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Von Ludwig Jacobowski.
»Schlichte Geschichten«, Minden i. W., J. C. C. Bruns Verlag.
Der alte Arzt schüttelte den grauen Kopf. Er hatte schon so viele Tote gesehen, auch schon so kleine, liebliche Engel von vier Jahren, wie vor ihm einer lag. Er sprach der jungen Frau leise Trost zu und legte die Hand beruhigend auf ihre Schulter. Sie aber saß vor dem Kinderbettchen, und ihr Leid brach sich Bahn in herzzerreißendem Schluchzen.
»Vor einem halben Jahre meinen Mann und jetzt meinen kleinen Paul! Herr Gott, womit habe ich das verdient?« jammerte sie und hob den blonden Kopf empor, daß der Arzt in das blasse Gesicht sehen konnte, in dessen junge Züge der Schmerz so tiefe Spuren gegraben hatte.
Durchs offene Fenster fegte der Morgenwind in heftigen Stößen, daß die Gardinen sich blähten und hin- und herbewegten. Draußen schossen zwei Schwalben durch den hellen Sonnenschein. Ihr lockender, zwitschernder Ruf drang hell in das Sterbezimmer, und ihre flüchtigen Schatten flogen pfeilschnell über die Wände hin.
»Nun leben Sie wohl, Frau Martens, wie Gott will. Man muß es tragen. Sein Päckchen hat jeder. Der eine dies, der andere das.« Der Arzt griff nach seinem Hute.
»Ach«, rief sie weinend, »ich will mich nicht versündigen an dem lieben Herrgott ... aber erst meinen Mann und jetzt meinen einzigen Jungen! Was soll ich noch auf der Welt?«
»Sie haben ja noch Ihre kleine Liese!« wagte der alte Arzt schüchtern zu bemerken und musterte die kleine, verwachsene Gestalt des Mädchens, das in grauem Kleidchen mit abgewandtem Gesicht in der Ecke auf einem Schemel hockte. Der Blick der Frau war den Augen des Arztes gefolgt, aber er blieb nicht an dem blonden Haar des Kindes hängen. Sie antwortete nicht, doch der Alte sah das Zucken der Lippen, und er wußte genug.
Während er die Handschuhe anzog, ruhte sein Blick mitleidig auf dem hohen Rücken des Kindes, an dem sich nichts rührte, keine Hand und kein Haar. Leise fügte er hinzu:
»Seien Sie freundlich zu der Kleinen! Sie sind immer so kurz zu ihr! Das ist nicht gut. Auch Kinder von sechs Jahren fühlen es bitter, wenn man sie zurücksetzt. Es ist ja jetzt Ihr einziges Kind!« fuhr der Arzt gütig fort und ging, von der Witwe begleitet.
Er sah sich noch einmal nach dem kleinen Mädchen um, aber es saß still in der Ecke und wagte nicht, den Kopf zu wenden.
Als das junge Weib wieder das Zimmer betrat, fiel ihr erster Blick auf das weiße Leinentuch, unter dem sich der kleine Kopf des Kindes in weichen Linien abhob. Da schrie sie wieder auf, daß das Mädchen in der Ecke zusammenschrak und dann emporschnellte. Langsam, mit scheuem, gesenktem Auge und gestreckten Armen kam es auf die Mutter zu, aber diese wandte den Kopf ab und rief mit einem Ausdruck des Hasses:
»Geh!«
Wie angewurzelt blieb die Kleine in weiter Entfernung stehen. Die Augen wanderten entsetzt von dem bleichen Gesicht der Frau zu dem weißen Lager des kleinen Paul; als aber der Ausdruck des Widerwillens nicht aus dem halb abgewandten Gesichte der Mutter wich, schlich sie sich scheu zur Tür.
Still ging diese hinter ihr zu, als hätte sie niemand berührt.
Die Arme auf die Knie gestützt, den Kopf in beiden Händen, so saß die Frau vor dem Bettchen und starrte durch Tränen vor sich hin.
Im Fluge hastete ihr Leben an ihr vorbei ... Früh verwaist, hatte sie sich selbst durchs Leben schlagen müssen als Verkäuferin in einem Weißwarengeschäft. Hier hatte sie den Unteroffizier eines Tages kennen gelernt, und nach kurzem Brautstand war sie seine Frau geworden, nur um einen Menschen zu haben, der sie lieb hätte. Das war ein Glück gewesen! Nun brauchte sie nicht mehr hinter dem Ladentisch zu stehen, von 8 Uhr früh bis 9 Uhr abends. Jetzt hatte sie ihren eigenen kleinen Haushalt in der Kaserne und reiche Abwechslung gegenüber dem Einerlei ihrer grauen Jugendtage.
Bald kannte sie alle Regimenter und Kommandorufe auswendig, und ihr Mann war stolz auf seine schlanke Frau, die so feine, weiße Hände hatte, wie die Frau des Hauptmanns. Dann aber war der erste Schatten über ihr Glück gefallen: das war die Geburt der Liese gewesen. Als sie das Kind zum erstenmal gesehen, mit seinem großen Kopf und der ungefügen Gestalt, da hatte sie sich umgedreht und den Kopf weinend in die Kissen gewühlt, und auch ihr Mann hatte das rote, zappelnde Ding ganz böse angesehen und sich ärgerlich auf die Lippen gebissen. Als die Kleine zu laufen anfing, da konnten es alle sehen, daß sie verwachsen war. Keine der anderen Frauen in der Kaserne nahm sie einmal auf den Schoß, um sie zu liebkosen, selten kümmerte sich ein Junge um das Ding und forderte es auf, auf dem Sandhaufen in einer Ecke des Kasernenhofes mit Sand »Kuchen zu backen«. Und mit der Abneigung, die die ganze Kaserne dem kleinen Kinde bezeugte, wuchs auch der Mutter Widerwille, der noch dadurch verstärkt wurde, daß sich auch ihr Mann nie um das kleine Wesen kümmerte. Welche Freude darum, als der Stammhalter der Familie, ihr süßer Paul, zum erstenmal sein Stimmchen übte! Da lachte ihr Mann über das ganze Gesicht und schlug vor ihrem Bett salutierend die Hacken zusammen. Die Frauen der Feldwebel reichten den Knaben einander zu, und eines Tages meinte sogar der Herr Major, der Paul sei ein »feudaler Bengel!« Je größer er wurde, desto mehr wuchs ihre Zuneigung zu ihm, desto mehr vernachlässigte sie das Mädchen.
Aber wie kurz war das Glück! Nach siebenjähriger Ehe raffte ein Herzschlag ihren Mann hinweg, und ein halb Jahr darauf nahm der Tod ihr den Liebling.
Was hatte sie nun?
Hier rissen ihre Gedanken ab. Mit einem Wehelaut fiel sie vor dem kleinen Bettchen ins Knie, riß das weiße Tuch herab und bedeckte das blasse Gesicht des toten Knaben mit leidenschaftlichen Küssen – – –
Draußen in einer Ecke des dunklen Hofes hockte die kleine Liese. Nicht allein, vor ihr lag, lang ausgestreckt, ein zottiger Hund, den häßlichen, dicken Kopf auf den Pfoten, scheinbar regungslos. Aber dennoch folgten seine Blicke den flinken Fingerchen seiner kleinen Spielgefährtin, die ein großes Stück Zeitungspapier sorgsam in kleine viereckige Stücke riß, um sich Pferdebahnbillets zu machen. Jetzt hob sie ein Stück empor und blies es weit von sich. Mit lautem Geheul sprang das Tier auf und jagte hinterher.
Das ging freilich nicht schnell, denn er hinkte. Aber wie er jetzt angehumpelt kam, den unförmigen Kopf stolz emporgeworfen, wie er dem Mädchen die Pfote bot und dann die winzige Hand leckte, da lachte sie glücklich über das ganze Gesicht, und eine feine Röte stieg ihr in die Wangen.
Das war ihr einziger Spielkamerad. Der hatte sich eines Tages angefunden, ausgehungert, verprügelt, mit hinkendem Bein, und hatte seltsam geheult in langen, klagenden Tönen und hatte sich zu Liese geschleppt und ihr das zerrissene Pantöffelchen geleckt ...
Von diesem Tage an waren sie gute Freunde geworden.
Oben unter dem Dache wohnte der alte Schneidermeister Krapf mit seiner Frau. Zu ihnen hatte sich die kleine Liese geflüchtet, wie sie alle Tage getan, seitdem ihre Mutter aus der Kaserne in die Anklamerstraße gezogen war. Der alte Mann und seine humpelnde Frau hatten ihr noch nie ein Scheltwort gesagt, wie sie es so oft auf der Straße gehört; nein, gleich am ersten Tage ihrer Ankunft in dem fremden Hause hatte Frau Krapf sie auf den Arm genommen und mit ihr so gut und freundlich gesprochen. Da war es ihr merkwürdig durch den Kopf gegangen, als ihre großen Augen in ein greises Antlitz sahen, in dem nichts von dem Haß stand, den sie so oft aus dem Gesicht ihrer Mutter mit Kindesinstinkt herausgefühlt hatte. Tagtäglich hockte sie oben bei den alten, kinderlosen Leuten, und ihrer Mutter war es recht, daß diese ihr die Aufsicht über die Kleine abnahmen.
Und diese alten Leute hatten auch ihren Hund nicht zurückgestoßen, als er eines Tages ihr nachgehumpelt kam. Sie hatten immer noch einen Knochen für ihn übrig und ein Butterbrot für sie ...
Eben setzte der Alte die blankgeputzte Brille auf die Nase, um einen moosgrünen, alten Schlafrock zu flicken, als sich die Tür geräuschlos auftat und Liese mit verstörtem Gesicht und rotgeweinten Augen eintrat.
Einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen.
»Nun ist das kleine Paulchen tot!« nickte der Alte und rief seine Frau. Sie humpelte langsam herein.
Die Kleine hob den Kopf und sah hilflos die Frau an.
»Ist der Doktor schon wieder fort?« fragte diese.
Liese nickte.
»Eigentlich, Anton, hätte er gar nicht kommen brauchen,« sprach die Frau ihren Mann an. »Ich war ja dabei, als der Junge starb! Na, immer besser, wenn es noch 'n Doktor sagt!«
»Nun bist du ganz allein, Lieseken!« Sie streichelte zärtlich das glänzende blonde Haar des Kindes und beugte ihren Kopf zu ihm hernieder.
Zwei große Tränen lösten sich aus Liesens blauen Augen. Die Alte sah es, griff nach einem Schürzenzipfel und wischte der Kleinen übers Gesicht.
»Ja, ja!« seufzte die Frau. »Nun wirst du's noch schlechter haben! Nicht wahr, Anton?«
Ihr Mann sah über die Brille hinweg auf die Kleine und fragte: »Habt ihr schon Blumen unten für Paul?«
Liese schüttelte verneinend den Kopf.
»Willst du ihm nicht welche geben? Von deinem Topf?« fragte der Alte.
»Von meinem Topf?« fragte die Kleine ängstlich.
Da scharrte es draußen an der Tür. Die alte Frau öffnete, und mit Freudengebell sprang der Hund herein und liebkoste die welke Hand der Alten und stellte sich neben das kleine Mädchen und starrte es klug an. Liese schaute gradaus immer empor nach dem kleinen Fenster.
Dort stand eine Reihe von Blumentöpfen auf einem grünen Ständer, und der Topf hinten in der rechten Ecke war ihr Eigentum, das sie tagtäglich besichtigte und an dem ihr kleines Herz hing mit aller Liebe ihrer Kinderseele. Früh und abends besuchte sie »ihre« Blumen, um sie zu begießen. Jetzt war gerade eine schöne Aster aufgeblüht, und während sie emporsah nach der schneeweißen Blüte, ging eben der Sonnenschein darüberhin, und der Stengel schwankte leise auf und nieder in dem goldenen Schein, als hätte ein Windstoß ihn geschüttelt. Über die weiße Aster hinweg sah sie die schwarze Rinne des hervorspringenden Daches, und dann blickte ihr Auge weit hinein in den klaren, blauen Himmel. Ach, ihre schöne weiße Blume! Wie ihre großen Augen daran hingen! ...
Der alte Schneider beobachtete sie genau. Er war ein Stückchen Menschenkenner und wollte prüfen, ob die kleine Liese ihr liebstes für den Toten hingeben wollte. Er hub jetzt von neuem an, indem er die Brille bis auf die Nasenspitze schob und den Kopf zurückbog, um sie scharf anschauen zu können.
»Sieh mal, Liese, wenn dein kleiner Bruder tot ist, dann mußt du ihm das hübscheste geben, was du hast. Dann erzählt Paul dem lieben Gott, wie gut du bist!«
»Tut er – das?« fragte sie. Ihre Augen strahlten, und die Lippen öffneten sich vor Erstaunen.
»Gewiß!« bestätigte der alte Schneider seine Worte.
»Soll ich den Topf herunternehmen?« fragte er.
Sie nickte. Die Frau holte die Aster herunter. Jetzt stand der rote, irdene Blumentopf vor ihr auf dem Stuhl, und die schöne, weiße Blume nickte und schaukelte hin und her. Auf der Dachrinne vor dem geöffneten Fenster saß ein Spatz und zwitscherte hell in das Zimmer. Dann flog er auf, gerade in den blauen Himmel hinein ...
»So, und nun schneid' sie ab,« sagte der Schneider, als seine Frau ihr eine kleine Schere reichte.
Liese wurde ganz rot, als sie die Blicke der beiden alten Leute auf sich gerichtet sah. Ihre Händchen zitterten, aber – ein Schnitt, und sie hielt den schlanken, grünen Stengel in der Hand.
»So, Liese, du bist ein gutes Mädel,« lobte der philosophische Schneider das Kind. »Jetzt gehst du hinunter und steckst die Blume dem Paul in die Hand, wenn keiner da ist. Willst du es tun? Ja?«
Betäubt von der großen Aufgabe, die ihr aufgetragen war, stand sie ratlos da und hielt die Aster mit beiden Händen fest. Endlich drehte sie sich, ohne ein Wort zu sagen, um und ging hinaus und die Treppe hinunter. Sie sah in ihrer Aufregung nicht, daß der Hund ihr lautlos folgte.
... Leise öffnete sie die Tür. Ängstlich sah sie sich um, aber ihre Mutter war nicht im Zimmer. Nur die Tür zum Nebenraum war weit geöffnet. Langsam ging sie auf das Bettchen zu. Eben strich der Wind durch das offene Fenster und fuhr leise über das weiße Bahrtuch, daß es sich enger an den Kopf des toten Kindes anschmiegte. Sie erschrak und blieb zitternd stehen. Endlich faßte sie sich ein Herz und glitt unhörbar auf das Bett zu. Ein schmaler Streifen von goldener Sonne lag zu Füßen des Knaben und schaukelte hin und her, daß ihre Augen wie gebannt den gelben Flecken folgen mußten. Nebenan schlug die Uhr langsam elf. Sie horchte, bis der letzte Schlag verklungen war. Endlich stand sie dicht am Bett. Jetzt fiel ihr ein, daß sie die Blume ihm in die Hand legen sollte. Aber sie war zu klein, um hinaufreichen zu können. Lautlos holte sie eine Fußbank herbei und stellte sich darauf, aber sie zitterte, als sie auf dem Laken die weichen Umrisse des Kopfes sah. Schon griff sie nach einem Zipfel des weißen Tuches, um es hoch zu heben, da überfiel sie eine unsagbare Angst. Sie legte hastig die weiße Aster auf das Tuch. Nur den Kopf beugte sie tief herab, so tief, daß er den des Knaben berührte. Sie hatte ihn nie geküßt.
Und neben ihr reckte sich jetzt der Hund auf und stützte die Pfote auf das Bett. Und als sie sich niederbückte, da wedelte er mit dem Schweif, schaute sie an, dann das bleiche Gesichtchen des toten Kindes und leckte das wachsgelbe Händchen, welches heruntergeglitten, an der Seite des Bettchens hing.
Leise, mit hochrotem Kopf, stieg sie von der Fußbank herunter.
Da knurrte der Hund und schlug hell an.
Sie sah sich um und zuckte zusammen. Ein Schreckenslaut kam von ihren Lippen.
Ihre Mutter stand in der Tür und hatte alles gesehen.
Von einer fürchterlichen Angst getrieben, flüchtete sie sich tief in die Ecke zwischen dem Spind und dem Ofen und drehte den Kopf der Wand zu, indes der Hund sich furchtsam niederduckte.
Da spürte sie, wie zwei Arme sich um ihre Schultern preßten.
»Mama, liebe Mama, ich will's ja nicht wieder tun. Schlag' mich nicht, liebe Mama. Es war ja für Paulchen.«
Die junge Frau rang nach Luft. Sie fühlte, wie unter ihren Händen das kleine Mädchen am ganzen Leibe zitterte vor Angst.
Da zog sie, ihres Schmerzes und ihrer Reue nicht mehr mächtig, das kleine Wesen hervor und hob es hoch zu sich empor. Inbrünstig drückte sie es an ihre Brust und küßte es unter bitterlichen Tränen und duldete es, daß der Hund hell bellte und wie jauchzend an ihr emporsprang.
Als sie jetzt den kleinen, blonden Kopf an ihre Wange legte, da sah sie in zwei große blaue Augen, die sie so traurig verwundert anstarrten, daß ihre Lippen weiß wurden vor dem Weh, das in ihnen lag.
Sie wußte jetzt, daß ihr Leben noch den einen Inhalt hatte, diese beiden großen, traurigen Augen glücklich zu machen.