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Die Kiesgrube.

Von Emil Prinz v. Schönaich-Carolath.

»Novellen.« Verlag von G. J. Göschen, Leipzig.

Es war ein Tag zwischen Loire und Jura. Fern hinter welligen Hügelketten schob sich das neugebildete französische Korps in Stellung. Seinen Flügel deckten zwei Halbbrigaden; hier auf Vorposten lagerte in leicht aufsteigendem Gelände ein Bataillon.

Die Sonne schien warm auf die nassen, räderdurchfurchten Felder, in den Hohlwegen sackte sich zusammenschmelzender Schnee mit braunen, krustigen Rändern.

Drunten am Kreuzpunkt der Straßen lag ein Wirtshaus, dahinter, in seichter Talmulde, das Dorf. Vor der Kirche hatte man die Nußbäume gefällt, so daß sie als Verhau den Dorfeingang sperrten.

Sonst bot das Gelände ein Bild des Friedens, nichts schien auf nahe Kriegsgefahr zu deuten, es gingen sogar Gerüchte, daß die Deutschen irgendwo, zwischen Belfort und der Lisaine, eine Niederlage erlitten hätten. Vom Feinde sei nichts zu befürchten, und Ruhetage ständen in Aussicht.

Des freuten sich die Leute des dritten Bataillons, denn die meisten waren kriegsmüde, und ihre vernachlässigten Monturen, ihre lärmende, schlechte Haltung zeugten reichlich davon, daß der Feldzug bisher für sie aufreibend, unheilvoll gewesen war.

Oben am Feldsaum lag eine Kiesgrube, die Abfallstätte des Dorfes. Dort scharten sich Mannschaften, Mobilgarden und Liniensoldaten im Durcheinander. Seitwärts, noch eben zwischen den zertrümmerten Rädern hängend, stand ein gestrandeter, verlassener Marketenderkarren. Den halten die Soldaten erbrochen und beraubt; weitumher lagen Sardinenbüchsen, Kistendeckel, fettige Papierreste. Ein halbgefülltes Fäßchen erfreute sich des regsten Zuspruchs, doch halten sich des Schatzes ein paar energisch aussehende Kerle bemächtigt, die eine Art Schenkpolizei ausübten.

Jetzt war ein beliebtes, volkstümliches Spiel im Gange; mit verbundenen Augen kniete einer und gab seine Kehrseite preis, auf diese schlugen einzeln, in Reihenfolge die Kameraden, natürlich in derber Weise. Der Blinde hatte zu raten, von wem der Schlag gekommen: nannte er den Täter, so mußte der die Stelle des Geschlagenen einnehmen.

Jetzt fiel ein Hieb von besonderer, klatschender Wucht; der Getroffene sprang empor und rieb wutschnaubend seine krapproten Hosen. Das war Betrug, schrie er, indessen die andern vor Wonne brüllten, Ihr habt nicht mit der Hand gehauen, sondern mit einem Riemen! Ja, mit deinem Leibriemen, du verdammter Hund, fügte er hinzu, einem hageren, grinsenden Infanteristen sofort an die Kehle springend.

Andere suchten wegzureißen, zu vermitteln; im Umsehen entstand eine erbitterte Prügelei.

Hundert Schritte davon schlenderte, im Kapuzmäntelchen und roten, goldverschnürten Käppi, ein Leutnant. Als der den Lärm vernahm, zog er eine Landkarte aus der Tasche und begab sich, eifriges Terrainstudium vorschützend, aus der Nähe der Streitenden.

Auf einmal erhob sich unfern des gestürzten Marketenderkarrens hinter einem Schutthaufen ein schmutzbedecktes Tier. Es war ein großes, abgezehrtes Pferd, das infolge seiner schrecklichen Magerkeit noch größer als gewöhnlich erschien. Unter dem schäbigen Fell zeichneten sich die Rippen wie Tonnenreifen, am Vorderbein trug es eine große unförmige Geschwulst, die von Schlägen oder von vernarbendem Knochenschuß herrührte.

Zutunlich und halb verhungert schleppte es sich bis zu den Streitenden und begann die zerbrochenen Kisten nach etwas Stroh zu durchsuchen.

Die Erscheinung war eine derartig unvermutete, kläglich komische, daß sich der Zank legte und ein allgemeines Gelächter entstand. Die schlechtesten Witze wurden laut.

Der sieht ja aus, hieß es, als ob Mittfasten und Karfreitag zusammenfielen.

Das ist des Teufels Rosinante, schrie ein anderer, die schickt uns Satan zum Spazierenreiten.

Paßt mal auf, sprach ein kleiner, stämmiger Kerl, indem er den Leibgurt lockerte und die Mütze in den Nacken schob.

Er nahm einen Anlauf und sprang von hinten auf das Tier, das gesenkten Kopfes dastand. Hü, Alter! rief er, indem er die mageren Weichen mit den Hacken bearbeitete. Linksgalopp, marsch!

Das alte Geschöpf, seines Zeichens offenbar ein ausgedientes Militärpferd, verstand zum Jubel der Anwesenden die Aufforderung und versuchte willig, trotz seines geschwollenen Beines, ein paar humpelnde Galoppschritte zu tun.

Wir wollen mitreiten, riefen einige, als das Gelächter sich gelegt hatte, auf dem Kamel haben wir alle Platz.

Wartet mal, sprach einer, wir wollen Faschingsumzug halten.

Er holte aus dem Marketenderkarren eine schmutzige Frauenhaube mit flatternden Bändern und stülpte sie über die trübseligen, baumelnden Pferdeohren. Unterdessen hatten drei, vier andere den Rücken des Pferdes erklettert.

Brrr, Alter – hü, nun vorwärts!

Aber das kranke Tier bewegte sich nicht, nur seine Beine zitterten unter der Last. Das Stillstehen erregte Hohnrufe und Zorn. Spaßverderber, willst du, oder willst du nicht? Hiebe begannen zu hageln.

Das Pferd tat eine letzte Anstrengung und stand abermals still. Nun sprangen etliche erbittert hinzu, Fußtritte polterten zwischen die hageren Weichen.

Laßt doch das Tier in Frieden, bat ein kleiner Rekrut, der die Quälerei nicht mehr ansehen mochte.

Was ist gefällig, Monsieur Schnêtz, Monsieur Pierre Schnetz, höhnte ein langer Moblot. Sollten Sie vielleicht in Ihrer Heimat zu den Ehrenmitgliedern des Tierschutzvereins zählen, hochgeehrter Monsieur Schnêtz?

Und alle wiederholten im Chor: Monsieur Schnêeeets. –

Dem kleinen gehänselten Elsässer war vor Erregung das Weinen nahe. Man quält doch Geschöpfe nicht ohne Grund zu Tode, das da hat sein Lebtag schwer gearbeitet – und dann hat das alte Tier ja doch auch schließlich einmal eine Mutter gehabt. –

Der einfaltsvolle Einwand weckte eine brüllende Lachsalve.

Sollte man nicht meinen, rief der hagere Reservist, daß ihr elsässisches Bauernpack mit euren Haustieren aus einem Troge freßt? Wenn du nicht mitmachen willst, so scher dich zum Teufel, dummer Rekrut. Geh in den Stall und trink Brüderschaft mit den Ochsen. Ihr andern vorwärts – hü, Schindmähre!

Aber die Mähre war nicht vom Fleck zu bringen. Holt einen Knüppel und schlagt vor die Schienbeine, riet einer, der früher Sandfuhrmann gewesen war.

Gesagt, getan, doch die Kreatur rührte sich nicht; aus dem schmierigen Fell brach dicker Schweiß, die Augen wurden gläsern, trübe.

Was geht hier vor sich? rief eine zornheisere Stimme. Seid Ihr französische Soldaten oder feiges Marodeurgesindel?

Vor den Überraschten stand ein ältlicher, untersetzter Herr in bürgerlicher Kleidung. Ihm folgte, säbellos, das Reitstöckchen im Stiefel tragend, ein Verwaltungsoffizier. Man merkte es ihm an, daß er trotz seiner Epauletten sich nur ungern in die Nähe der Soldaten gewagt hatte.

Das Erstaunen der anfangs Überraschten legte sich gar bald; den Offizier beachteten sie nicht, um so mehr widmeten sie dem alten Herrn ihren Spott.

Was verschafft uns die Ehre Ihres Besuchs? rief einer, sich breitspurig auf seinen Knüttel stützend.

Guten Tag, Herr Bürgermeister, sprach ein anderer mit tiefer Verbeugung. Sie wollen uns wohl wegen Störung der Sonntagsruhe belangen, und der Mehlsack dort hinter Ihnen soll das Protokoll aufnehmen, he?

Sie tragen Offiziersabzeichen, herrschte der alte Herr seinem Begleiter zu, und wissen nicht, sich Respekt zu verschaffen? Mein Gepäck blieb zurück, und ich habe Zivilkleider am Leibe, sagen also wenigstens Sie der Bande, woher wir kommen, und daß –

Wäre gegenüber dieser Stimmung der Leute und in diesem Augenblick völlig unnütz, entgegnete der andere achselzuckend, leise.

Dann, als er bemerkte, daß immer mehr Soldaten sich scharten und die Kiesgrube füllten, ließ er seine Stimme anschwellen. Das sind übrigens ehrliche Kerle und gute Kameraden, rief er im Brustton väterlichen Wohlwollens. Nur manchmal etwas ausgelassen, im ganzen aber wirklich brave, gute Kinder. Sie wissen und fühlen es: der Stolz und die Hoffnung Frankreichs ruhen auf ihnen –

Ein johlendes Gelächter lohnte die Redewendung. Wir verbitten uns dein Lob, du Speckmade. Halte den Mund und spare deine Mühe. Was habt Ihr übrigens hier zu suchen? Macht, daß Ihr fortkommt und haltet uns nicht auf. Gleich geht der Schnellzug weiter. Einsteigen, meine Herrschaften, einsteigen!

Der lange schwarze Kerl hatte den Ruf getan, indem er sich gleichzeitig wieder dem ermatteten, keuchenden Pferde näherte. Doch auch der alte Herr trat dichter heran. Wer die Hand noch einmal gegen dieses Geschöpf hebt, rief er, dem Moblot fest ins Gesicht sehend, ist kein Soldat mehr, sondern ein Schuft und Feigling.

Feigling du selbst, schrie der Hagere haßerfüllt. Und weil dir an dem Tiere gar so viel zu liegen scheint, so sollt ihr Beide eure Bescherung kriegen. Da –

Er hatte rasch eine Zaunlatte erhoben, sprang auf das Tier zu und schlug es mit voller Wucht zweimal über den Kopf.

Es warf den Hals matt in die Höhe und blieb noch aufrecht stehen, auf zitternden Knieen. Ein Auge lief ihm, ausgeschlagen, langsam über den hängenden Kopf; es starb noch immer nicht.

Der alte Herr hatte sich aufgereckt, die Adern schwollen ihm in den Schläfen, in seiner Hand lag plötzlich ein schwerer Armee-Revolver. Erst schien es, als wolle er dem Schurken, der den Schlag getan, ins Gesicht brennen, dann aber wandte er sich zu dem alten Pferde, streichelte es und jagte ihm kurzweg eine Kugel durchs Gehirn. Es fiel zusammen und streckte sich.

Jetzt waren es die Schreier, die mit offenen Mäulern dastanden. Etliche drückten sich und rissen ehrenhalber ein paar erzwungene Witze; die schlimmsten jedoch, die für den enttäuschten, wutfahlen Mobilgardisten Partei genommen, rafften Zaunlatten auf und wollten dem Fremden zu Leibe.

Da erschien, von den Offizieren abgesandt, ein alter, mit Denkmünzen beleihter Sergeant, ein Lothringer. Unter gräßlichen Flüchen trieb er seine Leute auseinander. Dann, die Backen aufblasend, maß er den Angekommenen. Verhaftet, folgen Sie mir zum Kommandanten! sprach er barsch.

Aus den Straßengräben hinter den Scheuntoren reckten Mannschaften die Hälse empor, betrachteten neugierig den Vorgang. Sie bildeten Reihe, die Hände in den Kapottaschen, die Zigarette im schlaffen Mundwinkel. Etliche Spaßvögel tauschten in langgezogenen Diskanttönen ihre Bemerkungen.

Plötzlich steckte einer die Finger in den Mund und tat einen gellenden pfiff. Die Andeutung ward sofort begriffen. Achtung, ein Spion! Ein verkleideter Preuße! Ja, wenn wir stets verraten werden, was hilft dann aller Mut? Armes Frankreich!

Durch die dunkelnden Dorfgassen wälzte sich, fortwachsend, der häßliche Ruf: Spion! Spion!

Der kleine Gefangenentransport erreichte den Gasthof. Über dem Treppengang machte der Sergeant Halt und klopfte mehrfach. Nach kurzem Harren öffnete sich die Tür; eine dralle Schenkmagd, ein paar Teller nebst geleerten Flaschen tragend, floh kichernd aus dem Zimmer. Drinnen stand, vor einem halb abgedeckten Tisch und einer von vergossenem Rotwein fleckigen Feldkarte, der Kommandant.

Er schnob den Unteroffizier an, bedeutete ihn, sich nebst seinem Begleiter davonzuscheren, der alte Herr jedoch drängte den Sergeanten gegen die Tür, zog eine Brieftasche, und erzwang sich, mit dem Fuß aufstampfend, Gehör: Bisher Kommandant der Marine-Infanterie zu Brest. Durch Befehl des Diktators einberufen und mit folgendem Kommando betraut –

Ein Knittern von Papieren, das Umstürzen eines heftig zurückgeschobenen Stuhles, dann aufsteigende, kurze Auseinandersetzung, beherrscht durch eine zornige, scharf klingende Stimme, die jede Entgegnung zurückwies.

Unten rasselten und hielten ein paar Gepäckwagen. Begleitung energisch zurückweisend, verließ der alte Herr das Gasthaus, nahm aus der Hand eines Trainsoldaten blaulibellierte Papiere, las sie beim Schein aufflammender Streichhölzer und bestieg eines der Gefährte. Dann verschwand der kleine Zug eilig auf holperigen Wegen mit schwankenden Laternen in der Nacht.

Droben, gestiefelt über dem Bett liegend, schlief der Kommandant einen wüsten Schlaf. Bei den Feldwachen herrschte Getöse, Flammenstöße lohten winddurchfacht. Auf dem brandroten Hintergrund hoben sich die Umrisse tanzender, mimender Soldaten.

Die Kiesgrube war verlassen, in ihr lag die riesenhafte, beulenbedeckte Gestalt des verendeten Pferdes, wohlig, wie glücklich, endlich rasten zu dürfen, streckte es die unförmlichen, geschwollenen Beine. Der Mond war aufgegangen, bestrahlte die Ackerschollen, streifte jede Kuppe. Er verkroch endlich langsam über das tote Tier und weckte in dessen glasigem Augenwinkel ein grünes, schräges, tückisches Leuchten.

*

Der Morgen dämmerte bleifarbig; der Schrei versprengter Hähne scholl von den Gehöften. Plötzlich entstand links in den Feldern ein flackerndes, jäh abreißendes Gewehrfeuer. Daß dort etwas nicht in Ordnung, könnte ein Laie wissen. Doch die Schläfer im Dorf denken nicht an Gefahr; der Feind ist noch weit, wir haben Ruhetag. Sie recken sich, schimpfen über falschen Alarm.

Doch schon ist das Dorf voller Feinde. Ulanen preschen durch die Hauptgasse, stechen und schlagen auf alle ein, die halbbekleidet aus den Quartieren stürzen. Dann verschwinden sie spurlos wie toller Spuk, nur am Dorfsaum, in den Häusern hat sich eine starke Abteilung eingenistet und knattert aus trefflicher Deckung ihre zähe Morgenreveille. Zum Straßenkampf ist's nicht Zeit, die überfallenen Kompagnien hasten und fluten dem entgegengesetzten Ausgang des Dorfes zu.

Sammeln! tönt das Kommando. Hinein in die Kiesgrube! Sammeln!

In die Kiesgrube drängte sich die Menge, doch drinnen sieht es nicht schön aus. Zwischen den Überresten der gestrigen Feier, zwischen Sardinenbüchsen und Flaschenscherben liegt das tote Pferd. Es erscheint, steifknochig hingestreckt, manchem noch riesiger, als es bei Lebzeiten gewesen. Auf seine erstarrten Lefzen, aus denen die langen Zähne hervortreten, hat der Tod einen halb fürchterlichen, halb befriedigten Zug geprägt, als wolle es sagen: Seht her, Ihr andern. Mein Teil an Lebensnot habe ich überstanden. Ihr aber wißt nicht, was noch kommen kann. Ich habe Ruhe und bin gut daran. Besser vielleicht als Ihr.

Ist es die frühe Morgenstunde, ist es die Nähe des Feindes – manchen befällt würgendes Unbehagen.

Fern im Vorlande werden kurze graue Linien sichtbar, die sich schußlos heranschieben, auftauchend und versinkend.

Die Kiesgrube halten! schreien die Offiziere.

Aus der Mulde fluten Schützenschwärme und hüllen sich sofort in ein heftiges, weitstreichendes Chassepotfeuer.

Gegenüber, auf morgenhellem Hügelzug bewegen sich kleine dunkle Häuflein, durch Zwischenräume getrennt. Von denen steigt plötzlich eine Trichterwolke auf. Herüber, doch hoch über die Stellung, viel zu hoch, kommt eine Granate. Im Waldsaum zwischen den schwarzen Fichtenzweigen verstirbt sie mit Prasselschlag, in kupferfarbiger Lohe.

Schlechtes Zeichen, urteilt der alte Sergeant, der neben seiner Flügelrotte liegt. Die drüben sind uns näher am Leibe, als sie's wissen.

Teufel, die saß!

Ein Kompagniechef, der abends vorher vergnügt dem Spionenfange zugesehen, fliegt vom Eisenschimmel, bleibt als hingespritzter Farbenfleck zwischen den Lehmschollen liegen. Aus der Schützenkette zurück rennt einer der ärgsten Schreier von gestern; er rennt wie irrsinnig, die zerschmetterte, baumelnde Kinnlade mit den Händen stützend.

Zwei andere Granaten folgen in sekundenscharfem Intervall; beide sind bösartige Treffer. Ein Halbzug taumelt, durch Luftdruck und Splitterschlag zersprengt, durcheinander; aufgestörte Schützenschwärme weichen trichterförmig nach rückwärts. Die feindliche Batterie, von Gegenfeuer unbelästigt, nutzt ihren Vorteil aus. Jetzt feuert sie Schrapnells; hoch am Himmel, Gewitterwölkchen gleichend, platzen die Geschosse, senden den Bleihagel schräg niederwärts, das Gelände scherend, Deckungen durchschlagend, Bäume schrammend.

Immer rascher hüllen sich die deutschen Geschütze in Dampf, immer regelmäßiger, mit unheimlicher Sicherheit, kommen die Treffer herüber. Das fällt den Verteidigern auf die Nerven. Zu dumm, vor einer Batterie zu liegen, die sich eingegabelt hat, wie auf dem Übungsfeld! Hastig, viel zu voreilig, wird die Kiesgrube geräumt. Im toten Winkel, hinter schußsicherem Höhenzug, sammelt sich das Bataillon. –

Es kam in rasch hergestellten Truppenverband, die Ausnahmebrigade ordnete sich zum Vormarsch.

Ihre Front entlang ritt der Stab. Adjutanten, ein Signalflaggenträger, von Dragonern umgeben. Allen voran ein kleiner untersetzter Herr in goldstrotzendem Käppi.

Als er vor das dritte Bataillon kommt, grüßt er nicht, sondern zügelt sein Pferd. Gibt's unter euch einen anständigen Burschen, der Pierre Schnetz heißt?

Die Führer riefen die Frage weiter, der Name lief rückwärts durch die Kompagnien.

Aus der Front hastete, hochbepackt, ein kleiner Rekrut; er wußte nicht, ob er belobigt, oder ob er vor ein Kriegsgericht gestellt werden sollte. Mit angefaßtem Gewehr, im Innersten erzitternd, blieb er vor dem Befehlshaber stehen. Der musterte ihn kurz, freundlich.

Hast du Eltern? Ja. Nun wohl, du meldest dich beim Regimentsschreiber und fährst sofort mit den Brigadeakten nach Lyon, wenn du dann später – vielleicht bald – nach Hause kommst, so bleib ein braver Mensch und grüße die Alten von deinem General.

Er trieb sein Pferd senkrecht auf das Bataillon zu, wendete dann und ritt langsam, dicht vor den Gliedern die Front ab. Er tat es wortlos, doch während er vorbeiritt, wurde er von den Meuterern erkannt; manchem begannen die Kniee zu schlottern, manche Hand löste sich schlaff vom Gewehrkolben.

Als er vorbei war, ging ein Wispern durch die Reihen. Viele wandten sich mit Gesichtern, die käsebleich geworden waren, dem Nebenmann zu.

Doch schon hielt der Stab seitwärts auf einem Hügel. Der General hob nicht einmal das Fernglas, ein einziger Blick zeigte ihm die drohende Gefahr. Da war ein schwerer Flankenstoß im Werke, ja, noch Schlimmeres. Südöstlich, meilenfern, ballten sich kleine Traubenwölkchen, in der klaren Luft verfliegend. Kein Zweifel, dem aufmarschierenden, zusammengeschobenen Armeekorps drohte Umfassung; auch am rechten Flügel hatte der Feind angepackt. Doch das war nicht eigne Sache, dort mochten andere sorgen; hier hieß es einsetzen, rücksichtslos. Schon wand sich links, durch Hügelwellen, eine zweite deutsche Batterie, auftauchend und verschwindend wie der Rücken einer kurzgegliederten Schlange. Schräg vom Dorfsaum her fegte der Dampf feindlichen Gewehrfeuers. Im Vorgelände sprangen Schützenschwärme heran, sich gefährlich verstärkend.

Die Kiesgrube halten, entschied der General; hier müssen wir stehen oder fallen.

Er atmete auf. Hinter ihm, endlich kam hilfbereite Artillerie, die Geschütze im Sturzacker schlenkernd und schleudernd, die Pferde in den Sielen keuchend. Zwei bange Minuten, dann losbrechendes Schnellfeuer, aufwütend, den deutschen Angriff niederzwingend, die gefährliche Lücke für kurze Zeit schließend.

Und doch zu spät – wahrscheinlich zu spät. Den Rand des Bruches umklammern, im Steinschutt liegend, die ersten dünnen Schwärme der feindlichen Schützen; die ringen nach Atem, keuchend hingestreckt, sich duckend unter der Wucht des nahen, rasenden Geschützfeuers, dabei doch kaltäugig nach Schußfeld für die Klappenvisiere spähend. Hinter ihnen, wie aus der Erde gewachsen, aufgelöste Kompagnien, unter Hurra mit dem Bajonett anlaufend.

Die Kiesgrube! schreit der General mit wetterleuchtenden, Unglück ahnenden Augen. Die Kiesgrube wiedernehmen, sonst geht, Gott schütze uns, das Gefecht verloren.

Die Kiesgrube? Herr General, gibt der Adjutant barsch zurück, dort holt uns alle der Teufel. Das wird ein Massengrab –

Ein Höfling war der brave Offizier niemals gewesen. Jetzt scheidet er, durch den Kopf geschossen, mit tiefer, spitzer Hofmarschallverbeugung vom Pferde.

Wie der General sich betroffen umsieht, gewahrt er leere Sättel und angeschossene, wild bockende Gäule. Ja so! Zündnadelfeuer auf vierhundert Meter? Dann freilich –

Er wendet sich und reitet, um seinen Befehl selbsteigen zurückzutragen. Das dritte Bataillon, soviel weiß er, hat den Schlüssel der Stellung, die Kiesgrube, preisgegeben. Daß dieses, gerade dieses Bataillon die Kiesgrube wiedernehmen soll, ist nicht mehr als billig, ist ihm unumstößlicher Entschluß. Freilich glaubt er nicht mehr an ein Gelingen. Gleichviel; wie er über den Sturzacker galoppiert und wie sein Säbel in der Scheide schüttelt, gefällt er sich in dem Vorgefühl naher Vergeltung. Er weiß, daß jenes viehisch hingemarterte Pferd von gestern bald Gesellschaft bekommen, daß es zugedeckt werden wird mit den Leibern seiner Peiniger. Dieses steht zweifellos fest. Im übrigen ist es, da Blut doch einmal fließen muß, durchaus logisch, daß die Ungerechten zuerst an die Reihe kommen, früher als viele Gerechte, viele arme Teufel dort hinten.

Aber wie? Denkt der General daran, das Tier rächen zu wollen durch Menschenblut?

Im Grunde, nein. Dennoch erfüllt es ihn mit Genugtuung, daß der Zufall zum Strafgericht drängt. Die Freveltat erscheint ihm als schwerwiegend und bedeutungsvoll. Nicht als Einzelausbruch, als Anstifterin zu schlimmeren Folgetaten, sondern als Offenbarung des schlechten, ehrlosen Geistes, der von jener Truppe Besitz ergriffen hat.

Bekümmert, doch mit geschärften Blicken sieht er, der warme Patriot, neben den glänzenden, bewunderungswürdigen Eigenschaften seines Volkes auch dessen Erbfehler, die Ruhmsucht, die Grausamkeit, den Mangel an Selbstzucht, den spöttelnden, nicht umzubringenden Lästertrieb, in jenen Schuldigen verkörpert. Er sieht alle schädlichen Stoffe, alle verderblichen Keime, das dürre, sieche Dekadententum in jenem zuchtlosen Haufen dort drüben greifbar versammelt. Jene Beule auszudrücken, die Menschheit vor der Fortzeugungskraft solchen Abschaums zu bewahren, würde eine nützliche, einwandsfreie Tat sein.

Früher pflegte man Meuterer zu dezimieren; dieses Verfahren werden die Preußen entbehrlich machen, übrigens dezimieren? Gutenacht. Aus der Kiesgrube, dem Höllenschlund, kehrt keiner lebendig wieder. Wie sagte doch der erschossene Offizier soeben? Ein Massengrab!

Der General hatte einen kurzen Weg zu durchmessen, während sein Pferd die Ackerfurchen überquert, fesselt ihn eine Wolkenbildung seltsamer Art, die man zuweilen bei Gewittern, bei Schiffbrüchen und Feldschlachten wahrnimmt, über den willenlosen Scharen, die ein Herrscherwort in den Krieg, ein Befehlsruf in den Tod sendet, ballt sich ein sturmvoller Himmel mit finsteren Wolkensäumen. Aus denen zuckt erdenwärts, gleich einem Henkerschwert, ein breiter, fast gleißender Strahl. Es ist die apokalyptische Verbildlichung des Gesetzes, daß ohne Blutvergießen es keine Vergebung der Lebensschuld, ohne Brandopfer keine Versöhnung, keine Wiedergeburt gibt. Doch jener Strahl ändert sich plötzlich, wird glänzender, breiter. Aus nachtverschleiertem Grunde, auf hohem Stamm hebt sich ein Kreuz, wächst heran über die Wolkenschatten, streckt seine bleichen, leuchtenden Arme weit über Himmel und Erde.

Dereinst, du heiliges Zeichen, kommt dein Siegestag.

Es wird die Menschheit, irregeworden an ihren Götzen und an sich selbst, nach Versöhnung schreien. Es werden die Völker erkennen, daß nur ein friedlicher Wettkampf in Arbeit und Nächstenliebe ihrer würdig ist, daß es nur einen berechtigten, gottgewollten Krieg gibt: den Krieg gegen Selbstsucht und Sünde.

Durchs Kreuz zum Frieden!

Noch leuchtet, verheißend, kein Regenbogen, am Himmel ziehen wetterschwangere Schneewolken, darüber gleißt die stechende südfranzösische Wintersonne.

Jetzt ist der Befehlshaber zur Stelle gekommen; einem meldenden Truppenführer nimmt er das Wort vom Munde, zeigt auf das dritte Bataillon, wir greifen an, Herr Oberst; Ihr Regiment folgt als Reserve. Jetzt an den Feind mit denen da! Und sollten die Herren nach rückwärts durchgehen, so lassen Sie feuern – doch nicht zuerst auf die Preußen!

Er zieht den Säbel und setzt sein Pferd in kurzen Trab. Das dritte Bataillon: Vorwärts! Zum Sturm auf die Kiesgrube!


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