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Unter russischen Soldaten

Es werden noch zwei Deutsche in der »Reserve« abgeliefert. Sie haben eine lange Fußreise hinter sich. In der Nähe von Kars waren sie daheim. Von dort hat man sie zu Fuß unter Polizeibegleitung hierher transportiert. Aber es ist ganz unmöglich, daß diese zwei auch noch in unserem Raum untergebracht werden, in dem man sich sowieso längst nicht mehr rühren kann. Wir revoltieren und stecken uns hinter die Soldaten.

Am Abend erscheint der Hauptmann bei uns und befiehlt dem Tilsiter, dem Ungarn und mir, noch heute abend in den oberen Stock zu den Soldaten überzusiedeln. Die fünfzig Soldaten sind in drei Räumen untergebracht. Der Feldwebel nimmt uns alle drei in sein Zimmer, wo außer ihm noch zwei Unteroffiziere, ein Gefreeter, wie Gefreiter auf russisch heißt, und zwei Gemeine, sowie drei angehende Polizisten untergebracht sind. Wir sind hier also zu zwölf. Es ist sehr eng, aber doch nicht so eng wie unten.

Wir drei Deutschen leben nun wochenlang mitten unter russischen Soldaten, und durch uns werden die Soldaten auch mit den andern Deutschen immer vertrauter. Bald sind wir alle gut Freund miteinander. Eine friedliche Insel in einem Meer von Wut, Haß und Niedertracht. Dies Meer rührt an uns nur durch die unvermeidlichen Polizisten, durch die Zeitungen und durch die Erlebnisse der Frauen und Kinder, wenn sie nachmittags uns besuchen und berichten, wie die Russen mit ihnen umspringen.

Nichts in der Welt hassen wir mehr als die russische Regierung. Weniges in der Welt haben wir so lieben gelernt als unsere russischen Soldaten, die ja ein Teil des russischen Volkes sind.

Es waren Reservisten und Landwehrmänner, also meist ältere Leute. Erst der Krieg hatte sie unter die Waffen gerufen. Bis dahin gingen sie als friedliche Bauern und Arbeiter ihrem Berufe nach. Manche unter ihnen, Großbauern aus dem Dongebiet, deutschen Kolonisten benachbart, die sie achten gelernt hatten. Das kam uns jetzt zugute. Andere waren Angestellte städtischer Unternehmungen gewesen und dabei auch vielfach immer wieder mit Deutschen in Berührung, gegen die sie nichts einzuwenden hatten. Fast alle Familienväter, die der Krieg in eine schwere wirtschaftliche Lage gebracht hatte. Für gar manchen bedeutete er den wirtschaftlichen Ruin. Wie für gar manchen unter uns. Mit der Zivilbevölkerung kamen sie so gut wie gar nicht in Berührung. Die hier allgemein verbreitete Tobsucht gegen die Deutschen konnte diese Soldaten gar nicht anstecken. Ihnen bedeutete der Krieg eine Katastrophe, ein Unglück.

Unter den jüngeren Soldaten gab es selbstverständlich einige, die uns am liebsten vergiftet hätten. Aber sie konnten nur insgeheim grollen und fluchen.

Zwischen den von Soldaten besetzten Räumen der »Reserve« hatte der Polizeiälteste sein Zimmer. Ein widerwärtiger Kerl, der uns am liebsten gefoltert hätte. Aber gegen den Feldwebel, die Unteroffiziere und das Gros der Soldaten, die sich zu uns hielten, war er machtlos. Er mußte das Maul halten, denn er fürchtete sich vor den Soldaten, die ihn sicherlich verprügelt hätten, würde er etwas gegen uns unternommen haben.

Vor dem Zimmer, in dem wir mit dem Feldwebel hausten, standen die fünfzig Gewehre. Elende Vorderlader mit riesigen Ladestöcken. Immerhin, wenn man etwas gegen uns unternommen hätte, wir waren entschlossen, uns dieser Waffen zu bedienen, wenn es hätte sein müssen. Wo mein Bett stand, befand sich der Eingang zur Munitionskammer, aus der jeder Patrouille die Patronen zugezählt wurden. Dieser Eingang bestand aus einer kümmerlichen Holztür. Ein Fußtritt, und wir waren Herren der Munitionskammer.

Die russische Regierung, die uns wie Verbrecher behandelte, gab uns selbst die Möglichkeit, daß wir uns jederzeit in den Besitz russischer Waffen hätten setzen können, um unser Leben so teuer zu verkaufen als nur möglich.

Unser und der Soldaten Hauptfreude ist Mischa, ein unendlich gutmütiger, geistig und körperlich zurückgebliebener Jüngling aus einem fernen, östlichen Gouvernement. Eine Seele von einem Menschen, gefällig gegen jedermann und immer fröhlich und freundlich. Nur in der Uniform sieht er unmöglich aus. Sie ist ihm viel zu groß. Zwei Mischas gingen in den Rock, in die Hosen und Stiefel, die er trägt. Sein Kindergemüt weiß gar nichts von Haß und Feindschaft. Er kommt direkt vom Lande, war noch nie in der Stadt. Für sein Kindergemüt sind wir Menschen wie alle anderen, die zur Zeit eingesperrt sind. Weshalb, das versteht er durchaus nicht. Er wäscht die Tische ab und die Kochgeschirre, reinigt die Gänge und Treppen und hat immer etwas zu tun. Rührend ist es, zu beobachten, wie die Kameraden ihn behandeln. Nichts von Spott oder dergleichen.

Als ich das erstemal das Soldatenzimmer verlasse, um auf den Hof zu eilen in die frische Luft, habe ich in der Elle mein Zigarettenetui vergessen. Ich mag nicht wieder zurück, denn gerade führt der Stabsoffizier die Polizisten nach oben zum theoretischen Unterricht über den Gebrauch der Waffen.

Da erscheint Mischa oben am Fenster, winkt mit dem Etui und ruft mir zu: »He, Landsmann, du hast deine Zigaretten vergessen, soll ich sie dir bringen?«

Mischa wird zurückgezogen vom Fenster, der Stabsoffizier macht Krach. Ich kann aber von unten nicht verstehen, was eigentlich los ist.

Als der Stabsoffizier mit seinen Polizisten verschwunden ist, kommt der Feldwebel mit Mischa zu mir.

»Höre, Mischa,« sagt der Feldwebel, als Mischa mir das Etui gibt, »und vergiß es nicht, hörst du, du darfst nicht ›Landsmann‹ sagen, das will Seine Hochwohlgeboren nicht wieder hören, sonst sperrt er dich ein.«

»Warum darf ich nicht Landsmann sagen, Michael Michelajowitsch?«

»Du darfst nicht, Mischa, die Deutschen sind nicht unsere Landsleute.«

Mischa überlegt einen Augenblick. »Dann werde ich Onkelchen sagen, Michael Michelajowitsch.«

»Schön, sage Onkelchen, Mischa,« meint der Feldwebel begütigend, und seitdem ruft Mischa mich und die anderen Deutschen »Onkelchen«. Aber warum er nicht ›Landsmann‹ sagen darf, und warum Seine Hochwohlgeboren darüber so wütend war, das versteht die unschuldige Seele nicht ...

Ein Sonntagmorgen. Der Polizeiälteste stürzt zu uns ins Zimmer mit triumphierendem Gesicht. »Przemysl ist gefallen!« Er weidet sich an unseren Gesichtern. Den Soldaten ist diese Schadenfreude des Polizeiältesten gar nicht angenehm. Sie starren ihn finster an.

Ein Unteroffizier sagt: »Warum soll es nicht fallen? Einmal muß es doch fallen. So etwas Großartiges ist es nicht.«

Der Polizeiälteste wird wütend. Die ganze Stadt sei geflaggt. Es sei ein Sieg so groß wie bei Lemberg und mit Österreich ist es nun ganz aus. Jetzt geht es den Preußen ans Leder.

Er drückt sich, um die Botschaft weiter zu tragen.

Den ganzen Sonntag lag es auf uns wie ein schwerer Druck. Wir vermeiden es, mit den Soldaten zu reden.

Am andern Morgen in aller Frühe ungewöhnliches Leben auf dem Hof. Immer mehr Kerle sammeln sich da. Einer sieht schmieriger aus als der andere. Tataren, Armenier, Russen.

Unsere Primaner wissen Bescheid. Es sind die Dworniks, die Hausverwalter von ganz Tiflis, die hier zusammengerufen werden. Sie stecken die Köpfe zusammen mit ängstlichen Gesichtern.

Ein höherer Stabsoffizier erscheint, und nun hagelt ein Kreuzdonnerwetter nach dem andern auf die geduckten Köpfe der Dworniks.

Die perfekten Russen unter uns Deutschen grinsen immer wohlgefälliger und dann werfen sie sich auf die Betten, damit ihr Lachen nicht hörbar wird.

Przemysl ist gar nicht gefallen. Die Hausmeister haben auf ein leeres Gerücht hin, ohne beim Stabe anzufragen, einfach die Flaggen ausgehängt, und ganz Tiflis hat so etwas voreilig den Fall der feindlichen Festung gefeiert. Nun droht der Stabsoffizier den Dworniks schwere Gefängnisstrafen an, wenn sie es sich noch einmal einfallen lassen, ohne Spezialerlaubnis vom Stab die Fahnen auszuhängen. Wie die begossenen Pudel ziehen sie ab ...

Kein anderer Name wird in Rußland zurzeit so viel genannt wie der des Deutschen Kaisers. Fast immer voller Haß, nicht selten aber auch mit einer Beimischung von Furcht. Alles, was die Russen gegen uns auf dem Herzen haben, faßt sich immer ausschließlicher in dem einen Namen ›Wilhelm‹ zusammen.

Draußen vor unserem Soldatenzimmer Instruktionsstunde des Stabsoffiziers an die Polizisten. Gegen einen ist er besonders geladen. Wieder macht er einen Fehler und wütend brüllt ihn der Stabsoffizier an: »Den Bart kannst du tragen wie Wilhelm, aber schießen kannst du nicht, du Hund! Ich sperre dich ein, wenn du morgen den Bart noch hast!« ...

Wir werden wieder einmal protokolliert. Ich weiß nicht mehr, zum wievielten Male. Diesmal durch den Vorsteher der ›Reserve‹ in eigener Person, einen Mann mit Hauptmannsrang. Unser Kamerad von der Garde tritt vor.

Der Hauptmann: »Wie heißen Sie?«

Unser Gardist: »Wilhelm K...«

Der Hauptmann fährt zurück wie von der Tarantel gestochen.

»Wie heißen Sie?« Er glaubt nicht recht gehört zu haben.

Unser Gardist: »Wilhelm K...«

Der Hauptmann zögert immer noch, diesen fürchterlichen Namen auf das Papier zu schreiben. Er sucht nach einem Ausweg. Da im Russischen bekanntlich zum eigenen Vornamen der Vorname des Vaters hinzugesetzt wird und man jeden Menschen dann auch so ruft ohne den Familiennamen, der in Rußland eine untergeordnete Rolle spielt, fragt der Hauptmann nach dem Vornamen des Vaters unseres Gardisten. Er denkt sich offenbar: ich werde nur diesen Namen hinschreiben.

Prompt antwortet der Gardist: »Er heißt auch Wilhelm K...«

Der Hauptmann wird ganz rot vor Verwirrung. Nun muß er also den fürchterlichen Namen gar zweimal schreiben. Was nützt das alles. Er tut seine Pflicht und schreibt den Namen nieder, indem er zu dem Gardisten in schwerem Ernst sagt: »Ein gefährlicher Name. Sie sollten sich einen anderen Namen suchen ...«

Wieder einmal Besuchsstunde. Ein Tatare aus dem hohen Kaukasus hat die weite und beschwerliche Reise gemacht, um seine eingesperrten Freunde, die beiden Bienenzüchter und den Käsesalzer, zu besuchen. Der Tatare sieht sich mit seinem unbeweglichen Gesicht alles genau an, die Lokalitäten, die Menschen, dann ganz besonders mich und läßt mir durch die Bienenzüchter sagen, am Abend, wenn es dunkel geworden, werde mich jemand besuchen, der Wichtiges mit mir zu sprechen habe. Er werde nicht durch die Tür der Polizeistation kommen, sondern durch das Hoftor dort, das offen bleiben werde.

Es ist dunkel. Ich lehne im Hof an einem Baum, so daß man mich von oben her nicht so leicht sieht. Die Soldaten werden sowieso nichts sagen. Aber dem Polizeiältesten ist nicht zu trauen. Der Tilsiter hat sich anheischig gemacht, ihn zu beschäftigen.

Vorsichtig kommt eine dunkle Gestalt durch das Hoftor. Ich räuspere mich. Der Mann tritt zu mir an den Baum, wo wir beide kaum sichtbar sind. Es ist ein grusinischer Fürst. Wir kennen uns seit vielen Jahren. Er spricht leidlich Französisch. Es handelt sich um folgendes: Er und einige Kameraden wollen mit all ihren Leuten den Deutschen zu Hilfe kommen. Er glaubt, sie werden rund 40 000 Mann sein. Ich soll ihnen nun sagen, wie sie das am besten machen.

Es war weder ungefährlich für ihn noch für mich, daß er hierher kam. Es mußte ihm also ernst sein, und ich nahm es auch ernst, so naiv sein Unterfangen auch war. Wie sollten sie aber aus dem Kaukasus ungefährdet nach Polen kommen? Das war einfach unmöglich. Ich mußte ihm das klar machen, so leid es mir auch tat. Und ich hatte nur den einen Trost für ihn: er und die Seinen sollten warten, bis die Türken ins Land kämen, dann gäbe es für sie zu tun. Das war ihm ein kleiner Trost. Nur begriff er genau so wenig wie ich, warum die Türken immer noch zögerten? ... Der Mann schlich sich wieder fort. Es war ein sehr charakteristisches Erlebnis, das mir wieder einmal zeigte, was ich ja schon wußte, wie die Grusiner, dieser schönste Menschenschlag des Kaukasus, schon aus wohlbegründetem Russenhaß für die Deutschen Partei ergriffen. Aber auch der äußere Anstoß zu diesem Entschluß meines grusinischen Bekannten und seiner Freunde war bezeichnend genug. Als ich noch im Hotel saß, machte sich dort ein alter russischer General von ausgesprochen chinesischem Typus wichtig, ein echter miles gloriosus und Bramarbas. Er unterhielt sich viel und gern mit meiner Frau, die ihm als Amerikanerin galt und nicht als Deutsche. Wir hatten keinen Grund, ihn eines anderen zu belehren, denn seine Offenherzigkeiten gegen meine Frau warm mir interessant genug. Er hatte nämlich vom Generalkommando den Auftrag, die kaukasischen Bergvölker gegen die Deutschen mobil zu machen. In normalen Zeiten sind sie zum größten Teil überaus kühne und gefürchtete Räuber, die der russischen Regierung viel zu schaffen machen. Diese Räuberhorden wollte man nun in Polen gegen die Deutschen und Österreicher verwenden. Die Agitation dafür lag unserem Bramarbas ob, und sie hat offenbar eine grusinische Gegenagitation zur Folge gehabt.

Der Bramarbas konnte denn auch dem Generalkommando melden, daß 60 000 Männer aus den kaukasischen Bergen bereit wären. Es wurde eigens ein Großfürst nach Tiflis bemüht, die Parade darüber abzunehmen und sie an die Front zu bringen. Das war kein Geheimnis, sondern es stand in den Kaukasusblättern zu lesen. Dann aber wurde es plötzlich still davon. Wie ein Stabsoffizier in der Besoffenheit öffentlich erzählte, so daß wir es natürlich auch erfuhren, weil aus den 60 000 Mann mit eins 6000 geworden waren, und von diesen 6000 noch die Hälfte, als es zur Bahn gehen sollte, ausriß, so daß der Großfürst mit ganzen 3000 Männekens aus Tiflis herauskam, eine Blamage, über die ganz Tiflis mit Ausnähme der Russen weidlich gelacht hat ...

Der Polizeiälteste läßt uns an einem Sonnabend zusammenrufen, um uns mitzuteilen, daß wir am Montag verschickt würden. Er weiß aber angeblich immer noch nicht, wohin. Der Feldwebel erlaubt mir, sofort meiner Frau zu telephonieren. Ich bitte sie, auch einige andere Frauen zu benachrichtigen, damit sie Einkäufe für uns machen. Die Reise kann lange dauern und wir kommen in Winterkälte. Wir müssen für warme Kleider sorgen und für Nahrungsmittel, denn unterwegs wird schwerlich etwas zu haben sein. Auch Kopfkissen und Matratzen sind nötig, denn unserer wartet weder auf der Reise noch in Sibirien Sammet und Seide. Da man Sonntag nicht einkaufen kann und wir womöglich schon Montag in der Frühe fort müssen, bleibt für die Einkäufe also nur dieser Sonnabend, und zwar nur der Vormittag bis zwei Uhr, denn dann wollen die Frauen doch erst recht noch mit uns zusammen sein. Wer weiß, für wie lange die meisten ihre Männer und Söhne nicht wiedersehen.

Ich habe es darin besser als die meisten anderen. Ich habe ja kein Geschäft in Tiflis. Die meisten sind Geschäftsleute und müssen ihre Frauen zunächst hier lassen, um das Geschäft zu liquidieren oder zu verkaufen oder bis nach dem Krieg irgendwie zu versorgen. Erst, wenn das erledigt ist, können die Frauen mit den Kindern vielleicht nach Sibirien nachkommen. Mein Gesuch an die Regierung, dem Gesetz über die Verschickten gemäß zu erlauben, daß meine Frau mitreist, ist derweil genehmigt worden. Wir werden also zusammen bleiben. Die armen anderen Frauen! Am Nachmittag kommen die Frauen mit ihren Einkäufen für uns. Je fünf zusammen werden einen gemeinsamen Eßkorb haben mit Tee, Zucker, Brot und Dauerwurst. Jeder bekommt auch eine Decke und eine Matratze.

Das ist ein aufregender und angreifender Nachmittag. Manche Frauen sind durch all die Wochen voller Unruhe und Sorgen nervös geworden, haben sich nicht mehr so in der Gewalt wie früher und müssen weinen und jammern. Unsere Soldaten reißen einfach aus. Sie sind so weich gestimmt und mitleidig, sie müßten sonst auch losheulen, wie sie versichern, und man sieht ihnen an, daß sie nicht lügen. Nur der Polizeiälteste spaziert zwischen uns umher und ist guter Laune.

Es ist längst fünf Uhr vorbei. Die Frauen müßten längst wieder fort sein. Die Polizei macht Skandal und will die Frauen vertreiben. Da kommt sie aber schlecht an. Die Soldaten werfen sie einfach aus der ›Reserve‹. Wir sind ›ihre‹ Gefangenen, um die sich die Polizei nicht zu kümmern hat.

Es wird dunkel und die Soldaten werden unruhig, daß die Frauen immer noch da sind. Sie verstehen das sehr gut, sie würden es nicht anders machen. Aber wenn der Hauptmann kommt und die Frauen sieht, gibt es Unannehmlichkeiten. Der Tilsiter, ein Junggeselle und ich reden unseren Kameraden zu. Die Frauen entfernen sich.

Jeder sucht sein Lager auf und brütet vor sich hin. Der diensttuende Unteroffizier löscht diesmal die Petroleumlampe ganz aus, was er eigentlich nicht darf. Wir sind doch Verbrecher und müssen überwacht werden. Es darf auch nachts nicht völlig dunkel sein. Aber er denkt sich: ach was, sie werden uns schon keine Unannehmlichkeiten bereiten und jetzt noch auszurücken versuchen. In der Finsternis sieht wenigstens keiner den anderen und das ist für diese Nacht am besten.

Am anderen Morgen ruft uns der Polizeiälteste wieder zusammen, um uns mitzuteilen, wir würden morgen noch nicht verschickt, er habe sich geirrt. Wie die Schadenfreude aus seinen Augen funkelt. Polizistenrache dafür, daß er uns sonst nichts anhaben kann! ...

Es ist überhaupt eine unsagbar verächtliche Gesellschaft, diese Polizisten des 9. Tifliser Polizeireviers. Tag für Tag müssen wir das erleben.

Am Ende des Hofes befindet sich auch das Arrestlokal für diesen Bezirk. Dem Äußeren nach ein halb zerfallener, aber viel zu groß geratener Schweinestall mit zwei Kammern mit vergitterten Fenstern. In der einen befindet sich wenigstens eine Holzpritsche, wenn sie auch halbverfault ist. In der anderen nur nackte Wände und feuchter Steinboden. Zwei feuchte, dunkle Löcher.

Hier wird zunächst einmal alles, was sich bei einem Polizisten irgendwie mißliebig macht, eingesperrt. Kinder, die betteln, Weiber, die sich betrunken haben, Männer die sich von einem Polizisten, der sie aussaugt, nicht alles gefallen lassen wollen. Auch eine Menge völlig unschuldiger Menschen, junger und alter, auf die irgendein Polizist wütend ist. Meist, weil sie ihn nicht hinreichend schmieren.

Wie oft haben wir es erlebt, daß die Soldaten im ersten Stock die fromme Liturgie für den Zaren sangen, während von unten das Jammergeschrei der Verprügelten dazwischen klang. Eine echt russische Harmonie.

Und furchtbar ist der Anblick der Arretierten, wenn sie dann wieder entlassen werden. Verquollene, blutrünstige Gesichter, krumm und lahm geprügelt an Armen und Beinen, Frauen, bucklige Kinder, Greise, ganz gleich, niemand kommt aus dem Loch heraus, ohne so zugerichtet zu sein. Nur an Mohammedaner wagen sich die Feiglinge nicht. Sie wissen, daß andere Mohammedaner blutige Rache für jede Mißhandlung eines Glaubensgenossen nehmen würden ...

Jetzt scheint es aber doch ernst zu werden mit der ›Verschickung‹. Der Hauptmann ruft uns zusammen und eröffnet: Es sei uns gestattet, auf eigene Kosten die Reise nach Sibirien in einem Wagen dritter Klasse, der bis an unseren Bestimmungsort durchgehe, anzutreten. Sollte aber einer nicht gewillt sein, die Reise auf eigene Kosten zu machen, so werde er per Etappe verschickt.

Was das hieß, wußten wir. Das hieß, daß wir dann mit gemeinen Verbrechern zusammen durch alle Etappengefängnisse und Zuchthäuser Rußlands geschleift wurden. Die Alternative war also derart, daß jeder, ob er wollte oder nicht, ob er konnte oder nicht, sich bereit erklärte, auf eigene Kosten zu fahren. Nur zwei unter uns weigerten sich, voll gerechter Empörung über eine solche Zumutung. Sie wurden sofort von Polizisten in die Mitte genommen und nach dem Zuchthaus abgeführt.

Wir anderen verpflichteten uns schriftlich, die Kosten zu tragen, und mußten pro Mann zehn Rubel beim Hauptmann hinterlegen.

Darauf eröffnete uns der Hauptmann weiter, wir müßten auch die Kosten der Reise und die Unterhaltungskosten während der Reise von Tiflis bis zu unserem Bestimmungsort, der aber nicht genannt wurde, und zurück für die Bewachungsmannschaft zahlen. Die Zahl der Polizisten und Soldaten, die uns auf der Reise zu bewachen haben würde, wurde uns auch nicht mitgeteilt. Es konnten zwei, es konnten auch zwanzig Mann sein. Der große russische Staat entblödete sich also nicht, zum größten Teil armen Leuten, nur weil sie Deutsche waren, so viel Geld als nur irgend möglich abzupressen. Die Sache wurde immer grotesker. Aber da wir einmal A gesagt hatten, sagten wir auch B und machten gute Miene zum bösen Spiel. Wir bezahlten nochmals zehn Rubel pro Mann für unsere Bewachung.

Trotzdem erfuhren wir nicht, wann die Reise vor sich gehen sollte, auch nicht, wohin sie gehen sollte. Nachdem der Staat sein Geld einkassiert hatte, wurde er uns gegenüber wieder stumm.

Die Soldaten sahen uns scheu von der Seite an. Sie schämten sich wieder einmal ihres Staates. Ob wir wohl noch mit ihnen sprechen würden? Was konnten die armen Kerle dazu.

Der Zufall fügte es, daß sich an diesem Tage noch folgendes zutrug. Wir hatten längst gemerkt, wie sehr die Soldaten nach Musik begehrten. Sie hatten ein gar zu faules und bequemes Leben. Wenn man nur ein bißchen Musik machen und tanzen könnte! Wir hatten also untereinander gesammelt, um den braven Soldaten eine kleine Freude zu bereiten, und sie hatten eine Eingabe an den Gouverneur gerichtet, ob sie sich von diesem deutschen Gelde einige Musikinstrumente anschaffen dürfte». Der Gouverneur, der ekelhafte Deutschenfresser, hatte die Genehmigung erteilt, um die Soldaten bei guter Laune zu erhalten, und einige waren in die Stadt gegangen, um die Instrumente zu kaufen, nachdem sie uns versprochen, die Einkäufe nur in deutschen Geschäften zu machen, was sie denn auch redlich durchführten.

Gerade als der Hauptmann unser Geld einkassiert hatte, kamen die Einkäufer zurück und erfuhren natürlich, was vorgefallen war. Was nun? Sie machten lange Gesichter. Hätten sie das gewußt, hätten sie unser Geschenk natürlich nicht angenommen. Und wenn man sich so gegen uns benahm, konnten sie unmöglich noch Musik dazu machen.

Der Tilsiter und ich lösten ihren Gewissenskonflikt, indem wir sie einfach darum baten, zu spielen und zu tanzen, denn das täte uns auch gut.

Als der Hauptmann glücklich fort war, wurde es denn auch sehr lustig. Man sang und spielte und tanzte und wir sahen zu. Und am Abend ließ der diensttuende Unteroffizier alle Leute antreten, und ehe wir uns dessen versahen, brachten diese russischen Soldaten ein dreimaliges Hurra auf uns deutsche Kriegsgefangene aus.

Aber wir hatten mit diesen selben Soldaten auch ein mir unvergeßliches Erlebnis ganz anderer Art.

Der Schnapsverkauf war seit Kriegsbeginn in ganz Rußland verboten. Nur die Hotels erster Gilde machten eine Ausnahme. Wenigstens in Tiflis. In den russischen Blättern wurde das als eine heroische und moralische Tat ersten Ranges gepriesen, die dem größten Sieg über die Deutschen nicht nachstehe. Wer Rußland auch nur ein wenig kennt, ist geneigt, in diesem Falle der russischen Presse einmal recht zu geben. Nur munkelten Skeptiker gleich, das Schnapsverbot habe gar nichts mit der Moral zu tun, sondern mit der Furcht vor militärischen Ausschreitungen. Gleich in den ersten Tagen hätten betrunkene Soldaten ihre Offiziere überfallen, verprügelt und gar manchen totgeschlagen und erschossen. Daher die Abstinenz.

Als nun der Krieg ungefähr zwei Monate alt war und das russische Staatsbudget unter dem Ausfall der Schnapseinnahmen immer jämmerlicher dreinsah, entschloß sich die Regierung, es wieder einmal für einen Tag mit dem Schnapsausschank zu probieren.

Gegen Abend kam eine ganze Reihe unserer Soldaten in einer ganz unglaublichen Verfassung in die ›Reserve‹ zurück. Sie waren schwer betrunken, laut, johlten und zeigten sich jedem Krakeel geneigt. Der Feldwebel trat ihnen entgegen, aber die Stimmung gegen ihn wurde so gefährlich, daß er es vorzog, zu verduften. Seine Uniform wirkte jetzt auf die Leute wie das rote Tuch auf den Stier. Sie hätten ihn jämmerlich verprügelt, wäre er ihnen nicht aus den Augen gegangen. Es herrschte in den Betrunkenen eine so helle Wut gegen alles Militärische, dem allein sie die Schuld gaben, daß sie hier herumfaulenzen mußten, um sich am Ende doch noch in Polen totschlagen zu lassen, daß einfach nichts dagegen zu machen war. Endlich gelang es uns Deutschen, uns Uniformlosen, die meisten wenigstens so weit zu beruhigen, daß wir sie zu Bett bringen konnten. Jeden Augenblick konnte der Hauptmann zum Abendappell erscheinen, und wenn die Krakeeler dann noch auf den Beinen waren, war der Skandal unvermeidlich.

Der Hauptmann erscheint und läßt die Soldaten wie immer zum Appell antreten. Namenaufruf. Eine ganze Anzahl fehlt und wird vom Feldwebel als krank gemeldet. Der Hauptmann weiß wohl schon, was los ist.

Da erscheint eine schwankende Gestalt in Uniform aus der einen Soldatenstube und torkelt langsam, aber sicher auf den Hauptmann zu. Es ist zu spät, den Mann wieder beiseite zu schaffen. Er tritt dicht vor den Hauptmann hin und sagt: »Schlagen Sie mich doch, Ew. Hochwohlgeboren!« Der Hauptmann stellt sich taub und wendet sich zum Feldwebel. Wir stehen an unserer Zimmertür und sehen, beide werden blaß. Der Krakeeler gibt keine Ruhe und drängt wieder in den Hauptmann und brüllt diesmal so laut er kann: »Schlagen Sie mich doch, Ew. Hochwohlgeboren!« Und nun kommen noch mehr Betrunkene aus den Stuben und dringen mit drohenden Gebärden auf den Hauptmann ein.

Er retiriert im Nu in sein Bureau, schließt die Tür ab und läßt den Vorhang herunter. Sie hätten ihn niedergeschlagen, wäre er geblieben.

Am anderen Morgen erscheint er ungewöhnlich früh, läßt die ganze Gesellschaft vor seinem Bureau im Gang antreten, hält ihnen eine lange Pauke und diktiert dem Hauptkrakeeler fünf Tage Arrest zu.

Lautes Murren, drohende Haltung aller Soldaten, aller, obgleich sie alle wieder nüchtern sind.

Der Hauptmann retiriert wieder in sein Bureau. Die Unteroffiziere und der Feldwebel verhandeln zwischen den Soldaten und dem Hauptmann.

Aber die Soldaten bestehen darauf: »Er muß das zurücknehmen. Wir dulden nicht, daß ein Kamerad wegen gestern bestraft wird. Sonst!«

Und der Hauptmann nimmt die Strafe zurück und macht, daß er fortkommt.

Auf der Treppe, die vom ersten Stock zu den Parterreräumen und damit zum Hofe führt, macht der Tilsiter, der voranmarschiert, plötzlich halt und weist mit einem diabolischen Grinsen zur Wand. Da steht, wie überall in Räumen, wo Militär untergebracht ist, in riesigen russischen Lettern auf einer großen Tafel weithin zu lesen: » Über alles die Disziplin


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