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Wenn wir gestorben sind

Wenn wir gestorben sind – –

Von Frédéric Boutet

Wie eine Erinnerung an die Hitze des Sommers lag selbst in der Novembernacht eine laue, drückend schwere Luft über dem großen Friedhofe. Der Himmel war durch bleifarbene Wolken verdüstert. Der Duft verwelkter Blätter erfüllte die Luft.

Ein feuchter, sich immer mehr verdichtender Nebel stieg von der Erde auf, er hing sich in phantastischen Formen in die verschnittenen Taxushecken, an die Spitzbögen der Leichensteine und die künstlerisch ausgestatteten Kapellen. Die Alleen waren sauber, die Rasen grün, die Bäume wohl gepflegt und beschnitten. Der Friedhof machte einen so eleganten und reichen Eindruck, daß es wirklich Freude machen mußte, ihn zu sehen. Nur wenige verlassene Gräber beleidigten das Auge durch ihren kläglichen Verfall.

Von einem durch das nächtliche Dunkel und den bleichen Nebel fast ganz verhüllten Glockenturme schlug die Uhr zwölfmal.

»Endlich kann man ausgehen,« murmelte ein großes Skelett, die Tür einer kleinen Kapelle mit lila Glasfenstern öffnend.

Mit der rechten, mit einem kostbaren Siegelring geschmückten Hand zog es sein Leichentuch fester um das Schlüsselbein und schritt dann langsam und mit diskretem Klappern seiner Knochen durch die Allee der Aristokraten, in der es wohnte.

»Ich hätte wohl Lust,« sagte es, sich behaglich streckend, »mal meinen lieben Freund St. Firmin zu besuchen; seit er bei Gelegenheit des in letzter Woche stattgefundenen Festes sein Darmbein verloren hat, ist er sehr verstimmt und man sieht ihn nirgends, mein Besuch – – Aber halt! was ist das?«

Es blieb bestürzt stehen. Es befand sich am Fuße der großen Umfassungsmauern, über die in diesem Augenblick ein mit einer schwarzen Hose bekleidetes Bein glitt, während daneben zwei sich festhaltende Hände sichtbar wurden; im nächsten Augenblick hatte sich dann die ganze Gestalt eines jungen Mannes in Trauerkleidern über die Mauer geschwungen, an der er mit leisem Geräusch herunterrutschte und sachte unten auf den Boden fiel, ohne das Skelett zu bemerken, das zurückgewichen war und sich zu verbergen strebte. Der junge Mann war kaum wieder aufgestanden, als das Skelett, ohne sich zu besinnen, vorsprang und ihn am Kragen packte. Der Jüngling in Trauerkleidern bekam einen furchtbaren Schrecken – er wich zurück, riß die Augen weit und entsetzt auf – wollte schreien, konnte es jedoch nicht und fiel ohnmächtig zu Boden.

»Nun, was fällt dem dummen Jungen denn ein,« brummte das Skelett einigermaßen verlegen. »Ach, in jener Urne hat sich gottlob etwas Wasser gesammelt.«

Es benetzte ihn damit und schlug ihn ein paarmal kräftig auf die Hände. Der andere kam wieder zu sich, stand auf und wollte entfliehn, aber die kräftige Faust des Skeletts hielt ihn fest.

»Nein, mein Herr,« sagte es in trockenem Tone, »Sie bleiben jetzt, wenn es Ihnen gefällig ist. Halten Sie es für anständig, in solcher Weise in Privatbesitzungen einzudringen? Was führt Sie hierher?«

Aber der junge Mann sah ihn mit offenem Munde an und war unfähig zu sprechen.

»Vorwärts, mein Herr, antworten Sie mir auf der Stelle,« befahl das Skelett, das sich seines guten Rechtes bewußt war, ein wenig die Ruhe verlierend. »Zwingen Sie mich nicht, Sie der Polizei zu übergeben. Gestehen Sie! Aus welchem Grunde sind Sie wie ein Dieb über die Mauer geklettert? Geschah es, um die Ruhe der Toten zu stören? Ist es die Habsucht, die Sie an diesen geheiligten Ort führt und wollen Sie uns berauben? Oder sollte es pietätlose Neugierde sein, die Sie dazu drängt, alle Schicklichkeit zu vergessen und sich selbst in Gefahr zu begeben? So reden Sie doch! Sind Sie ein Spion? Das wäre allerdings infam! Ist es nicht genug damit, daß Sie und Ihresgleichen den ganzen Tag über die Freiheit haben, hierher zu kommen und uns zu langweilen, ohne zu bedenken, daß Ihre schmutzige Gegenwart uns verhindert, aus dem Grabe hervorzugehen? Könnt Ihr uns nicht wenigstens des Nachts in Ruhe lassen. Seit wann sind die dickbäuchigen Barbaren dazu berechtigt, nachts die Mauern zu überklettern, um ästhetisch magere Leute zu beunruhigen? Sie, elender Fleischhaufen, was suchen Sie hier? Wollen Sie die Wohnungen der Toten schänden? Reden Sie, geben Sie Antwort! Schnell – oder – oder – ich stoße Sie mit dem Kopf gegen jene Urne – –«

Es schüttelte ihn kräftig.

»Gnade! Erbarmen! Haben Sie doch Mitleid mit mir, mein Herr,« stotterte der junge Mann in Trauer, sich dem Skelett zu Füßen werfend. »Jagen Sie mich nicht weg, seien Sie barmherzig! Ich wußte es nicht, haben Sie Mitleid mit einem Unglücklichen, einem Verzweifelnden! Ich hatte eine Braut, sie war der Stern meines Lebens, ich betete sie an –. Und sie starb, mein Herr, starb unmittelbar vor der Hochzeit. Ach, und ich blieb zurück, trunken vor Liebe und wahnsinnig vor Schmerz. Es drängte mich, fern von allen profanen Augen auf ihrem Grabe zu knien und die Erde zu küssen, in der sie ruht. Seien Sie also barmherzig, gutes Skelett! Zu Ihren Füßen kniend, bitte ich Sie, mich zu ihr zu führen, um auf ihrem Grabe zu weinen. O mein Gott, mein Gott!«

Und er benetzte die Füße des Skeletts, das sichtlich gerührt war, mit heißen Tränen.

»Nun, nun, mein armer Junge,« sagte es in väterlichem Tone, »beruhigen Sie sich. Ich verzeihe Ihnen, ja, ganz gewiß, ich verzeihe alles – denn die Liebe. Sehen Sie, im Grunde ist es ja nicht der Mühe wert, sich ihretwegen aufzuregen – aber die Liebe! Teufel auch, die Liebe. Kommen Sie, kommen Sie, junger Mann, ich werde Sie führen. Ja, ja, mein Freund, die Liebe.«

Es räusperte sich, als ob er seine Kehle reinigen wollte oder vielleicht auch, um seine Rührung zu verbergen.

»Danke, danke, mein Herr,« schluchzte der ganz in Tränen aufgelöste Jüngling.

»Beruhigen Sie sich also, beruhigen Sie sich,« und das Skelett zog ihn sanft vom Boden auf. »Ich willige ein, Sie zum Grabe Ihrer Geliebten zu bringen, obwohl ich meine Pflicht dadurch verletze, denn es ist nicht erlaubt. Lebende in unsere Kreise einzuführen. Ich muß Ihnen nämlich gestehen, und Sie dürfen mir meine Offenheit nicht übel nehmen, daß die Gesellschaft der Lebenden bei uns ziemlich verpönt ist und für nicht gerade fein gehalten wird. Was ihnen fehlt, ist die herbe Schönheit der Linien – es ist das viele Fleisch, das sie umgibt, und sie so widerwärtig erscheinen läßt. Aber Ihr Kummer rührt mich und mit etwas List und Geschicklichkeit denke ich, wird es mir wohl gelingen, Sie für einen ›Neuangekommenen‹ auszugeben.«

»Ein Neuangekommener!« stotterte der junge Mann, »was wollen Sie damit sagen, gutes Skelett?«

»Nun, für einen Toten, der eben erst begraben worden, der seine leibliche Hülle, seine Schale, mit einem Worte, sein Fleisch noch nicht abgelegt hat. Gewöhnlich halten sich Leute, die sich in diesem Stadium befinden, besonders wenn sie auf einer höheren Bildungsstufe stehen, so still wie nur möglich und zeigen sich nicht. Es gilt nicht für sehr anständig, es zu tun.

Man vermeidet es gern, einen häßlichen und grotesken Eindruck zu machen und wartet daher, bis der Läuterungsprozeß vollendet ist und man in ebenso eleganter wie sauberer Gestalt sich in den Kreisen der Unsern vorstellen kann. Indessen ist es immerhin gestattet, in den allerersten Nächten, wenn man noch präsentabel ist, aus dem Grade herauszugehen, um Bekanntschaften zu machen und seine Karte abzugeben. Nachher aber – Teufel auch, da ist es wirklich gescheiter, man bleibt hübsch zu Hause. Furchtbar langweilig ist das ja, das ist wahr. Die Stunden fließen langsam dahin, wenn man so still in seinem Sarge liegt und wenn dann an langen Winterabenden der Regen unablässig tropft und langsam, langsam das Erdreich erweichend und den Deckel unseres Sarges durchdringend, sogar unser Leichentuch mit Feuchtigkeit erfüllt, während der Wind klagend durch die Äste der Bäume fährt. Nein, zum Teufel, das ist nicht lustig! Man wünscht dann wirklich, daß sie sich ein wenig beeilen möchten.«

»Wer? Sie?« frug der junge Mann.

»Sie – nun Sie wissen doch … Ich meine sie, die sich mit den Menschen beschäftigen, wenn kein anderer es mehr tut – ich meine jene kleinen fleißigen Arbeiter, die es sich angelegen sein lassen, unserer Figur ein elegantes Aussehen und feine schlanke Umrisse zu verleihen. Sie sind die richtigen kleinen Leichenräuber, die an uns herumknabbern und fressen, solange es etwas an uns zu knabbern und zu fressen gibt. Wie gern möchte man ihnen manchmal zurufen: Eilt euch doch ein wenig, aber das ist unmöglich. Langsam und unablässig vollbringen sie ihr Werk, ohne sich zu beeilen, aber auch ohne jemals zu rasten. Man fühlt es, wie sie unsere Muskeln aushöhlen, wie sie in unser Innerstes gleiten und wie sie sorgsam einen Knochen nach dem andern des Fleisches entkleiden und blank herausputzen; oh, das kitzelt, aber man wagt es nicht, auch nur ein Glied zu rühren, aus Furcht, sie in ihrer Arbeit zu stören. Im Leben hat man keine Zeit, ihrer zu gedenken, aber, meiner Treu, wenn man erst begraben ist, dann lernt man ihre Dienste schätzen; man kommt sogar dazu, sie ordentlich gern zu haben und sich zu freuen, wenn sie groß und fett werden, weil das ein Zeichen ist, daß ihre Arbeit gute Fortschritte macht.«

»Mein Gott,« seufzte der junge Mann, »wie grauenhaft ist das!«

»Aber gar nicht,« sagte das Skelett, »sie sind es, die uns dieser unangenehmen Lage entheben, in der wir nicht wir selbst, wo – wenn ich diesen Ausdruck gebrauchen darf, wir weder Fleisch noch Fisch sind. Ohne ihre treue Hilfe würden wir niemals repräsentationsfähig werden. Wie ich Ihnen schon gesagt habe, ist es daher ganz begreiflich, daß man rasch dazu kommt, ihnen gut zu sein, daß man ihre Arbeit mit Interesse verfolgt und berechnet, was ihnen zu tun noch übrig bleibt, den kleinen ohne Hast und Rast arbeitenden Werkmeistern. Aber ich wiederhole Ihnen, daß uns wirklich viel daran gelegen ist, daß dieser Läuterungsprozeß sich rasch vollziehe, weil die Sitte es erfordert, daß man während dieser ganzen Zeit das Grab nicht verläßt.

Es gibt ja leider immer noch ab und zu einige, die sich durch dieses ästhetische Gebot nicht gebunden erachten und selbst dann aus dem Grabe hervorgehen, wenn sie sich in der allerbedenklichsten Verfassung befinden. Aber vor denen schließen wir die Augen, das kann ich Ihnen sagen. Gewöhnlich sind dies sehr leidenschaftliche Naturen, wie z. B. Herr Honorus, kennen Sie ihn vielleicht!«

»Nein,« sagte der junge Mann.

»Ich meine Honorus aus der großen Fabrik: Honorus Wey u. Co., einer der Gründer. Er wohnt unter einem sehr kostbaren Monument, einer Kapelle, die mit vergoldetem Zierat überladen, aber sehr geschmacklos ist, obwohl sie sehr viel gekostet hat. Nun denn, dieser Herr Honorus ist vor kaum acht Monaten hergekommen, und schon ist er alle Abende draußen. Es ist das wirklich kein angenehmer Anblick, aber er hat sich in eine skandalöse Verbindung eingelassen, man begegnet ihm nur in der Allee der Freudenmädchen.«

»Was?« frug überrascht der junge Mann.

»Nun ja; das scheint Sie zu überraschen! Aber es ist wirklich so. Er gehört zu jenen Leuten, die es nicht abwarten können, bis sie in der geläuterten Gestalt erscheinen können, die hier in feinen Kreisen unerläßlich ist – sie suchen dann eben ihr Vergnügen anderswo … Ich beklage wirklich die Unglücklichen, die – – Selbstredend schadet ein solches Treiben seinem Rufe, in der guten Gesellschaft wird er einfach kalt gestellt. Wir aber, wir der Aristokratie angehörenden Toten, sind es unserer Stellung schuldig, uns reserviert zu benehmen. Ganz gewiß sind auch wir dem Vergnügen nicht abhold, aber wir beobachten stets gewisse Formen … Aber ich sehe, mein lieber Herr, daß Sie sich etwas beruhigt haben, es war dies der einzige Zweck meines Plauderns. Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir nun aufbrechen. Erlauben Sie jedoch vorher, daß ich mich Ihnen vorstelle: Baron La Rose, aus der zweiten Allee links; ich bewohne die mit lila Glasfenstern versehene Erbkapelle, die im Jahr 1820 wieder renoviert wurde … oh, in ziemlich bescheidener Weise, denn die Revolution, Sie wissen … Ich werde Sie als einen meiner jungen Verwandten vorstellen.«

»Ich bin der Vicomte Adhémar de Léonce,« seufzte der junge Mann.

»Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, freut mich sehr, lieber Herr; wenn ich nicht irre, besteht zwischen unseren Familien von mütterlicher Seite her eine Verwandtschaft? Die gut Gestorbenen – Verzeihung – zu Ihnen muß ich wohl sagen die vornehm Geborenen finden immer Beziehungen zueinander. Wenn es Ihnen also recht ist wollen wir jetzt …«

»Auf ihrem Grabe weinen, o ja, das will –« und der arme Adhémar fing wieder zu schluchzen an.

»Gestatten Sie mir zunächst die Frage, um wen es sich eigentlich handelt,« unterbrach der Baron ihn sanft.

»Ach, Verzeihung, das ist wahr,« seufzte der junge Mann, »Louise … Louise de Rivière … o mein Gott, wenn ich denke, daß sie ein Raub der Schrecken des Grabes geworden ist.«

»Oh,« sagte das Skelett, »ich weiß, wo sie liegt, es ist in der Südallee, ganz nahe bei dem an den Taxushecken stehenden großen Kreuze. Sie ist von sehr guter Familie, die Grabkapelle besteht aus Granit und Porphyr und ist ebenso solid wie geschmackvoll hergerichtet. Brechen wir also auf – – aber – zum Teufel – Ihre Haltung, mein Herr – Bah, so etwas kommt zuweilen vor. Eins aber möchte ich Ihnen doch raten: halten Sie die Augen halb geschlossen. Ihr Blick ist zu lebhaft – – –«

Sie gingen die Hauptallee entlang, wandelten langsamen Schrittes durch diese stille Stadt, die durch den leichten auf und ab wallenden Nebel ein ganz heiteres, beinahe lebendes Aussehen gewann. Sie begegneten vielen andern Skeletten die irgendeinem Ziele zuzustreben schienen. Andere rauchten und schlenderten langsam und wie in Träume verloren dahin, oder sie ließen sich auch wohl auf alten eingesunkenen Grabplatten nieder, deren verwischte Inschriften sie zu enträtseln versuchten, während ihre blanken, wie poliert aussehenden Schädel durch das ungewisse Licht schimmerten und die Silhouette ihrer grotesken Gestalt sich geisterhaft von dem bleifarbenen Nebel abhob. Hier und da waren Spielpartien arrangiert; man spielte Bakkarat, Poker und Bridge, und die Spielenden waren von einem Kreise von Zuschauern umgeben, die den Gang des Spieles aufmerksam verfolgten und Wetten eingingen, welche Partei gewinnen würde. Amateur-Wettläufer liefen um ein großes Gewölbe herum. An der Schwelle einiger der elegantesten Grabkapellen, die mit immergrünen Pflanzen reich geschmückt waren, empfingen die Herren des Hauses die elegante Welt ihrer eingeladenen Gäste. Ihre Schädel waren von Immortellenkränzen umgeben und köstliche Leichentücher umhüllten ihre Skelette. Vor einem eingesunkenen Gewölbe saß eine ganze Gesellschaft Spielender im Kreise, die mit einer runden Platte das damals bei den Lebenden beliebte Spiel des Deckeldrehens nachäfften. Hier und dort spielten von ihren Bonnen oder Müttern beaufsichtigte Kinder fröhlich umher. Ein Trupp munterer Gesellen ging, lustig mit den Knochen klappernd und ein Liedchen trällernd des Weges entlang, während sich zwischen den Bewohnern eines provisorischen Begräbnisplatzes ein sehr heftiger lauter Wortwechsel entspann, um den sich rasch eine Gruppe neugierig Horchender bildete.

Weit ab von diesem Treiben, dort, wo die alten Zypressen dichten Schatten spendeten und an den Gewölben entlang die schön gepflegten grünen Rasenflächen sich erstreckten, huschten hier und dort vorsichtig und ohne das geringste Geräusch zu verursachen, verliebte Schatten hin und her, die sich rasch der eine zum andern fanden. Die Leichentücher, in die sie gehüllt waren, trugen die Farbe der Mauern, und sobald sich ein Pärchen gefunden, zog es sich mit verschlungenen Armen in das schützende Dunkel der Alleen zurück, oder sie verschwanden auch wohl hinter der verschwiegenen Türe einer noch unbewohnten Kapelle oder eines verlassenen Mausoleums.

Der junge Mann in Trauer schien offenbar sehr überrascht von allem, was er hier sah, aber das liebenswürdige Skelett, dem offenbar daran gelegen war, seinen Schützling soviel wie möglich in die hier herrschenden Verhältnisse einzuweihen, damit er die Rolle eines Neuangekommenen mit einiger Wahrscheinlichkeit durchzuführen vermöge, erklärte ihm alles in freundschaftlicher Weise, während es die ihm begegnenden bekannten Skelette stets höflich grüßte.

»Das Viertel, durch das wir jetzt kommen werden,« sagte es, »gilt für besonders schick, elegant und reich; hier befinden sich die schönsten Monumente, um deretwillen Fremde den Friedhof besuchen. Dort an der linken Seite hausen die Großkaufleute, die Herren von der Bank und der Industrie. Das Viertel, aus dem wir kommen und in dem ich wohne, ist das Hauptquartier der Aristokratie, und es ist daher nur natürlich, daß es dort sehr exklusiv hergeht. Es ist das Faubourg St. Germain unseres alten Friedhofes. Die Bewohner desselben erkennen sich sofort an einer gewissen Feinheit des Tones und der zurückhaltenden Vornehmheit ihrer Manieren. Wir legen ganz besondern Wert auf die zarte Schönheit unsrer Extremitäten. Sie gilt für das Zeichen vollendeten Aristokratentums. Die Gräfin von Talk, die neben mir wohnt, ist wirklich berühmt wegen der göttlich schönen Feinheit ihrer kleinen Knöchelchen. Sie ist ja überhaupt eine hervorragend reizende Dame, und sie hat die schönsten Zähne der Welt. Aber erst ihre Hände! Ach, mein Lieber, diese Hände, das ist ein Traum. Sie gleichen einem köstlich durchbrochenen Kunstwerke von grünlich weißem Elfenbein. Wir sind sehr intim miteinander, und ich bin stolz darauf. Die liebe Gräfin hat mir gestanden, daß das Interesse, das sie für mich empfindet, zuerst beim Anblick meines Fußes in ihr erwacht sei. Ja, mein Lieber,« (hier lächelte das Skelett mit verschmitzter Miene). »Es ist übrigens nur die Wahrheit, mein Fuß ist wirklich sehr schön. Teufel auch! Daran erkennt man die feine Herkunft! Der Fuß eines Kavaliers, wissen Sie!« Und er streckte einen wirklich tadellos gebildeten Fuß unter seinem Leichentuche hervor, der außerordentlich elegante und hübsche Zehknöchelchen hatte.

»Ja, ja,« sagte der junge Mann in Trauer, der seinen Augen nicht traute und zu träumen wähnte.

»Hier«, so fuhr das Skelett fort, »ist überhaupt der Rang alles. Wir nehmen hier dieselbe gesellschaftliche Stellung ein, die wir früher im Leben bekleideten. Ein Edelmann ist und bleibt eben für alle Zeit ein Edelmann, ein Reicher bleibt auch hier ein reicher Mann. Der Demokratie ist es bis jetzt noch nicht gelungen, festen Fuß bei uns zu fassen, das heißt, ich spreche hier nur von den den vornehmen Kreisen angehörenden Leuten. Bei den Plebejern jedoch, die dort hinaus wohnen –« es deutete ein wenig verächtlich mit dem Daumen über sein Schulterbein weg und nach der nördlichen Seite des Friedhofes hin, »werden, wie man sagt, anarchistische Versammlungen abgehalten, in denen erklärt wird, die Rechte der vornehmen Geburt und einer hohen gesellschaftlichen Stellung verfielen mit dem Leben, im Tode seien alle Menschen gleich, und ähnliche Dummheiten. Aber das ist ganz belanglos, denn diese Art von Individuen zählt überhaupt nicht mit. Oh, wenn man die nur an sieht, bekommt man genug davon. Sie sehen einfach scheußlich aus, so scheußlich, daß man ihnen sogar die Lebenden vorzuziehen geneigt wäre. Sie haben nicht einmal so viel erreicht, daß jeder ein besonderes Logis hat, und sie hausen in gemeinschaftlichen Wohnungen, hocken haufenweise in wahren Löchern, in deren Schmutz und Unrat sie sich jedoch gefallen. Es ist kaum zu glauben, aber nichtsdestoweniger wahr, daß sie nicht den geringsten Anstand beobachten, sich betrinken und untereinander raufen und schlagen, vor allem aber, daß sie die üble Gewohnheit haben, einer dem andern die Knochen wegzustehlen, um das eigne Skelett zu komplettieren. Es gibt alte Skelette dort, die sich so viel herumgebalgt haben, daß ihnen schließlich auch kein einziger ihrer eigenen Knochen übriggeblieben ist. Das gibt da kein wohl konserviertes Skelett mehr, jedes einzelne besteht aus einem Sammelsurium von wenigstens zwanzig verschiedenen Knochenarten, man weiß einfach nicht, mit wem man redet, jeder Knochen hat einen anderen Ursprung. Sie verbringen ihre Zeit damit, sich gegenseitig zu beschuldigen, zu zanken, sich gegen die bestehende Ordnung aufzulehnen und dagegen zu protestieren. Von ihren schmutzigen Grabhügeln herab lieben sie es, prahlerische Reden zu halten, die Souveränität des Volkes zu proklamieren, zu erklären, daß wir sie unterdrücken, zu viel Raum einnehmen, daß ihre Existenz dadurch unmöglich geworden und es für sie besser gewesen wäre, wenn sie niemals gestorben wären.«

»Unterdessen prostituieren sich ihre Töchter in den dunklen Ecken, ihre Kinder spielen Ball mit Schädeln, die vielleicht ihren Ahnen angehört haben. Wie profan ist ein solches Treiben! Freilich, es ist ja wahr, daß solche Leute keine Ahnen haben. Glücklicherweise sind sie durch den Willen einer starken Autorität an ihr Revier gefesselt, wenn das nicht wäre, könnten wir das Schlimmste befürchten. Ab und zu machen wir inkognito und tief verhüllt Ausflüge in jene Regionen, es geschieht meistens, um unsere Damen zu begleiten – Sie wissen ja, hübsche Frauen haben oft seltsame Gelüste und Einfälle. Aber es herrscht dort wirklich ein zu gemeiner Ton, ich für meine Person werde nicht mehr hingehen. Es ist außerdem ein so beschämendes Gefühl, sich sagen zu müssen, daß unsre wohlgepflegten eleganten Knochen doch im Grunde aus derselben Materie bestehen, wie die dieser Plebejer …«

»Ach, guten Abend, mein lieber Saint-Firmin, nun, haben Sie sich endlich entschlossen, wieder auszugehen?«

Der Baron blieb stehen, um einem großen, sehr sympathisch aussehenden Skelette herzlich die Hand zu drücken. Es war in ein sehr elegantes Leichentuch gehüllt und folgte, behaglich seine Zigarre rauchend, mit sichtbarem Interesse den Spuren eines andern weiblichen und offenbar jungen Skelettes, dessen kokett aufgeschürztes Grablinnen feingebildete Wadenknochen enthüllte.

»Aber ja doch, ja doch,« antwortete das große Skelett. »Ich habe glücklicherweise mein verloren gewesenes Darmbein wieder gefunden; denken Sie nur, die kleine Schelmin, die Clara, hatte es versteckt, um mich zu necken. Aber wie warm es heute abend ist,« fügte es hinzu, mit dem Zipfel seiner Umhüllung das Scheitelbein fächelnd.

»Und dabei welch ein Nebel! Gut, daß wir keine Luftröhren mehr haben, was!« bemerkte munter der Baron, worauf sein Freund so herzlich lachte, daß ihm alle Knochen klapperten.

»Erlauben Sie, lieber Freund,« nahm La Rose dann das Gespräch wieder auf, »erlauben Sie, daß ich Ihnen einen Neuangekommenen vorstelle; es ist Herr Adhémar de Léonce, einer meiner Verwandten und ein hervorragend liebenswürdiger junger Mann.«

»Freut mich, freut mich wirklich sehr,« sagte das große Skelett verbindlich, sich höflich vor dem jungen Manne verneigend und ihm die rechte Hand reichend, die Adhémar nicht ohne einen gelinden Schauder drückte. »Ich bin entzückt, Sie in unsrer Mitte begrüßen zu dürfen. Lieber Baron, Sie müssen unbedingt Ihren jungen Freund mit zu dem Zwölf-Uhr-Tee der Gräfin von Talk nehmen; er wird dort die Elite der Gesellschaft versammelt finden, und wir werden uns dort wiedersehen.«

»Zweifellos,« erwiderte der Baron, »ich will Sie nicht länger aufhalten, lieber Freund.«

»Ach, ich würde mich Ihnen mit Vergnügen anschließen, aber – Sie müssen mich heute schon entschuldigen – Ich habe nämlich einen Fund gemacht, ich sage Ihnen, mein Lieber, ich habe eine ganz entzückende Kleine aufgetan; sie ist zweifellos eine Plebejerin – aber so fein und leichtfüßig; ihre Knochen erscheinen wie poliert, und dabei tut sie so spröde, wirklich, ich fürchte, sie entschlüpft mir.«

Und sich mit höflicher Verneigung verabschiedend, nahm er eilig die Verfolgung der reizenden Gestalt wieder auf, die übrigens keineswegs so unerreichbar und spröde zu sein schien, wie Herr von Saint-Armin glauben machen wollte.

»Es ist wirklich ein famoser Mensch,« sagte der Baron, »immer noch jugendfrisch, verliebt und stets mit irgendeinem galanten Abenteuer beschäftigt. Dabei stets vornehm und ritterlich. Oh, er nimmt den Tod von der heitern Seite, und er hat recht, es zu tun. Kommen Sie, mein Lieber, wir wollen seinen Rat befolgen und zu der Gesellschaft der Gräfin von Talk gehen. Sie werden sehen, daß Sie sich dort nicht langweilen werden. Aber ich vergaß: verzeihen Sie, daß ich Ihnen von Vergnügungen sprach, während Ihr Herz unter der Last eines großen Schmerzes seufzt.«

Sie gingen eine kleine Weile schweigend nebeneinander her. Das Skelett schien mir seinem Lose sehr zufrieden zu sein, obwohl es volles Verständnis für das Leid seines Schützlings hatte. Dieser schien ganz in Gedanken verloren zu sein, die aber offenbar nicht sehr heiterer Natur waren.

»Verzeihung,« frug ihn plötzlich das Skelett, wenn ich Sie an Ihren Kummer erinnere, aber ich möchte gern wissen, wie lange es her ist, daß Ihre Braut in das Reich der Toten eingetreten ist, ich erinnere mich dessen nicht mehr ganz genau?«

»Vor zwölf Tagen,« seufzte der junge Mann. »Ich war verreist, als das Unglück passierte, und habe es erst bei meiner Rückkehr erfahren. Ich war so verstört davon, daß man für meinen Verstand fürchtete und mich keinen Augenblick unbeobachtet ließ. Erst heute abend ist es mir geglückt, mich unbemerkt zu entfernen. Aber weshalb stellten Sie mir diese Frage?«

»O – aus keinem besondern Grunde – aber Sie wissen doch, die Frauen – – – und da Ihre Braut doch unmöglich hoffen konnte, Sie so bald wieder zu sehen – –«

»Was wollen Sie damit sagen,« frug Adhémar in gequältem Tone.

»Mein Gott, das ist eine delikate Angelegenheit – Ich kann mich ja irren – aber ich möchte Ihnen unter allen Umständen neuen Schmerz und möglicherweise eine Enttäuschung ersparen. Sehen Sie, es ist doch nur ganz natürlich, daß das junge Mädchen denkt, wenn Sie ihr überhaupt zu folgen beabsichtigten, würden Sie dies gleich getan haben – da dies nun nicht geschehen ist, wird sie wohl annehmen, daß Sie früher oder später bei einer Lebenden Trost finden würden. Da könnte es also ganz gut sein – man langweilt sich, wenn man nichts zu tun und kein Interesse hat – – – und es fehlt hier wirklich nicht an Tröstern, die ihr Handwerk von Grund aus verstehen, ganz besonders, wenn es sich um hübsche Neuangekommene handelt.«

»Das ist unmöglich! Ich bin ihrer sicher,« erklärte schnell der junge Mann.

»Um so besser, um so besser,« sagte der Baron mit skeptischem Lächeln. »Jedenfalls hielt ich es für richtig. Sie auf eine solche Möglichkeit aufmerksam zu machen. Halt,« sagte er dann, seinen Begleiter auf ein melancholisch aussehendes junges Skelett aufmerksam machend, das eine in einer einsamen Allee gelegene festgeschlossene Kapelle umstreifte. »Das ist auch ein Unglücklicher, der um seiner Liebe willen leidet.«

»Oh,« sagte Adhémar, teilnahmsvoll den ihm bezeichneten Unglücklichen ansehend, »hat seine Braut ihn verlassen?«

»Nein, wenigstens nicht so ganz; aber das ist wirklich eine traurige Geschichte, die wieder mal klar zeigt, wie sehr selbst das wärmste Gefühl durch eine längere Trennung beeinflußt werden kann. Er ist es, der seine Braut verlassen hat, indem er schon vor ein paar Jahren gestorben ist. Er ist hier immer traurig gewesen und hat bitterlich darüber geklagt, daß er das Mädchen, das er so heiß liebte, in dem entwürdigenden Kerker zurücklassen mußte, den man die Welt der Lebenden nennt. Er war eifersüchtig und litt namenlose Qualen bei dem Gedanken, daß sie ihn vielleicht vergessen und einen andern lieben könne. Sehen Sie, solche Gefühle sind hier geradezu schrecklich, weil sie zwecklos sind … Ich bin gewiß, wenn er es nur gekonnt hätte, würde er seine Braut ermordet haben, um sie hier für sich haben zu können.

Glücklicherweise erfuhr er dann durch einige Neuangekommene, zu denen er Beziehungen hatte, daß seine Braut ihm treu geblieben, sie hatte der Welt entsagt und war in ein Kloster eingetreten. Das war natürlich eine große Erleichterung für den armen Jungen, er harrte der Geliebten mit heißer Sehnsucht, ohne jedoch soviel dabei zu leiden, wie im Anfang. Es dauerte übrigens nicht so sehr lange, denn nach kurzer Zeit starb auch sie. Als der Begräbniszug sich näherte und er erfuhr, daß es seine Braut sei, die der Erde übergeben werden sollte, da kannte seine Freude keine Grenzen mehr. Aber das junge Mädchen hat, wie es scheint, ihre religiösen Pflichten allzu ernst genommen, denn als sie ihren Freund hier wiederfand, wollte sie seine Liebe nicht erwidern. Sie liebe ihn wie eine Schwester, sagte sie, aber in keiner andern Weise. Seitdem ist nun der arme Junge der Raub einer schrecklichen Verzweiflung geworden, und er will sich durch nichts von seinem Kummer ablenken lassen. Alle Tage, wieder und immer wieder irrt er in der Nähe ihrer Kapelle umher. Sie öffnet ihm niemals – es kann ja sein, daß sie fürchtet, wenn sie ihn hereinließe, würde sie sich dennoch von seiner Liebe rühren lassen – jedenfalls gewährt sie ihm nicht mehr, als eine gelegentlich kleine Unterhaltung durch das Gitterfenster ihrer Wohnung. Er bestürmt sie mit leidenschaftlichen Liebeserklärungen, fleht sie an, doch Mitleid mit ihm zu haben und auch ihn ein wenig, ach, nur ein klein wenig lieb zu haben. Sie aber läßt sich nicht rühren und ermahnt ihn, seine Leidenschaft zu besiegen und einen resignierten tugendhaften Tod zu führen … Aber stille, er kommt auf uns zu.«

Das junge Skelett, das, ohne auf seine Umgebung zu achten, traurig seinen Weg fortsetzte, kam wirklich gerade auf die beiden zu.

»Nun, mein armer junger Freund,« sagte der Baron teilnahmsvoll und leicht mit den Fingerknöcheln sein Armbein berührend, »wie geht es? Sind Sie immer noch so unglücklich!«

»Ach! ich werde noch meinen Schädel darüber verlieren,« sagte das junge Skelett in gequältem Tone. »Ich liebe sie zu sehr! Ich verehre und bete sie an, ich liebe sie bis zum Wahnsinn! Ganze Stunden verbringe ich vor dieser verfluchten und mir doch so unendlich teuern Türe, die sich mir nicht öffnen will. Ich verzehre mich in Sehnsucht – aber ich flehe sie vergebens an, sich meiner zu erbarmen. Sie ist unerbittlich, bleibt immer ruhig, kalt und gefühllos, oh, und dabei ist sie so hübsch, so hübsch! Manchmal, wenn der Mondschein durch die Glasscheiben ihrer Kapelle fällt, erkenne ich deutlich ihre schlanke, elegante und stolze Gestalt, und ich sehe, wie die Strahlen des Mondes zärtlich ihre blankpolierten elfenbeinweißen Knochen umschmeicheln und küssen. Ach, ich würde die Welt darum geben, wenn ich nur den Saum ihres Leichentuches berühren dürfte! Ihre Zähne schimmern blendend weiß und mit berückender Schönheit, und das geheimnisvolle Dunkel ihrer großen leeren Augenhöhlen erscheint mir wie ein göttlicher Abgrund, in den meine Leidenschaft sich versenken möchte, um mit immer erneuter Kraft und Glut daraus hervorzugehen. Ich kann sie nicht vergessen und ich versuche vergebens, ihr zu entfliehen oder sie zu erweichen! O diese Qual! Ich sage Ihnen, sie hat kein Herz, während ich, ich,« und er schlug sich verzweifelnd auf die linksseitigen Rippen. »Ach, ich wollte, es wäre alles noch wie früher, als ich allein hier war und ihrer harrte, damals besaß ich wenigstens das Glück der Hoffnung. Vorgestern habe ich einen mißglückten Versuch gemacht, mich zu erhängen. Ach, ich sehne mich in das Leben zurück, da konnte man sich doch im schlimmsten Falle den Tod geben.«

Die Aufregung des Unglücklichen hatte sich durch diese Aussprache doch einigermaßen gelegt; er entfernte sich ruhig, wenn auch tief niedergeschlagen. Er setzte sich auf ein düster aussehendes Grab, löste sein linkes Schienbein, das er durchbohrt und wie eine Flöte hergerichtet hatte und begann darauf eine melancholische und einschmeichelnd zärtliche Melodie zu blasen.

»Das ist das Lied, das beide zur Zeit ihres Lebens und Liebens am liebsten hörten,« sagte der Baron leise zu seinem bis zu Tränen gerührten Begleiter.

Sie entfernten sich langsam und den allmählich verklingenden klagenden Tönen lauschend.

»Haben wir unser Ziel bald erreicht,« fragte Adhémar mit matter Stimme.

»Ja,« sagte der Baron, »der Weg mit den großen Taxushecken liegt links, gleich am Ende dieser Allee.«

»Mein Gott, mein Gott,« seufzte der junge Mann, »ihr Grab! – Ich soll sie wieder sehen!«

»Nehmen Sie sich in acht,« sagte plötzlich das Skelett mit leiser Stimme, »schnell verstecken wir uns hier.«

Adhémar ließ sich von dem Baron in den tiefen Schatten einer hohen Kapelle ziehen. Im selben Augenblicke stürzte aus dem nächsten in die Allee mündenden Seitenwege ein rasendes halbnacktes großes Skelett, das unter entsetzlichem Geschrei mit einer Eisenstange, die es in den Händen hielt, in der Luft umherfuchtelte.

»Ich lebe noch,« heulte es verzweifelnd. »Ich lebe ja noch, um Gottes willen! Zu Hilfe! Zu Hilfe! Ich lebe noch!«

Seine Waffe schwingend und unartikulierte Töne ausstoßend, raste es in toller Eile dahin, während zwei andere Skelette, die offenbar zu seiner Verfolgung ausgesandt waren, hinter ihm drein jagten.

»Was bedeutet das,« sagte Adhémar zitternd.

»Es ist ein Wahnsinniger,« antwortete der Baron la Rose, »ein sehr gefährlicher Wahnsinniger, den seine Wärter wieder festzunehmen suchen. Gehen wir schnell weiter.«

Sie schritten rasch durch die Allee.

»Wie Sie es eben selbst vernommen haben,« sagte der Baron, »wird er von der fixen Idee verfolgt, noch am Leben zu sein. Nun passiert es uns allen, besonders in der ersten Zeit unseres Hierseins mitunter, daß wir träumen, wir wären noch lebendig und ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, kann ich Ihnen versichern, daß ein solcher Traum wie der schwerste Alpdruck auf uns lastet. Aber dieser Unglückliche glaubt auch im Wachen lebendig zu sein, er ist eben vollständig wahnsinnig. Es ist ja freilich wahr, daß er eine furchtbar harte Prüfung durchgemacht hat. Er wurde nämlich scheintot hierhergebracht und ist dann lebendig begraben worden.«

»Was! Er ist lebendig begraben worden,« fragte Adhémar erschrocken auffahrend.

»Nun ja. Er befand sich nämlich in einem Starrkrampf; erst als er längst begraben war, ist er daraus erwacht. Verstehen Sie! Sieben lange Tage hat er dann lebendig in seinem Sarge gelegen, und während dieser ganzen Zeit hat er unausgesetzt ein verzweifelndes Geheul ausgestoßen. Die Lebenden waren fern und konnten es nicht hören, aber wir, wir haben es sehr gut vernommen. Er heulte so, wie Sie ihn eben heulen gehört, es war um die Knochen erfrieren zu machen. Er hat seine ganze rechte Hand aufgegessen, ehe – nun – ehe er still wurde.«

»Warum aber haben Sie ihn nicht befreit,« rief Adhémar ganz entsetzt über die Ruhe und Gleichmütigkeit seines Begleiters.

»Mein Gott,« antwortete das Skelett, »das ging uns doch nichts an. Wir mischen uns nicht gern in die Angelegenheiten der Lebenden, das kann zu leicht falsch gedeutet werden. Außerdem ist es, wenn man schon einmal hier ist, auch viel richtiger, hier zu bleiben. Ein wenig früher – oder später, was macht das aus. Nein, in solchen Fällen mischen wir uns niemals hinein.«

Adhémar fuhr auf.

»In solchen Fällen! Wollen Sie etwa damit sagen, daß solche Fälle sich öfter ereignen?«

»Freilich, oft genug,« antwortete der Baron. »Es kann sehr leicht passieren, daß jemand lebendig begraben wird. Selbstredend ist das für den Betreffenden durchaus nickt angenehm, aber wenn er nur die erste allerdings recht peinliche Zeit überwunden hat, bedauert er es gewöhnlich nicht mehr, im Gegenteil. Wir haben uns um den Unglücklichen, den Sie eben gesehen, nicht eher gekümmert, als bis er wirklich tot war, aber das hat in diesem Falle ungewöhnlich lange gedauert, er ist im Leben sehr nervös gewesen – jetzt ist er leider ein tobsüchtiger Wahnsinniger.«

»Der Unglückliche! Ich begreife das vollkommen,« sagte der junge Mann nachdenklich.

»Wir sind am Ziele, mein Lieber,« sagte plötzlich der Baron, leicht seinen Arm berührend.

»Mein Gott, mein Gott,« seufzte Adhémar, den Schritt anhaltend und die Hand auf das Herz pressend. »Wir sind ihr nahe.«

»Leise, sprechen Sie ganz leise,« warnte der Baron, »und wenn Sie meinem Rate folgen wollen, so lassen Sie uns nur vorsichtig näher treten, wir müssen vor allem vermeiden, gesehen zu werden. Das Monument der Familie Larivière liegt dort hinter jenem Gebüsch, schleichen wir uns also im Schatten der Taxushecken heran und vor allem, hüten Sie sich vor jedem Geräusch.«

So sachte wie möglich auftretend und sich im Schatten der immergrünen Taxushecken haltend, näherten sie sich langsam dem Monument, in dessen Schatten sie nur undeutlich die Umrisse zweier Gestalten erkannten, die sich mit leiser Stimme miteinander unterhielten.

Bleich und wie vor Schrecken erstarrt, blieb der junge Mann stehen. »Es ist ihre Stimme,« hauchte er.

»Leise,« flüsterte der Baron ihn unterstützend. »Gehen wir der Sache auf den Grund. Ich unterscheide auch eine männliche Stimme, ohne jedoch ihre Worte verstehen zu können, schleichen wir uns noch näher heran.« Er vermochte es nicht, ein spöttisches Grinsen zu unterdrücken.

Sich niederduckend, krochen sie langsam und vorsichtig näher.

»Bis hierher,« flüsterte der Baron, »nicht weiter. Ach, ich erkenne die männliche Stimme, es ist die Henry de Livrys, eines unserer gefährlichsten Don Juans.«

»Sie ist es, sie ist es,« seufzte Adhémar tief erschüttert.

»Stille doch, wir müssen sie belauschen,« flüsterte der Baron in befehlendem Tone, sich platt auf den Boden ausstreckend und Adhémar mit festem Griffe zwingend, seinem Beispiele zu folgen.

»Henry,« murmelnde die weibliche Stimme, die einen weichen musikalischen Klang hatte, »warum bist du schon wieder hier. Ich hatte dich doch so sehr gebeten, für das erste nicht zu mir zu kommen.«

»Luise, vergib mir. Ich liebe dich so sehr. Ich glaubte einen Abend, nur diesen einen Abend noch –«

»Aber ich fühle es, daß ich häßlich werde und ich will nicht, daß du mich so sehen sollst –«

»Häßlich! Du meine Geliebte! Aber du bist schöner, wie du jemals gewesen bist, wenn du auch ganz gewiß noch nicht so vollendet schön bist, wie du es später sein wirst, so bist du doch auch heute bereits sehr schön. Schon nimmt deine Haut interessante Verwesungstöne an, deine Augen sinken immer tiefer, dein goldenes Haar – –«

»Ach, bald werde ich es nicht mehr haben – es fällt schon aus.«

»Und dann wirst du mir noch schöner und reizvoller erscheinen. Mein süßes Lieb, seit jenem ersten Abend, wo ich dich zuerst an diesem poetischen und verschwiegenen Orte gesehen, gehört dir mein Herz, und seit jener Stunde beobachte ich mit größtem Interesse das Voranschreiten deiner Transformation auf deinem süßen Gesicht. Das, was ich in dir liebe, sind nicht jene sinnlichen Reize, die das Herz der Lebenden berücken und die ja nun, gottlob, verblichen sind. Es ist vielmehr die Verheißung einer höheren Schönheit, die ich in dir sich entwickeln, knospen und erblühen sehe und die sich bald in elegantester Form und Reinheit und in idealer Vollkommenheit offenbaren wird. Unter diesem Fleische, das ich hasse, weil sein Dasein die Stunde unserer Vereinigung verzögert und auch weil ein Lebender dich darin geliebt – unter diesem Fleische, das aufhört, ein Teil deines Ichs zu sein und das du abwerfen wirft wie einen Mantel, der dir zu schwer geworden, erkenne ich dein wirkliches Wesen, das rein und anbetungswürdig und unzerstörbar, wie unsere Liebe ist.«

»Bist du dessen auch ganz sicher, Henry! Ach, mir ist alles noch so neu und überraschend.«

»Es sind die letzten Erinnerungen an die Irrtümer des Lebens, die immer noch nicht ganz in dir verblaßt sind und die dich beunruhigen. Steh mich an, meine Geliebte, bin ich nicht so, wie auch du sein wirst, und – liebst du mich nicht, so wie ich bin!«

»Oh, gewiß.«

»Würdest du mich mehr lieben, wenn ich Haut, Haare und die ganze drückende Last eines Körpers auf mir trüge, die immer schwerer wird, je länger man sich mit ihr herumschleppt!«

»Nein, nein, Henry. Jetzt verstehe ich dich. Aber was willst du! Ich bin ja kaum in die Übergangszeit getreten. Ich bin beinahe noch eine Lebende.«

»Ja, das ist wahr. Ach, wie lange wird mir die Zeit des Wartens werden.«

»Ach, Henry, sage mir, wie lange es dauern wird!«

»Oh, das hängt von den Umständen ab. Man kann es vorher nickt so genau bestimmen.«

»Ich werde mich beeilen zu – – – Aber sage mir, tut es wirklich nicht sehr weh!«

»Weh! nein, gar nicht. Man langweilt sich, das ist alles aber man interessiert sich für die Arbeit unserer kleinen Befreier und – –«

»Ach, wenn ich sie doch bitten könnte, sich recht zu beeilen. So lange soll ich dich nickt sehen!«

»Du wirst aber an mich denken!«

»Ich werde immer nur an dich denken. Der Gedanke an deine Liebe wird mich keinen Augenblick verlassen.«

»Mein Gott, wenn doch die glückselige Stunde schon erscheinen wollte, wo ich frei, schön und dir ebenbürtig aus dem Grabe hervorgehen und mich in deine Arme werfen könnte. Aber wirst auch du mir treu bleiben und mich nicht um einer andern willen verlassen! Ich werde ganz allein in meinem Sarge eingeschlossenen in der Erde ruhen – während du – –«

»Aber Lieb, mein Lieb!«

»Henry! Geh nun, es ist spät, meine Großmutter könnte zurückkommen.«

»Nein, Geliebte, du weißt recht gut, daß sie in der Kapelle ist und daß sie bis zum Morgen dort bleibt.«

»Ja, aber ich möchte mich so schnell wie möglich in meine Zurückgezogenheit begeben. Es drängt mich, ohne Aufschub mich ihnen zu übergeben, deren Werk mich dir ähnlich machen soll.«

»Sie ergreifen schon Besitz von uns, ehe wir beerdigt sind, und sobald wir hier sind, gehören wir ihnen ganz und ihre Arbeit beginnt.«

»O mein Gott, Henry. Geh, geh nun. Ich will nicht vor dir – –«

»Nur noch ein Wort, Luise. Ist es ganz gewiß, daß du diesen jungen Mann, den Lebenden, deinen früheren Verlobten nicht mehr liebst! Denkst du wirklich nicht mehr an ihn?«

»Henry, ich habe dir doch schon gesagt –«

»Aber ich muß es noch einmal hören. Besonders jetzt, wo uns eine so lange Trennung bevorsteht. Ich bin eifersüchtig, o nicht auf die Küsse, die er dir gegeben – dein Fleisch – das bist nicht du – aber ich bin eifersüchtig auf deine Liebe, auf deine Gedanken … Du liebst ihn ganz gewiß nicht mehr, nicht wahr? Diese häßliche schwerfällige menschliche Larve ist dir doch vollständig gleichgültig geworden?«

»Ja. Ich schwöre es dir, daß, seit ich dich gesehen, mir schon die Erinnerung an seine grobe materielle Gestalt widerwärtig geworden ist.«

»Ach, Luise, wenn er es nicht doch eines Tages versuchen wird, dich mir streitig zu machen?«

»Aber woran denkst du, du bist ja wirklich ganz närrisch! Er ist ein starker kräftiger Mann, der sich einer vorzüglichen Gesundheit erfreut. Er wird bald genug Ersatz für mich suchen und finden, er wird eine seinesgleichen lieben und mit ihr das schmutzige Dasein der Lebenden fortführen. Möge er recht alt werden und niemals hierhin kommen, das ist alles, was ich ihm wünsche.«

»Ist das auch ganz, ganz gewiß wahr, Luise? Wünschest du wirklich nicht, ihn wiederzusehen? Würde es nicht vielleicht doch Einfluß auf deine Gefühle für mich haben, wenn er stürbe und hierher käme?«

»Ach Gott, nein. Kann ich doch kaum sagen, daß ich ihn überhaupt geliebt habe, denn zu jener Zeit war ich doch nur ein törichtes lebendiges kleines Mädchen – dich aber, Henry – dich liebe ich wirklich, ich liebe dich tief und innig mit der Liebe einer Frau und einer Toten.«

»Luise, ich bete dich an.«

Ihre Stimmen senkten sich noch mehr und ihr Gespräch nahm den zärtlich girrenden Laut verliebter Turteltauben an und wurde hier und da von einem Kusse unterbrochen.

Das war zuviel für den armen Adhémar, mit einem tiefen Seufzer sank er ohnmächtig gegen das Schlüsselbein des Barons.

»Sapristi,« brummte dieser: »Nun ist ihm schon wieder schlecht geworden. Es ist begreiflich, daß dieser Schlag den armen Jungen sehr schwer getroffen hat.«

Er umfaßte ihn sanft, schüttelte ihn etwas, schlug leicht auf seine Hände und nahm dann den Unglücklichen auf seine Arme und trug ihn mit einer Kraft, die man einem so magern Wesen nicht zugetraut haben würde, von der Stelle, wo er den grausamen Verrat der Geliebten erfahren hatte.

»Mein Gott, mein Gott, diese Elende,« seufzte Adhémar, als er langsam zum Bewußtsein erwachte.

»Nicht wahr, so etwas erinnert an das Leben,« sagte der Baron mit bitterem Lächeln und ganz vergessend, daß sein Begleiter wirklich noch dem Leben angehört. »Aber Sie dürfen solchen Dingen wirklich nicht zu viel Wichtigkeit beilegen, mein Freund. Fassen Sie Mut. Der Schlag ist ja ein schwerer, aber tragen Sie ihn wie ein Mann.«

»Mein Gott, mein Gott,« seufzte Adhémar, »wie furchtbar ist dies alles. Und ihre Großmutter läuft in die Kapelle, anstatt sie zu überwachen. Mein Gott, mein Gott, ich ersticke.«

Und sich auf eine am Eingang der Allee befindliche mit Moos überdeckte alte Grabplatte niederwerfend, brach er in krampfhaftes Weinen aus.

»Weine, weine nur, armer Junge,« murmelte das Skelett in sich herein, »Tränen werden deinem armen Kinderherzen, das durch die Grausamkeit einer Frau gebrochen ist, Erleichterung verschaffen. Ach, es ist lange her, seit ich wahre Tränen vergießen sah. Wenn sehr lange schlechtes Wetter ist, schwitzen wir ja eine klebrige Feuchtigkeit aus – aber das ist doch nicht dasselbe. Sein Weinen erscheint mir sehr rührend, obgleich es ja dabei wirklich ein wenig lächerlich ist.«

Adhémar weinte sehr lange.

Der Baron blieb bei ihm. Er setzte sich ganz ruhig zu ihm hin, ohne ein Wort mit ihm zu reden, bis er bemerkte, daß sein Begleiter sich allmählich zu beruhigen anfing. Dann erst erhob er sich und zwang Adhémar mit sanfter Festigkeit, ebenfalls aufzustehen und seinen Worten Gehör zu schenken.

»Mein Freund,« sagte er zu ihm, »es ist zum ersten Male, daß Sie von einem ungeheuern Schmerz heimgesucht worden sind, es ist daher nur natürlich, daß Sie das Bedürfnis empfanden, sich auszuweinen. Ich respektiere Ihren Schmerz. Aber nun raffen Sie sich auch auf und geben Sie sich nicht wie ein energieloses Kind Ihrem Schmerze hin. Machen Sie sich Ihre Lage klar und finden Sie sich mit dem Unvermeidlichen ab. Dieses junge Mädchen liebt Sie nicht mehr, und ich möchte sogar behaupten, daß sie Sie überhaupt niemals wirklich geliebt hat, selbst als sie noch unter den Lebenden wandelte. Übrigens hat sie selbst das ja auch ganz offen eingestanden.«

»Mein Gott,« seufzte Adhémar.

»Nein, wirklich,« fuhr der Baron energisch fort, »mit Tatsachen muß man sich abzufinden wissen, und es wäre töricht, wenn Sie sich noch Illusionen hingeben wollten, wir wollen ohne Zögern diesen öden und unbehaglichen Ort verlassen. Ich denke, wir unternehmen zunächst mal einen kleinen Spaziergang, damit Sie Zeit haben, sich zu sammeln, und dann werde ich Sie mit zu der Gräfin von Talk nehmen.«

»Auf ein Fest! Nein, nie wieder,« sagte Adhémar.

»Doch das müssen Sie schon mir zu Gefallen tun,« sagte der Baron, »es wird Sie auf andere Gedanken bringen, und Sie werden sehr bald das seelische Gleichgewicht zurückerlangen. Lassen Sie sich außerdem von mir sagen, daß ich Sie für einen echten Edelmann halte und daß das Interesse, das ich für Sie empfinde, so lebhaft ist, daß ich mich glücklich schätzen würde, Sie als Freund zu gewinnen.«

»Ich liebe Sie ebenfalls sehr, und ich will alles tun, was Sie von mir verlangen,« seufzte Adhémar matt, die Handknochen des guten Skelettes drückend.

»Nun denn, keine Klagen mehr,« sagte der Baron. Seien Sie traurig – aber zeigen Sie es nicht – – Und dann, zum Teufel, wenn man in Ihrem Alter eine Frau verliert, gewinnt man zehn andere dafür.«

»O nein, nein,« protestierte Adhémar, »ich hasse die Frauen jetzt –«

»Das meinen Sie nur, weil Sie sie zu sehr lieben,« sagte der Baron, »oder vielmehr, weil Sie nur eine einzige lieben. Lieben Sie mehrere auf einmal, dann werden Sie anders sprechen lernen. Aber brechen wir auf. Wir wollen den Weg über den großen Markt nehmen, weil der wirklich einen sehr interessanten Anblick gewährt, dann wollen wir ganz um den Friedhof herumgehen, in unser Quartier zurückkehren und zu der lieben Gräfin gehen. Wir werden gerade zu der Zeit ankommen, wo die Festesfreude ihren Höhepunkt erreicht hat.«

Sie machten sich auf den Weg. Der Baron pfiff einen muntern Trauermarsch und machte hier und da eine geistreiche Bemerkung, warf ein Wortspiel oder einen Witz hin, um seinen Gefährten zu erheitern, der gesenkten Hauptes und in gebeugter Haltung neben ihm herschritt.

Bei einer Wendung des Weges kamen sie wieder in die Nähe der Umfassungsmauer und sahen dort auf einem ziemlich verlassenen Platze mehrere Skelette, die ernst miteinander zu beraten schienen, während etwas von der Gruppe und voneinander getrennt zwei andere mit beinahe fieberhafter Ungeduld das Resultat der Konferenz erwarteten. Ein anderer maß die Distanz des Bodens aus. Auf der Erde lagen einige lange harte, sorgsam mit grüner Serge umhüllte Gegenstände.

»Sehen Sie,« sagte der Baron leise, »hier wird ein Duell vorbereitet. Der eine dieser Herren, der große linksstehende, mit dem gestickten Leichentuche, ist von seinem Gegner des falschen Spieles angeklagt worden. Er hat beim Bakkarat die Bank gehalten und mit großem Glück gespielt – mit etwas zu viel Glück – wie es scheint. Er gehört übrigens zu jener berüchtigten Sorte brasilianischer Hochstapler, die als Lebemänner auftreten, denen man aber von Rechts wegen in einem so feinen Klub wie den der ›Wurzeln‹ überhaupt gar keinen Eintritt gewähren sollte. Sein Gegner hat ein paar fatale Jugendstreiche begangen und ist nicht viel mehr wert als der andere. Das Duell wird ein sehr ernstes werden, denn sie haben sich vor Zeugen ordentlich gerauft, und niemand ist eifersüchtiger auf seine Ehre, als wer keine zu verlieren hat. Aber gehen wir rasch weiter. Ich sehe Reporter, Zeugen und Photographen kommen, und ich möchte nicht gerne hier gesehen werden, weil ich es abgeschlagen habe, Zeuge zu sein. Es ist eine häßliche Affäre, aus der ein wirklicher Edelmann sich am liebsten heraushält.«

»Mit was für Waffen schlagen sie sich?« frug Adhémar, dessen Gedanken weit abzuirren schienen. »Mit der Latte,« antwortete der Baron, ihn mit sich ziehend. »Aber jetzt bitte ich Sie nochmals allen Ernstes, mein Lieber, eine Kraftanstrengung zu machen und Ihre Traurigkeit abzuschütteln. Sie versenken sich immer mehr hinein. Es ist ja allerdings wahr, daß dies alles noch sehr neu für Sie ist, und daß, ehe Sie Ihre Geliebte wieder gesehen oder vielmehr reden gehört haben, Sie nur mit Ihrem Herzen litten, während jetzt auch Ihre Eigenliebe angegriffen worden ist.«

»Sie haben vielleicht recht,« antwortete Adhémar. »Gewiß ist, daß ich meinen Schmerz jedenfalls intensiver empfinde wie vorher. Bisher habe ich ohne jeden bittern Hintergedanken meine verlorene Liebe und dieses angebetete Mädchen beweint, das ich für so treu, so rein und aufrichtig hielt. Aber jetzt ist mein Leid ein viel tieferes geworden, es ist, als ob ein tödliches Gift in die Wunde meines Herzens geträufelt worden sei. Nicht genug damit, daß mir die Geliebte entrissen wurde, mußte ich sie nun in den Armen eines andern sehen; ich weiß jetzt, daß sie mich nie wirklich geliebt hat, und die Scham, die Verachtung und Bitterkeit, die ich empfinde, erfüllen mich mit namenlosem Schmerz.«

»Das ist zwar alles richtig,« bemerkte der Baron, »indessen vergessen Sie nicht, daß Sie bisher geglaubt, ein Ausnahmewesen verloren zu haben, ein Ihnen wirklich, aufrichtig und treu ergebenes Mädchen, während Sie sich nun davon überzeugt haben, daß die Seele Ihrer Geliebten stets die einer koketten, launenhaften und käuflichen Frau gewesen ist, die Ihres Herzeleides lacht und die ihrer Gelübde spottet. Verurteilen wir sie jedoch nicht allzu hart. Sie war zu der Zeit, als Sie sie kennen lernten, wirklich noch sehr jung und unerfahren, und vielleicht ist ihr in Henry de Livry wirklich der für sie prädestinierte Liebhaber erschienen.«

»Ach,« rief der junge Mann, »ich hätte mir, als ich ihren Tod erfuhr, sofort auch das Leben nehmen und ihr nachfolgen sollen, dann wären wir gleichzeitig hierhergekommen. Unser Läuterungsprozeß wäre zur selben Zeit vollendet gewesen … und sie würde mir treu geblieben sein – es ist alles nur meine eigene Schuld.«

»Zweifellos,« meinte der Baron lächelnd. »Sie scheinen mir auch der Art wahrer Liebenden anzugehören, die sich eher selbst anklagen und alle Schuld auf sich nehmen, ehe sie das Unrecht ihrer Schönen eingestehen würden. Aber vergessen Sie dies alles, es ist wirklich Zeit dazu. Sie können das, was Sie eben gehört, doch unmöglich aus Ihrem Gedächtnis austilgen, und es ist nur zu gewiß, daß sie ihre Liebe einem andern geschenkt hat. Suchen Sie Ihre Gedanken von dieser traurigen Episode abzulenken. Schicken Sie sich in das Unvermeidliche – seien Sie ein Mann.«

»Sie haben recht,« sagte Adhémar. »Entschuldigen Sie meine Schwäche, ich werde sie zu beherrschen versuchen. Ich bin wirklich glücklich, daß ich in all meinem Elend einen Freund gefunden habe, wie Sie es mir sind.«

»Sehr gut, so höre ich Sie gern sprechen. Nun kommen Sie mit mir, wir wollen uns zu zerstreuen suchen.«

»Ja,« sagte Adhémar, der sich gewaltsam zu fassen suchte, »wir wollen uns zerstreuen. Aber bitte, erklären Sie mir, was Sie vorhin damit meinten, als Sie sagten, Sie hätten Reporter gesehen? Gibt es denn hier so etwas wie Zeitungen!«

»Ei freilich,« antwortete der Baron, »Wir haben sogar drei Zeitungen, natürlich vertritt jede von ihnen eine andere Richtung. Die einzelnen Nummern werden mit Kreide auf Schiefertafeln geschrieben. Wir haben, um von unten anzufangen, da zunächst das Organ der Plebejer, ein wahres Schandblatt, das pretentiös und gallig, unter dem Vorwande, Mißbräuche enthüllen zu wollen, ein schamloses Erpressungssystem verfolgt. Es hat sich den albernen Namen ›Leichenwagen der Armen‹ zugelegt, und es gefällt sich darin, den Ruf der bedeutendsten Toten mit Kot zu beschmutzen. Der Herausgeber dieses Blattes ist eine ganz minderwertige Persönlichkeit, die mit ›der magere Tod‹ unterzeichnet. Es ist dies ein in besseren Kreisen allgemein verachteter Renegat, der das Volk durch die törichtsten Vorspiegelungen aufzuwiegeln versteht und abends vor den gemeinsamen Gräbern steht und große Reden schwingt, in denen er dazu auffordert, sich in Massen zusammenzurotten und gegen uns zu marschieren, um ihr Totenrecht von uns zurückzufordern. Bah!

Eine diesem Blatte gerade entgegengesetzte Richtung vertritt der ›Anzeiger der weißen Knochen‹. Es ist das zweifellos eine durchaus anständige, aber leider auch eine unerträglich langweilige Zeitung. Eigentlich lesen sie nur die Stockkonservativen. Sie wird von einer Art historischer Ruine geleitet, die der alten Mode angehört und die langweiligsten Geschichten breittritt, um seinen Abonnenten, die aus Stiftsfräuleins und Pfarrern bestehen, die hinter ihrer Zeit zurückgeblieben sind, zu gefallen.

Dann kommt noch das ›Echo der Mitternacht‹, es ist dies die einzige lesbare und anständig redigierte Zeitung, die die Ereignisse, Feste und Neuigkeiten der Nacht, sowie die Namen der bemerkenswerten Neuangekommenen mitteilt. In ihrem Beiblatte ›Der Tod für alle‹ veröffentlicht sie auch Chroniken, die von den bedeutendsten literarischen und politischen Berühmtheiten, die wir hier haben, unterzeichnet sind und die sich eine Ehre daraus machen, Mitarbeiter dieses Blattes zu sein. Diese Zeitung ist wirklich sehr interessant, und ihr Direktor, mit dem ich befreundet bin, ist ein feiner Kopf, der wirklich viel von Kunst und Wissenschaften versteht. Er denkt daran, ein Theater zu gründen und das große öffentliche Mausoleum, das den Verschwundenen gewidmet ist, dazu einzurichten, aber dazu müßte er Unterstützung haben; wir haben ja natürlich eine ganze Reihe der größten Künstler in unsrer Mitte, die wirklich alle bereit wären, ihre Kraft der guten Sache zu widmen, trotz der Eifersucht, die sie einer auf den andern selbst jetzt noch empfinden.«

Der Baron unterbrach sich, denn man hatte die kleinen geschützten Alleen verlassen, in denen es sich so gut plaudern läßt und war in einen der Hauptwege gekommen, wo reger Verkehr herrschte.

»Mischen wir uns darunter«, sagte der Baron, »und beobachten Sie alles, soviel wie möglich. Es herrscht heute nacht hier wirklich ein ungewöhnliches Leben.

Die meisten der Kaufleute, die Sie hier sehen, sind Juden. Ihr Friedhof liegt hinten an der Nordseite. Ich kann Ihnen versichern, daß sie es verstehen, die merkantilen Traditionen ihrer Rasse intakt zu bewahren. Da kommt uns gleich ein richtiger Vertreter dieser Sorte entgegen, sehen Sie nur dies alte, in ein schmutziges Leichentuch gehüllte Skelett, das mit einem Wadenbein den trockenen Schmutz von seinen Fußknöcheln schabt, das ist einer der größten Kapitalisten, die hier sind. Er hat sich ein bedeutendes Vermögen dadurch zu erwerben gewußt, daß er Metallstücke verkaufte, die er selbst zurecht hämmerte. Es war nämlich vor einigen Jahren hier Mode, sich in dieser Weise die untere Kinnlade zu verstärken. Es war dies eine wahre Leidenschaft geworden. Man verwendete, je nach den Vermögensverhältnissen, Gold, Silber oder Blei dazu. Die untern Klassen, die sich immer eine Ehre daraus machen, die Lächerlichkeiten der Vornehmen nachzuäffen, verwendeten mit besonderer Vorliebe die Deckel von Sardinenbüchsen zu diesem Zwecke. Diese Mode ging vorüber wie alle Moden, indessen haben sich viele Kaufleute dadurch bereichert.«

Adhémar horchte diesen Erklärungen, während er und sein Begleiter langsam durch die dichte sie umwogende Menge schritten. Zu beiden Seiten der Allee befanden sich Buden hinter denen die Händler in hockender Stellung saßen, die ihre Waren in lebhaftester Weise anpriesen und über den Preis der kleinsten Gegenstände in aufgeregter Weise hin- und herstritten. Die zum Kaufe angebotenen Waren waren mit ein paar sehr seltenen Ausnahmen sehr wenig anziehend und würden von den Bewohnern der lebenden Welt für kaum mehr als armselige Überreste angesehen werden, die man in die Katakomben oder in die Kloaken wirft. Indessen schien der Handel damit ein sehr reger zu sein.

Adhémar stellte mit Bedauern fest, daß die Geschäfte durchaus nicht immer in ehrlicher Weise abgeschlossen wurden. Er bemerkte, wie ein Skelett, das etwas angetrunken zu sein schien und von einem zweideutigen Mädchen begleitet wurde, auf das abscheulichste von einem jungen Händler mit Knochen betrogen wurde. Dieser Halunke stibitzte nämlich dem andern geschickt das eigene Schlüsselbein und verkaufte es ihm dann zu einem ganz enormen Preise; dieser abscheuliche Handel vollzog sich offenbar im Einverständnis mit dem Mädchen, denn es versicherte seinem angetrunkenen Begleiter, daß es ihn unmöglich lieben könne, so lange sein Skelett unvollkommen sei. Adhémar war so empört darüber, daß er im Begriff war, dazwischen zu treten, aber der Baron hielt ihn davon zurück.

»Hüten Sie sich wohl, sich in die Angelegenheiten anderer zu mischen, was es auch immer sein möge,« sagte er zu ihm. »Sie befinden sich unter der Hefe der Bevölkerung, die Ihnen in solchem Falle sehr übel mitspielen könnte. Die Klugheit fordert hier, nur ruhig zu beobachten, und es ist sogar sehr empfehlenswert, nicht zu lange zu bleiben, sondern uns bald zurückzuziehen. Wir sind ein wenig spät gekommen. Zu dieser Stunde wird die Kanaille übermütig, und die Prostitution macht sich ohne Scheu breit und triumphiert über alle guten Sitten. Gehen wir also. Ich wollte Ihnen eigentlich noch ein reizendes Kind zeigen, das man gewöhnlich hier findet und das Irrlichter und Leuchtkäferchen feilhält, die die Damen gern kaufen, um sie als Schmuck zu verwenden. Aber ihr Stand ist schon leer, ich werde sie Ihnen ein anderes Mal zeigen.«

Während sie sich zurückzogen, hatten sie sich der Zudringlichkeiten einiger Hetären niedrigster Art und der beleidigenden Ansprache einiger sehr verdächtig aussehender Skelette zu erwehren. Adhémar wurde dabei ziemlich unbehaglich zumute, obwohl die würdige, feste Haltung des Barons dem zweideutigen Gesindel zu imponieren schien, atmete er erleichtert auf, als er sich wieder mit seinem Begleiter in einer ruhigen Allee befand.

»Diese Kanaille,« sagte der Baron. »Es war die höchste Zeit, daß wir uns davon machten. So fangen die Keilereien an. Aber nun wollen wir zu der Gräfin gehen, ihr Luxus und ihre vornehme Grazie werden uns nach diesem unwürdigen Schauspiel doppelt anmutig erscheinen.«

Ohne sich weiter zu unterhalten, eilten sie an den Reihen der geschlossenen Kapellen und Erbbegräbnisse vorbei. Der Nebel, der sich stark verdichtet hatte und den Blick beengte, umgab sie mit feuchtem Dunste.

»Oh, da ist ja ein Mensch,« rief plötzlich Adhémar und deutete auf eine fleischliche Erscheinung, die in diesem Augenblick aus einer Kapelle trat.

»Sollte das ein Spion sein,« sagte Herr La Rose beunruhigt und trat schnell näher. »Aber nein,« fügte er dann hinzu, »den kenne ich ja! Er ist bereits einer der Unsern. Aber was macht er da?«

»Was ich hier mache,« antwortete mit zorniger Stimme der Betreffende, in dem Adhémar bei näherem Anschauen nun ganz deutlich einen Toten erkannte, der den Übergangsprozeß noch nicht ganz durchgemacht und noch mit seinem Fleische bekleidet war, das jedoch schon Spuren des Verfalles trug. »Was ich hier mache? Ich denke, daß das Sie keinesfalls etwas angeht, was?«

»Mein Herr,« sagte der Baron, sich stolz aufrichtend.

»Ach, Sie sind es, Baron, verzeihen Sie,« sagte der Tote, sofort ruhiger werdend. »Dieser verdammte Nebel! Ich habe Sie wirklich gar nicht erkannt. Außerdem bin ich in gereizter Stimmung. Seit einer Stunde schon arbeite ich daran, meine Kapelle von dem scheußlichen Gräberschmuck zu reinigen, den meine Frau alle Jahre an gewissen Erinnerungstagen hierhin schafft. Nicht genug damit, daß sie mich vergiftet hat.«

»Vergiftet,« rief Adhémar erschrocken und ohne der ihm von dem Baron applizierten warnenden Rippenstöße zu achten. »Ihre Frau hat Sie vergiftet?«

Der Tote warf ihm einen Seitenblick zu.

»Ganz gewiß,« sagte er trocken. »Sie hat mich vergiftet, um meinen besten Freund heiraten zu können. So etwas kommt öfters vor. Außerdem mache ich mir nichts daraus. Ich hätte es aber natürlich viel lieber gehabt, wenn sie nicht dieses elende Arsenik verwendet hätte, denn das hält den Zerstörungsprozeß jahrelang auf und konserviert das Fleisch – ich kann mich deshalb immer noch nicht mit Anstand in der Welt sehen lassen. Indessen selbst darüber würde ich fortkommen, da ich niemals viel auf Äußerlichkeiten gegeben habe. Nein, was mich anekelt, das sind diese Kränze, die sie mir hartnäckig alle Jahre schickt, ich weiß nicht, aus welchem Grunde. Wenn es noch zum wenigsten künstlerisch arrangierte Dinge wären, hübsche Gewinde aus natürlichen Blumen und mit Seidenbändern! Aber sehen Sie einmal hierher! Betrachten Sie sich diese billigen Schweinereien aus Eisendraht und Glasperlen. Und jedes Jahr ist es dasselbe! Sie beauftragt meinen früheren Kammerdiener Franz, der ein dem Trunke ergebener alter Spitzbube ist, damit meine Kapelle zu schmücken, der kauft dann dieses Schundzeug, das er nach seinem Geschmack aussucht und schluchzend bei mir aufhängt; er ist dabei regelmäßig so betrunken, daß er kaum stehen kann. Eine verfluchte Geschichte.«

»Beruhigen Sie sich doch,« sagte der Baron. »Sie drücken sich wirklich etwas zu stark aus. Es wäre viel besser, wenn Sie sich etwas mehr zerstreuen wollten, anstatt sich so hartnäckig einzuschließen. Gehen Sie aus, besuchen Sie Gesellschaften! Das wird Sie auf andere Gedanken bringen.«

»Bah! Mit dem Aussehen, das ich habe, ausgehen! Nein, danke. Ich gleiche einer verdorbenen Mumie. Ich möchte mich so doch lieber nicht zeigen. Außerdem machen mir in meinem Alter diese Festlichkeiten kein rechtes Vergnügen mehr. Ich ziehe es vor zu schlafen oder ruhig zu liegen und zu lesen. Ich würde auch heute nicht aufgestanden sein, wenn es nicht wegen dieser geschmacklosen Dinge wäre, deren ich mich auf jeden Fall so rasch wie möglich entledigen wollte. Wie könnte ich behaglich ruhen, wenn solches Zeug an meinem Gitter hängt!«

Und er schleuderte mit einem Fußtritt einen Perlenkranz zwanzig Meter weit von sich.

Die beiden Freunde verabschiedeten sich und setzten ihren Weg fort.

»Sie müssen wissen, daß seine Frau ihn überhaupt niemals vergiftet hat,« sagte der Baron, als sie außer Hörweite gelangt waren. »Einer seiner Vettern hat mir die ganze Geschichte erzählt. Seine arme Frau hat in den zehn Jahren ihrer Ehe ein wahres Märtyrertum erlitten, denn ihr Mann war nicht nur ein Misanthrop schlimmster Art, sondern auch dem Alkohol ergeben. Er hat ferner sehr viel Arsenik gebraucht, was ihn erhielt, aber gestorben ist er ganz einfach an irgendeiner Krankheit. Seine Frau hat sich dann später wieder verheiratet und sie ist in ihrer zweiten Ehe glücklicher geworden, was ihr wirklich sehr zu gönnen ist.

Ich möchte der armen Dame aber nicht wünschen, jemals hierhin zu kommen, denn dann würde er gleich wieder anfangen, sie zu quälen und er würde ihr immer diese phantastische Ermordungsgeschichte vorhalten, die er frei erfunden, aber so oft erzählt hat, daß ich wirklich glaube, er hält sie jetzt selbst für wahr. Das würde kein angenehmer Tod für die arme Dame sein. Aber da wären wir wieder in dem aristokratischen Viertel angelangt. Wie angenehm, wieder zu Hause in der gewohnten feinen Umgebung zu sein! Wollen Sie mir die Ehre erweisen, wenn wir von dem Besuche bei der Gräfin zurückkehren, unter meinem bescheidenen Dache einzukehren?«

»Nun, da sind Sie ja,« sagte plötzlich eine fröhliche Stimme.

Sie wandten sich und erkannten das große Skelett, das ihnen zu Anfang des Abends begegnet war. Ein Toter, der kaum vor wenig Tagen das Leben verlassen haben konnte und von einem schönen, ganz neuen Leichentuche umhüllt war, schritt neben ihm, machte jedoch einen sehr verstörten Eindruck.

»Mein Vetter zweiten Gliedes,« sagte das große Skelett ihn vorstellend. »Er ist erst seit ganz kurzer Zeit hier und dies ist sein erster Ausgang. Ich habe ihn gerade zu einem Spaziergang abgeholt, er ist aber noch ganz verschlafen.«

Adhémar interessierte sich sofort für diesen Vetter, der ihm relativ ziemlich ähnlich war, abgesehen von dem kleinen Unterschied, daß jener bereits den Toten zugezählt werden mußte.

»Nun, sind Sie sehr schläfrig?« fragte er ihn, nur um etwas zu sagen.

»Ja, ja,« murmelte der Vetter. »Es tut so gut zu schlafen, wie man hier schläft, mein Gott, tut das gut.«

»Nicht wahr,« bemerkte der Baron, »und besonders nach all den Plackereien und Verdrießlichkeiten, die unvermeidlich mit dem Sterben und Begrabenwerden verbunden und die ebenso ermüdend, wie langweilig sind.«

»Haben Sie viel dabei gelitten? Ist die Sache in sich Ihnen sehr peinlich erschienen,« fragte mit brennender Neugierde Adhémar.

»Aber stille doch, mein Lieber,« flüsterte der Baron ihm mit einem kleinen Rippenstoße zu, »so etwas fragt man doch nicht! Sie werden sich verraten.«

»Ja, ich erinnere mich all dessen nicht mehr so genau,« stotterte der Vetter, den diese Fragen sehr unangenehm berührt zu haben schienen. »Meine Tochter weinte so viel! – Ich habe sie ganz allein zurückgelassen, und das war es, was mich so quälte.«

»Vorwärts, vorwärts, die Gräfin wird glauben, daß wir nicht mehr kommen werden.«

Das große Skelett, das offenbar die Unterhaltung abbrechen wollte, trieb zur Eile.

»Wir haben uns sehr verspätet,« fügte er hinzu, »ich bin aufgehalten worden. Die Gräfin ist eine reizende Dame, auf Ehre, ganz reizend von unvergleichlicher Grazie und Anmut.«

Sie waren nun schnell am Ziele. Das Fest hatte seinen Höhepunkt erreicht. Das Monument der Gräfin war mit großer Eleganz und vollkommenem Geschmack hergerichtet, die darunterliegenden Gewölbe sehr geräumig und durch ein mildes phosphoreszierendes Licht erhellt.

Die Herrin des Hauses empfing die Ankommenden mit größter Liebenswürdigkeit. Ihr großes seidenes Leichentuch, das leicht dekolletiert die Perlen einer Halskette erkennen ließ, umwallte ihre schlanke Gestalt in tiefen Falten. Sie trug weiße, bis zu den Ellenbogenknochen reichende Handschuhe und ihr blanker Schädel war mit Chrysanthemen geschmückt. Als sie graziös einen Schritt vortrat, um ihre Gäste zu begrüßen, wurden die zarten, mit Ringen geschmückten Zehknöchel ihrer Kinderfüßchen sichtbar.

»Ich hatte die Hoffnung, Sie heute hier begrüßen zu dürfen, schon beinahe aufgegeben, Baron,« sagte sie mit reizender Freundlichkeit und mit ihrem Fächer spielend, während Herr La Rose sich tief vor ihr verneigte und ihre Hand küßte. »Sie und Herr de Saint-Firmin zählen doch zu meinen Getreuen? Aber,« fügte sie, die beiden Neuangekommenen huldvoll begrüßend, hinzu, »die Gegenwart dieser beiden Herren erklärt und entschuldigt Ihre Verspätung.«

»Gnädige Frau, ich bin tief gerührt,« stammelte Adhémar, sich ehrfurchtsvoll verneigend.

Das große Skelett und sein Vetter, der immer noch ein wenig verträumt und traurig aussah, brachten der Dame des Hauses ebenfalls ihre Huldigung dar und mischten sich dann unter die andern Gäste, deren Zahl zwar keine sehr große war, die aber alle der ersten Gesellschaft angehörten. Adhémar, der sich etwas deplaciert fühlte, isolierte sich bald und blickte, sich an eine Marmorsäule lehnend, träumerisch in das Treiben um ihn.

»Was für ein reizender Junge das ist,« sagte die Baronin zu dem Baron, der an ihrer Seite geblieben war. »Er ist der Ehre würdig, Ihr Verwandter zu sein, aber warum hat er die abscheuliche Tracht der Lebenden beibehalten?«

»Er dachte nicht daran, daß er das Glück haben könne, Ihnen vorgestellt zu werden, liebe, gnädige Frau,« antwortete der Baron ein wenig verlegen. »Aber,« fügte er mit leiser Stimme hinzu, »lassen Sie mich Ihnen vor allen Dingen sagen, daß ich Sie niemals so berückend schön wie heute gesehen habe.«

»Bah,« sagte die Gräfin mit feinem Lächeln, »das sagen Sie jedesmal, wenn wir uns begegnen.«

»Zweifellos, und zwar weil es wirklich so ist und Sie immer schöner werden,« sagte der Baron verliebt und sich tief über sie neigend. »Der Kopfschmuck, den Sie heute abend tragen, kleidet Sie zum Entzücken. Diese schweren großen Blumen über dem polierten Weiß Ihrer Schläfen. Ach Gott, wie verführerisch Sie sind!«

Die Gräfin lächelte wieder, dann sich ihm zuwendend, schob sie mit vielverheißender und zugleich keuscher Bewegung den oberen Teil ihres Leichentuches für einen Augenblick voneinander und der entzückte Baron bemerkte, daß hinter ihren feinen Rippen an der Stelle des Herzens ein Irrlicht flackerte. »Es brennt für Sie,« sagte sie mit anbetungswürdiger Koketterie.

»Meine Heißgeliebte, meine Königin,« murmelte La Rose entzückt.

»Stille, wir könnten belauscht werden. Kümmern wir uns zunächst um Ihren jungen Verwandten. Ich sehe gerade, daß dieser gräßliche Stiftsamtmann Hilarion sich an ihn heranmacht, wahrscheinlich ödet er ihn mit seinen langweiligen Geschichten aus der anderen Welt an.«

»Nur noch ein Wort – werde ich das Glück haben, Sie morgen abend bei mir begrüßen zu dürfen?«

»Vielleicht,« flüsterte die Gräfin zärtlich.

Der Baron bot ihr den Arm und alle beide gingen auf Adhémar zu, den der Stiftsamtmann Hilarion richtig mit Beschlag belegt hatte. Es war ein altes, ziemlich unausstehliches Skelett, das Herr de Saint-Firmin, wahrscheinlich um es los zu werden, dem jungen Mann vorgestellt hatte.

»Ja, mein Herr,« sagte es mit scharfer Stimme und den jungen Mann am Rockaufschlage festhaltend, »ja, es ist so, ich versichere es Ihnen. Ich habe in einer Zeitung der Lebenden, die durch einen Zufall bei mir vergessen worden ist, die albernen Ansichten eines ihrer Gelehrten über unsere Neugestaltungen gelesen. Nun, und sollten Sie es für möglich halten, daß dieser hirnverbrannte Esel mit schmutziger Haut einfach behauptet, daß unsere Helfer überhaupt nicht existieren? Daß dies nur eine Legende sei, daß wir einfach in Staub und Asche zerfallen! Welche Albernheit! Welche Vermessenheit und Gotteslästerung! Denkt dieser schamlose Idiot wirklich, daß wir geneigt seien, die Last des Fleisches unbegrenzt lange Zeit mit uns zu schleppen und dadurch den Larven der Lebenden nur zu ähnlich zu sehen! Es entehrt uns, länger wie durchaus nötig, Erinnerungen an die Zeit unseres Lebens zu bewahren. Erinnerungen, die Sie zu einem zurückgezogenen Dasein zwingen und uns für lange Zeit des Vergnügens berauben werden, Sie zu sehen. Sie sollen nicht existieren? Wahrhaftig, das ist empörend! Sie wissen davon zu erzählen. Sie, die sich selbst in diesem Augenblick mit Ihnen beschäftigen.«

Adhémar zuckte zusammen. Glücklicherweise trat die Gräfin am Arme des Barons in diesem Augenblicke auf die beiden zu.

»Nun, Herr Stiftsamtmann,« sagte die Gräfin de Talk mit leicht spottendem Tone, »weshalb ereifern Sie sich so, was ist denn los?«

»Ich spreche von den Lebenden, Gräfin, dieses verteufelte Gezücht, das über uns, die wir ihnen so sehr überlegen sind, die albernsten Märchen ersinnt und seine infamen Zeitungen bei uns liegen läßt, nur um uns zu beleidigen.«

»Aber so etwas ist doch ohne jede Bedeutung,« sagte gleichgültig die Gräfin. »Diese armen Lebenden! Vergessen Sie doch nicht, daß wir von ihnen abstammen.«

»Leider, ach,« seufzte der Stiftsamtmann, »wahrhaftig, es entehrt die Toten, daß sie von den Lebenden abstammen.«

»Bah,« sagte munter die Gräfin, »ich fühle mich dadurch gar nicht entehrt. Ich verleugne meine frühere Existenz keineswegs. Aber wie geht es Ihren reizenden Töchtern, Stiftsamtmann? Ich sehe sie heute abend nicht hier.«

»Mein Gott, Gräfin, die älteste hat zu Hause bleiben müssen, um ihrem Manne Gesellschaft zu leisten, der an einer Erkältung des Rückgrates leidet. Sie hat mich beauftragt, Ihnen viele Grüße zu überbringen und Ihnen zu sagen, wie sehr sie es bedauert, nicht hier erscheinen zu können – aber Adrienne hat mich begleitet, da kommt sie gerade.«

Der Stiftsamtmann deutete auf eine graziöse jungfräulich aussehende Erscheinung, die Adhémar, dessen ästhetische Anschauung bereits eine eigentümliche Wandlung erlitten hatte, ganz reizend fand. Als sie den jungen Mann erblickte, schien es diesem, als ob sie errötet wäre. Die Gräfin drückte ihr einen zärtlichen Kuß auf die Stirn und die beiden Damen nahmen nebeneinander Platz. Es entspann sich dann eine sehr lebhafte und interessante Unterhaltung. Der Baron war die Seele derselben und er animierte alle durch die Feinheit seiner Bemerkungen und den geistreichen Reiz seiner Entgegnungen. Adhémar hatte sich neben die junge Adrienne gesetzt und er sagte ihr ab und zu ein paar verbindliche Worte. Ohne daß er sich Rechenschaft darüber zu geben wußte, fühlte er sich von einer seltsamen Erregung ergriffen und vermochte keinen Blick von der jungen Dame zu lassen. Obwohl sein Herz die eben erst erfahrene grausame Enttäuschung noch keineswegs überwunden hatte, verfehlten die schüchtern einfachen Antworten des jungfräulichen Kindes und der Wohllaut ihrer Stimme nicht, einen gewissen Eindruck auf ihn zu machen. Adrienne wirkte in ihrer ganzen Lieblichkeit wie eine köstliche Blume, deren frischer balsamischer Duft alle Schmerzen vergessen macht.

Am Schlusse des Abends wurde getanzt, und als Adrienne die feinen Knöchel ihrer kleinen Hand auf Adhémars Schulter legte, als er unter seinem, sie umschlingenden Arme die zarten Wirbelknochen ihre Wespentaille spürte, da bemächtigte sich seiner eine eigentümliche Trunkenheit – er zitterte und fühlte sich von einer leidenschaftlichen Erregung bewegt, die unter den obwaltenden Umständen gewiß sehr seltsam war.

Er vergaß die Welt und alles, was ihn bisher erfüllt und wie er sich dereinst über die schönen Augen seiner ersten Geliebten geneigt, um darin Erfüllung seines Glückstraumes zu suchen, so neigte er sich jetzt über das zitternde verwirrte Kind, das er mit seinem Arme umschlang, und suchte in ihren Augenhöhlen, die ganz erfüllt von jenen geheimnisvoll tiefen Schatten waren, deren Schönheit sich sonst vor den Sterblichen verschließt, Erfüllung eines neuen und schöneren Liebestraumes. Er glaubte in diesen Schatten schon die Gewährung seiner Wünsche lesen zu können und eine unendliche Freude erfüllte sein Herz. Sich ganz der Stimmung des Augenblickes hingebend, murmelte er abgerissen leidenschaftliche Worte, die vielleicht noch feuriger klangen, wie jenes Liebesgeflüster, mit dem er im Lande der Lebenden vor noch nicht allzu langer Zeit jenes junge Mädchen mit dem langen Goldhaar und der seidenweichen Haut zu erobern gewußt, das ihn dann so schnöde verraten hatte und das zu vergessen er auf dem besten Wege war. Seine Schmeichelreden fanden offenbar ein Echo bei dem neuen Gegenstand seiner Flamme, denn Adrienne wagte es kaum, die errötende Stirn zu erheben und zitterte in seinen Armen wie Espenlaub.

Die Gesellschaft neigte sich indessen ihrem Ende zu, der größere Teil der Gäste hatte sich bereits zurückgezogen. Die letzten Erfrischungen wurden umhergereicht.

Auf den Arm ihres Freundes gestützt, hatte die Gräfin mit lächelndem Interesse das junge Paar beobachtet, das jetzt still und nachdenklich nebeneinandersitzend lange zärtliche Blicke miteinander wechselte. »Sagen Sie mir, Baron,« bemerkte die Gräfin jetzt, »finden Sie nicht auch, daß es den Anschein hat, als ob Ihr Verwandter sich lebhaft für meine junge Freundin Adrienne interessiere?«

»Aber – aber – das scheint mir doch nicht der Fall zu sein,« stammelte der Baron, der die Sache ebenfalls bemerkt, und ebenso erstaunt wie peinlich berührt davon war.

»Nun, nun, Baron, deshalb brauchen Sie sich nicht zu beunruhigen,« erwiderte ein wenig boshaft die Gräfin. »Das ist ganz außer Frage. Außerdem ist es ja auch sehr nett. Daß Ihr Verwandter ein vollendeter Edelmann ist, erkennt man beim ersten Blicke, und was meine kleine Adrienne betrifft, so kennen sie die ja auch und wissen, daß sie der Liebe des ausgezeichnetsten Mannes würdig ist.«

»O gewiß, gewiß.«

»Sie ist ebenso tugendhaft, wie sie schön ist,« fuhr die Gräfin fort, »und sie hat sich niemals mit den sogenannten Flirtations befaßt, die heute bei den jungen Damen so sehr in Mode sind und die manchmal wirklich etwas zu weit gehen. Herr de Léonce muß unbedingt einen sehr starken Eindruck auf sie gemacht haben, selbst der Stiftsamtmann hat dies bemerkt obwohl gerade die Eltern in solchen Dingen gewöhnlich sehr blind sind. Nicht wahr, Herr Stiftsamtmann?«

»Frau Gräfin wünschen?« sagte der Stiftsamtmann, der ein wenig taub war, sich umwendend.

»Scheint es Ihnen nicht auch, als ob Ihre Tochter und dieser neuangekommene feine junge Kavalier, der ein Verwandter unseres Barons ist, sich sehr gut miteinander verstehen?«

»So, so! Um so besser. Meiner Treu, mich freut das von Herzen. (Der Vater Adriennes, der in Wirklichkeit bis jetzt noch gar nichts gemerkt hatte, schien sehr zufrieden zu sein.) Bis jetzt hat dieses kleine spröde Frauenzimmerchen sich Herren gegenüber noch niemals entgegenkommend gezeigt, obwohl es ihr keineswegs an Bewerbern gefehlt hat. So oft ich sie gedrängt habe, ihre Wahl zu treffen, hat sie dies doch stets hartnäckig verweigert unter dem Vorwande, daß sie für keinen ihrer Verehrer Liebe empfände, und daß sie unter allen Umständen warten wolle, bis der Mann sich um sie bewerben würde, den sie als den Auserwählten ihres Herzens anzuerkennen bereit wäre. Ich wußte schon gar nicht mehr, was ich mit ihr anfangen sollte, wenn Herr de Léonce wirklich der Auserkorene ihres Herzens sein sollte, so würde mich dies sehr freuen. Er ist ein Verwandter des Barons, und das ist eine volle Garantie für die Reinheit seiner Familie. Ich erinnere mich sogar, seinen Großonkel, den General, gekannt zu haben. Adrienne de Léonce! – Meiner Treu, das klingt gut, es ist ein nobler Name. Sehr gut, sehr gut! Wissen Sie, es ist stets eine heikle Sache, wenn man seine Tochter standesgemäß verheiraten will.«

»Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse,« sagte der Baron, den diese Wendung des Abenteuers ernstlich beunruhigte. »Bis jetzt ist nichts entschieden.«

»Bah! Wir wollen sie noch heute abend miteinander verloben,« und der Stiftsamtmann Hilarion rieb vergnügt seine Fingerknochen aneinander. »Hier weiß man gute Gelegenheiten zu benutzen und macht voran! Wir sind nicht so einfältig wie diese Lebenden, die ihre kurze Existenz damit verzetteln, über die Möglichkeit eines Glückes zu grübeln, das sie vielleicht niemals erreichen. Wir haben ja die Zeit, warten zu können, aber eben deshalb warten wir nicht.«

Er glaubte mit diesen Worten eine tiefe Wahrheit gesagt zu haben und lachte vergnügt – es klang, als ob eine schlecht geölte Kapellentüre knirschte.

»Vergessen wir jedoch nicht,« bemerkte die Gräfin, »daß noch längere Zeit darüber vergehen wird, ehe Herr de Léonce fertig‹ sein kann … Indessen stehe ich für Adrienne und die Lauterkeit ihrer Gefühle ein. Diese Frist wird ihrer Liebe keinen Abbruch tun, sie wird im Gegenteil dadurch noch größer werden.«

»Natürlich, das ist ganz gewiß, es wird eine durchaus glückliche Ehe werden,« sagte stolz der Vater.

Der Baron La Rose wußte nicht mehr, was er sagen sollte. »Gestatten Sie mir, ein paar Worte mit Herrn de Léonce zu sprechen,« stotterte er.

Er näherte sich dem verliebten Paare, das Gegenstand seiner Sorgen war. Adrienne und Adhémar saßen immer noch dicht beieinander und flüsterten sich Liebesworte und Treueschwüre zu. Herr La Rose sagte dem jungen Mädchen, daß die Gräfin mit ihr zu sprechen wünsche, und schob seinen Arm unter den Adhémars.

»Mein lieber Freund,« sagte er ziemlich barsch, »sind Sie sich der Tragweite Ihres Handelns wohl klar bewußt?«

»Ich liebe sie,« antwortete Adhémar, der vor Freude strahlte und im siebenten Himmel zu sein schien.

Der Baron sah ihn ganz verblüfft an.

»Bei meinem Ehrenworte,« sagte er, »Sie sind bewunderungswürdig! Was, vor kaum zwei Stunden erst haben Sie um Ihrer verlorenen Liebe willen mein Brustbein mit heißen Tränen benetzt, und ich habe mir die größte Mühe gegeben, Sie in Ihrer Verzweiflung zu trösten – – und jetzt, – jetzt finde ich Sie lächelnd und trunken vor Freude. Ich gebe mir die Mühe, Sie auf die kompromittierenden Folgen der Torheit aufmerksam zu machen, die zu begehen Sie im Begriff sind, und Sie antworten mir: »Ich liebe sie,« und Sie erklären mir das mit einer Ruhe und Sicherheit, als ob es die selbstverständlichste, normalste Sache der Welt sei.«

»Ich habe die andere niemals geliebt,« antwortete Adhémar mit der größten Ruhe, »ich habe sie allerdings zu lieben geglaubt, aber ich erkenne jetzt, daß dies ein Irrtum war. Erinnern Sie mich nicht mehr daran. Ich verbanne jeden Gedanken an jene Zeit für immer aus meinem Gedächtnisse. Es ist Adrienne, die ich anbete, verstehen Sie mich wohl: ich bete sie an! Sie ist ein Engel, sie bedeutet mir soviel wie die Quelle allen Glücks, ich neige mich vor ihrer göttlichen Reinheit und werde niemals von ihr lassen. Ich bete sie an! Oh, wie schwach und ungenügend ist die Sprache, um auszudrücken, was ich für sie empfinde. Sie können das natürlich nicht begreifen.«

»Natürlich.«

Der Baron schien wütend zu sein.

»Wahrhaftig,« sagte er, »die Liebe macht die gescheitesten Leute zu Idioten. Aber sind Sie sich auch klar bewußt, wen Sie lieben, kleiner Unglücksmensch? Sind Sie sich dessen klar bewußt?«

»Ich liebe Adrienne,« antwortete Adhémar.

»Das weiß ich. Das haben Sie mir ja schon gesagt. Aber wissen Sie auch, wer und was Adrienne ist – wissen Sie das? Sie ist eine der Unsrigen! Eine der Unsrigen! Verstehen Sie das wohl. Kommen Sie doch zu Verstand. Sie ist eine der Unsrigen! Und Sie, Sie gehören dem Leben an! Sapristi!«

»Aber was macht das, wenn ich sie liebe,« antwortete eigensinnig der junge Mann.

»Was das macht? Auf Ehrenwort, er hat den Verstand verloren,« schrie der Baron beinahe in aufgeregtem Tone. »Es würde ja allerdings gar nichts machen, wenn Sie sie liebten, ohne daß sie es wüßte, und, wenn dies der Fall wäre, würde ich mich auch in keiner Weise deshalb beunruhigen – aber sie scheint ebenfalls in Sie verliebt zu sein, und das ist das Unglück.«

»Ja,« antwortete stolz Adhémar, »so ist es, sie selbst hat mir dieses süße Geständnis gemacht. Es war ein göttlich schöner Augenblick, als sie es tat, und mein Glück ist nun ein vollkommenes.«

»Aber die Situation, die Situation,« seufzte der Baron entwaffnet. »Überlegen Sie sich doch die seltsame Lage, in der Sie und auch ich uns befinden. Was sollen wir nur anfangen? Vor allem, wie soll ich mich aus dieser Affäre ziehen, ich, der ich die Torheit begangen habe, Sie hierhin zu bringen! Ich, der ich in jeder Weise für Ihr Auftreten in unsern Kreisen verantwortlich bin.«

»Sie werden niemals Veranlassung haben zu bedauern, daß es geschehen ist, Baron,« sagte Adhémar in stolzem Tone.

»Aber was soll ich nur anfangen? Machen Sie sich doch nur klar, in welch' prekäre Lage ich geraten bin. Wenn ich die Wahrheit sage – und ich bin ja doch gezwungen, dies zu tun –, so blamiere ich mich vor unsrer ganzen Aristokratie, die ich aus Schwäche für Sie verraten habe. Man wird alle Türen vor mir verschließen, und ich werde wenigstens zwanzig Duelle mit dem Stiftsamtmann und all den anderen Verwandten auszufechten haben. Und das wäre noch lange nicht das Schlimmste, aber wie wird die Gräfin die Sache auffassen? Was wird sie von mir denken? Bedenken Sie doch, daß wir ihre Gäste sind! Und diese arme kleine Adrienne, die Sie wirklich lieb zu haben scheint, deren erste Liebe Sie sind. Wie furchtbar kompromittieren Sie dies arme Mädchen. Sie hat ein Verhältnis mit einem Lebenden angenommen. Ich bin mitschuldig an diesem Unglück – ich bin wirklich mitschuldig. Welch furchtbare Lage! O Gott, was soll ich nur anfangen?«

»Sagen Sie nur ruhig die ganze Wahrheit,« antwortete gelassen Adhémar.

»Die Wahrheit sagen? Nun ja, das muß ich wohl, und ich darf keinen Augenblick damit zögern. Aber welche Schande ist das für mich,« murmelte der Baron niedergeschlagen.

»Aber ganz und gar nicht,« sagte Adhémar heiter, »kommen Sie nur mit mir.«

Er erfaßte den Armknochen des Barons und führte ihn zu der Gräfin, die, in vertraulicher Gruppe mit Adrienne und dem Stiftsamtmann plaudernd, den beiden freundlich entgegen lächelte. Der Stiftsamtmann vermochte es kaum, seine helle Freude zu unterdrücken, als er die beiden Freunde auf sich zukommen sah, denn er dachte, daß Adhémar ihn um die Hand seiner Tochter bitten würde.

»Es freut mich sehr, Sie wieder zu sehen, lieber Herr von Léonce,« sagte er, ihm entgegenkommend, die Hand Adhémars ergreifend und sie verbindlich zwischen seinen harten Handknochen drückend. »Aber,« bemerkte er dann plötzlich ganz erstaunt, »wie warm sind Sie – – und wie seltsam Ihre Augen leuchten? – –«

»Sie werden sofort erfahren, wie das zusammenhängt,« antwortete höflich Adhémar. »Der Baron La Rose hat Ihnen eine Mitteilung zu machen.«

»Nun, und was wäre das,« sagte der Stiftsamtmann.

»Jede uns vom Baron La Rose gemachte Mitteilung wird uns sehr interessieren,« sagte die Gräfin, einen Schritt vortretend, während Adrienne, die sehr verlegen zu sein schien, sich ein wenig zurückzog. »Übrigens«, fügte die Gräfin von Talk hinzu, »hat meine junge Freundin mir und dem Stiftsamtmann schon halb und halb verraten, was Sie uns sagen wollen.«

»Das, das glaube ich kaum,« murmelte der Baron, dessen Stirn sich vor Aufregung mit einer feuchten Ausdünstung bedeckte.

»Doch, das glaube ich ganz gewiß,« sagte die Gräfin munter. »Also reden Sie, Baron. Sie können sich ganz frei aussprechen. Alle meine Gäste haben uns verlassen. Wir sind ganz unter uns.«

»Ja, reden Sie, Baron,« sagte auch der Stiftsamtmann, sich in die Pose eines aristokratischen Vaters werfend, was er übrigens ja auch wirklich war.

»Nun also – also – Ich weiß nicht recht, wie ich es Ihnen beibringen soll.« Herr La Rose schien wirklich in großer Verlegenheit zu sein. »Nun also,« sagte er endlich verzweifelnd, »also, ich habe Sie verraten, gnädige Frau. Ich habe unsere ganze Gesellschaft verraten. Herr de Léonce – Herr de Léonce ist lebendig.«

»Lebendig, ach, wie entsetzlich!« rief die Gräfin.

»Lebendig? Was? Einer dieser Pöbelbande in unserem Kreise und meine Tochter hat sich mit ihm eingelassen!« brüllte der Stiftsamtmann. »Baron, dafür werden Sie mir Genugtuung geben.«

»Lebendig, er, mein Gott,« seufzte Adrienne mit gebrochener Stimme.

Es waren nur ihre Worte, auf die Adhémar lauschte. Er stürzte auf sie zu, um das arme Kind in seinen Armen aufzufangen, denn sie sank um wie eine Blume, die der Sturm geknickt.

»Zurück,« schrie wütend der Stiftsamtmann, auf ihn zustürzend. »Ein Lebender soll meine Tochter nicht berühren.«

»Beruhigen Sie sich.« Adhémar, dessen linker Arm das ohnmächtige Mädchen umschlungen hielt, machte mit der rechten Hand eine gebieterische Bewegung und trat dem Stiftsamtmann mit einer Würde und Hoheit entgegen, die ihre Wirkung nicht verfehlte. »Beruhigen Sie sich,« wiederholte er noch einmal und blickte den alten Herrn offen und mit edlem Stolze an. »Lebendig! Gewiß, das bin ich. Ich kann das nicht leugnen, und ich habe meine Lippen auch noch nie mit einer Lüge befleckt. Ich bin lebendig – aber, wenn der Baron sich dadurch strafbar gemacht, daß er mich hier eingeführt hat, so sei Ihnen sein lautrer Charakter Bürgschaft dafür, daß nur der Edelmut seiner Seele und die große Güte seines Herzens ihn schuldig gemacht haben. Er hat sein Vertrauen als Edelmann auf die Ehre eines Edelmannes gesetzt, der sich dessen nicht unwürdig erweisen wird, das können Sie mir glauben! Ich bin ja augenblicklich wirklich noch lebendig, aber das ist doch von gar keiner Bedeutung, da ich in wenig Augenblicken aufgehört haben werde zu leben.«

»Was,« sagte die Gräfin, »Sie wollen?«

»Mein großmütiger Freund,« rief der Baron, »ich hoffte, daß es so kommen würde; aber mein Zartgefühl verbot mir, mit Ihnen darüber zu reden.«

»Sehr gut, junger Mann!« Und der Stiftsamtmann schneuzte sich.

»Mein edler Adhémar,« seufzte Adrienne, die aus ihrer Ohnmacht erwacht war.

»Engel,« sagte Adhémar, zärtlich das schlanke reizende Kind an das Herz drückend. »Es gibt nichts, was ich nicht vollbringen könnte, wenn es dich zu erringen gilt. Ganz abgesehen davon, erscheint es mir kein Opfer zu sein, für dich zu sterben. Ich bin des Lebens und seiner plumpen verräterischen Frauen überdrüssig. Hier habe ich die Ehre, die Liebe, die Freundschaft gefunden. Hier bleibe ich.«

»Welche Freude für uns, daß Sie bei uns bleiben wollen,« rief die Gräfin. »Ihr Eintritt in das Reich der Toten ist wirklich romantisch, mein Herr, und wird Ihnen Glück bringen.«

»Mein Freund, ich bin tief gerührt,« und der Baron umarmte den jungen Mann zärtlich, er war so verwirrt, daß er aus Versehen auch die Gräfin in die Arme schloß.

»Mein Schwiegersohn.« Der Stiftsamtmann küßte Adhémar auf die andere Backe. »Diese dummen Menschen würden alle nicht mehr leben wollen, wenn sie sähen, welches Glück wir hier genießen.«

»Ich liebe dich,« murmelte Adrienne so leise, daß nur Adhémar es vernahm.

»Nun aber ans Werk, so schnell wie möglich!« rief der junge Mann begeistert.

»Wäre es da nicht vielleicht doch besser, wenn die Damen sich zurückziehen wollten,« warf der Stiftsamtmann ein.

»Woran denken Sie,« protestierte der Baron. »Das kann nicht hier in der Wohnung der Gräfin von Talk gemacht werden. Die Schicklichkeit erfordert, daß das draußen geschieht, und wir werden uns deshalb jetzt verabschieden.«

»Ja,« sagte Adhémar eifrig, »gehen wir so schnell wie möglich.«

»Auf baldiges Wiedersehen, Herr de Léonce,« sagte die Gräfin gerührt zu dem jungen Manne. »Laß ihn gehen, liebe Adrienne,« fügte sie hinzu, denn das junge Mädchen hielt den Hals ihres Geliebten umklammert und wollte sich nicht von ihm trennen.

»Noch einen Kuß,« bat Adhémar, sie fest an das Herz drückend. Sie gewährte ihn mit schmerzlicher Freude und ließ sich dann von der Gräfin fortführen.

»Wird es ihm sehr wehe tun,« flüsterte angsterfüllt das zärtliche Kind, matt an das Schlüsselbein der Gräfin sinkend.

»Aber nein, es ist nichts,« antwortete diese, das junge Mädchen stützend und nur mühsam ihrer eigenen Erregung Herr werdend.

Adhémar, Herr La Rose und der Stiftsamtmann hatten die Kapelle verlassen. Der Nebel, der sich bei Annäherung des Morgens immer mehr verdichtete, hing schwer und eiskalt wie ein Leichentuch über der Erde. Adhémar zitterte vor Kälte.

»Das ist ein alter Rest der Schwachheiten des schmutzigen Lebens,« brummte der Stiftsamtmann durch seine falschen Zähne.

Sie hatten einen ganz verlassenen kleinen Platz mit einer bequemen Bank erreicht, auf der sie sich niederließen.

»Was für ein Mittel gedenken Sie anzuwenden, lieber Freund,« frug ihn liebevoll der Baron.

»Ich habe verschiedene mitgebracht, denn ich war, als ich hierher kam, von Anfang an entschlossen, nicht mehr von hier wegzugehen. Die feige Verzweiflung, die mich hierhergetrieben, erscheint mir jetzt allerdings unwürdig und sogar lächerlich, aber ich verdanke es ihr, daß ich nun mit allem Nötigen versehen bin,« antwortete Adhémar.

Er zog einen Revolver, einen Dolch, mehrere kleine Fläschchen und einen Brief aus seiner Tasche. »Dieses Kuvert,« sagte er zu seinen Begleitern, »enthält das, was die Lebenden ihr Testament nennen. Ich treffe darin die Verfügung, daß man mir hier für alle Zeiten eine Gruft und ein Monument sichert. Da ich sehr reich bin und keinen näheren Verwandten habe, wird das keine Schwierigkeiten machen. Die Welt wird denken, daß ich mir aus Verzweiflung über den Tod jener kleinen koketten Person das Leben genommen habe,« sagte er vertraulich zu dem Baron, »aber das ist mir gleichgültig.«

»Die Meinung der Lebenden hat nicht die geringste Bedeutung,« erklärte der Baron. »Was aber ihre künftige Wohnung betrifft, so mache ich Sie darauf aufmerksam, daß zwei Schritt von hier ein Eigentum zu verkaufen ist. Bemerken Sie daher, daß Sie die Grabstätte Nr. 28, Allee D., bevorzugen. Es ist eine gute Lage und durchaus passend für eine junge Haushaltung.«

»Und bestellen Sie sich ferner zwei Särge, einen von Blei und einen von Eichenholz, man liegt besser darin,« bemerkte der umsichtige Stiftsamtmann, »aber betonen Sie besonders, daß sie nicht ausgepolstert sein dürfen, das bröckelt ab und gibt Hustenreiz.«

»Gut,« sagte Adhémar. Er öffnete den Brief, und, das Papier auf sein Knie legend, fügte er mit dem Bleistift noch ein paar Zeilen hinzu.

Nachdem dies geschehen, richtete er sich entschlossen aber doch etwas bleich und zitternd auf.

»Jetzt, meine Freunde, werde ich Ihnen bald angehören,« und er zielte mit dem Revolver auf seine Stirn.

»Nicht dahin zielen,« rief der Baron, ihm den Arm festhaltend. »Sie würden sich ja Ihren ganzen Schädel zerschmettern. Adrienne würde trostlos darüber sein.«

»Ach, wirklich!« und Adhémar richtete die Mündung seiner Waffe gegen seine Brust.

»Nehmen Sie doch Ihre Rippen in acht,« meinte der Stiftsamtmann, »es entstellt das ganze Skelett, wenn ein paar davon verletzt werden.«

»Aber, wie soll ich es denn machen,« frug Adhémar, ganz verwirrt den Revolver ansehend, als ob der ihm Rat erteilen könne.

»Mein Lieber, legen Sie so besonderen Wert darauf, diese brutale und Lärm erregende Waffe zu gebrauchen,« frug ihn der Baron. »Ich habe eben ein gewisses kleines Fläschchen in Ihren Händen gesehen.«

»Gift! Aber das verursacht große Schmerzen und ist auch keineswegs ganz sicher,« sagte der Stiftsamtmann. »Nein! Glauben Sie mir, junger Mann, es ist am sichersten und besten, sich der blanken weißen Waffe, Ihres guten Dolches, zu bedienen. Es geht nichts über die treue scharfe Klinge unsrer Ahnen! Man durchbohrt sich kühn das Herz damit, und alles ist in Ordnung.«

»Sie haben recht, Stiftsamtmann,« rief der Baron. »Der Dolch! Ja, das ist die anständigste Todesart, und man weiß, was man tut.«

Adhémar zog einen entzückend scharf geschliffenen Dolch, dessen Heft reich verziert war, aus der Scheide.

»Glauben Sie,« frug er mit einem leichten Schauder, »glauben Sie, daß es mir gleich gelingt! Ganz allein – mit dem ersten Stich?«

»Ich werde Ihnen herzlich gern diesen kleinen Dienst erweisen,« sagte der Stiftsamtmann, lebhaft den Dolch ergreifend und die Schärfe der Spitze an dem ersten Knöchel seines Daumens prüfend.

»Versichern Sie sich ganz genau der richtigen Stelle, und stoßen Sie dann kräftig zu, ich werde unsern lieben Freund festhalten.«

So sprechend, glitt der Baron hinter Adhémar.

»Wir werden,« sagte er zu ihm, »Ihr Testament neben Sie auf diese Bank legen, und, wenn die Aufseher morgen den ersten Rundgang machen, wird man Sie finden. Wir werden zweifellos das Vergnügen haben. Sie in zwei Tagen wiederzusehen, denn man wird Sie ganz gewiß provisorisch hier beisetzen.«

»Beeilen wir uns, der Morgen naht,« sagte ungeduldig der Stiftsamtmann, den Dolch zückend.

»Ja, beeilen wir uns,« stammelte nervös Adhémar, den der Baron jetzt kräftig unter die Arme gefaßt hatte.

»Sie gestatten, daß ich die Kleider ein wenig voneinander schiebe,« sagte der Stiftsamtmann, seinen Rock und die Weste öffnend.

Er nahm eine bequeme Stellung ein und hielt die Spitze des Dolches auf Adhémars entblößte Brust, genau auf die Stelle des Herzens.

»Wenn es Ihnen jetzt recht ist?« sagte der Stiftsamtmann mit ritterlicher Höflichkeit, die jedoch nicht ganz frei von einer vielleicht unbewußten wilden Grausamkeit war.

Adhémar schluckte krampfhaft.

»Stoßen Sie zu,« sagte er.

»Ach,« röchelte er, nachdem der Stiftsamtmann sein Herz durchbohrt, jäh, aufzuckend und einen letzten Seufzer aushauchend. »Ach – das Leben –«

Als er tot niedersank, krähte der Hahn.


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