eine etwas umständliche und kostspielige Reise. Wer hat das nötige Kleingeld dafür in der Tasche? ... Also mußte er wieder zurück in die Stadt, um sich das nötige Geld für diese Gewaltstour zusammenzuborgen. Seine eigenen Gelder wurden ihm ja nicht mehr ausbezahlt ...

Am nächsten Abend fuhr er dann ab und kam jedenfalls nicht mehr ins Hotel zurück. Was aus ihm geworden ist, wissen wir nicht.

Das Schicksal der Deutschen aber war damit besiegelt. Wir waren völlig schutzlos der Willkür der russischen Behörden preisgegeben.


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