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Im Bahnwarthäuschen.

Von Hermine Villinger.

»Aus dem Kleinleben.« Erzählungen von Hermine Villinger. Vierte vermehrte Auflage. Lahr. Druck und Verlag von Moritz Schauenburg.

Der Zug mit seinen rotleuchtenden Augen dampfte davon, der Bahnwart warf einen Blick zum Sternenhimmel, murmelte leise: »Gut' Nacht, Alte da oben!« und trat in sein Häuschen. Drinnen saßen seine sechs mutterlosen Kinder am Fenster, und die Große sang:

Weißt du, wieviel Sternlein stehen
An dem blauen Himmelszelt –

und das Kleinste langte ihr dabei immerfort in den Mund, wie um die Töne zu fassen, die es hörte. Dem Bahnwart war der Hund entgegengelaufen und streckte sich wedelnd an ihm empor. »Ja, Karo«, sagte der Mann, und hing seinen Rock an den Nagel, »es tut mir leid, aber sechzehn Mark für so einen lumpigen Köter, jetzt, da ich eine Magd zahlen muß, das geht nicht länger.« Die Große wandte sich um: »Vater, uns ist der Karo lieber, als die brummige Dortel, die laß nur laufen.« – »So«, sagte er, »willst du vielleicht allein fertig werden? Das möcht' ich mit ansehen.« Er setzte sich an den Tisch, und die Magd kam herein und brachte ihm Brot und Käse und ein Glas Bier. Mit dem Bier in der Hand ging der Mann zu den Kindern; das kleinste, ein großäugiges Kahlköpfchen, mußte ihm Bescheid tun. Es zierte sich nicht, tat einen Schluck und verzog dann's Mäulchen, indem ihm die schwarzen Augen überliefen. Die Kinder lachten es aus, und der Dicke dachte wie allabendlich, wenn dieser Akt vor sich ging: wär' ich doch das Kleinste!

Während der Mann speiste, sagte die Große zu den Geschwistern: »Jetzt weiß ich's, der Vater will den Karo wegtun, er kostet sechzehn Mark.« Die Bestürzung war groß; der Karo war mit allen aufgewachsen, keines konnte sich das Leben ohne den Karo denken.

»Heut gibt's noch die dickste Käserinde, Alter, ja«, sprach der Bahnwart zu seinem Hund, »vielleicht find' ich auch einen, der dich nimmt, damit du nicht ins Gras beißen mußt, jawohl, Alter.«

Der Mond beleuchtete sämtliche zum Weinen bereiten Kindergesichter, nur die zweite, die Hexe, stand im Hintergrund und biß trotzig in ihren schwarzen Zopf. Man sah fast nichts von dem blassen Gesicht vor lauter schwarzem, mächtigem Haar. Da sagte ein Blondköpfchen, die lieblichste von allen: »Bst, ich weiß was.« Und wenn sie so das Fingerchen auf den Mund legte und mit den glänzenden Augen ins Weite schaute, dann wußte sie in der Tat immer was, und groß und klein hörte ihr gern zu.

»Es kam vom Himmel ein Wagen gezogen«, begann das Kind, »mit einer großen, schönen Königin, und sie trug ein Kleid von Silber, und einen Hut von Gold, und in der Tasche hatte sie Geld, mehr als der Lehrer, mehr als die ganze Welt. Und ich hab's ihr gesagt vom Karo, und sie hat gleich genickt und war so gut und hat es heimlich unter mein Kopfkissen gesteckt, all das viele, viele Geld – und da liegt's nun.« – Die Große nickte mit einem mütterlichen Lächeln, aber als die Erzählerin nach ihrem Bettchen lief, folgte ihr nur das zweitkleinste, kaum zum Gehen fähige Wesen. Der Dicke glaubte nicht mehr an Wunder; er stellte sich mit gespreizten Beinen vor den Vater hin und sprach die bedeutungsvollen Worte: »Wer aber soll jetzt die alten Brocken fressen!« Wenn er geglaubt, seinen Vater mit dieser Frage in Verlegenheit zu bringen, so sah er sich getäuscht; mit vollkommener Ruhe erwiderte dieser: »Du, Dicker.«

Und Karo, um den jetzt fünf kleine Herzen bluteten – das sechste kannte erst Nahrungssorgen –, Karo fraß mit Appetit seine Käserinde und verfügte sich dann wie gewöhnlich nach dem letzten Bissen zu seinen Kameraden, die ihn mit offenen Armen empfingen, wie doppelt schmerzlich erschien es ihnen, ihn verlieren zu müssen, jetzt, da sie ihn so traulich in ihrer Mitte hatten! Der Bahnwärter nahm sein Zeitungsblättchen aus der Tasche und vertiefte sich in die Politik. Sonst hatte er immer von Zeit zu Zeit den schwätzenden und schreienden Kindern ein – Ruhe! – zurufen müssen. Heute war's ganz still; eng zusammengerückt hielten sie ihr Kleinod alle miteinander umfaßt. Aber obgleich es aus Liebe geschah, dem Karo erschien die Lage als die möglich unbequemste. Er schüttelte sich ein wenig, und da dies nichts half, legte er endlich resigniert den Kopf auf den Schoß des Jüngsten; das patschte ihm mit den dicken Händchen auf die Nase, rupfte ihn an den kurz verschnittenen Ohren und griff in seine treuen Augen. Er ließ sich alles gefallen von diesen weichen Händchen, die nicht weh zu tun vermochten; nur nach den Größern schnappte er manchmal, denn jedes wollte ihn an einem Beine halten.

»Ich weiß auch, was ich tue«, sagte die Große, »ihr braucht nicht traurig zu sein; ich werd' dem Vater sagen, daß er mir übers Jahr kein Konfirmandenkleid zu kaufen braucht, ich werd' ihm sagen, er soll dafür den Karo behalten.« Der Dicke, von Natur ungläubig, zuckte immer die Achseln wie ein Alter, dabei guckte ihm das Hemdchen hinten heraus. »Ich weiß ganz was anderes«, sagte er; »wenn der Vater den Karo holen will, dann schrei' ich, – ich kann besser schreien als ihr alle, – ich schrei', bis er ihn losläßt.« – »Und ich weiß auch was«, sagte das Blondköpfchen, »ich bet' zum lieben Gott.«

Während sie so alle etwas wußten, saß die Hexe in einer schmalen, kleinen Ecke zwischen der Kommode und dem breiten Wandschrank. Sie hatte ihren eigenen Kopf, und schon die Mutter hatte gesagt: »Mit der wird man am wenigsten fertig.« Die Große, ein braves, ordentliches Schulmädchen, hatte immer Gelegenheit, sich der Schwester zu schämen, denn wo sich Buben und Mädel balgten, spielte die längliche, grün- und rotkarierte Schultasche der Schwarzen stets die Hauptrolle. Und wenn sie daherkam im wehenden Rock, mit den herabwallenden Zöpfen, so hieß es allenthalben unter den Kindern: »Seht, da kommt die Zopfhexe!« Aber auf diesen Titel war sie auch nicht wenig stolz, denn wo sie ging und stand, immer wurden diese rabenschwarzen, faustdicken Flechten bewundert, deren Enden den Saum ihres verwaschenen Röckchens berührten. Sie saß in ihrer Ecke und lauschte auf das leise Geflüster ihrer Geschwister. Als der Vater aufstand und in den Rock schlüpfte, um seinen Dienst zu versehen, trat ihm die kleine Person plötzlich in den Weg und sagte in ihrer trotzigen Weise: »Das ist aber bös von dir, Vater, der Karo soll nicht fort, ich leid's nicht!« Nun tat's dem Manne ja selber leid, und das machte ihn gröber als nötig. »Du hast am allerwenigsten zu sagen«, fuhr er sie an, »vergeht denn ein Tag, ohne daß man dich schelten muß? Die fünfe zusammengenommen sind besser zu haben als du.« Er ging, und die Schwarze verfügte sich zornglühend in ihren Schutz- und Trutzwinkel. Augenblicklich kam der Karo herbei und leckte ihr eifrig übers Gesicht. Das war sein Amt, so oft sie gescholten wurde, und das ließ er sich nicht nehmen.

Als der Bahnwart eine Stunde später in die Stube trat, war alles still. Er nahm das Lämpchen vom Tisch und leuchtete in den Nebenraum, in welchem eine Lagerstätte neben der andern stand. Die Große schlief mit dem Jüngsten im Arm, und er schaute das frühgeplagte Mütterchen wehmütig an. Der Dicke machte Fäuste, das Blondköpfchen sah aus, als träume es von Engelein. Aber der Bahnwart suchte den Karo, den er jetzt leise fortzuführen gedachte. Er fand ihn auf der Decke neben der Hexe; ihre dicken Zöpfe umwanden wohl sechsfach den Hals des Hundes, der blinzelte seinen Herrn freundlich an und schlief ruhig weiter.

»Die Hexe«, flüsterte der Mann, »mach' ich ihn los, gibt's ein Geschrei, und alle wachen auf, – verdammte Hexe.« Lachend suchte er das eigene Lager.

Am folgenden Morgen hatten die Dinge alle ein anderes Aussehen; die Große bemerkte, wie fadenscheinig und verflickt ihr schwarzes Kleid sich ausnahm, und als sie überdachte, wie traurig sie neben ihren neugekleideten Kameradinnen am Konfirmandentag einhergehen würde, fand sie das Opfer für den Karo zu groß, und schwieg. Der Dicke hatte des Morgens im Bett, eingedenk seines Vorsatzes, gleich ein großes Geschrei angestimmt, vom Vater aber eine so schallende Ohrfeige erhalten, daß ihm alles fernere Protestieren verging. Das Blondköpfchen aber, das hatte über den neuen Geschichten, die ihm einfielen, all sein Leid vergessen; sie erzählte sie, in Ermangelung anderer Zuhörer, dem Jüngsten, das auf der Erde saß, am Daumen schnullte und sehr verständig zuhörte. Die Hexe war gleich nach dem Frühstück verschwunden; nach dem Karo wagte niemand zu fragen, denn der Vater war sehr schlechter Laune.

Kaum hatte er die Stube verlassen, ging's an ein Suchen und Rufen, aber kein Karo kam. Nun war's entschieden, schluchzend rückten die Kinder zusammen. Die Große hatte bittere Reue, sie hätte allem Unglück abhelfen können, und das beschämte sie vor sich selber. Der Dicke, die Hände in den Taschen, sprach in einem Anfall von Rachedurst: »Aber ich weiß auch, was ich tu', – ich esse gar nichts mehr.«

Später kam der Vater; die Hundegeschichte fing an, ihn zu verstimmen, »Wo ist der Köter?« fragte er, »heraus damit, es muß ein Ende nehmen.« Die Kinder erklärten einstimmig, sie wüßten nichts vom Karo; der Vater wollte es nicht glauben und holte die Rute aus der Ecke. Da sie trotzdem bei ihren Versicherungen blieben, legte er die Rute neben sich. »Diesmal soll sie die Hexe fühlen, damit sie lernt, zeitig zum Essen zu kommen.«

Die Magd setzte den Kartoffelbrei auf den Tisch, für den Vater gab's noch eine Wurst. Gerade als jedes seinen Löffel ausstreckte, flog die Türe auf, und die Hexe und Karo stürzten miteinander über die Schwelle, – sie atemlos, mit einem Zettel in der Hand, den sie vor den Vater hinlegte. Der schaute sie ganz entsetzt an: »Wie siehst du aus, – wo sind deine Zöpfe?« – »Verkauft«, lachte sie, »und da ist der Taxzettel für den Karo, ich hab's gleich auf dem Rathaus bezahlt.«

Die Kinder stürzten mit einem Freudengeschrei über den Wiedergewonnenen her, und die Hexe, nun ihrer schönsten Zierde beraubt, blickte den Vater halb ängstlich, halb triumphierend an. Der schwieg, indem er mit einer an Ingrimm streifenden Hast seine Wurst aufspießte. Sie bekam nicht die Rute, die Hexe.


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